Systemcrash

Markus Lehner, Infomail 1260, 22. Juli 2024

Am Freitag, den 19.7.2024, um 4 Uhr der globalen Computerzeit (UTC), kam es nach einem Softwareupdate weltweit zu einem Totalausfall zentraler Computersysteme. Infolgedessen wurden Flughäfen lahmgelegt, Zahlungssysteme stillgelegt, Krankenhäuser vom Netz genommen, Fernsehkanäle ausgeschaltet, Fabriken zum Stillstand gebracht – und vieles mehr. Nach dem Einspielen nur einer Datei als Fix des Problems war die Ursache zwar schon nach etwa einer Stunde behoben, allerdings dauerte es noch den ganzen Freitag und teilweise länger, bis die nachgelagerten Systemausfälle halbwegs überwunden waren.

Dieser Vorfall wirft ein Schlaglicht auf die Situation in den zentralen IT-Infrastrukturen, in denen sich in den letzten Jahren und besonders durch gegenwärtige Trends eine Menge neuer Risiken angesammelt haben. Hier ein paar dieser Beispiele und die Skizze einer Antwort aus marxistischer Sicht.

Wachstum und Monopolisierung

Ein wichtiger Trend hinter dem Vorfall ist sicherlich der qualitative Sprung in der Nutzung von Cloud-Computing, der sich in den letzten beiden Jahren nochmal verstärkt hat. D. h., immer weniger Firmen (egal welcher Größe) nutzen noch eigene Rechenzentren (mit Serversystemen vor Ort), sondern haben praktisch alle geschäftsrelevanten Backendprozesse in nur noch „virtuell“ eigene Teilbereiche von globalen Server-Betreiber:innen ausgelagert. Hier teilen sich eine Handvoll globaler Großkonzerne, wie Azure von Microsoft, die Google-Cloud von Alphabet, AWS von Amazon etc. den Markt auf. Laut de.statista.com stiegen die globalen Umsätze 2023 auf bereits 561 Milliarden US-Dollar und werden dieses Jahr 675 Milliarden erreichen. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 lag die Zahl noch bei 270 Milliarden und vor 2015 war man noch unter der 100 Milliardengrenze. Dies spiegelt eine gewaltige Zentralisierung von Datenhaltung, Applikationsausführung und Dienstleistungen auf wenige IT-Betreiber:innen dar. Andererseits reduzieren diese wiederum ihre Kosten durch Auslagerung von Hardware und Dienstleistungen an Sub (-Sub-…)-Firmen. Dazu kommt, dass viele der Anwendungen „alt“ (im Sinne der IT-Entwicklungszeiten) sind und so ein Mischmasch an zum Teil nicht kompatiblen Systemen entsteht bzw. solche, die nicht wirklich cloudfähig sind, mit integriert werden müssen, so dass für solche Probleme eine Menge an Anpassungsebenen für den Weiterbetrieb eingeführt werden muss. Dieses ganze komplexe Gebilde erfordert einen hohen Planungs- und Betriebsaufwand – und sämtliche Änderungen an einer Stelle können schnell zu unübersehbaren Konsequenzen an anderen Orten führen.

Insbesondere aber stellt diese jüngste massive Verlagerungswelle in die Cloud neue Herausforderungen an die „IT-Sicherheit“. Dies betrifft nicht nur den gesicherten Datenzugriff (auch hochsensible persönliche Daten, z. B. zu Gesundheit oder sexueller Orientierung, lagern ja jetzt zumeist irgendwo auf der Welt in Cloudspeichern), sondern auch die Vermeidung von gravierenden Fehlern bei Applikationen oder Dienstleistungen (z. B. Schutz vor Ausfall von lebenswichtiger Infrastruktur). Es ist daher kein Wunder, dass der Markt von Cloud-Security-Produkten zu den am größten wachsenden Bereichen im an sich schon wachsenden Cloud-Sektor zählt. Laut Gartner waren 2023 an den Cloud-Verkäufen 32 % sicherheitsbezogen (gegenüber 13 % Anteil an Security bei sonstigen IT-Geschäften). Jüngstes Beispiel ist die Rekordübernahme des israelischen IT-Security-Startups Wiz durch Alphabet (Google) für 23 Milliarden US-Dollar – eine von etwa 50 Übernahmen von IT-Security-Firmen nur in diesem Jahr (laut JPMorgan Chase).

Diese IT-Security für Cloud-Systeme betrifft bei weitem nicht nur Firewall- oder Authentifizierungssysteme, sondern vor allem solche zur „präventiven Gefahrenabwehr“. Hier werden insbesondere die neuen AI-Systeme (Mashine-Learning, Language Modelling, generative und pre-trained Modelle etc.) als erstem großem kommerziellem Gebiet eingesetzt. Da dort die globalen Datenströme (und wohl auch Cloud-Inhalte) auf „sicherheitselevante“ Zusammenhänge durchforstet werden, lässt dies wenig Gutes für die viel versprochene Absicherung des AI-Gebrauchs in Bezug auf Datenschutz erwarten. Ein großer Teil der besonders heiß gehandelten Firmen wie Wiz oder Armo stammt aus dem Bereich der israelischen Streitkräfte (Security-Entwicklung aus Israel wird anders als bei anderen Herkunftsländern von der NSA von etlichen Einschränkungen ausgenommen) bzw. von ehemaligen Mitarbeiter:innen der US-Sicherheitsbehörden. Dies verheißt nichts Gutes für die von Snowden auf viel niedrigerem Entwicklungsniveau aufgedeckten Tendenzen.

Profitmacherei und Sicherheit

Das Wachstum des Marktes an Security-Produkten geht notwendigerweise einher mit einem ständigen Umbau und Updatechaos bei den betroffenen Cloud-Systemen. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass grundlegende Änderungen über die Cloudsysteme der Welt geschickt werden. Auch bei dem Vorfall vom 19.7. wurde in einem System der Firma CrowdStrike (Falcon), das von einigen wichtigen Cloud-Anbieter:innen verwendet wird, ein Update scharf geschaltet, das den „Sensor“ in der Interprozesskommunikation (IPC) von Microsoft-Windows-Servern betrifft (d. h. hier werden Daten abgegriffen, die zwischen Applikationen in Laufzeit ausgetauscht werden). Da in dem Sensor-Update ein Programmierfehler enthalten war, führte dies zum Crash der IPC und mit dem Ausfall dieses wesentlichen Betriebssystemelements zum baldigen Absturz aller vom Update betroffenen Windows-Server weltweit. Durch einfachen Austausch nur einer Datei konnte das Problem dann aber auch sofort wieder behoben werden.

Der andere Trend, der durch diesen Vorfall aufgedeckt wird, ist die Situation in den IT-Firmen selbst. Längst sind IT-Abteilungen durch Outsourcing und globales Verschieben von Dienstleistungen zu unüberblickbaren Chaosfaktoren geworden. Das Wachstum an Komplexität der zu managenden Systeme entspricht in keiner Weise mehr ihrer Kapazität, diese noch zu betreuen. Die Auswirkungen von Updates, die Fehlervorsorge, das Austesten, die Planung von Ausfallvorsorge etc. können von den immer weniger werdenden Beschäftigten mit Überblick kaum noch bewältigt werden. Die notwendige Zeit für die Überprüfung von Softwareveränderungen (jedes System enthält in unvermeidbarer Weise einen gewissen Prozentsatz an Fehlern – auch wenn dies Verschwörungstheorien zumeist anders deuten) fehlt zumeist, genauso wie die für System- und Integrationstests. Angesichts dessen ist es eher erstaunlich, dass es erst jetzt zu einem solch umfassenden Systemcrash gekommen ist. Im kleineren Rahmen von regionalen oder nationalen Firmenbereichen geschehen solche mehr oder weniger kleinen Katastrophen fast täglich, ohne dass davon viel in die Presse kommt (oder dann als „Softwarepanne“ kleingeredet wird).

Die hier aufgezeigte Entwicklung im IT-Bereich zeigt, dass sich sowohl in Bezug auf Sicherheit wie auf den lebenswichtigen Betrieb von IT-Systemen angesichts der globalen Konzentration derselben im bestehenden kapitalistischen System enorme Krisenpotentiale herausgebildet haben. Die Verwertungszwänge des großen IT-Kapitals führen zu enormem Arbeitsaufwand, um immer unsicherer werdende und komplexere Systeme noch betreiben zu können. Die Antwort kann nur sein, dass diese Großsysteme vergesellschaftet und unter Kontrolle der IT-Beschäftigten und die großer, selbstorganisierter, vernetzter IT-Communities gestellt werden, die sowohl den sicheren Betrieb lebenswichtiger Infrastruktur, die Datensicherheit und menschengerechte Arbeitsbedingungen für IT-Beschäftigte zur Priorität machen, statt immer höhere Umsätze und Profite für einige wenige IT-Mogule.




Was ist eigentlich antimuslimischer Rassismus und woher kommt er?

Dilara Lorin und Stephie Murcatto, REVOLUTION, Infomail 1258, 24. Juni 2024

„Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse!“

Dass die rechtsextreme AfD-Abgeordnete Alice Weidel diesen Satz im Bundestag gesagt hat, ist noch gar nicht so lange her. Lehrer:innen, die deine Hidschab tragenden Mitschüler:innen verbal angreifen und fragen, ob sie dazu gezwungen wurden und das Kopftuch wieder abnehmen sollen, bis hin zu Sprüchen wie „Na, bekommt dein Gehirn darunter noch Luft?“ Oder die Wohnungssuche, bei der Vermieter:innen einen Lukas einem Hamid vorziehen, obwohl beide die gleichen Unterlagen vorlegen, was zu offener Diskriminierung und Benachteiligung führt und auf dem Arbeitsmarkt nicht anders aussieht. Dies sind nur Bruchstücke des antimuslimischen Rassismus, mit dem viele Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Dabei hat sich die Lage in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 verschlechtert, indem alle Muslim:innen unter Generalverdacht gestellt werden. Vizekanzler Robert Habeck forderte in einer Ansprache alle Muslim:innen dazu auf, sich zum 7. Oktober zu verhalten und Israel als Staat anzuerkennen. Würde dem nicht Folge geleistet, könnten sie Gefahr laufen, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren. Der Generalverdacht, der von allen Seiten der deutschen Politik kommt, ist ein Schlag ins Gesicht der 5,3 – 5,6 Millionen in Deutschland lebenden Muslim:innen (ungefähr 6,4 – 6,7 Prozent der deutschen Bevölkerung). Doch was ist antimuslimischer Rassismus und woher kommt er? Um dies zu verstehen, müssen wir uns zuerst anschauen, was Rassismus ist:

Was ist Rassismus?

Eines ist klar: Rassismus ist kein Produkt der „menschlichen Natur“ und auch nicht Ausdruck einer „tief verwurzelten Angst vor dem Fremden“. Vielmehr ist Rassismus eng mit der Entstehung bürgerlich-imperialistischer Nationalstaaten verbunden. In einer Zeit, in der der Kapitalismus einen Weltmarkt schuf und die Nationalstaaten neue Märkte erschließen mussten, wuchs aufgrund der kolonialen Ausbeutung das Bedürfnis nach Erklärungen, die die „Unzivilisiertheit“ dieser Menschen konstatierten und sie damit zu ewigen „Diener:innen des weißen Mannes“ machten. Damit war der Boden bereitet für die pseudowissenschaftliche Erklärung ihrer „Minderwertigkeit“ durch den Rassenbegriff. Rassismus übersteigt jedoch bloße sprachliche oder kulturelle Kategorisierungen und nutzt phänotypische Merkmale wie zum Beispiel Hautfarbe und Kopfform, um Menschen in vermeintlich feste Gruppen einzuteilen. Der Rassenbegriff diente als effizientes Werkzeug für bürokratische Grenzziehungen und demagogische Mobilisierung. Der Rassismus ermöglicht auch die Zuteilung unterschiedlicher Rechte je nach Zugehörigkeit zu einer „rückständigen“ oder „zivilisierten“ Nation oder Nationalität. Damit wird die ethnische Zugehörigkeit zu einem imperialistischen „Staatsvolk“ positiv und die zu allen anderen negativ bewertet, was zu einer Abwertung der Angehörigen unterdrückter Nationen führt. Rassismus ist tief in unserem gegenwärtigen Herrschaftssystem verankert. Die materielle Basis des Rassismus‘ in der Arbeiter:innenklasse ist die massenhafte Überausbeutung in den Halbkolonien, die einem Teil der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern einen gewissen Wohlstand zu garantieren scheint.

Was zeichnet antimuslimischen Rassismus aus?

