Tarifrunde Nahverkehr 2024 – steht das Land still?

Valentin Lambert, Neue Internationale 281, April 2024

Über 87.000 Beschäftigte in kommunalen Nahverkehrsbetrieben befinden sich seit dem 05.12.2023 in Tarifverhandlungen. Davon betroffen sind über 130 kommunale Unternehmen in den Städten und Landkreisen. Jeder Tarifbereich hat im „Austausch mit den Beschäftigten“ eigenständige Forderungen entwickelt. Dies ist maßgeblich den Unterschieden der jeweiligen Tarifverträge geschuldet.

TV-N: ein Flickenteppich

Der größte Teil der kommunalen ÖPNV-Unternehmen ist den Tarifverträgen Nahverkehr angeschlossen, die in den Bundesländern (außer Hamburg) durch den jeweiligen kommunalen Arbeitgeberverband (VKA) jeweils auch vor Ort mit ver.di verhandelt werden. Die Tarifverträge regeln Arbeitsbedingungen (Mantel) und Entlohnung. In sieben TV-N ist die Entgeltentwicklung unmittelbar an die im TVöD gekoppelt. In den übrigen Bundesländern gibt es eigenständige TV-N-Entgelttarifverträge mit teilweise verschiedenen Laufzeiten.

In der letzten Tarifverhandlung 2020 stellten die Abschlüsse allesamt eine Niederlage dar. Und dabei wollte ver.di zum ersten Mal eine gemeinsame bundesweite Tarifrunde zur Vereinheitlichung des Flickenteppichs mit 16 Landestarifverträgen in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen angehen.

Die Herausforderungen für die diesjährige Tarifrunde sind vielfältig: lange Wartezeiten, überfüllte Busse, Fahrtausfälle oder fehlende Busverbindungen auf dem Land. Dem zu Grunde liegen unter anderem massiver Arbeitskräftemangel und fehlende Investitionen. Mit Blick auf die Klimakrise und die dafür unerlässliche Verkehrswende besteht dringender Handlungsbedarf.

Zu den Kernforderungen der Tarifrunde gehören Entlastungselemente wie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Erhöhung des Urlaubsanspruchs und zusätzliche Entlastungstage für Schicht- und Nachtarbeit. So fordert die Gewerkschaft in NRW:

Entlastungstage für alle Beschäftigten im ÖPNV

  • Identischer Ort für Arbeitsbeginn und -ende
  • Zulage ab dem ersten Tag bei vorübergehender Übertragung höherwertiger Tätigkeiten
  • Schicht- und Wechselschichtzulage für den Fahrdienst
  • 100 Prozent Jahressonderzahlung
  • Überstunden ab der ersten Minute und in der individuellen Stufe ohne Abzug
  • Zulage für Vorhandwerker, Gruppenführer, Teamleiter nach individueller Stufe

Klimabewegung und Beschäftigte im ÖPNV

Die Gewerkschaft ver.di setzt bei der Erreichung ihrer Ziele neben den Beschäftigten auf die Klimabewegung und ÖPNV-Fahrgäste. Unter dem Motto #wirfahrenzusammen besteht das Bündnis bereits seit 2020. In den Tarifverhandlungen öffentlicher Dienst 2023 trat dieses erstmals medienwirksam für die Interessen der Beschäftigten im ÖPNV in Erscheinung. Das Potenzial ist groß, Unternehmensvertreter:innen wetterten zum Beispiel vom „Verbot politischer Streiks“. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung scheint eröffnet.

Bereits vor dem eigentlichen Start der 1. Verhandlungsrunde hatte ver.di mit der Kampagne #wirfahrenzusammen eine Petition an die Arbeit„geber“:innen im Nahverkehr und die politischen Verantwortlichen gestartet. Die Forderungen waren maximal aufgeweicht, von „besseren Arbeitsbedingungen, guter Bezahlung und massiven Investitionen“ ist die Rede. Durch Fahrgastgespräche und Stadtversammlungen konnten 202.000 Unterzeichner:innen mobilisiert werden. Die Petitionsübergabe erfolgte am 05.12.2023. Die Nachricht dabei: Die Fahrgäste stehen hinter den Forderungen der Beschäftigten.

Auch am 01.03.2024 streikten die Beschäftigten und FFF gemeinsam, Busse und Bahnen standen größtenteils still.

FFF kämpft in den letzten Jahren mit einem Schwund an Aktiven. Seine Demonstrationen haben an Mobilisierungspotenzial eingebüßt. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen vom Reformismus in den eigenen Reihen zu falschen Taktiken. Dass FFF seit 2023 in Arbeitskämpfen für echte politische Veränderung mitmischen will, begrüßen wir.

Die Grenzen einer hoffnungsvollen Beziehung

Es ist nämlich ein Fortschritt, sein Gesicht weg von Appellen an Staat, Regierung und „aufgeklärte“ Unternehmer:innen hin zur einzigen Klasse zu wenden, die aufgrund ihrer Stellung in Produktions- und Verwertungsprozess das Kapital nicht nur an seiner empfindlichsten Stelle treffen kann, sondern auch als allein über Wissen und Fähigkeit zur ökologischen Konversion verfügt.

Zu konstatieren gilt allerdings, dass die Bewegung hinter ihren Möglichkeiten zurück- und eine echte politische Perspektive ausbleibt. Die politische Sprengkraft kommt nämlich spätestens in dem Moment abhanden, in dem die Gewerkschaftsbürokratie und einige wenige aus FFF über Aktionsformen, Taktiken und Vorgehensweisen entscheiden: ver.di sagt, Bündnis #wirfahrenzusammen macht (bisher). Eine notwendige Kritik an der Gewerkschaftsführung wird in den einzelnen Ortsgruppen zwar toleriert, aber nicht weiter vorangetrieben. Führende Personen des Bündnisses, die „Organizer:innen“ sind bei Gewerkschaftssubunternehmen angestellt. Die Auseinandersetzung im TV-N zeigt zweierlei: zum einen gibt sich die Gewerkschaftsführung kämpferisch und progressiv – das ergibt sich aus ihrem ureigensten Zweck zur Selbsterhaltung. Zum anderen bleibt sie weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, scheut eine echte Auseinandersetzung mit den Unternehmen und wird letztlich ihrer Vermittlerrolle im Kapitalismus gerecht. Wir wissen allerdings, dass eine nachhaltige Transformation des Verkehrssektors nicht mit dessen Interessen vereinbar ist.

Politisches Potenzial

Neben den TV-N befinden sich derzeit auch Beschäftigte der Flughäfen und der DB AG in Tarifverhandlungen. Die unterschiedlichen Tarifrunden sollten und müssen eine gemeinsame Kampffront bilden, in der zu gemeinsamen Arbeitskampfmaßnahmen und Demonstrationen aufgerufen wird. Das wäre ein wahrhaftiger Stillstand der Bundesrepublik, welcher in Verbindung mit Massendemonstrationen Diskussionen um ein politisches Streikrecht wieder aufflammen lassen könnte. Dies ist umso notwendiger, als bereits jetzt Stimmen laut werden, die die Einschränkung des Streikrechts in relevanten Bereichen (z. B. Bahn) fordern, darunter auch aus der Regierungspartei FDP. Für die Verknüpfung der Tarifrunden braucht es gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees, die auch eine politische Gegenwehr in Gestalt von Massenstreiks bis hin zum Generalstreik vorbereiten helfen können, wenn die Drohungen in die Tat umgesetzt werden. FFF ist darüber hinaus gut beraten, Solidaritätskomitees nicht nur zur Unterstützung der TV-N-Beschäftigten im Arbeitskampf, sondern auch zu den Lokführer:innen und zum Flughafenpersonal im Streik. Schließlich dient das nicht nur deren Erfolg, sondern schafft auch erst die Möglichkeit, ein breiteres Fundament für eine echte Verkehrswende innerhalb der Arbeiter:innenschaft zu legen, also für ein ureigenes Anliegen der Klimaaktivist:innen selbst!

Gemeinsam kämpfen!

Wie aus den vorgenannten Abschnitten hervorgeht, bildet die regionale Zersplitterung des TV-N eine große Schwäche im Kampf für „Klimagerechtigkeit“, welcher nicht vor Bundesländergrenzen haltmachen sollte. So wurde am 01.03.2024 im Rahmen eines Aktionstages zwar größtenteils zusammen gestreikt, für die weiteren Verhandlungsrunden ist dies aber nicht so sicher. Bei der Hamburger Hochbahn, in Brandenburg und im Saarland sind bereits Tarifeinigungen erzielt, während die Tarifkommission in NRW die Einleitung der Urabstimmung beschlossen hat.

Wir fordern:

  • Einen vereinheitlichten TV-N: Solange einzelne Tarifauseinandersetzungen noch laufen, darf kein Abschluss anderswo erfolgen. Vorbereitung der Urabstimmungen für unbefristete Streiks.
  • Klassenkämpferische Gewerkschaftsbasis:  Aufbau von Aktionskommitees aus Beschäftigten, welche Streiks planen, ausdiskutieren und über die nächsten Schritte in der Tarifauseinandersetzung entscheiden. Die Beschlüsse sind für die Tarifkommissionsmitglieder bindend.
  • Transparente Tarifverhandlungen: Rechenschaftspflichtige Mitglieder der Tarifkommission und bindende Beschlüsse bei Entscheidungen.
  • Solidaritätskomitees der Klimabewegung und Fahrgäste zur Streikunterstützung. Gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees im ÖPNV, bei der Bundesbahn und an Flughäfen. Für eine einheitliche Logistikgewerkschaft, die alle Beschäftigten im Personen-, Güter- und Datentransport umfasst!
  • Politische Massenstreiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen die geplanten Angriffe aufs Streikrecht vorbereiten.
  • Einen kostenlosen ÖPNV für alle, finanziert durch die Gewinne der Konzerne in klimaschädlichen Industrien!



Solidarität mit den Streiks im ÖPNV!

Stefan Katzer, Infomail 1244, 2. Februar 2024

Am heutigen Freitag, den 2. Februar 2024, ruft die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die Beschäftigten im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu einem eintägigen Streik auf. In allen Bundesländern bis auf Bayern streiken Zehntausende Beschäftigte und auch einige Klimaaktivist:innen von Fridays for Future (FFF) gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV.

Nachdem die bisherigen Verhandlungen mit den kommunalen Arbeit„geber“:innen nicht die erhofften Fortschritte brachten, soll der Druck auf die Gegenseite nun durch einen eintägigen Streik erhöht werden, so die stellvertretende Vorsitzende von ver.di, Christine Behle. Auch wenn der Ausstand in manchen Ländern wie in Berlin nur einige Stunden dauert, so zeigt die Aktion, was möglich ist, wenn die Beschäftigten zusammenstehen und gemeinsam für ihre Forderungen kämpfen.

Kampf für Entlastung und mehr Personal

Die Kernforderungen, für deren Erfüllung die Beschäftigten nun kämpfen, zielen vor allem auf die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Das ist mehr als berechtigt, denn die Belastungen für die Beschäftigten im ÖPNV sind groß. Ebenso hoch sind die Krankenstände, die nach Angaben von ver.di zum Teil 20 % betragen. Fahrer:innen müssen daher häufig für kranke Kolleg:innen einspringen, wodurch Ruhezeiten unterbrochen werden und die gesundheitliche Belastung zusätzlich steigt. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die relativ niedrigen Gehälter führen zudem dazu, dass viele Beschäftigte der Branche den Rücken kehren, wodurch sich der Druck auf die übrigen ständig weiter erhöht.

Zwar hat sich die Regierung das Ziel gesetzt, den ÖPNV bis 2030 massiv auszubauen und dadurch den Klimaschutz im Verkehrssektor voranzutreiben. Doch die notwendigen Voraussetzungen hierfür sind nicht gegeben. Nicht nur der Ausbau der Strecken kommt kaum voran, auch beim Personal herrscht großer Mangel. Zudem müsste die Regierung jährlich ca. 16 Milliarden Euro mehr für den Ausbau des ÖPNV ausgeben, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Aufgrund dieser desaströsen Lage im öffentlichen Nahverkehr fallen Verbindungen ständig aus. Zusätzlich werden die Fahrpläne an vielen Stellen selbst ausgedünnt und das Angebot verringert.

Dieses Problem sieht auch ver.di. Aus diesem Grund fordert die Gewerkschaft vor allem eine Entlastung für die rund 90.000 Beschäftigten. Durch bessere Arbeitsbedingungen soll bereits tätiges Personal gehalten und neues angelockt werden. Nur so könne man die Verkehrswende meistern. Neben einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert die Gewerkschaft auch die Erhöhung des Urlaubsanspruchs sowie zusätzliche Entlastungstage für Schicht- und Nachtarbeit. Außerdem soll es eine Begrenzung geteilter Dienste und unbezahlter Zeiten im Fahrdienst geben. Dadurch sollen die Beschäftigten entlastet und die Arbeit in diesem Bereich wieder attraktiver werden.