Dabei handelt es sich um eine Form des Rassismus, der sich nicht nur gegen religiöse Sympathien und Praktiken richtet, sondern gleichzeitig Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft rassifiziert und dem Islam zuordnet. Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie machen den/die „Muslim:in“ zu einer unveränderlichen Sache, sodass Menschen verschiedener Nationalitäten und sogar Glaubensrichtungen als „muslimisch“ charakterisiert werden. Somit trifft antimuslimischer Rassismus nicht nur Muslim:innen, sondern auch diejenigen, die scheinbar „muslimisch“ aussehen oder Menschen sind, die aus einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung stammen. Dabei verfolgt der antimuslimische Rassismus einen ähnlichen Zweck wie der Rassismus allgemein: Spaltung der Arbeiter:innenklasse und Herausentwickeln einer prekären Schicht dieser, Trennung des Arbeitsmarktes und Legitimation von Kriegen und imperialistischen Interessen. Durch die Spaltung der Arbeiter:innenklasse wird einerseits eine einheitliche Masse der Ausgebeuteten verhindert und andererseits können jene Arbeiter:innen besser ausgebeutet werden, die aufgrund ihrer Rassifizierung nicht die gleichen Rechte erhalten. Die Verbindung der Diskriminierung von Arbeitsmigrant:innen mit ihrer rassistischen Brandmarkung als „Muslimin:innen“ stellt diese als „Gefahr“ für „zivilisierte“ Gesellschaften dar. Diese Charakterisierung wird zunehmend von Rechtsextremen aufgegriffen und mit Verschwörungsideologien verknüpft. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Islamisierung des Abendlandes“, die wegen der angeblich muslimischen Einwanderung stattfindet, um die weiße Bevölkerung zu marginalisieren. So soll die Abschottung und Rückführung von Geflüchteten besser gelingen. Letztendlich sind alle Formen von Islamophobie und antimuslimischem Rassismus rassistische Ideologien, die der Unterdrückung von eingewanderten und geflüchteten Arbeiter:innen dienen sowie einen ideologischen Deckmantel für „humanitäre“ Interventionen in Halbkolonien oder die Unterstützung des zionistischen Staates rechtfertigen.

Wie ist der antimuslimische Rassismus entstanden?

In den letzten Jahren haben sich der Rassismus gegen Muslim:innen und die Islamophobie erheblich verändert, wodurch dem antimuslimischen Rassismus ein anderer Charakter verliehen wurde. Seit den 2000er Jahren können wir erkennen, dass der antimuslimische Rassismus eine dominierende Form des Rassismus in den imperialistischen Ländern angenommen hat. Dies hat seine Ursache in verschiedenen historischen Entwicklungen. Eine davon ist der Zusammenbruch der Sowjetunion, der die Weltlage schlagartig verändert und die USA dazu veranlasst hat, die Welt neu ordnen zu wollen, um ihre Hegemonie und Machtansprüche zu sichern. In den USA wurden in dieser Zeit immer mehr Bücher und Publikationen veröffentlicht, die Wege und Strategien für ihre Hegemonie skizzieren. Dabei wurden vor allem andere imperialistische Länder wie China und Russland als Rivalen dargestellt und Strategien veröffentlicht, die verhindern sollten, dass diese die Hegemonie der USA angreifen können. Eines dieser rassistischen Bücher war Samuel P. Huntingtons „The Clash of Civilizations“ (Kampf der Kulturen), das auch den „Islam“ als einen Imperialismus beschrieb, der sich zu einem globalen Rivalen entwickeln könnte, und das voller rassistischer Ideologie steckte. Dabei ist der Islam weder eine wirtschaftliche Einheit noch eine Nation oder eine Föderation von Nationen. Er ist kein Rivale um die Weltmacht. Aber er eignet sich gut als globaler Feind, der sowohl intern als auch extern auftritt. Nach den Angriffen am 11. September 2001 wurde diese Ideologie dann genutzt, um den sogenannten „War on Terror“ zu legitimieren und dutzende imperialistische Kriege wie in Afghanistan, gegen vermeintlich muslimische Länder im Mittleren Osten, aber auch überall in der Welt zu legitimieren. Außerdem bietet das nicht nur eine ideologische Rechtfertigung für die Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens, sondern auch für die polizeiliche Überwachung und Stigmatisierung der muslimischen Bevölkerung. Dafür mussten der „Islam“ und der „Islamismus“ als einheitliches Gebilde konstruiert werden, um somit einen homogenen, gefährlichen und barbarischen Feind zu kreieren, dessen Anhänger:innen zu einer rückständigen Kultur gehören, die nicht in die moderne, demokratische Gesellschaft integrierbar ist. Dass im Islam selbst unterschiedliche Schulen und Glaubensauslegungen vorherrschen, beispielweise Unterschiede zwischen Schiit:innen und Sunnit:innen, spielt dabei gar keine Rolle. Dabei wird oft von allem Islam als Islamismus gesprochen, ohne zwischen echtem Islamismus (politischem Islam) und dem Islam als bloßer Religion zu unterscheiden. So werden die in Deutschland stattfindenden Propalästina-Demonstrationen von Robert Habeck als islamistisch bezeichnet, obwohl es sich bei den Organisator:innen größtenteils um säkulare, linke Organisationen handelt.

Situation von Muslim:innen

Insgesamt gehört die Mehrheit der Muslim:innen in der EU zu den prekären Teilen der Arbeiter:innenklasse: So ist die Arbeitslosenquote unter türkischstammigen Arbeiter:innen in Deutschland oder unter pakistanischen und bangladeschischen Arbeiter:innen in Großbritannien um 15 bis 40 Prozent höher als im nationalen Durchschnitt. Man kann also sagen, dass die Arbeitslosenquote unter Migrant:innen und Muslim:innen (soweit getrennte Daten vorliegen) wesentlich höher ist als im nationalen Durchschnitt. Dadurch wird deutlich, dass Muslim:innen systematischer Unterdrückung, Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt sind, was als Folge Ghettoisierung mit sich bringt.

Auf dem Arbeitsmarkt und in der Schule erleben Migrant:innen und Muslim:innen alltägliche Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund ihrer Herkunft und Religion, auch wenn es in vielen Ländern oberflächliche Antidiskriminierungsgesetze gibt, die nicht verhindern, dass z. B. die Arbeitssuche für Migrant:innen mit Kopftuch wesentlich schwieriger ist als für weiße Frauen ohne Kopftuch. Auch in der Schule ist es für Schüler:innen aufgrund ihrer sozialen Lage schwieriger, Lernerfolge zu erzielen, was insgesamt dazu führt, dass Muslim:innen (und Migrant:innen insgesamt) tendenziell in schlechter bezahlten Sektoren arbeiten als weiße Arbeiter:innen.

Wir wollen im zweiten Teil der Artikelreihe zu antimuslimischem Rassismus genauer darauf eingehen, was wir tun können, um dagegen anzukämpfen. Welche Forderungen sollten wir im Kampf aufstellen? Wieso ist der Kampf für Religionsfreiheit für alle wichtig? Seid gespannt!




11-Punkte-Programm: IG Metall als beste Gesamtkapitalistin

Martin Suchanek, Neue Internationale 283, Juni 2024

Wenn’s dem Herrn gut geht, geht es auch dem Knecht gut – so etwa lautet die politische Weisheit, das sozialpartnerschaftliche Credo der größten deutschen Gewerkschaft, der IG Metall. Dem deutschen Kapital und unser allem Wirtschaftsstandort geht es schlecht, so jedenfalls die Diagnose der „11 Punkte für ein modernes, innovatives und gerechtes Industrieland“, die die Gewerkschaft am 14. Mai unter dem Titel „Die Zeit drängt“ veröffentlichte. Und wenn es dem Herrn nicht gut geht, dann bereitet das auch Magd und Knecht Sorgen.

„Deutschland steht still, droht im globalen Wettbewerb den Anschluss zu verlieren,“ diagnostiziert die IG Metall. Schuld darin? Erstens eine Regierung, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt und auf die Schuldenbremse statt auf Innovation und Konjunkturprogramme wie die USA und China setzt. Zweitens Unternehmen, die vom Standort fliehen, übertriebene und unrealistische kurzfristige Renditeerwartungen verfolgen, statt sich zum „Standort bekennen und hier investieren“.

Mit dieser unpatriotischen, standortfeindlichen Totengräberpolitik will die IG Metall aufräumen und schlägt Alarm. Auch wenn die 11 Punkt im Grunde nichts Neues enthalten, so verdeutlichen sie die politische Einschätzung und Ausrichtung der Gewerkschaftsbürokratie und ihre servile Abhängigkeit von „unseren“ Unternehmen, die „uns“, also den Lohnabhängigen, gar nicht gehören. Doch davon lässt sich die Gewerkschaftsführung nicht weiter irritieren. Wer in „seinem“ Unternehmen mitbestimmt, Standortpakte verhandelt, „sozialverträglich“ Personal abbaut, beim Mitbestimmen das Unternehmensintersinteresse nie aus dem Auge verliert, die/der betrachtet natürlich auch den Nationalstaat, in dem „ihre/seine“ Firmen verwurzelt sind und dessen gesellschaftliches Gesamtkapital sie bilden, auch als ihr/sein Interesse.

Als Vertretung aller Knechte und Mägde, aller Lohnabhängigen macht sich die IG Metall um den Standort nicht nur Sorgen, sie hält ihren Herr:innen auch vor, dass sie sich um ihre und unsere gemeinsamen Interessen nicht richtig kümmern würden. Und der geschäftsführende Ausschuss des Kapitals kommt dank FPD-Depp:innen und Schuldenbremse auch nicht in die Gänge. Glücklicherweise gibt es die IG Metall, die Grünen und SPD beispringt, die Schuldenbremse und, wäre es denn möglich, auch die FDP gern canceln würde. Und sie macht auch gleich klar, worin ihr und unser Ziel im Interesse Deutschlands und seiner Unternehmen besteht: „Wir wollen, dass Deutschland ein erfolgreiches Industrieland bleibt. Unser Ziel: Wir setzen uns bei Innovationen und neuen Technologien an die Spitze.“ Weniger als der Platz 1 in der Weltmarktkonkurrenz kommt für die IG Metall offenbar nicht in Frage.

Daher muss „Deutschland Industrieland bleiben“, damit „wir“ unabhängig sind vom Ausland und – das sagt die IG Metall nicht – als Exportweltmeister:innen dieses wieder stärker von uns abhängig machen können. Außerdem klappt es so auch mit der Transformation und Energiewende. Dafür aber braucht es ein „Bekenntnis der Arbeitgeber zu Standort und Innovation.“

Dafür stehen dann auch die IG Metall und die Lohnabhängigen bei Fuß. „Sie sind die Innovationstreiber. Sie arbeiten hart für den technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt.“ So können „wir“ gemeinsam, in sozialpartnerschaftlicher Eintracht in der Weltmarktkonkurrenz gewinnen – mit „anständigen“ Löhnen zu „angemessenen“ Profiten. Und damit die Energiewende, der Umbau der Konzerne nicht „zu teuer“ werden, muss die Schuldenbremse weg, die Steuergerechtigkeit etwas verbessert werden, so dass Geld genug vorhanden ist für zeitlich begrenzte Subventionen, staatlich garantierte günstigere Energiepreise für alle Unternehmen, ob groß oder klein. Kurzum, damit sich auch die Unternehmen für das Programm der IG Metall erwärmen, sollen sie im Gegenzug für Standortgarantien und gute Löhne motivierte, gut ausgebildet flexible Arbeitskräfte, regelrechte Arbeitsarmeen für die Weltmarktkonkurrenz plus staatliche Förderungen überall da vorfinden, wo der Schuh in der Konkurrenz mit dem Ausland drückt. Das gilt natürlich besonders für den ureigenen Geschäftsbereich der IG Metall, die Autoindustrie, wo es Kaufprämien für E-Autos geben soll und staatliche Fördermaßnahmen, aber nur für Modelle, die zu großen Anteilen in Europa gefertigt werden und nicht etwa in China oder den USA.

Kurzum, die Solidarität mit den Lohnabhängigen weltweit endet bei der Industriegewerkschaft dort, wo es um die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals geht. Denn nicht irgendein, sondern das deutsche Kapital ist der Herr über die Knechte aus dem IG-Metall-Vorstand. Und dem soll es endlich wieder gutgehen, damit die Knechte und Mägde auch wieder mehr vom Profitkuchen abkriegen können.