#WirFahrenZusammen! Aber wohin geht die Reise?

Unterstützt werden die Beschäftigten dabei von 60 lokalen Gruppen von FFF. Sie rufen zur Solidarität mit den Beschäftigten auf und verbinden deren Forderungen mit der nach einer klimagerechten Verkehrswende. In diesem Zusammenhang kommt dem bereits 2020 gegründeten Bündnis #WirFahrenZusammen eine wichtige Bedeutung zu. Dieses zielt darauf ab, das Interesse der Klimaschutzbewegung an einem Ausbau des ÖPNV mit dem der Beschäftigten an besseren Arbeitsbedingungen zu verbinden und die geteilten Forderungen durch gemeinsame Aktionen durchzusetzen.

In der Vergangenheit kam es bereits zu gemeinsamen Protesten von FFF und ver.di. Nun beteiligen sich die Aktivist:innen von FFF umgekehrt an den Streiks der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr und zeigen sich mit diesen solidarisch. FFF verbindet damit die Hoffnung, die Beschäftigten für ihre eigenen Forderungen zu gewinnen und so dem Klimaschutz und der Klimaschutzbewegung in Deutschland neues Leben einzuhauchen.

Das Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV ist dabei schon ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist gut und notwendig, dass die Klimabewegung die Verbindung zur organisierten Arbeiter:innenklasse sucht und aktiv auf diese zugeht. Das Bündnis kann allerdings nur ein Anfang sein. Denn nicht nur die Beschäftigten im ÖPNV müssen für radikalen Klimaschutz gewonnen werden, sondern auch die aus der Automobilindustrie, dem Energie-, Agrarsektor usw. – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn die Lohnabhängigen können durch Streiks nicht nur Druck auf die Regierung ausüben – sie können (und müssen!) aufgrund ihrer Lage im Produktionsprozess den notwendigen Umbau der Wirtschaft in ihre eigenen Hände nehmen. Es geht dabei letztlich nicht nur um die Erneuerung der technischen Basis, sondern um die Veränderung der Produktionsverhältnisse selbst. Das wird jedoch nur möglich sein, wenn die privaten Konzerne im gesamten Verkehrs- und Transportsektor – ob Spediteur:innen, Bahn, Luft- oder Schifffahrt sowie die Autoindustrie – entschädigungslos verstaatlicht werden und unter Arbeiter:innenkontrolle gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit produzieren. Dies ist selbst untrennbar mit der Enteignung und dem planmäßigen Umbau der gesamten Energiewirtschaft verbunden.

Um dies zu erreichen, muss sich die Klimabewegung programmatisch aber selbst grundlegend neu ausrichten. Sie muss dabei vor allem den von ihr popularisierten Slogan „System Change not Climate Change!“ endlich ernst nehmen und eine politische Perspektive entwickeln, die über den zerstörerischen Kapitalismus hinausweist.

Und wie kommen wir ans Ziel?

Die Strategie von FFF und ver.di, durch gemeinsame Proteste, Petitionen und die nun anstehenden Streiks den Druck auf „die Politik“ zu erhöhen und diese zum Handeln zu zwingen, läuft absehbar ins Leere. Wie schnell sich klimapolitisch der Wind drehen kann und mit ihm die bürgerlichen Fähnchen, haben die letzten Jahre eindrucksvoll gezeigt. Von den vollmundigen Versprechen der bürgerlichen Politiker:innen, das Problem des Klimawandels ernst zu nehmen und Maßnahmen zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu ergreifen, ist nicht viel übrig geblieben. Es war auch nicht anders zu erwarten.

Angesichts der sich zuspitzenden Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, bei der auch der deutsche Imperialismus ganz vorne mitmischen möchte, treibt die Ampelregierung vor allem ein Projekt voran – die Aufrüstung der Bundeswehr. Hier werden die Milliarden verfeuert, die im sozialen Bereich, beim Ausbau der Infrastruktur und damit auch im Bereich des Klimaschutzes fehlen. Unter dem Banner der Klimapolitik verfolgt die Bundesregierung dabei vor allem das Ziel, die deutsche Industrie durch eine subventionierte Erneuerung ihres Kapitalstocks global konkurrenzfähig zu machen. Als Vertreterin der Interessen des nationalen Gesamtkapitals möchte sie dafür sorgen, dass dieses in der Konkurrenz mit China und den USA nicht zurückfällt. Das 1,5-Grad-Ziel spielt bei diesen Überlegungen kaum noch eine Rolle.

Aber auch die Interessen der Gewerkschaftsbürokratie sowie die politisch-ideologische Ausrichtung von FFF stehen einem radikalen Kampf für Klimaschutz und Interessen der Lohnabhängigen letztlich im Weg und sind Hindernisse, die überwunden werden müssen. So hat die Gewerkschaftsbürokratie in den vergangenen Tarifkämpfen immer wieder gezeigt, dass ihr die Sozialpartnerschaft und mit ihr das Wohl des deutschen Imperialismus letztlich näherstehen als die Interessen der Beschäftigten. So wurden trotz hoher Kampfbereitschaft in den letzten großen Tarifrunden Abschlüsse erzielt, die für Millionen Beschäftigte Reallohnverluste bedeuteten. Über die „Konzertierte Aktion“ haben sich die Gewerkschaften bereitwillig in die Politik der Bundesregierung einbinden lassen und dafür zentrale Forderungen der Beschäftigten geopfert.

Um dies in Zukunft zu verhindern, müssen die organisierten Beschäftigten selbst die Kontrolle über ihren Kampf ausüben, indem sie Streikkomitees bilden und Vertreter:innen aus ihren eigenen Reihen wählen, die ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Statt Geheimverhandlungen zwischen den sog. Arbeit„geber“:innen und den Gewerkschaftsfunktionär:innen braucht es Diskussionen über Forderungen und Angebote, an denen alle Gewerkschaftsmitglieder sich beteiligen können. Sie müssen bei allen Entscheidungen das erste und letzte Wort haben, denn sie sind es, die davon betroffen sind.

  • Arbeitszeitverkürzung für alle auf 35 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Einstellung von Tausenden Beschäftigten und Auszubildenden! Massive Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und kostenloser ÖPNV für alle, finanziert aus den Gewinnen privater Konzerne!

  • Vom Warnstreik zum Vollstreik! Keine Geheimverhandlungen, keine langen Verhandlungsrituale! Streik ist die einzige Sprache, die die sog. Arbeitgeber:innen verstehen! Schnellstmögliche Einleitung der Urabstimmung, um die Forderungen durch einen unbefristeten Streik zu erzwingen!

  • Für einen Streik in den Händen der Beschäftigten! Organisiert Euch selbst im Betrieb, wählt ein Streik- und Aktionskomitee, fordert öffentliche Verhandlungen sowie eine direkte Wähl- und Abwählbarkeit der Tarifkommission!



#wirfahrenzusammen: Streiks im Leipziger Nahverkehr

Niliam, Infomail 1214, 26. Februar 2023

Zweimal stand der ÖPNV Leipzigs in den letzten Tagen komplett still.

Am Mittwoch dem 22.02. fanden wie auch am Freitag dem 17.02. Warnstreiks statt. Nachdem letzte Woche alle vom TVöD (Tarifvertrag öffentlicher Dienst, unter ihn fällt auch Leipzigs Nahverkehr) betroffenen Beschäftigten streikten, waren es am Mittwoch ausschließlich die Beschäftigten der LVB (Leipziger Verkehrsbetriebe). Der für den Streik gewählte Tag war brisant: trafen doch RB Leipzig und Manchester City im Rahmen eines Champions League Spiels aufeinander. Tausende von Menschen und internationale Gäste waren zu erwarten. Ein erheblicher Reputationsverlust für die Stadt Leipzig war vorauszusehen.

Dies unterstreicht einmal mehr den Kampfeswillen der Beschäftigten, nach ihrer Forderung von 10,5% mehr Lohn, aber mindestens 500€ bei einer Laufzeit von 12 Monaten für die nächste Verhandlungsrunde Ende März. Wir zeigten uns im Rahmen der Kampagne #wirfahrenzusammen u.a. zusammen mit REVOLUTION an Streikposten in der Stadt und auf der Großkundgebung am Freitag mit den Streikenden solidarisch.

Auch wenn es sich nur um eine reine Lohntarifrunde handelt, müssen wir doch klarmachen, dass der Ausbau des ÖPNV dringend für eine Mobilitätswende gebraucht wird.

Während der Nahverkehr oft vernachlässigt, teuer und schlecht ausgebaut ist, wird immer noch auf klimaschädliche Fortbewegungsmittel gesetzt.

Wir fordern massive Investitionen in den Nahverkehr – für die Beschäftigten, für das Klima und für die Fahrgäste! Sachsen ist Schlusslicht, was die Bezahlung der Beschäftigten im ÖPNV angeht!

Urabstimmung für Erzwingungsstreiks jetzt!

Letzten Freitag waren wir bereits ab Streikbeginn um 3 Uhr morgens am Betriebshof Angerbrücke. Mit den Beschäftigten haben wir uns über die schlechten Arbeitsbedingungen sowie die bestehenden Ängste und Sorgen hinsichtlich der stark gestiegenen Verbraucherpreise ausgetauscht und darüber gesprochen, weshalb die Forderung der Tarifrunde das Mindeste ist, auf was sich eingelassen werden sollte. Sie durchzusetzen wird nur möglich, wenn die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu getrieben werden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Wichtig ist die gemeinsame Organisation im Arbeitskampf – der Klimaschutz steht nicht gegen die Arbeitsplätze, wie uns die Kapitalist:innen oft weis machen wollen. Die Klimabewegung kämpft mit den Beschäftigten für die gleichen Interessen!

Gemeinsam werden wir am 03.03. den globalen Klimastreik in Leipzig unterstützen.

Unsere Solidarität bedeutet auch Fahrgastgespräche zu führen und auf die berechtigten Belange der Streikenden aufmerksam zu machen. Der ÖPNV muss für eine klimaneutrale Zukunft zwingend ausgebaut werden. Mit Plakaten wurde an den Haltestellen darauf aufmerksam gemacht, weshalb die Busse und Bahnen still standen. Mit den Gäst:innen haben wir über die Gründe des Streiks gesprochen und wie berechtigt und wichtig die Unterstützung dieser ist – höhere Löhne dürfen nicht durch Ticketpreise ausgeglichen werden! Im Gegenteil fordern wir einen kostenlosen Nahverkehr, der durch die Besteuerung der Gewinne von VW und Co. finanziert wird.

Am Freitagvormittag kamen rund 2.000 Beschäftigte auf die Kundgebung der Gewerkschaft ver.di. Das Bündnis #wirfahrenzusammen hielt einen Redebeitrag über den gemeinsamen Kampf von Klimaschutz und den Forderungen für den Tarifvertrag. Die Masse zog nach weiteren Redebeiträgen einmal ums Leipziger Rathaus und machte OB Burkhard Jung deutlich klar: „Zusammen geht mehr“ und dass die vergangenen und zukünftigen Reallohnverluste zwingend aufgefangen werden müssen!

Die Arbeitgeberseite hat ein erstes Angebot vorgelegt, welches nicht als solches bezeichnet werden kann. Ihr Vorschlag: Eine Lohnerhöhung von drei Prozent zum 1. Oktober 2023, sowie eine weitere lineare Erhöhung der Entgelte um zwei Prozent zum 1. Juni 2024. Statt eines monatlichen Mindestbetrags mit sozialer Komponente bieten die Arbeitgeber zwei einmalige Inflationsausgleichszahlungen an: 1.500 Euro im Mai 2023 und erneut 1.000 Euro im Januar 2024. Für Nachwuchskräfte sollen die Einmalzahlungen 750 Euro bzw. 500 Euro betragen.

Fallen wir nicht darauf rein! Mit Einmalzahlungen und Verlängerung der Dauer des Tarifvertrages versuchen die Arbeitgeber eine wirkliche Verbesserung vorzutäuschen. Diese bedeuten aber weiterhin Reallohnverluste, welche nicht hinnehmbar sind. Auch wenn ver.di das Angebot sicher nicht annimmt, heißt es wachsam sein! Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Tarifkommission auf einen faulen Kompromiss einlässt.

  • Verkehrswende heißt gute Arbeitsbedingungen für Nahverkehrsarbeiter:innen!

  • Macht Stunk – die ver.di-Verantwortlichen müssen zur Einleitung der Urabstimmung gezwungen werden! Kündigt die Schichtungsklausel!