Massenentlassungen bei Tesla

Jan Hektik, Neue Internationale 282, Mai 2024

Wieder einmal wird Elon Musk in den Medien rauf und runter gespielt und wieder einmal macht die Gigafactory in Grünheide Schlagzeilen. Diesmal geht es um die Massenentlassungen, die Musk auf X (vorher: Twitter) angekündigt hatte. Rund 10 % aller weltweit Beschäftigten sollen entlassen werden, da sich der Konzern „zwischen zwei Wachstumswellen“ befände. Ursprung der Überlegung sind wohl sinkende Verkaufszahlen, die vor allem auf die steigende Konkurrenz zurückgeführt werden. Wie immer wird in den deutschen Medien viel diskutiert, welche Ursachen der Rückgang haben kann, wie viele Entlassungen wirklich „notwendig“ wären und welches Verhältnis zwischen Entlassungen und Vergütung „fair“ sei.

Der 174-Milliarden-US-Dollar schwere Mensch ficht nämlich gerade in Kalifornien einen Rechtsstreit aus, bei dem es um eine Vergütung im Wert von rund 56 Milliarden US-Dollar geht. Auch wenn der Verweis auf den gigantischen privaten Reichtum von Musk zu kurz greift, um die Probleme von Tesla zu erklären, so verdeutlicht er, welche Profite der Konzern in den letzten Jahren auch mithilfe jener Arbeiter:innen erzielt hat, die nun „abgebaut“ werden sollen. Weltweit sollen ca. 10 % der 140.000 Beschäftigten gefeuert werden – auch in Grünheide mit eine Belegschaft von 12.000 Arbeiter:innen. Und das muss längst nicht alles sein, wie die ursprünglich verlautbarte Zahl von 3.500 dort zu Entlassenden deutlich macht, die Tesla dementiert.

Erste Entlassungen

300 Leiharbeiter:innen haben in Grünheide schon ihren Job verloren. Am Montag, den 15. April, wurden sie von Tesla „abgemeldet“. Das ist die schönere Form von entlassen, weil Leiharbeiter:innen ja niemals bei Tesla angestellt waren. Wie praktisch. Stark kritisiert wurde dies von der IG Metall, die seit den letzten Wahlen Anfang 2024 die größte Fraktion im Betriebsrat stellt. In typisch bürokratischer Manier erinnert sie, dass das Unternehmen verpflichtet sei, Entlassungen nicht nur mitzuteilen, sondern gemeinsam mit dem Betriebsrat abzustimmen, um eine Beschäftigungsperspektive zu ermöglichen.

Doch selbst mit gesetzlichen und sozialpartnerschaftlichen Regularien nimmt es Musk, der in Südafrikas Apartheid aufgewachsene Sohn eines Minenunternehmers und Immobilienentwicklers, nicht so genau. Zahlreiche Unfälle, rechtlich fragwürdige Schweigeklauseln, untertarifliche Bezahlung und die Gefahr für die Umwelt gehören gewissermaßen zum Geschäftsmodell. Gewerkschaftsfeindlichkeit gehört natürlich auch dazu. Nachdem Tesla die erste Betriebsratswahl 2022 noch vor Betriebsbeginn (einen Tag bevor wesentlich mehr Mitarbeitende abstimmungsberechtigt gewesen wären) überfallartig durchzog, wurde sie dieses Jahr wieder kurzfristig durchgeführt, sodass die IG Metall vor Gericht zog, weil sie kritisierte, die Wahl nicht anständig vorbereiten zu können. Nachdem diese dann im März stattfand, stellt die IG Metall nunmehr 16 von 39 Sitzen, oder wie Tesla sagt: „Eine Mehrheit unserer Beschäftigten hat sich gegen einen gewerkschaftlichen Betriebsrat ausgesprochen.” So kann man es auch ausdrücken …

In jedem Fall arbeitet Tesla gezielt daran, die Gewerkschaft aus dem Betrieb zu halten und die unternehmensnahen und gelben Betriebsratslisten verfügen noch immer über eine Mehrheit im Betriebsrat. Das macht es natürlich leichter, selbst die Mitbestimmungsrechte des Gremiums zu „umgehen“.

Immerhin spricht sich die IG Metall gegen die Entlassungen aus und fordert die Einbeziehung des Betriebsrates und, dass die Kolleg:innen in anderen Bereichen eingesetzt bzw. umgeschult werden. Doch eine Kampfperspektive stellt das nicht dar. Im Grunde appelliert auch die IG Metall an die Unternehmensleitung, am runden Tisch der Sozialpartner:innenschaft das Problem zu lösen. Auch der Appell an „die Politik“, also an die brandenburgische Landesregierung, die den Bau und die Genehmigungsverfahren der „Gigafactory“ über Jahre tatkräftig gefördert hatte, wird letztlich wirkungslos bleiben. Schließlich geht in der freien Marktwirtschaft das Recht des Privateigentums über alles. So wird „die Politik“ allenfalls lahme Appelle an den Konzern richten, Personalabbau „fair“ und „verhältnismäßig“ zu gestalten.

Gegen alle Entlassungen!

Wenn alle Entlassungen verhindert werden sollen, braucht es eine gemeinsame Mobilisierung, um die volle Kampfkraft der Belegschaft in die Waagschale zu werfen. Die IG Metall und ihre Mitglieder können die Entlassungen verhindern. Dazu bracht es regelmäßige Mitgliedertreffen, den Aufbau von Vertrauensleutestrukturen, um im Betrieb zu wirken, und die Einberufung von Belegschaftsversammlungen. Die IG Metall im Betriebsrat muss die unternehmensnahen Fraktionen vor sich her treiben, jede Zusammenarbeit mit dem Management aufkündigen und das von den anderen Gruppierungen fordern.

Vor allem aber geht es darum, Kampfmaßnahmen im Betrieb vorzubereiten und durchzuführen – einen unbefristeten Streik, bis alle Entlassungen vom Tisch sind. Dabei muss auch die sofortige Wiedereinstellung der Leiharbeiter:innen und eine Überführung ihrer Verträge in Festanstellungen zu tariflichen Bedingungen gefordert werden. Den Streik und eine etwaige Verhandlungsführung selbst sollten die Kolleg:innen dabei nicht einer vom Apparat ernannten Leitung überlassen, sondern ein Aktions- und Streikkomitee sollte der Belegschaft verantwortlich, von dieser gewählt und gegebenenfalls abwählbar sein.

Dieser Kampf darf zugleich nicht auf Deutschland beschränkt bleiben, sondern sollte möglichst konzernweit gegen die Entlassung von 10 % der globalen Belegschaft geführt werden.

Weitergehende Perspektive

Ein solcher Abwehrkampf stellt natürlich auch die Frage nach der weitergehenden Perspektive für die Produktion und den Standort. Die IG Metall und die Beschäftigen müssen hinterfragen, in welchem Interesse hier produziert, entschieden, gekürzt und umverteilt wird? Ist es gesamtgesellschaftlich sinnvoll, wegen rückgehender Verkaufszahlen von E-Autos (bisher) 300 Menschen zu entlassen, damit einer der reichsten der Welt im gleichen Tempo noch reicher werden kann? Und wo wir gerade dabei sind: „Ist es überhaupt gesamtgesellschaftlich sinnvoll, E-Autos in Grünheide zu produzieren?“

Die heißt nichts anderes, als die Frage nach der Umstrukturierung der Produktion im Sinne der gesamten Arbeiter:innen und der Gesellschaft wie auch ökologischer Nachhaltigkeit aufzuwerfen. Um das umzusetzen, muss Tesla enteignet werden – entschädigungslos und unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Gegen jede Entlassung und alle Krisenabwälzungen auf die Beschäftigten!

  • Offenlegung der Geschäftsbücher und Bilanzen des Unternehmens!

  • Enteignung von Tesla und die Umstellung der Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle!



Auf der Lauer: Union und FDP wollen Streikrecht angreifen

Jaqueline Katherina Singh, Neue International 281, April 2024

Alle Motoren stehen still, wenn die Gewerkschaft es nur will. Oder so ähnlich. Stillstanden in den letzten Wochen nämlich die unterschiedlichsten Verkehrsmittel, teilweise kam es zu Überschneidungen mehrerer Arbeitskämpfe. Gestreikt haben nämlich GDL, Cockpit und kommunale Verkehrsbetriebe. Höchste Zeit, könnte man angesichts der steigenden Preise der letzten Jahre meinen. Aber das sehen natürlich nicht alle so.

Mythos Streiknation

Begleitet wurden die Streiks von einem medialen Orchester, das – wie zu erwarten – die Töne nicht ganz traf. Gefühlt läuft es in diversen Redaktionen so ab: Streiks von der GdL, von Cockpit? Endlich mal wieder den eigenen Frust kompensieren, indem man über genervte Fahrgäste schreiben kann! Zwar gibt es auch moderate Berichterstattungen, aber der Grundton ist klar. Überraschend ist das wenig, bedenkt man die Hetzkampagnen gegen Weselsky in der Vergangenheit. Trotzdem ist eines auffällig: Es wird das Bild von massenhaften Streiks gezeichnet. Ob Tagessschau, Süddeutsche oder FAZ: Alle haben im letzten Monat attestiert, dass Deutschland ein Streikland ist.

Dass das eine Lüge ist, wird schon im europäischen Vergleich klar: 2020/21 wurde in Frankreich etwa 79 Tage im Jahr aufgrund von Streiks nicht gearbeitet, in Belgien waren es 57 Tage, in Spanien etwa 30 Tage. In Deutschland dagegen waren es nur etwa 13 Tage – 4 Tage weniger als im Zeitabschnitt von 2010 – 2019 laut dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI). Dies bezieht sich dabei auf den Jahresdurchschnitt der Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte und bezieht Streiks oder Aussperrungen mit ein. Doch nicht nur medial wird Stimmung gemacht. Dass Union und FDP da nicht lange auf sich warten lassen, ist klar. Insbesondere die Streiks von ver.di und der GDL haben es ihnen angetan.

Drohende Einschränkungen

Dabei ist sich Gitta Connemann, Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion nicht zu schade, in populistischer Manier gegen die Kampagne #wirfahrenzusammen zu wettern. So im Artikel „Braucht es andere Streikregeln?“ auf der Website der CDU: „Ver.di streikt. Fridays for Future streikt. Offiziell geht es um unser Klima. Doch stimmt das wirklich? […] Es geht nur sehr vordergründig um das Klima – und schon gar nicht um Gehälter oder Arbeitszeiten. Das sind politische Streiks. Diese aber sind unzulässig.“ Dass das nicht stimmt, ist klar. Doch diese Kampagne dient mehr war als Mittel, um einen anderen Vorstoß populär zu machen: weitere Einschränkungen des Streikrechts.

Die Töne Connemanns, kritische Infrastruktur müsse geschützt werden, stoßen auch in der FDP auf offene Ohren. Laut Generalsekretär Bijan Djir-Sarai müsse dafür gesorgt werden, „dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt und eine maßlose Streikgier, wie wir sie erlebt haben, in Zukunft unterbunden wird“. Dass die freiheitlichen Werte der Liberalen nur für die Arbeit„geber“:innen zählen, überrascht wenig. Doch was bedeutet das konkret? Ein Gesetzentwurf liegt noch nicht vor. Bisher heißt es, dass in der Zukunft eine Initiative im Bundestag geplant werden solle. Dabei vertritt die CSU die Ansicht, dass Streiks in Bereichen der kritischen Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge an Bedingungen geknüpft werden sollten:

  • ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vorab,
  • eine Mindestfrist für die Ankündigung eines Streiks,
  • verpflichtende Vereinbarungen der Tarifparteien zur Mindestversorgung und von Notdiensten.

Das soll nicht nur den Transportsektor treffen, sondern auch den Gesundheitsbereich, die Energie- und Wassersorgung. Als Inspiration dienen hierbei die Einschränkungen in Spanien, die dazu führen, dass zu Stoßzeiten 75 % (!) aller Züge fahren müssen und sonst 50 %, oder das italienische Streikrecht, was seit den 1990er Jahren besteht und massive Eingriffe und Verbote mit sich zieht. So wurde beispielsweise ein geplanter 24-stündiger Generalstreik im November 2023 auf  vier Stunden heruntergekürzt und teilweise ein Streikverbot ausgesprochen.

Was bedeutet das konkret?

Dass Deutschland – neben Großbritannien – bereits jetzt eine der restriktivsten Streikregelungen hat, spielt im Interesse der Arbeit„geber“:innen eine Nebenrolle. Hierzulande ist Streikrecht vor allem Richter:innenrecht – und da diese im Falle der EVG, aber auch GDL anscheinend zu lasch reagiert haben (also die Streiks nicht verboten haben), braucht es nun ein konkretes Gesetz. Den krassesten Angriff stellt dabei das verpflichtende Schlichtungsverfahren dar.

Die bremsende Rolle von Schlichtungsverfahren wurde zuletzt bei der TVöD-Runde 2023 deutlich. Hier trafen ver.di und der VKA eine Vereinbarung, die eine der beiden Seiten dazu verpflichtet, einer Schlichtung zuzustimmen, wenn es die andere wünscht. Wie schon bei der Konzertierten Aktion spielte diese in den Köpfen der ver.di-Verhandlungsführer:innen eine Rolle bei ihrer „Taktikfindung“. Gleichzeitig ermöglichte sie ihnen auch, sich rhetorisch bis zur Schlichtung kämpferischer darzustellen, um danach durch sie den sozialpartner:innenschaftlichen Kompromiss auszuhandeln. Da während des Zeitraums der Schlichtung keine Streiks stattfinden dürfen, kann diesen mit der Zeit die Luft ausgehen. Doch das Perfide am Vorstoß der CSU ist das obigatorische Element. Während die Schlichtungsverfahren aktuell durch vorauseilenden Gehorsam der Gewerkschaftsbürokratie zustande kommen – und theoretisch aufgekündigt werden können –, kann eine verpflichtende Schlichtung dazu führen, dass die Arbeit„geber“:innenseite die Verhandlungen auflaufen lassen kann – nur um dann in die Schlichtung gehen zu können.

Kein Zufall, sondern Klassenkampf von oben

Diese Vorstöße tragen einen klaren Charakter. Auch wenn sie nicht unmittelbar umgesetzt werden, zeigen sie die Linie klar auf, die sich ein Teil des deutschen Kapitals wünscht. Während in der Pandemie „wir alle zusammenhalten mussten“, sollen Reallohnverluste die dadurch, sowie durch die Inflation und gestiegenen Energiepreise entstanden sind, nicht wieder ausgeglichen werden.

Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage ist das nicht verwunderlich. Dabei sollte nicht davon ausgegangen werden, dass diese ein kurzes Intermezzo bleibt, sondern Teil einer globalen Entwicklung als Folge der Wirtschaftskrise nach der Pandemie ist. (Siehe den Artikel zur deutschen Wirtschaft in dieser Ausgabe der NI). Zentral ist, dass der Verteilungsrahmen insgesamt knapper wird – und das Modell der Sozialpartnerschaft, welches seit Jahrzehnten der SPD als Erfolgsrezept gilt, nicht für immer in der aktuellen Form aufrechterhalten werden kann. Dementsprechend braucht es andere Lösungen fürs Kapital.

Unzureichende Antworten

Angesichts dieser Situation braucht es eine klare Linie. Dass der DGB sich gegen weitere Einschränkung des Streikrechts ausspricht, ist positiv (und auch nicht selbstverständlich, wenn man seine Rolle beim Tarifeinheitsgesetz betrachtet). Doch die sonstige Linie Yasmin Fahimis lässt Schlimmeres befürchten. Es scheint so, dass die Augen davor verschlossen werden (sollen) in welcher politischen Situation man sich befindet. So betonte die DGB-Vorsitzende, in Deutschland gelte ein „restriktives Streikrecht“. Auch wenn dies eine Antwort auf Connemanns Unterstellung ist, dass die Kampagne #wirfahrenzusammen ein politischer Streik sei, so zeigt diese, womit man rechnen kann, wenn es zu Angriffen darauf kommt: „Politische Streiks wie in Frankreich sind bei uns ausgeschlossen“, sagte sie. „Wenn jetzt also das Streikrecht in Frage gestellt wird, ist das entweder reiner Populismus oder ein leichtfertiges Spiel mit Verfassungsrechten.“

Auch hier wird der vorauseilende Kotau deutlich. Statt klarer Kampfansagen gegen drohende Eingriffe gibt es vorab Beschwichtigung. Schließlich ist man selbst ja vernünftig – und die anderen eben nicht. Gegenüber tatsächlichen Angriffen bringt so eine Strategie letzen Endes nichts.

Politische Antwort notwendig

Deswegen braucht es zum einen klare Ablehnung, zum anderen aber auch erste Schritte zur Organisation der Gegenwehr. Hierbei müssen die aktuellen Angriffe aufs Streikrecht kollektiv diskutiert – und Gegenmaßnahmen koordiniert – werden. Denn was in Deutschland nun lose angekündigt worden ist, wurde letztes Jahr im Juli in Britannien unterm „Strikes (Minimum Service Level) Act“ teilweise umgesetzt. Proteste dagegen gibt es weiterhin und eine europäische Initiative nicht nur gegen diese Angriffe, sondern für Verbesserungen des Streikrechts. Alle fortschrittlichen Kräfte sollten sich in so einem Rahmen nicht nur für gemeinsame Aktionstage aussprechen und die vollständige Aufkündigung von Schlichtungsverfahren, sondern auch entschieden dafür eintreten, dass Streiks gegen diese Angriffe notwendig sind. Dies würde sie dann zu politischen Streiks machen, was an der Stelle nicht nur Fahimi nicht gefallen würde. Schließlich heißt es auch: Alle Gesetzentwürfe stehen still, wenn die Gewerkschaft es nur will.




Schäuble – ein deutscher imperialistischer Politiker

Martin Suchanek, Infomail 1240, 29. Dezember 2023

Wolfgang Schäuble verstarb am 26. Dezember. Obwohl er selbst nie Bundeskanzler war, prägte er die Politik des deutschen Imperialismus über Jahrzehnte wie kaum ein anderer, gehörte zu den führenden bürgerlich-kapitalistischen Strateg:innen.

Werdegang

Auch wenn er nach seinem Jurastudium als Finanzbeamter tätig war, so führte er im Grunde Zeit seines Lebens das Dasein eines Berufspolitikers. Von 1972 bis zu seinem Tod gehörte er ununterbrochen dem deutschen Bundestag an. Von 1984 bis 1991 fungierte er in den Regierungen Kohl als Minister, zuerst als Chef des Kanzleramtes, dann als Innenminister. 1991 wurde er Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit eine zentrale Stütze der Regierung. Vor der kapitalistischen Wiedervereinigung gehörte Schäuble zudem zu den wichtigsten Stützen Kohls gegen die innere Opposition in der CDU (Geißler, Späth, Süssmuth).

Schäuble war maßgeblich an der zur „geistig moralischen Wende“ verklärten konservativ-(neo)liberalen schwarz-gelben Regierungspolitik und am Wiedervereinigungsvertrag beteiligt, wobei er sich als verlässlicher Vertreter der Interessen des deutschen Gesamtkapitals und dessen führender Konzerne erwies.

Kein Wunder also, dass der „Kanzler der Einheit“ Schäuble zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, der als Parteivorsitzender und auch als Kanzler „übernehmen“ sollte. Doch Kohls Wahlniederlage gegen Schröder vereitelte die für 2002 anvisierte „Übergabe“ im Kanzleramt. Auch Schäubles Zeit als CDU-Vorsitzender währte nur kurz. 1999 wurden nämlich die Dimensionen der CDU-Spendenaffäre immer deutlicher. Über gut zwei Jahrzehnte hatte die Partei Millionen DM auf Schattenkonten gehortet. Wie so viele andere in die „Affäre“ verstrickte CDU-Politiker:innen bestritt auch der Ehrenmann Schäuble zunächst alle Vorwürfe. Doch die Beweise wurden immer erdrückender. Kohl mutierte vom Ehrenvorsitzenden zur Altlast, Schäuble trat schließlich vom Parteivorsitz zurück, blieb aber Abgeordneter.

An seine Stelle trat Angela Merkel. Ursprünglich als Zwischenlösung betrachtet, wurde sie schließlich 16 Jahre lange Kanzlerin. Und Schäuble machte sich daran, seinem Land wieder als Innenminister zu dienen, als Law-and-Order-Mann, der sich auch mit Schwarzgeldkonten auskannte. Von 2009 bis 2017 erlebte Schäuble seinen internationalen Durchbruch als Finanzminister und neoliberaler Hardliner. Im Rahmen der Troika und der EU setzte er drakonische Bedingungen für das infolge der globalen Krise vor dem Bankrott stehende Griechenland durch, das er mehr oder weniger offen eigentlich aus dem Euro-Raum treiben wollte (was jedoch von Merkel abgelehnt und verhindert wurde). Schäuble, der bis dahin vor allem im deutsch-deutschen Verhältnis (bis 1990) und innenpolitisch hervorgetreten war, machte sich nun einen Namen als beinharter, neoliberaler Einpeitscher und finanzpolitischer Zuchtmeister des deutschen Imperialismus gegenüber seinen untergeordneten europäischen „Partner:innen“. Schäuble gab einen Vorgeschmack darauf, was „deutsche Führung“, deren angeblicher Mangel andernorts gern beklagt wurde, realiter bedeutet.

Von 2017 bis 2021 fungierte er als scheinbar über allen Parteien stehender Bundestagspräsident und – weniger über allen Parteien stehend – als elder statesman der CDU und Quasi-Berater von Friedrich Merz.

Schäubles Bedeutung

Aus der Masse der deutschen Politiker:innen aller, von der herrschenden Klasse als staatstragend anerkannter Parteien – ob nun CDU/CSU, FDP, SPD oder Grünen – stach Schäuble jedoch heraus. Und zwar nicht, weil er besonders exzentrisch oder persönlich bedeutend gewesen wäre. Was das betrifft, unterscheidet er sich wohl wenig von anderen konservativen, aus einer christlichen CDU-Familie stammenden Funktionär:innen seiner Partei.

Was ihn von der für den bürgerlichen Politikbetrieb kennzeichnenden geistig-intellektuellen Mittelmäßigkeit, die charakteristisch für die große Masse der Abgeordneten und Funktionär:innen sämtlicher bürgerlicher Parteien (letztlich auch der AfD und der Linkspartei) ist, unterschied, war jedoch die Tatsache, dass er nicht einfach ein weiterer Parteigänger des Kapitals war, sondern einer seiner strategisch agierenden Vertreter:innen. Geistig-intellektuell war er Kohl, dem Parteivorsitzenden und Kanzler, dem er rund zwei Jahrzehnte diente, sicher überlegen und freilich konnte er sich auf diesem Gebiet mit Merkel messen.

Anders als einige Möchtegern-Geistesgrößen der CDU, die sich mit Kohl oder Merkel überwarfen und daraufhin vom aktiven politischen Geschehen zurückzogen, fungierte Schäuble unter beiden als wichtiger Minister oder Fraktionschef in Schlüsselfunktionen für die eigene Partei, aber auch den Kurs der herrschenden Klasse. Somit wurde er selbst zu einer prägenden Figur, die gewissermaßen zu einer Institution wurde.

Schon früh stand Schäuble für eine, wenn auch auf deutsche Verhältnisse angepasste neoliberale Wirtschafts- und eine rigide Finanzpolitik. Zweifellos reflektiert das auch seine Herkunft aus dem spießigen schwäbisch-protestantischen Bildungsbürger:innentum, seit jeher eine Bastion des deutschen Konservativismus. Vor allem aber ging es ihm dabei immer darum, die Wirtschaftsmacht Deutschlands voranzubringen. Dies schloss durchaus – siehe die Kosten der Wiedervereinigung – auch Schulden für das große Ganze des deutschen Imperialismus ein. Aber bei allen anderen – ob nur den Millionen griechischer Arbeiter:innen und Arbeitsloser, den Lohnabhängigen in Deutschland oder den zahlreichen Gegenreformen, die er als Minister mit vorantrieb – kannte Schäuble keine Rücksicht. Dort betätigte er sich vorzugsweise als „Spardiktator“. Er war zwar wie fast alle Vertreter:innen des deutschen Imperialismus nach 1945 „bekennender Europäer“, also einer von Deutschland und Frankreich geführten EU. An diese wollte er sogar zeitweilig mehr nationale Kompetenzen abgeben und auch die Wahl der Kommission demokratisieren, aber zugleich wollte er eine „strenge“, von Deutschland diktierte Finanz- und Haushaltspolitik garantiert haben.

Diesen inneren Widerspruch bürgerlicher Europapolitik konnte auch Schäuble nicht auflösen. Im Gegenteil, das von ihm maßgeblich vorangetriebene Austeritätsdiktat gegenüber Griechenland war zwar insofern erfolgreich, als es die griechische Regierung vorführte und domestizierte – es offenbarte zugleich aber auch die zentrifugale, die EU und die Euro-Zone selbst auseinander treibende Logik dieser Politik.