  • Für einen Streik in den Händen der Beschäftigten: Organisiert Euch selbst im Betrieb, wählt ein Streik- und Aktionskomitee, fordert öffentliche Verhandlungen sowie eine direkte Wähl- und Abwählbarkeit der Tarifkommission!

  • Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!



Ampel-Koalition und das 9-Euro-Ticket: Verkehrswende geht anders!

Leo Drais, Neue Internationale 267, September 2022

„Ich lade alle ein, das mit einem Lächeln zu machen, Freude daran zu empfinden.“ Volker Wissing, Bundesverkehrsminister (FDP) bewirbt Ende Mai 2022 das 9-Euro-Ticket. Die Freude sollte natürlich nur von kurzer Dauer sein. Mit dem 1. September wird eine der wenigen Erleichterungen, die die Ampelkoalition einführte, auch wieder kassiert.

Und der Sommer offenbarte auch die Probleme. Aktivist:innen gegen den G7-Gipfel treffen im Juni nach elfeinhalbstündiger 9-Euro-Ticket-Fahrt mit dem Regio im bayrischen Oberau ein und steigen in den Schienenersatzverkehr um. Die letzten Kilometer bis Garmisch-Partenkirchen sind seit dem 3. Juni gesperrt. RE-D 59458 entgleiste, fünf Menschen starben, Ursache: horizontale Brüche in den Betonschwellen, Herstellerfehler, das Gleis trug den Zug nicht mehr.

Und irgendwie drängt sich der Unfall als Sinnbild für den deutschen Nahverkehr auf, den das 9-Euro-Ticket häufig über die Belastungsgrenze trieb, wie ein Gleis, das aufgibt. Oder der einfach nicht vorhanden ist, auch wie ein Gleis, das aufgibt.

Millionenfach verkauft

Während die Deutsche Bahn den Sommer damit verbrachte, 200.000 Schwellen im gesamten Netz auf Risse zu überprüfen, und noch Monate für ihren Austausch benötigen wird, wurde das 9-Euro-Ticket im Schnitt sehr gut angenommen. 38 Millionen Mal wurde es im Juni und Juli verkauft.

Es zeigt: Das Bedürfnis nach einem günstigen Nahverkehr ist da.

Neben seinem Preis bestach das Ticket zudem durch seine Einfachheit: ein Fahrschein, deutschlandweit gültig, anstatt sich durch den Tarifdschungel tausender Verkehrsverbände wühlen zu müssen.

Bei einer tiefer gehenden Betrachtung muss der Erfolg des Tickets jedoch auch ein wenig relativiert werden. So war es anlassbezogen für die meisten Menschen eher eine Möglichkeit für Tagesausflüge und Freizeitfahrten. In der täglichen Massenbewegung des Berufsverkehrs sind weniger Menschen vom Auto auf Bus und Bahn umgestiegen.

Zweitens sagen die Verkaufszahlen nur bedingt etwas über die Nutzung aus. Schon für eine einfache Fahrt mit dem Regio vom Frankfurter Flughafen nach Kassel lohnte sich das Ticket, selbst wenn es danach für den Rest des Monats ungenutzt im Geldbeutel zwischen Kassenzetteln und Tankquittungen unterging. Das spricht einerseits zwar für es als kostengünstiges Angebot, relativiert aber den langfristigen Umsteigeeffekt vom privaten zum öffentlichen Verkehr.

Drittens ist das Ticket selbst natürlich günstig gewesen, aber das heißt nicht, dass wir wirklich so wenig fürs Fahren mit dem ÖPNV bezahlt haben. Es war Teil des „Energieentlastungspakets“ der Ampelregierung, was auch den Wegfall der Spritsteuer beinhaltet hat. Die Kosten dafür tragen wir – vermittelt über Steuern oder die Inflation und nicht etwa Energie- oder Autokonzerne, indem sie ihre Gewinne für eine Verkehrswende abgeben müssten.

Appetizer für die Verkehrswende?

Deutschland ist ewig weit weg von einer anderen, nachhaltigen, sinnvollen Mobilität.

Für die breite Bevölkerung auf dem Land war das Ticket faktisch nicht nutzbar, einfach, weil es keinen Nahverkehr gibt. Zwei Schulbusse am Tag zählen nicht, erst recht, wenn sie in den Ferien durch Anruftaxen ersetzt werden, die teilweise 24 Stunden vorher bestellt werden müssen.

Dem Regionalexpress an die Ostsee, der wegen Überfüllung von der Bundespolizei in Berlin-Gesundbrunnen eine Stunde lang geräumt wird, steht der verlorene Mensch am Busschild in Sachsen-Anhalt gegenüber, dem in der Mittagseinsamkeit der Wüstenwind durch die Haare streift.

Gewerkschaften wie die EVG hatten schon Wochen vor der Einführung des Tickets vor einer Überlastung der Züge und der Kolleg:innen im ÖPNV gewarnt – nicht ohne einen eigenen Schluss Borniertheit. So haderte GDL-Chef Weselsky damit, dass ein sehr günstiger oder sogar kostenloser Nahverkehr auch bedeute, dass die Transportleistung selbst nichts wert sei. Mit derselben Logik könnte man auch gegen kostenlose Kitas und Schulen argumentieren.

Nun aber zu den berechtigten kritischen Stimmen aus den Gewerkschaften.

Weil das Ticket von Anfang an nur für drei Monate angelegt war, hat natürlich niemand die Absicht gehabt, mehr Personal einzustellen, mehr Züge und Busse zu kaufen, Strecken auszubauen, und dabei blieb es. Lokführer:innen und Zugbegleiter:innen sehnen sich das Ende des Sommers herbei. Und sie misstrauen verständlicherweise auch allen Versprechungen, dass mehr Nutzer:innen zu mehr Personal führen würden.

Es riecht nach verbranntem Stroh, und das ausnahmsweise mal nicht wegen Flächenbränden auf ausgetrockneten Feldern, zwischen denen ein leerer Bus allein von Dorf zu Dorf zieht. Wer auf ihn wartet, hat Hoffnung, heißt es.

Die aber ist bei der Ampelregierung vergebens. Alle ihre Parteien schließen die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets aus. Bei einem Finanz- und einem Autominister von der FDP war das von Anfang an klar. Schließlich verursache eine Verlängerung des Tickets Mehrkosten von 14 Milliarden Euro (wo kam eigentlich nochmal das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr her?).

Für sie hat das Ticket nur Argumente gegen einen langfristig günstigen, geschweige denn kostenlosen Nahverkehr gebracht.