Mehr als Kohl und Merkel (und erst recht Schröder) war Schäuble schon immer Transatlantiker und sehr viel enger am Bündnis mit den USA orientiert. Nichtsdestotrotz musste eine erfolgreiche Stärkung der EU und der Euro-Zone unvermeidlich auch die gegensätzlichen Interessen zu den USA hervorbringen. Hier stand Schäuble nach dem Maidan 2014 und damals im Gegensatz zu Merkel und Steinmeier für jenen Flügel des deutschen Imperialismus, der die einzige Chance zur geostrategischen Stärkung der EU und Deutschlands in der Anbindung an die USA als deren Führungsmacht sieht. Daher war seine Unterstützung für Merz im Kampf um die Merkel-Nachfolge in der CDU keineswegs nur Ausdruck einer „Männerfreundschaft“, sondern beruhte auf einer wirklichen geostrategischen Überstimmung.

Die Bedeutung der Strategie

Politische Strategie ist im Klassenkampf für jede Klasse von herausragender Bedeutung. Schließlich ergibt sich ein langfristiges Handeln im Rahmen der immer schärfer ausgetragenen wirtschaftlichen und geostrategischen Konkurrenz auch für die herrschende Klasse nicht „spontan“ oder automatisch, sondern formt sich selbst erst über die Austragung ideologisch-strategischer Auseinandersetzungen und den Klassenkampf.

In den letzten 50 Jahren prägte Schäuble die Politik des deutschen Imperialismus entscheidend mit, er trug maßgeblich zu wichtigen Siegen der herrschenden Klasse – allen voran die kapitalistische Wiedervereinigung – bei. Er vermochte jedoch ebenso wenig wie Kohl, Schröder oder Merkel, die inneren Widersprüche zu überwinden, die den Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus bis heute Grenzen setzen. Doch es ist unvermeidlich, dass diese im Kontext des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt auch die bürgerlich-imperialistische Politik vor immer neue, immer schärfe Alternativen (z. B. verstärkte europäische Integration oder Europa der zwei Geschwindigkeiten, Aufrüstung der EU zu einer Militärmacht, die mit den Großmächten mithalten kann oder militärisch und politisch zurückfällt) stellen werden.

Das heißt, die politisch-strategischen Weichenstellungen, die die Ampel-Regierung mit dem Terminus der Zeitenwende halb anerkennt, zugleich aber auch halb zu dementieren versucht, werden immer mehr in den Vordergrund treten müssen. Die deutsche Bourgeoisie verfügt dabei zur Zeit über keine wirkliche, längerfristige strategische Ausrichtung. Vielmehr befindet sie sich einem inneren Widerstreit, was grundsätzlich die politischen Schwankungen und Instabilität fördert, auch wenn in den letzten Jahren davon fast ausschließlich die Rechte profitierte.

Und das wird auch so bleiben, wenn die Arbeiter:innenklasse, wenn die Linke selbst nicht die Frage nach grundlegenden programmatischen und strategischen Lösungen für die aktuelle Krise beantwortet. Mit Schäuble hat die deutsche Bourgeoisie einen Strategen verloren, der ihre Politik prägte. Das Problem der Arbeiter:innenklasse besteht darin, dass sie über keine revolutionären Strateg:innen verfügt, die ihre Politik prägen.




Gezeter um die Schuldenbremse: Auswirkungen und Hintergründe

Jürgen Roth, Infomail 1238, 12. Dezember 2023

Exemplarisch für die aktuelle Argumentation des Lagers der Hardliner nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/12/01/bundesverfassungsgericht-bremst-haushalt-aus-fiskalkrise-droht/) stellen sich die FDP-Spitzen gegen die Forderungen von SPD-Chefin Saskia Esken und des DGB, die Schuldenbremse auch für 2024 wegen noch nicht ausgestandener Energiekrise auszusetzen. „Wir werden jetzt gezwungen, mit weniger öffentlichen Subventionen die Wirtschaft zu modernisieren“, tönt ihr Finanzminister und Bundesvorsitzender Christian Lindner. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sekundiert, die Ausgabenwünsche der SPD begründeten sicher keine Notlage. Selbst im Lager der Wirtschaftsweisen bleibt jedoch die Schuldenbremse umstritten. Was sind die tieferen Hintergründe dieser Debatte? Welche Position sollte die Arbeiter:innenklasse beziehen?

Auswirkungen

60 Milliarden Euro werden bis 2027 dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) fehlen. Darunter fallen Projekte wie die Ansiedlung der Halbleiterchipfabriken von Intel bzw. TSCM in Magdeburg bzw. Dresden, aber auch die Wärmeversorgung der Kommunen und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und Zusagen für Anschubfinanzierungen auf dem Klimagipfel. Klima- und Wirtschaftsminister Habeck (Bündnis 90/Grüne) verweist auf den irreparablen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unter Verweis auf die Subventionspolitik Großbritanniens und den Inflation Reduction Act der USA spitzt er zu, die Vorhaben im KTF beträfen den „wirtschaftspolitischen Kern“ der BRD.

Da auch der Arbeitsmarkt Schleifspuren der schwachen Konjunktur zeigt, wächst auch der Bedarf an Arbeitsförderungsmaßnahmen. Im Berliner Abgeordnetenhaus warnt die Linksfraktion vor einer Neuauflage der Spar- und Privatisierungsorgien, wie sie kurz nach der Jahrtausendwende allerdings von der eigenen Partei mitgetragen wurden.

Doch woher die Mittel nehmen? Über Kürzungen an anderer Stelle im Etat, wie es FDP und Union fordern? Über Sondervermögen, Steuererhöhungen, Aussetzung oder gänzliche Abschaffung der Schuldenbremse? Um diese Punkte kreist die ganze Diskussion unter den staatstragenden Parteien.

Bundeshaushalt 2024: Attacken und Rettungsversuche

In der Bundestagsaussprache nach der Regierungserklärung des Kanzlers am 28. November wurde eines deutlich: Ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse über 2023 hinaus wird es mit Christenunion und AfD nicht geben. Das BVerfG hatte die nachträgliche Umwidmung von Sondervermögen, eigentlich Schattenhaushalten, ebenso untersagt wie die Mitnahme von nicht verbrauchten Haushaltsposten in folgenden Jahren. Die roten, nicht wählbaren Roben in Karlsruhe hatten sich damit wieder einmal als Blockierer:innen wie seinerzeit beim Berliner Mietendeckel betätigt, als Prellbock für jede ernsthafte Reform, geschweige denn Umwälzung. Das sei allen Linken ins Stammbuch geschrieben, die sich die Transformation zum Sozialismus auf schiedlich-friedlichem parlamentarischem Weg vorstellen!

CDU-Chef Merz setzte sich vehement gegen eine Erhöhung des Bürgergelds ab 1. Januar 2024 und für weitere Einschnitte im größten Posten, dem Sozialetat, ein. Dies war auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an seine Parteikollegen im Ministerpräsidentenamt Berlins, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins, die bemängelten, die Schuldenregel verhindere notwendige Investitionen. Auf der gleichen Klaviatur wie Habeck spielten die Fraktionsvorsitzenden von Grünen und SPD, während Linksfraktionschef – mittlerweile Chef ohne Fraktion – Bartsch einen konsequenten Abschied von der Schuldenbremse, aber auch mehr Einnahmen durch „gerechte Steuerpolitik“ forderte.

CSU-Chef Söder steht Merz und der FDP vehement zur Seite in puncto Bürgergelderhöhung und setzt noch einen drauf: Neu ankommende Ukraineflüchtlinge sollen kein Bürgergeld mehr bekommen und andere Geflüchtete erst nach 5 Jahren statt bisher 18 Monaten Anspruch auf Sozialleistungen erhalten.

Eigentlich sollte am 1. Dezember der nächste Haushalt verabschiedet werden. Nun mussten aber erste Anpassungsmaßnahmen für 2023 her. Das betraf Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zur Finanzierung der Energiepreisbremse, wodurch die Nettokreditaufnahme des Bundes von 45,6 auf 70,6 Milliarden Euro stieg. Folglich wurde dies mit einer „außergewöhnlichen Notlage“ wie schon in den vergangenen 3 Jahren geltend gemacht. Schwieriger als die Umbuchung dieser längst ausgegebenen Finanzen wird die Aufstellung eines verfassungskonformen Bundesetats für 2024. Laut Lindner fehlen 17 Milliarden Euro plus 13 aus dem KTF. Er kündigte bereits an, die Strom- und Gaspreisbremsen mit Jahreswechsel statt erst Ende März 2024 auslaufen zu lassen. Weitere Möglichkeiten böten zusätzliche Kürzungen öffentlicher sowie Stärkung privater Investitionen und die Erhöhung der Kreditvergabe der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Analyst:innen der Berenberg-Bank rechnen mit einem Loch von insgesamt 130 Milliarden Euro für die Jahre 2024 – 2027.

Mittelfristig bleiben der Bundesregierung 5 Möglichkeiten, um aus der Malaise ständiger Etatnachbesserungen zu entfliehen. Erstens könnte die Schuldenbremse abgeschafft oder reformiert werden, wofür es bei Grünen, SPD und Linkspartei eine Mehrheit gibt. Sonst wäre nächstes Jahr nur eine Neuverschuldung von 15 Milliarden Euro erlaubt. Da FDP und Union dagegen sind, scheitert aber die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung. Die 2. Möglichkeit bestände in Ausgabenkürzungen, die dritte in Steuererhöhungen, die vierte in neuen Sondervermögen, die zudem noch dieses Jahr und wohl ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden müssten. Wahrscheinlich ist, dass sich die Koalition auf moderate Ausgabenkürzungen festlegen wird, z. B. bei öffentlichen Investitionen (Bahnausbau). Fünftens bliebe die 5. Ausrufung eines Notstandes in Folge. Es ist zu erwarten, dass sich der Konflikt innerhalb wie außerhalb der Ampelparteien genau darum zuspitzen wird. Die Berenberg-Bank rechnet mit einem Deal mit der Opposition: Die Union werde wohl einer Reform der Schuldenregel zustimmen im Gegenzug für weitere Verschärfungen des Asylrechts.

Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Schuldenbremse?

Vielen gilt sie als Garantin solider Ausgabenpolitik, darunter Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD)! Anderen wie der Deutschen Bank (!) erscheint sie bei der derzeitigen schwachen Konjunktur neben Steuererhöhungen als Wachstumsbremse. Die Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, die Argumente ihrer Kritiker:innen aufmerksam zu studieren. Sie wird dann feststellen, dass die allermeisten „Reformer:innen“ gar keine Einwände hegen, wenn es um die Ablehnung von Erhöhung oder auch nur Stabilisierung „konsumtiver“ Ausgaben z. B. für Soziales geht. Das eint sie mit den Befürworter:innen der Schuldenbremse mit dem Unterschied, dass Letztere gerne mit ihr als Totschlagargument gegen aufkeimende Kritik an Sozialkürzungen zu Felde ziehen.

Stellvertretend für die Riege der Reformer:innen verweist Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, denn auch auf den Nutzen von Staatsausgaben für Investitionen in „die“ Wirtschaft. Ob der Bau von Schulen, Investitionen in Lehr- und Klinikpersonal dazugehören, darüber streitet sich selbst diese Riege, während neue Autobahnkilometer zweifellos gut angelegt seien. Kinder, Kranke und Klima müssen sich nämlich als Wachstumsressourcen erweisen, sprich neue Einnahmen generieren oder/und Kosten sparen. Gegner:innen wie die Freie Porschefahrer:innenpartei FDP bringen das Argument vor, nur Privatinvestitionen könnten Technologien entwickeln, welche sich dann auf dem Markt durchsetzten. Das Problem für den nationalen Gesamtkapitalisten Staat besteht allerdings darin, dass für die klugen, smarten Privatunternehmen in der gegenwärtigen Phase industriellen und technologischen globalen Wettbewerbs die Risiken viel zu groß sind. In dieser allen Kontrahent:innen heiligen Wirtschaftsordnung ist der Erfolg insbesondere kreditfinanzierter Investitionen ebenso stets unsicher wie der der Sparpolitik – staatlicher wie privater! Verschärft wird das Dilemma, für Marxist:innen aus dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate resultierend, noch dadurch, dass die Großmächte den mit Unsicherheiten en masse behafteten Job der kreditfinanzierten Schaffung von Wachstumsmärkten in Konkurrenz gegeneinander verfolgen. Also: Kein Vertrauen in linksbürgerliche Kritiker:innen der Schuldenbremse einschließlich linker Reformist:innen wie DIE LINKE!

Konsequente Kritiker:innen?

Am Rande sei angemerkt, dass die ganze Schuldendebatte die Tatsache der erstmals laut Creditreform seit 2019 in der BRD wieder zunehmenden Privatverschuldung ebenso ignoriert wie die wachsende Zahl sog. Zombiefirmen, deren Kreditneuaufnahmen nur dazu dienen, alte Schulden zu begleichen, ohne dass diese Umschuldungen sie wieder in die Gewinnzone führen können.

Es gereicht Joachim Rock, Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik beim Paritätischen Gesamtverband zur Ehre, dass er unbeirrt von der Engstirnigkeit der Verfechter:innen klassischer wie „alternativer“ keynesianischer Wirtschaftspolitik die Erhöhung des Bürgergelds verteidigt. Er weist nach, dass die Regelsätze für laufendes und kommendes Jahr noch auf Einkommens- und Verbrauchsstichproben aus dem Jahr 2018 stammen – vor der Inflation also! Er wehrt sich auch gegen die Wiedereinführung des 2010 gestrichenen Lohnabstandsgebotes, mit dem stets die Senkung von Sozialleistungen, nicht aber Lohnerhöhungen gerechtfertigt werden sollen. Zu Recht verteidigt er die Erhöhung des Mindestlohns und den Ausbau des Wohngeldes wie die Verdreifachung der Zahl von Anspruchsberechtigten darauf. Es ist völlig richtig, soziale Errungenschaften zu verteidigen, ohne auch nur der Logik der wirtschaftspolitischen Debatte im bürgerlichen Mainstream ein Jota an Zugeständnissen zu gewähren.

Das möchte auch Elsa Egerer tun, ihres Zeichens Dozentin an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz mit Schwerpunkten Plurale Ökonomik und nachhaltiger Gestaltung von Geld- und Finanzmärkten, was immer diese begriffliche Geschwulst auch bedeuten mag. Sie verortet die 2009 eingeführte Schuldenbremse, die die Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 % des BIP begrenzt, als Folge der expansiven Fiskalpolitik, mittels der die damalige globale Finanzkrise bewältigt worden sei. Doch in der Folge verteidigt Frau Egerer zwar im Unterschied zu oben genannten Streithähnen und -hennen auch konsumtive Ausgaben, jedoch mit aus der Mottenkiste des Keynesianismus entlehnter Moderner Monetärtheorie:

„… beruht die Schuldenbremse auf einer einseitigen und fehlgeleiteten ökonomischen Lehre […] der ökonomische Sachzwang, der die Schuldenbremse vermeintlich erfordert, existiert nicht. […] Haushaltsregeln sind keine ökonomischen Faktizitäten, sondern das Ergebnis des politischen Willens. […] Geld hingegen muss entgegen der dominanten Erzählung nicht erwirtschaftet werden, sondern entsteht, wenn Kredite vergeben werden. Schuld ist in unserem System die Voraussetzung für Geld.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 25./26. November 2023, S. 3)

Die „Theorie“ dieser ökonomischen Märchentante würde schon beim Monopolyspiel scheitern, zur Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise liefert sie erst recht nur Verdunklung.

Lasse Thiele (ND, 1. Dezember 2023, S. 8) ist beizupflichten, wenn er schreibt: „Natürlich muss die Schuldenbremse weg. […] Doch nicht nur die bisweilen sozialpartnerschaftliche Rhetorik der neuen konservativen Kritiker*innen gibt Anlass zum Misstrauen. Auch Mitte-links-Kritik an der Schuldenbremse wirkt wenig emanzipiert von Kapitalinteressen, hängt meist altem keynesianischen Denken an und vertritt oft platten Standortnationalismus.“ Er plädiert für größere politische Tabubrüche: Vermögens- und Erbschaftssteuern, Abbau fossiler Investitionen.

Auch seinen weiteren Ausführungen ist vollständig beizupflichten: „Das Geld zur Beseitigung sozialer und ökologischer Verwerfungen von den Profiteur*innen einzutreiben, ist besser, als es verzinst von ihnen zu leihen. Anders als der Diskurs derzeit suggeriert, würden sich Verteilungsfragen selbst mit einer aufgehobenen Schuldenbremse nicht erübrigen. Nicht nur, wie Spielräume geschaffen werden – durch Schulden, Steuererhöhungen oder Subventionsabbau –, sondern auch, wofür sie genutzt werden und wem sie zugutekommen, bleibt eine Frage politischer Kämpfe. […] Es bleibt richtig, sich als Linke breiten Bündnissen für die Aufhebung der Schuldenbremse anzuschließen. Doch braucht es darin auch eine eigenständige Position. Die sollte über standortnationalistische Sorge um ,unsere Wirtschaft’ hinausgehen, emanzipatorische Maßstäbe für Investitionen anlegen und nicht in der grün-kapitalistischen Wachstumslogik aufgehen, laut der man sich aus der Klimakrise bequem herausinvestieren könnte.“

Das objektive Fazit seiner Gedanken mag er jedoch nicht ziehen: Dieser Wunschzettel bedarf zu seiner dringend notwendigen Realisierung nicht des Weihnachtsmannes, sondern des gewaltsamen Sturzes und entschädigungsloser Enteignung der herrschenden Klasse und ebenso des Aufbaues einer sozialistischen Planwirtschaft!

Tanz ums goldene Kalb

Allem Gesagten fehlt ein zentraler Aspekt, der erst das Gezänk um die Schuldenbremse verständlich macht. Es ist der global entbrannte Kampf nicht nur um Wachstumspfade, sondern um die Rettung des Kapitalstocks und liquiden Vermögens und Einkommens zu seinen historischen Werten. Das übersehen auch viele sich auf den Marxismus berufende Zweifler:innen an der Gültigkeit des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und dessen immanenter Krisentendenz. Sie argumentieren, dass durch technologische Verbilligung des konstanten Kapitals die organische Zusammensetzung sinken und dadurch beschleunigte Akkumulation wieder einsetzen können. Sie ignorieren, dass dies ohne schlagartige, verheerende Entwertung des Anlagevermögens nicht zu haben sein wird. Und genau darum geht es eben auch bei der Schuldenbremse insbesondere in Zeiten, wo selbst die OECD mit alles anderem als einer „weichen Landung“ nach dem Pandemieschock und inmitten hartnäckiger Kerninflation, wachsender Verschuldung und Rezession im Euroraum und darüber hinaus rechnet.

Nachdem sich der kreditstimulierte Kasinokapitalismus zusehends seit 2008/2009 erledigt hat, droht ein Wettlauf darum, wer bzw. welche Macht zuerst sein/ihr fiktives Kapitals als realen Wert retten kann – Flucht in reale Sach- und Vermögenswerte, eben der Tanz um die Vergoldung des eigenen Kälberstalls.

Wenn die Börse in den USA bei der Quartalsmeldung über gestiegene Arbeitslosenzahlen zu einem Kursfeuerwerk abhebt, steckt dahinter die Spekulation, dass eine Rezession zu sinkenden Zinssätzen führen möge, die den Kurs der Geldanleihen in die Höhe treibt. Die Gläubiger:innen blieben dann besser im Geschäft auf Kosten des Bankrottes ihrer Konkurrent:innen und überdies kreditwürdiger und damit wachstumsträchtiger. Es geht also um ein Rattenrennen zur Verhinderung der Entwertung des Anlagevermögens, wenn sich zusehends Geld gebieterisch als Wertmaßstab und weniger als Zirkulationsmittel zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs zur Geltung bringt: Hic Rhodus hic salta! (Hier gilt es, hier zeige, was du kannst!). Die Schuldenbremse entbehrt also durchaus nicht der Logik für die Superreichen. Die Arbeiter:inneklasse muss nicht nur kapitalistischem Wachstum eine Absage erteilen, sondern ans Eingemachte heran: Konfiskation des Produktiv- und Geldvermögens mit Entschädigung nur für Kleinanleger:innen und -sparer:innen.

Brecht die Macht der Banken und Konzerne!

  • Weg mit der Schuldenbremse!

  • Nehmt DIE LINKE und linke SPD, vor alle aber: nehmt die DGB-Gewerkschaften beim Wort: Fordert die Einleitung von Kampfmaßnahmen bis hin zu politischen Massenstreiks und nötigenfalls Generalstreik gegen Sozialklau, Klimawandel, Rezession, Massenverarmung, Verfall der Infrastruktur (Wohnen, Gesundheitswesen, Bildung, öffentlicher Transport, Klimaschutz)!

  • Keine Rücksicht auf Koalitionsräson und konzertierte Aktion! Bruch mit den offen bürgerlichen Parteien und der „Partner:innenschaft“ mit Kapital und Kabinett!

  • Einberufung einer bundesweiten Aktionskonferenz , um einen Mobilisierungs- und Kampfplan gegen die Kürzungen zu diskutieren und zu beschließen!

  • Entschädigungslose Enteignung des Großkapitals, der Banken, Fondsgesellschaften und Großanleger:innen!

  • Entschädigung für Kleinsparer:innen und -anleger:innen!

  • Für einen Sanierungsplan gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle und zu Tariflöhnen!

Ein Kampf gegen die laufenden und drohenden Angriffe darf und soll nicht nur auf Deutschland beschränkte bleiben, sondern muss sich auch gegen die gesamte Austeritätspolitik in der EU wenden. Dazu braucht es europaweit koordinierte Aktionen und politische Massenstreiks – Kämpfe, die ihrerseits die Machtfrage aufwerfen werden, für dies Kampforgane in den Betrieben und Stadtteilen braucht und der Perspektive der Arbeiter:innenregierungen verbunden werden müssen -für ein sozialistisches Rätedeutschland in einer Föderation der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Redefreiheit und die Linke

Lukas Müller. Infomail 1236, 10. November 2023

Im Folgenden geben wir die einleitenden Thesen von Gen. Lukas Müller als Vertreter der Gruppe Arbeiter:innenmacht wieder, die er am 4. November bei einer Podiumsdiskussion in Leipzig vorgestellt hat.

1. These

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen nur auf einer rein formalen Ebene als etwas Neutrales (neutrales Recht, neutrale Freiheiten), sind aber Ausdruck eines bestimmten Klasseninteresses – dem der Kapitalist:innenklasse.

Sie drücken primär ihr Interesse aus und nicht das aller Klassen (also z. B. auch der Arbeiter:innenklasse, auch wenn es so erscheint, als würde das bürgerliche Recht die gemeinsamen Interessen der gesamten Gesellschaft wiedergeben.

Aber solche gemeinsamen Interessen der Gesellschaft, also aller Klassen, gibt es nicht

Denn: Über der kapitalistischen Produktionsweise als ökonomischer, materieller Basis der Gesellschaft erhebt sich deren ideologischer, rechtlicher, moralischer Überbau. Dieser ist also Ausdruck der ökonomischen Basis (Basis und Überbau bei Marx).

D. h., das bürgerliche Recht, die bürgerliche Freiheiten, die bürgerliche Moral usw. entsprechen der kapitalistischen Produktionsweise und reproduzieren diese auf politischer und ideologischer Ebene. Damit dienen sie in erster Linie der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie.

Freiheit des/r einen ist gleichzeitig die Unterdrückung des/r anderen (unternehmerische Freiheit). Die Freiheit der Kapitalist:innen, von ihrer ökonomischen (und damit auch politischen) Macht Gebrauch zu machen, zieht gleichzeitig und unausweichlich die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse nach sich. Es gibt also nicht DIE allgemeine Freiheit, sondern sie muss im Kontext von Klassen gesehen werden

Die Frage nach Freiheit ist die: „Für welche Klasse“?

Wir sind für die Freiheit der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten, aber gleichzeitig für die Unfreiheit der Kapitalist:innenklasse (ganz allgemein und plakativ gesprochen).

Jede Person hat das Recht, wählen zu gehen, Demonstrationen anzumelden, Parteien oder Zeitungen zu gründen usw. Aber durch ihre ökonomische Macht verfügt die Kapitalist:innenklasse über einen vielfach größeren Einfluss auf Staat und öffentliche Meinung. Sie ist durch unzählige Fäden mit dem Staat verbandelt, sodass sie dadurch auch zur politisch herrschenden Klasse wird, teils ganz direkt durch das Schreiben von Gesetzen, oft aber auf indirekt Art und Weise.

Letztlich ist in Artikel 14 GG auch das „Recht“ auf Privateigentum Erbschaft, also eine auf Privatbesitz an Produktionsmitteln fußende Gesellschaft, unveränderlich festgeschrieben (und damit der Kapitalismus).

Demokratische Rechte werden den unterdrückten Klassen oft nur deshalb (teilweise) gewährt, um sie ins bestehende System zu integrieren, zur Aussöhnung mit diesem und um der Kaschierung der ökonomischen und damit indirekt auch politischen Herrschaft der Kapitalist:innenklasse willen.

Was selbstverständlich nicht heißt, dass wir demokratische Rechte nicht gegen jeden staatlichen Angriff verteidigen würden! Dazu gleich mehr.

2. These  (damit eng zusammenhängend)

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen auch nur auf einer rein formalen Ebene als für alle gleichermaßen gültig. Nur weil Rechte und Freiheiten formal für alle gleich existieren, heißt das noch lange nicht, dass Staat und Kapitalist:innenklasse diese von allen in gleichem Umfang in Anspruch nehmen lassen.