Die SPD hat sich drei Monate lang ein bisschen sozial verkaufen können, und damit ist‘s auch gut. Oder wie sagte Scholz? „Das 9-Euro-Ticket ist eine der besten Ideen, die wir je hatten.“ Na, wer solche Ansprüche hat …

Und auch die grünen Geschwister der FDP hatten etwas von dem Ticket. Immerhin galt es ihnen ja schon als die gefühlte halbe Verkehrswende. Jetzt aber kommt der Herbst, die Sommerferien sind vorbei. Es geht um den deutschen Imperialismus in der Welt. Da ist halt kein Platz für eine Verkehrswende. Immerhin ist das Rückgrat deutscher Exportstärke immer noch – das Auto!

Die echte Verkehrswende

Verschiedene Nachfolgeangebote werden derzeit ins Spiel gebracht. Die Grünen wollen ein 29/49-Euro-Ticket – einmal regional, einmal bundesweit. Verschiedene Verkehrsverbünde prüfen ihre eigenen Nachfolgeangebote. NRW hat schon eins beschlossen.

Der kurzen deutschen Einigkeit folgt der föderale Flickenteppich eines in der Kleinstaaterei hängen gebliebenen Tarifsystems, wo ja keine Buslinie zu viel über die Grenze des Nachbarlandkreises führen darf.

Führen wir einfach mal alles zusammen: den Kampf gegen Krise und Inflation, den gegen die Klimakatastrophe und den für die Verkehrswende.

Aus diesem Kontext heraus macht nur eine schnellstmögliche Einführung eines kostenlosen Nahverkehrs Sinn, wobei schnellstmöglich am besten sofort wäre.

Es braucht zugleich jedoch ein Ausbauprogramm, um überhaupt einen tragfähigen Nahverkehr für alle bereitzustellen. Beschäftigte und Nutzer:innen sollten dabei auch über einen konkreten Ausbauplan bestimmen: Wo lohnt sich ein Gleisanschluss, wo reicht ein Bus? Wie drängen wir den Autoverkehr zurück und verwandeln die Straße in einen Raum des Lebens und der Begegnung zurück? Und macht es nicht Sinn, langfristig die Stadt-Land-Unterschiede aufzuheben, zum Beispiel in einer Clusteranordnung von Arbeits- und Lebensräumen?

Entscheidend ist: Es braucht eine demokratische Kontrolle und Planung durch Transportarbeiter:innen, Gewerkschaften, Pendler:innen sowie die große Masse der Nutzer:innen in Verkehrsplanungskomitees.

Bleibt die Frage der Finanzierung. Das Defizit im 9-Euro-Ticket bezahlen wir selbst. Das bringt uns zum zweiten entscheidenden Punkt: der Enteignung und Verstaatlichung der Verkehrsindustrie unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten. Anders wird die Macht von VW, Daimler und BMW und ihres speichelleckenden Verkehrsministeriums nicht zu zerstören sein. Es gibt Milliardengewinne im Verkehrs- und Energiemarkt, bei weitem genug, um damit eine Verkehrswende zu verwirklichen. Sie müssen massiv besteuert werden.

Aber, das heilige eigene Auto?

Ja, von diesem gilt es, sich wohl zu trennen. Aber das heißt nicht, einfach Lebensqualität zu verlieren (wobei die im Stau kaum vorhanden sein kann). Denn es geht darum, die Verkehrswende mit einem Programm zu verbinden, das für eine drastische Arbeitszeitverkürzung eintritt. Beschäftigte, die heute Autos bauen, können morgen mit weniger Gesamtarbeitszeit und Materialaufwand dringend benötigte Fahrzeuge für den Personennahverkehr bauen. Beschäftigte, die heute Fahrscheinkontrollen durchführen oder Tickets für den Personennahverkehr verkaufen, könnten morgen einen qualitativ hochwertigen Service an Bahnhöfen bieten. Verbunden mit Neueinstellungen könnte eine effektive Entlastung der Beschäftigten und eine massive Arbeitszeitverkürzung erfolgen.

Wer mehr Zeit zu leben hat, hat auch weniger Sorge, sie im Verkehr zu verlieren. Klar heißt es jetzt wieder: unrealistisch. Falsch! Richtig ist, dass es zwar keine Garantie dafür gibt, dass so ein Programm jemals verwirklicht wird. Realitätstauglich ist es allemal. Wirklich unrealistisch ist, dass die Ampel, eine dem deutschen Kapitalismus verpflichtete Regierung, jemals die Verkehrswende herbeiführt.




Ver.di und die Tarifrunde Öffentlicher Nahverkehr: Gut gestartet – gelandet wie ein Papiertiger

Helga Müller, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Zum Neuauftakt der Tarifrunde im öffentlichen Nahverkehr hielten wir im September 2020 fest: „Die Tarifrunde im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) enthält das Potential, zu einer wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung im Herbst 2020 zu werden. Sie beinhaltet die Möglichkeit, das Tarifritual, an dem die Gewerkschaftsapparate eisern festhalten, in Zeiten von Krise und Corona zumindest ein Stück weit zu durchbrechen.“ (Susanne Kühn, Klotzen nicht kleckern, Neue Internationale 249)

Bedingungen

Nicht nur weil gerade im öffentlichen Nahverkehr die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen sehr mies sind und ver.di zum ersten Mal eine gemeinsame bundesweite Tarifrunde zur Vereinheitlichung des Flickenteppichs mit 16 Landestarifverträgen in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen angehen wollte. Die Gewerkschaft wollte außerdem die Einstellung von zusätzlichem Personal und die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs ins Gespräch bringen. Für die Durchsetzung dieser Ziele holte sie sich auch Fridays for Future (FFF) als Bündnispartner mit ins Boot.

Dies hätte die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung eröffnet, die jahrelange Sparpolitik von Bund, Ländern und Kommunen, verbunden mit Privatisierung von großen Teilen des öffentlichen Nahverkehrs, zu durchbrechen. Dies hätte auch eine Perspektive für Millionen von KollegInnen, Arbeitslosen, RentnerInnen, Jugendlichen und MigrantInnen eröffnet, wie der Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten organisiert werden könnte.

Interessengleichheit?