Das sieht man z. B. aktuell an der massiven Repression gegen Palästinasolidarität. In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden bundesweit festgenommen. An Berliner Schulen wurden das Tragen der Kufiya, Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ verboten. Auf Demonstrationen, die stattgefunden haben, waren viele Parolen als angeblich „antisemitisch“ verboten, in Berlin z. B. die Parole „Stoppt das Morden, stoppt den Krieg“.  Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslim:innen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei propalästinensischer Aktivität.

Palästinasolidarität ist nur ein Beispiel, man könnte viele weitere nennen:

Es gibt keine Neutralität der Richter:innen. Kapitalist:innen können Staranwält:innen bezahlen. Rechte von Geflüchteten (Menschenwürde) usw. usf. werden von diesen nicht vertreten, wenn sie staatlich eingeschränkt werden. Der Staat versucht also, die formal jedem/r garantierten Rechte nach Belieben gesetzlich einzuschränken oder setzt sich schlicht über seine eigenen Gesetze hinweg. Sie sind also mehr Schein als Sein.

Was wie gesagt nicht heißt, dass wir nicht auch formale (also gesetzliche) Rechte und Freiheiten gegen Angriffe verteidigen. Das halten wir sehr wohl für relevant und notwendig.

Unter den Bedingungen der Illegalität ist es selbstverständlich deutlich schwieriger für die Arbeiter:innenklasse, sich zu organisieren, als unter Bedingungen voller demokratischer Freiheiten.  Formale Freiheiten sind also keineswegs völlig irrelevant, weil eh nur das aktuelle Interesse der Kapitalist:innenklasse zählt. Wenn wir formal ein Recht haben, schafft das tendenziell günstigere Bedingungen, dieses auch praktisch durchzusetzen. Daher sind wir allgemein für größtmögliche demokratische Freiheiten.

Es geht aber darum, dass in der kapitalistischen Klassengesellschaft kein Automatismus existiert, welcher allen Menschen die praktische Inanspruchnahme von formalen Rechte und Freiheiten garantiert, zum einen durch ökonomische Macht und Zwänge,  zum anderen durch die Macht des Staates, Rechte einzuschränken, abzuschaffen und zu übergehen.

3. These

Bürgerliche Freiheiten (z. B. Meinungsfreiheit) und demokratische Recht sind für Arbeiter:innen- wie auch Kapitalist:innenklasse kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sie dienen nämlich der Verteidigung ihrer objektiven Klasseninteressen. Sie haben somit keinen Wert an sich, sondern immer nur Bedeutung, wenn sie ihren Interessen  zu einer gegebene Zeit nutzen.

Daran bestimmt sich auch allgemein unser Verständnis von Recht und Moral oder, wann wir Rechte oder Einschränkungen verteidigen oder was wir selbst vornehmen: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“ (Lenin).

Im Eingangstext zur Veranstaltung wurde das Engagement von Marx, Engels und der II. Internationale fürs Recht auf freie Meinungsäußerung angesprochen. Dieses zu erkämpfen, war in der Tat eine wichtige Aufgabe der damaligen Zeit (und bis heute).

Aber Marx, Engels und die II. Internationale kämpften nicht für Recht auf freie Meinungsäußerung als Wert an sich, damit sich halt alle Menschen frei (freier) äußern können, sondern damit SIE und die internationale Arbeiter:innenklasse sich frei äußern und vor allem legal organisieren können mit dem Ziel, diese Freiheiten nutzen zu können, um die Zerschlagung des Kapitalismus und seiner bürgerlichen Staaten vorzubereiten.

Denn zu dieser Zeit gab es die Sozialistengesetze in Deutschland und ähnliche, teilweise noch schärfere Gesetze in anderen Ländern, welche Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen in den Untergrund, die Illegalität und zu Tauenden ins Gefängnis drängten.

Demokratische Rechte allgemein bilden für die Arbeiter:innenklasse eine Art Rahmen, in dem politisches Handeln möglich ist. Wenn diese in spezifischer Situation den Interessen der Arbeiter:innenklasse schaden, ist es legitim und notwendig, diese einzuschränken oder abzuschaffen.

Hitler wurde demokratisch an die Macht gewählt (gleichzeitig gestützt auf eine militante Massenbewegung auf der Straße). Haben Kommunist:innen deshalb die Wahl widerstandslos akzeptiert, aus Hochachtung vor der Demokratie als Selbstzweck? Nein!

Nennen wir als zweites Beispiel  das Verbot der anderen Sowjetparteien durch die Bolschewiki im Bürger:innenkrieg.

Demokratie hat für uns keinen Wert an sich, sondern nur einen, solange sie den Interessen der Arbeiter:innenklasse nützt, und umgekehrt gewährt die Kapitalist:innenklasse demokratische Rechte und Freiheiten nur, solange ihre eigene Klassenmacht dadurch nicht bedroht wird. Sobald sie ihre Interessen durch politische Bewegungen gefährdet sieht, wird sie deren demokratische Rechte übergehen, einschränken, abschaffen.

Das kann sogar darin gipfeln, dass Kapitalist:innen zur Sicherung ihrer ökonomischen Macht (also des Kapitalismus) nicht nur einzelne demokratische Rechte einschränken, sondern die faschistische Karte ziehen und damit grünes Licht geben zur Abschaffung der gesamten bürgerliche Demokratie. So geschehen bei Hitlers Treffen mit der deutschen Großindustrie kurz vor Machtergreifung und danach.

Die Frage von Recht, Freiheit und Demokratie ist schlicht die von Klassenkampf. Wir verteidigen das Demonstrationsrecht gegen staatliche Angriffe, schränken dieses zeitgleich aber selber aktiv für Faschist:innen ein, indem wir ihre Demonstrationen blockieren.

Wir verteidigen das Recht auf freie Meinungsäußerung („Propagandafreiheit“) gegen staatliche Angriffe, reißen Plakate und Sticker von Faschist:innen ab, werfen ihre Flyer, wo sie ausliegen, in den Müll.

So verhalten wir uns allerdings nicht gegenüber gewöhnlichen bürgerlichen Parteien wie CDU, FDP, Grünen oder bürgerlichen Arbeiter:innenparteien wie SPD und Linkspartei. Diese verbreiten zwar bürgerliche Ideologie und damit die der Kapitalist:innenklasse und müssen dementsprechend politisch bekämpft werden.

Allerdings unserer Meinung nach nicht durch Blockieren von Versammlungen oder Zerstören von Wahlplakaten.

1. Weil es gegen so große und mächtige Parteien ziemlich ineffektiv ist diese durch Sabotage bekämpfen zu wollen. Wir müssen vielmehr Arbeiter:innen, welche Illussionen in diese Parteien hegen, durch politisch-inhaltlichen Kampf von diesen lösen und für uns gewinnen;

2. weil von bürgerlichen Parteien keine so direkte physische Gefahr für linke und proletarische Aktivist:innen ausgeht, weil deren Ziel nicht in der Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung selbst besteht;

3. weil wir diesen Parteien, die ja auch z. T. an der Regierung sind, damit einen Vorwand liefern, umgekehrt uns zu sabotieren durch Gesetze, die unsere Rechte einschränken.

Es würde uns schwerfallen, diese demokratischen Rechte dann öffentlichkeitswirksam als politische Minderheit zu verteidigen, wenn wir sie der politischen Mehrheit selbst nicht zugestehen. Es wäre also taktisch einfach unklug und der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, während das Blockieren von Faschisten:innen und anderen Rechten leichter zu begründen ist, weil sie eine unmittelbare Gefahr für die Existenz von zumindest Teilen der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten (Migrant:innen, Geflüchtete) darstellen bzw. die Organisationen der Klasse zerschlagen wollen.

Wir tun das also nicht, weil wir die demokratischen Freiheit an sich so hoch schätzen, sondern wir uns nicht mit taktisch unklugem Verhalten selbst schaden wollen. Taktische Erwägungen sind allgemein von großer Relevanz im Klassenkampf.

Natürlich wird die Kapitalist:innenklasse so oder so unsere demokratischen Rechte einzuschränken versuchen, uns polizeilich und juristisch sabotieren, sobald sie uns als reale Gefahr wahrnimmt. Und da sind wir dann an dem Punkt, wo das Kräfteverhältnis und die öffentliche Stimmung entscheiden, wer sich durchsetzt.

4. These

Das Wahrnehmen bzw. Durchsetzen von Rechten und Freiheiten ist nicht in erster Linie eine juristische, sondern eine Frage des Kräfteverhältnisses.

Ob der Staat es schafft, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen, bspw. das Versammlungsrecht zu beschneiden, ist abhängig vom Ausmaß des Widerstands, den wir schaffen, auf der Straße, in Betrieben, an Unis und Schulen zu entfalten. Wenn sich die öffentliche Stimmung dermaßen gegen solche Gesetzesvorhaben dreht oder mit massiven Streiks dagegen zu rechnen ist, kann der Staat davor zurückschrecken und das Gesetz wieder zurücknehmen müssen.

Weiter ist es auch eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob und inwieweit wir uns über bestehende Gesetze oder andere staatliche Einschränkungsversuche hinwegsetzen können. Formal mag eine Demonstration verboten sein, aber wenn dennoch Zigtausende kommen, können wir diese womöglich gegen die Einschränkungen durch die Staatsmacht durchsetzen.

Letztlich besteht unser Ziel darin, das Kräfteverhältnis so zu verschieben, dass die Arbeiter:innenklasse selber die Kontrolle darüber übernehmen kann, welche demokratischen Rechte es gibt, was gesagt und getan werden darf, um sie somit massiv auszuweiten. Das heißt, wir treten z. B. dafür ein, dass die Arbeiter:innen der großen Zeitungen, sozialen Medien usw. selber entscheiden, was erlaubt ist und was nicht. In diesem Sinne kann der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte mit dem für Arbeiter:innenkontrolle und ein Programm von Übergangsforderungen verbunden werden.




Feminizide im Herrschafts- und Kapitalinteresse

Martin Suchanek, Neue Internationale 278, November 2023

50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Dabei bilden diese sog. partnerschaftlichen, intimen und verwandtschaftlichen Femizide nur einen Aspekt des Gesamtproblems. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Er will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Diese Form der Frauenmorde bildet aber nur einen großen Teil aller Feminizide. Einen zweiten, großen Bereich stellen solche dar, die zur Durchsetzung eines Ausbeutungs- oder Herrschaftsinteresses außerhalb der Familie, Parter:innenschaft oder Verwandtschaftsbeziehung begangen werden.

Mord als Botschaft

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen zu sentzen: Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher:innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder Mord an Frauen sollen in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen suchen oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter:innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgen.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Andere Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner:innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetzte Mittel im Krieg und Bürger:innenkrieg dar.

Die Verknüpfung mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Deren Veröffentlichung ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungenen öffentlichen Untersuchungen. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide müssen in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter:innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter:innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bäuer:innenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit Ersteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter:innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen, steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




Rechtsruck in Deutschland: Neuausrichtung der CDU?

Leonie Schmidt, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Innerhalb der CDU stellt sich schon länger die Frage nach einer Neuausrichtung. Immerhin erlitt sie bei der Bundestagswahl 2021 eine Niederlage, ist aktuell nicht Teil der Regierung und spielt somit auf Bundesebene die Oppositionsrolle. Anders als Grüne oder FPD konnten CDU/CSU keine einheitliche Strategie vorweisen – und grundlegende Fragen um ihre „Neuorientierung“ sind  auch unter Merz in Wahrheit ungelöst.

Von der Krise der Ampel konnte auch deshalb nicht die Union, sondern fest ausschließlich die AfD profitieren. Der Rechtsruck und das sich verändernde Wahlverhalten in Deutschland stellt die CDU vor ein großes Fragezeichen: nach rechts rücken und mit der AfD koalieren oder weiterhin zuzugeben, eine, wenn auch recht löchrige „Brandmauer“ aufrechtzuerhalten?

Daher verwundert es nicht, dass sich die CDU auch jetzt ein neues Parteidesign ausgedacht hat, was unter starker Kritik steht. Auffällig sind zum einen die prominenten Deutschlandfarben und zum anderen das Türkis, welches für viele Kritiker:innen dem der AfD ähnelt. Expert:innen gehen davon aus, dass die Veränderung insbesondere auch der Abgrenzung zur CDU unter Angela Merkel und ihrem Konservatismus dient. Da neue Parteidesigns sicherlich keine unüberlegte Entscheidung sind, setzt die CDU an dieser Stelle schon einmal ein visuelles Zeichen für eine Neuausrichtung, deren Ziel es ist, der AfD wieder einige Wählende streitig zu machen. Des Weiteren wird auch innerhalb der CDU aktuell an einem neuen Grundsatzprogramm gefeilt, was die parteipolitische Ausrichtung wieder auf Vordermann bringen soll.

Innerparteilicher Rechtsruck: Berlin …

Kai Wegner, amtierender Regierender Bürgermeister von Berlin, brachte der CDU einen mächtigen Wahlerfolg ein, als er 2023 den Posten in Berlin einheimste, einer Stadt, die lange von R2G regiert wurde. Interessant hierbei ist, mit welchem Programm und welcher Rhetorik er sich den Wahlsieg erkämpfen konnte. Sein Programm ist klar rechtskonservativ und immer wieder kam es von seiner Seite auch zu rechtspopulistischen Äußerungen. Er stellte klar, ein „Anwalt der Autofahrer“ sein zu wollen und sich gegen die Verkehrswende im Sinne der Fußgänger:innen und Radfahrer:innen zu stellen. Dabei schürte er erfolgreich die Angst der Wähler:innen, bald auf ihr geliebtes Statussymbol und Verkehrsmittel der Wahl verzichten zu müssen. Dass es sich dabei nicht nur um ein Wahlversprechen handelte, wird jetzt klar: Die CDU-Fraktion möchte den Rad- und Fußverkehr zukünftig gegenüber dem Autoverkehr noch mehr benachteiligen. Radwege sollen schmaler sein dürfen und ihre Instandhaltung sollte Vorrang vor Neubau genießen.

Auch rassistische Äußerungen halfen ihm, den Wahlsieg zu erringen. So hetzte er besonders gegen Migrant:innen bezüglich der Silvesternachtkrawalle 2022/23 und wollte mit einer parlamentarischen Anfrage die Vornamen Festgenommener erfahren, um sein Narrativ zu stützen. Auch wenn das Resultat, die meisten Namen waren deutsch gelesene, seiner Logik widersprach, nutzte er weiterhin das Framing von den „kriminellen Ausländer:innen“, gegen die er vorgehen wolle. Auch hier zeigt sich der Rechtsruck und die CDU konnte sich als „Law -and-Order-Partei darstellen, die die Sicherheit der braven deutschen Bürger:innen garantiert und die Rechte und Befugnisse der Polizei weiter ausbauen will.

Das kam gut bei an bei den Wähler:innen in Berlin, insbesondere beim Kleinbürger:innentum und den rückschrittlichen Teilen der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist es auch den Versäumnissen von R2G zuzuschreiben, dass sich Wegner durchsetzen konnte. Beispielsweise, dass sich trotz Volksentscheid nichts hinsichtlich Deutsche Wohnen & Co. enteignen getan hat, weil sich Franziska Giffey querstellt und zusammen mit der CDU die Vergesellschaftung verhindern will. Im Allgemeinen entschied sie sich lieber dafür, unter Wegner in einer GroKo zu regieren, statt wenigstens ein paar soziale und umweltbezogene Zugeständnisse an Grüne und Linkspartei zu machen.

… und Bayern

Auch in Bayern glänzt die CSU mit rechtspopulistischer Rhetorik. So ist auch bei ihr das Vorbild des US-amerikanischen Senators Ron DeSantis angekommen, weswegen sie begann, gegen Dragshows und deren vermeintliche Gefahr für Kinder zu hetzen. Aber warum? Die CSU hat in Bayern eine spürbare rechte Konkurrenz: die Freien Wähler unter Hubert Aiwanger, welche trotz (oder gerade wegen) seiner antisemitischen Flugblattkampagne an Zulauf gewonnen haben. Deswegen muss sie sich auch hier rechter positionieren, um ihre Wähler:innen nicht zu verlieren. So trat Markus Söder prominent auf einer rechtspopulistischen Demo, organisiert von den Freien Wählern, in Erding gegen die Heizungspläne der Ampelregierung auf, wo sein Schulterschluss mit rechten und verschwörungsideologischen Kräften daran scheiterte, dass er sich zwar als Teil des rechten Sammelsuriums sah, dieses ihn aber nicht als Teil von ihrer „Volksbewegung“.

Dennoch ist die Union aber keine rechtspopulistische Partei, sondern weiterhin eine rechte, konservative Partei, die auf Biegen und Brechen hin versucht, ihre Wähler:innen nicht an die AfD, und in Bayern an die Freien Wähler, zu verlieren und gleichzeitig die sozialen Angriffe im Sinne der herrschenden Klasse zu verschleiern versucht. Dafür nutzt sie auch immer mehr rechtspopulistische Rhetorik. Jedoch stützt sie sich auf keine Protestbewegung und vertritt weiterhin die Interessen des globalisierten Großkapitals. Natürlich könnte es passieren, dass sie in ihrer Taktik komplett auf Rechtspopulismus umschwenkt, doch das hängt vor allem davon ab, wie sich die Krisen weiterentwickeln, ob sich die Kräfteverhältnisse der Kapitalfraktionen innerhalb der herrschenden Klasse verschieben und sich der Klassenkampf weiter zuspitzt, sodass es noch mehr vonnöten ist, durch Rechtspopulismus die Klasse zu spalten und Verwirrung zu stiften.

CDU und AfD – gemeinsam stark?

Wenngleich es aufgrund der verhassten Politik der aktuellen Ampel- und der vorherigen GroKo-Regierungen und der Prozente der AfD zu einer Möglichkeit geworden ist, dass AfD und Union nicht nur auf lokaler Ebene gemeinsam regieren, sondern auch in Ländern und im Bund, so unterscheiden sich ihre politischen Ausrichtungen doch (noch) erheblich. So vertritt die CDU vor allem die entscheidenden Sektoren des globalisierten Großkapital und ein enges geostrategisches Bündnis mit den USA im neuen Kalten Krieg gegen Russland und China. Die AfD setzt eher auf das binnenmarktorientierte mittelständische Kapital und vertritt einen EU-feindlichen und NATO-kritischen außenpolitischen Kurs.

Zugleich setzen sie sich beide für eine Entlastung der Reichen ein und bieten ihnen Steuergeschenke an: So möchte zum Beispiel die CDU die Steuerbelastung für Gewinne bei 25 % deckeln, während die AfD noch weiter geht und sich in allen Fragen für Steuersenkungen für Reiche und Unternehmer:innen ausspricht, auf Bundesebene die Abschaffung des Solidaritätszuschlags fordert und eine Steuer für hohe Vermögen ablehnt. Eine neue Analyse des DIW zeigt nun auch, wie stark sich die Positionen von Union und AfD überschneiden: Die stärkste Schnittmenge gibt es von allen untersuchten Parteien mit der Union, was nun eher weniger verwunderlich ist. Besonders stark ist diese in Bayern und in Thüringen, wo 74 Prozent der Antworten, also fast drei von vier Positionen, identisch sind. Am stärksten fällt die Überschneidung von Union und AfD bei der Klima- und Umweltpolitik aus, gefolgt von der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik. So zeigten sich ihre gemeinsamen Positionen, als sie zusammen in Thüringen für die Senkung der Grunderwerbssteuer eintraten.

Aber bei all diesen Gemeinsamkeiten, dürfen dennoch nicht die Unterschiede zwischen den beiden Parteien unter den Teppich gekehrt werden. Wenngleich sich die CDU bei der Migrationspolitik zunehmend rechtspopulistischer äußert, wie beispielsweise nach den Ausschreitungen in Stuttgart im baden-württembergischen Landtag, so sind die von der AfD geforderten geschlossenen Grenzen und der Migrationsstopp überhaupt nicht im Interesse der Kapitalfraktion, deren Interessen die CDU vertritt. Einerseits würde das die Lieferketten und die Just-in-time-Produktion gefährden, welche relevant für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind. Andererseits würde es ebenso bedeuten, dass es schwieriger sein dürfte, Arbeitskräfte für den Niedriglohnsektor anzuwerben, da diese Jobs oft von Migrant:innen ausgeführt werden. Auch der Kampf gegen den viel beschworenen Fachkräftemangel dürfte sich so eher ineffektiv gestalten.

Das zeigt auch die Positionierung vom Arbeit„geber“:innenverband BDA (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände), welcher Erwerbsmigration stärken möchte und dafür 2022 einen 10-Punkte-Plan veröffentlicht hat, welcher u. a. Entbürokratisierung und schnellere Anerkennungsverfahren, aber auch eine Aufhebung des Zeitarbeitsverbots für Migrant:innen und eine klare Trennung zwischen Asyl- und Migrationspolitik beinhaltet. So soll die Zahl der „beruflich qualifizierten Zuwanderer:innen“ schnell gesteigert werden. Die AfD hingegen will zum Beispiel Sonderregelungen abschaffen, die Asylsuchenden Bleiberecht gewährleisten, wenn sie einer Arbeit oder einer Ausbildung nachgehen möchten. Sie unterstellen den betroffenen Migrant:innen an dieser Stelle, sie würden sich „unter Vortäuschung eines Asylgrundes den Zugang zum Arbeitsmarkt erschleichen“.

Noch größer sind zur Zeit die Unterschiede in der internationalen Politik. CDU/CSU wissen, was das deutsche Kapital an der EU hat. Der Euroraum und die EU-Ökonomie bilden eine wichtige Stütze des deutschen Imperialismus. Im globalen Konkurrenzkampf kann er darauf schlecht verzichten. Ebenso wenig können die EU und Deutschland heute auf die NATO pfeifen. Die eigene Aufrüstung, eine mögliche Stärkung der militärischen Rolle Deutschlands kann zur Zeit nur im Windschatten der US-Dominanz verfolgt werden. Natürlich hat auch die AfD selbst kein Problem mit der Aufrüstung der Bundeswehr und massiven Steigerungen der Rüstungsproduktion.

Aber eine Koalition auf Bundesebene würde voraussetzen, dass die AfD an dieser Stelle die Positionen der CDU/CSU annimmt – sicher kein Ding der Unmöglichkeit, wie Meloni in Italien oder Le Pen in Frankreich zeigen. Es würde aber nicht nur zu Konflikten in der Union, sondern vor allem auch in der AfD führen.

Zwischen beiden Parteien bestehen also durchaus erhebliche Gegensätze. Wenn die CDU also nicht in der Lage ist, die Interessen dieser Kapitalfraktion, welche sie aktuell abbilden soll, zu vertreten, könnte sich ihre Zukunft schwierig gestalten. Dementsprechend wäre eine Koalition mit der AfD sehr riskant für die Union. Deshalb betont auch Friedrich Merz immer wieder, dass die Brandmauer gegen diese nicht einreißen darf und eine Zusammenarbeit auf Bundesebene ausgeschlossen sei. Aber es geht hier nicht darum, die bürgerliche Demokratie zu schützen, sondern wie bereits erwähnt die Interessen des Großkapitals.

Sollte es zu Verschiebungen innerhalb der herrschenden Klasse kommen, was nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden darf, könnte es eine Zusammenarbeit geben, die vor allem für soziale Angriffe auf Arbeiter:innen, Migrant:innen und sozial Unterdrückte stände. Das dürfte keineswegs widerstandslos hingenommen werden. In jedem Fall mehren sich die Anzeichen, dass die CDU/CSU eine begrenzte Zusammenarbeit mit der AfD zuerst auf Länderebene testen könnte – z. B. in Sachsen oder Thüringen.

Um diese und eine später auch mögliche Koalition im Bund zu bekämpfen, werden uns „Brandmauern“ aller Demokrat:innen gegen die AfD nicht weiterhelfen. Die Geschichte wie auch die aktuelle Entwicklung in zahlreichen Ländern zeigen, dass die herrschende Klasse durchaus bereit ist, auf Rechtspopulist:innen oder auch ehemalige Faschist:innen wie Meloni zurückzugreifen, wenn diese entschlossen die Interessen der dominierenden Kapitalfraktionen vertreten.

Nur mittels einer Politik, die praktisch die Klassenfrage, und zwar die politische wie die ökonomische, in den Mittelpunkt stellt, kann der Rechtsruck zurückgeschlagen werden und CDU, Freien Wählern oder AfD der Wind aus den Segeln genommen werden! Revolutionär:innen müssen daher für den gemeinsamen Abwehrkampf gegen die Angriffe von Kapital und Regierung eintreten. Sie müssen jede klassenübergreifende Zusammenarbeit mit den offen Bürgerlichen zurückweisen und innerhalb einer Einheitsfront von Gewerkschaften und, wo möglich, auch von reformistischen Parteien aktiv auf die Widersprüche des Kapitalismus aufmerksam machen und für notwendige radikale Forderungen kämpfen.