Während der Tarifrunde appellierte ver.di – ähnlich wie in der im öffentlichen Dienst – immer wieder an die „Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber“ (VKA), dass ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr im Interesse beider Seiten liege. Auch hier lautete die Antwort der VKA ähnlich wie im öffentlichen Dienst: Das wäre alles sehr schön, aber es solle am besten nichts kosten. Übersetzt: Wenn die KollegInnen Besserungen bei den Arbeitsbedingungen wünschen, dann sollen sie dies durch Zurückhaltung bei den Löhnen selber zahlen.

Also auch hier müssen die KollegInnen mit weiterhin schlechten Arbeitsbedingungen rechnen und wahrscheinlich auch mit einem neuen Vorstoß, zusätzliche Teile aus dem öffentlichen Dienst auszulagern und diese an private Unternehmen zu vergeben. Der Köder an die Arbeit„geber“Innenseite ging genauso ins Leere wie in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes. Die VKA verfolgte  auch hier ihre Interessen und wollte die Situation infolge schlechterer Mobilisierungsbedingungen aufgrund der Pandemie nutzen, um die Lasten an die Beschäftigten weiterzugeben. Ver.di hingegen hat sich geweigert, diesen Angriff zu kontern und aufzuzeigen, dass die Zukunft des ÖPNV ebenso wie die Frage der ökologischen Umgestaltung untrennbar an Klasseninteressen gebunden sind – an die von VW & Co. oder an unsere!

Die Tarifrunde hätte auch dazu genutzt werden müssen, eine gemeinsame Kampffront mit den Beschäftigten in den privaten Unternehmen zu bilden, gleiche Arbeitsbedingungen und Entgelte im gesamten Nahverkehr durchzusetzen und für die Rekommunalisierung und entschädigungslose Enteignung der privaten Konkurrenz einzutreten. Diese Tarifrunde hätte genauso die Chance geboten, zusammen mit den KollegInnen aus dem öffentlichen Dienst, die in diesem Jahr fast zur gleichen Zeit zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen wurden, gemeinsame Demos, Kundgebungen und Warnstreiks durchzuführen.

Leider wurde diese Chance vergeben. Sicherlich gab es in der einen oder anderen Stadt Initiativen für gemeinsame Warnstreiks mit den KollegInnen aus den privatisierten Unternehmen – wie z. B. in München. Gemeinsame Warnstreiks oder Kundgebungen mit den KollegInnen aus dem öffentlichen Dienst wurden z. B. in Stuttgart durchgeführt. Aber eine ernsthafte gemeinsame Strategie wie gegen die Offensive der öffentlichen Arbeit„geber“Innen in beiden Tarifrunden vorgegangen werden sollte, war bei der bundesweiten Streikleitung nicht vorhanden. Die Gefahr ist jetzt groß, dass  weitere Privatisierungen bei den Kommunen folgen werden, vergrößert durch Schuldenbremse und Sparpolitik.

Im Stich gelassen

Zudem hatte ver.di nach der 3. Verhandlungsrunde im öffentlichen Dienst Ende Oktober 20 einen Abschluss mit den öffentlichen Arbeit„geber“Innen VKA und Bund ausgehandelt, den wir als Niederlage einschätzen. Damit hat die Führung den kleineren Bereich des öffentlichen Nahverkehrs (mit ca. 80.000 Beschäftigten gegenüber ca. 2,3 Mio. im öffentlichen Dienst) sich selbst überlassen, sich gegen die Angriffe der öffentlichen Arbeit„geber“Innen zur Wehr zu setzen.

Vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang mit der alten Sozialpartnerschaftspolitik ist es denn auch kein Wunder, dass die bundesweiten Warnstreiks abgebrochen wurden und die einzelnen Landestarifkommissionen auf sich gestellt alleine weitermachten. Einige Tarifkommissionen wie in Bayern versuchten noch, weiter zu streiken – andere wie in Baden-Württemberg unterzeichneten einen Abschluss auf Grundlage dessen vom öffentlichen Dienst, versuchten, das noch als Erfolg hinzustellen und die Einstellung der weiteren Kampfmaßnahmen mit Corona zu entschuldigen: „Aber gegen die Pandemie kamen wir nicht an. Hätten wir jetzt nicht abgeschlossen, wir hätten anfangen müssen, ganz von vorn zu verhandeln. Die steuerfreie Coronaprämie wäre weggefallen. 100 % Weihnachtsgeld wären bestenfalls nächstes Jahr nachgezahlt worden. Und wir hätten streiken müssen. Mehr als bisher … “ (Flugblatt ver.di tv-n-bw busse und bahnen  vom 30.10.2020)

Flickenteppich reloaded

Die Lohnerhöhung entspricht der des öffentlichen Dienstes und stellt damit für viele auch einen Reallohnverzicht dar, auch wenn das Urlaubsgeld etwas erhöht wurde. Zudem gibt es die Wahlmöglichkeit, bis zu 2 Entlastungstage pro Jahr zusätzlich zu nehmen, wovon einer aber von den KollegInnen mit einem Lohnverzicht von 0,5 % selber bezahlt wird! Der bisherige Manteltarifvertrag wurde ohne Änderungen bis zum 31. Dezember 2022 verlängert. Dabei waren gerade hierin die meisten Forderungen nach Entlastung enthalten, die allesamt nicht durchgesetzt wurden!

In Bayern wurde schließlich zwar auch der Abschluss der Tarifrunde öffentlicher Dienst übernommen, aber mit etwas besseren Vereinbarungen zur Coronaprämie für 2020, mit einer Laufzeit bis Ende April 2021 und mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Tarifrunde im Frühjahr 2021 weiter fortgeführt werden soll.

In den meisten Landestarifverträgen wurden jedoch längere Laufzeiten – teilweise bis 2022 oder 2023 abgeschlossen. Von daher wird es für die KollegInnen sehr schwierig werden, wieder bundesweite einheitliche Forderungen mit gleichzeitigen Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen.

Auch diese Abschlüsse stellen – genauso wie im öffentlichen Dienst – eine Niederlage dar, nicht nur in Bezug auf die materiellen Ergebnisse, die noch nicht einmal dazu dienen, den Kaufkraftverlust auszugleichen, sondern auch in Hinblick darauf: Wer wird, wenn die Krise richtig zuschlägt, dafür zahlen? Die vielen KollegInnen oder die, die sie verursacht haben – die großen Konzerne und Regierungen! Auch in dieser Tarifrunde – selbst wenn sie in Bezug auf die Forderungen und Vorbereitung kämpferischer aussah als die im öffentlichen Dienst – akzeptiert die ver.di-Führung, dass die Krisenlasten einseitig auf die KollegInnen abgewälzt werden, um letztendlich dem Standort Deutschland im internationalen Konkurrenzkampf einen Vorteil zu verschaffen.

Kontrolle durch die Basis

Auch hier zeigt sich – wie in Bezug auf die Führung der Tarifrunde und auf den Abschluss im öffentlichen Dienst – , dass es immer dringlicher wird, dass die KollegInnen selbst über die Forderungen, über die Vorgehensweise in der Tarifauseinandersetzung und über die Verhandlungen diskutieren und entscheiden müssen. Die Einführung von TarifbotschafterInnen als Delegierte aus den Betrieben und Dienststellen und Zusammenführung in Videokonferenzen war sicherlich ein Schritt, die Vorgehensweise transparenter zu machen. Aber solange die KollegInnen nicht selbst miteinander diskutieren und die Tarifkommissionsmitglieder nicht auf die Umsetzung der Beschlüsse der Beschäftigten verpflichtet werden können, wird es immer zu Abschlüssen kommen, die den Arbeit„geber“Innen nicht zu sehr weh tun und sie noch zusätzlich dazu ermuntern, noch weiterzugehen.




Tarifrunde Nahverkehr: Klotzen, nicht kleckern! ÖPNV geht uns alle an!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinto der Gruppe ArbeiterInnenmacht, September 2020

Die drohende Klimakatastrophe und die Massenbewegung für mehr Klimaschutz haben die Öffentlichkeit, die Regierungen und die Medien dazu gezwungen zuzugeben, dass es so nicht weitergehen kann.

Deshalb geht es in dieser Tarifrunde um viel: deutlich bessere Bezahlung und kürzere Arbeitszeiten; mehr Urlaub und einen gemeinsamen Flächentarif; mehr Personal und Ausbau der Systeme; Klimaschutz und sinnvolle Flächennutzung in der Stadt.

Gute Chancen also, dass diese Tarifrunde anders wird als sonst: mit mehr Themen, größerer öffentlicher Aufmerksamkeit, Bündnis mit der Umweltbewegung und NutzerInnen, die solidarisch sind, statt Unverständnis zu zeigen. Wenn wir als Beschäftigte deutlich machen, dass wir für einen besseren Nahverkehr kämpfen, dann können wir diesmal viel Rückenwind erfahren!

Im gemeinsamen Flugblatt der Bundesfachgruppe zusammen mit Friday for Future heißt es: „Wir fordern: Ein Klimapaket 2.0 – Investitionen in die Verkehrswende, jetzt! Gute Arbeitsbedingungen mit guten Löhnen im ÖPNV! Der ÖPNV ist kein Profitgeschäft, sondern Daseinsfürsorge. Mobilität für alle! Nur gemeinsam sind wir stark! Gemeinsam für eine verkehrspolitische Wende 2020.“

Kapitalinteressen

Das sehen allerdings die KapitalistInnen, ihre Parteien und Medien anders. Das Handelsblatt lässt einen Sprecher von VW zu Wort kommen: Die Lösung der Probleme des Nahverkehrs läge nicht im Ausbau des bestehenden Netzes … Vielmehr bräuchte es „innovative Konzepte“, darunter den Ausbau von sog. „Ridepooling-Unternehmen“ und ein Schleifen des „antiquierten Personennahverkehrsgesetzes“. VertreterInnen von Siemens propagieren autonom fahrende Busse. Kurz gesagt, die Autoindustrie will zukünftig Geld damit verdienen, dass über organisiertes Carsharing gerade auf stark genutzten Strecken dem öffentlichen Verkehr die Einnahmen abgegraben werden. Siemens will die FahrerInnen wegrationalisieren. Das ist keine „innovative Zukunft“, das ist der alte Mist: der ÖPNV als Lückenbüßer, die Beschäftigten billig ausgebeutet und die Profite für die Konzerne!

Deutliches Signal setzen!

  • Statt Privatisierung von Verkehrsunternehmen, statt Fremdvergabe von Linien und Aufgaben, statt „Kooperationen“ mit Privatunternehmen, die nur dazu dienen, öffentliche Gelder in private Profite zu verwandeln, brauchen wir die Verstaatlichung bzw. Rekommunalisierung aller privatisierten Betriebe unter Kontrolle der Beschäftigten! Rückholung aller fremdvergebenen Linien und Dienstleistungen, Übernahme der jeweiligen Beschäftigten! Einheitlicher Tarifvertrag für alle Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs auf dem höchsten Niveau!
  • Massiver Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Neueinstellung von zehntausenden Beschäftigten, generelle 30-Stunde-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich – kontrolliert von den Betriebs-/Personalräten und Gewerkschaften!
  • Kostenloser öffentlicher Nahverkehr in staatlicher Hand! Finanzierung des Ausbaus und des Betriebs durch die Besteuerung von Kapital, großen Vermögen und Profiten!
  • Entwicklung eines Plans zum ökologischen und sozialen, an den Interessen der Beschäftigten und NutzerInnen orientierten Umbau des Verkehrswesens unter ArbeiterInnenkontrolle!

Damit der Tarifkampf erfolgreich sein kann, muss er eng mit dem gesamten öffentlichen Dienst verbunden werden sowie mit den Tarifrunden in anderen Branchen (Metall, NGG … ) für gemeinsame Aktionen gegen die Blockaden von öffentlichen und privaten Arbeit„geber“Innen.

Die Aktionen im Nahverkehr müssen öffentlich und mit einer breiten Propaganda für eine „Verkehrswende“ begleitet stattfinden, die mit Streiks verbunden werden!

Wir rufen auf, in den Betriebsstätten regelmäßige Vollversammlungen durchzuführen, Streikkomitees zur Leitung des Arbeitskampfes und zur lokalen und bundesweiten Koordinierung zu wählen!

Kampfkraft einsetzen!

Da die Tarifforderungen nicht ohne entschlossenen Kampf und breite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Unterstützung durchsetzbar sein werden, brauchen wir eine Mobilisierung der vollen Kampfkraft der Gewerkschaft im Nahverkehr.

  • Keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, sondern möglichst rasche Einleitung der Urabstimmung! Unbefristeter Streik zur Durchsetzung der Forderungen!
  • Keine Verhandlungen hinter dem Rücken der Beschäftigten – öffentliche Übertragung etwaiger Verhandlungen, kein Abschluss ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung durch die Arbeitenden!
  • Bildung von Solidaritäts- und Unterstützungskomitees in anderen Gewerkschaften, Betrieben, Stadtteilen und an Schulen!