Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Argentiniens Präsidentschaftswahlen: Für das „kleinere Übel“ zu stimmen, bringt nichts

Tim Nailsea, Neue Internationale 278, November 2023

Die erste Runde der argentinischen Parlamentswahlen endete mit einem klaren Vorsprung für den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, der 37 Prozent der Stimmen erhielt. Der demagogische rechtsextreme neoliberale Kandidat Javier Milei kam mit 30 Prozent auf den zweiten Platz. Die konservative Patricia Bullrich lag mit 24 Prozent hinter ihnen. Sie hat nun Milei für die Stichwahl unterstützt, aber die Koalition, die sie unterstützte, hat sich gespalten, da zwei ihrer drei Parteien, die Bürgerliche Koalition und die Radikale Partei, sich weigern, ihr zu folgen. Nur wenn es Milei gelingt, die meisten Bullrich-Wähler für sich zu gewinnen, wird er genug haben, um Massa zu besiegen. Massa hofft jedoch, Stimmen von ihren konservativen Anhängern zu gewinnen, die über ihr Bündnis mit dem Demagogen Milei entsetzt sind.

Die einzige Stimme der Arbeiter:innenklasse, Myriam Bregman, Präsidentschaftskandidatin der FIT-U (Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) eines Wahlblocks aus vier Parteien, die verschiedenen trotzkistischen Traditionen angehören, erzielte knapp drei Prozent der Stimmen – etwa 850.000 Stimmen. Cristian Castillo von der PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), wurde für die Provinz Buenos Aires gewählt und fügte den vier bei den Zwischenwahlen gewählten FIT-U-Abgeordneten einen weiteren hinzu. Aber die unmittelbare Zukunft der ArbeiterInnen des Landes wird jetzt nicht durch einen Wahlblock entschieden, sondern durch eine vereinte Kampffront in den Betrieben und auf den Straßen.

Zweite Runde – keine Wahl für die Arbeiter:innen

Keiner der drei bürgerlichen Kandidaten hat die für einen Gesamtsieg erforderlichen 45 Prozent erreicht, so dass es nun am 19. November zu einer Stichwahl zwischen Massa und Milei kommen wird. Für die argentinische Arbeiterklasse bedeutet dies, dass sie überhaupt keine Wahl hat. Zwar fürchten viele eine rechtsradikale Präsidentschaft Mileis, doch haben sie aus erster Hand erfahren, wie es ist, unter etablierten peronistischen Regierungen zu leben, die zu einer Aushöhlung ihres Lebensstandards und Angriffen auf ihre Organisationen geführt haben. 

Die Armut hat sich seit 2018 vervierfacht, die Armutsquote liegt derzeit bei 40 Prozent. Die Inflation liegt bei über 100 Prozent und die Lebenshaltungskosten steigen rasant an. 

Der „Peronismus“, benannt nach Juan Peron, der von 1946-55 und erneut von 1973-4 Präsident war, hat eine lange Geschichte des Verrats an der Arbeiter:innenklasse. Peron, der für sich in Anspruch nahm, eine „dritte Position“ zwischen links und rechts einzunehmen, pflegte enge Beziehungen zur mächtigen argentinischen Gewerkschaftsbürokratie, während er und seine Justicialist Party (PJ) in den Boomjahren nach dem Krieg einige politische Maßnahmen zugunsten der Armen des Landes ergriffen und das Frauenwahlrecht einführten, später aber, insbesondere nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, nach rechts rückten. 

Seit Perons Tod wird die peronistische Bewegung weitgehend von ihrem rechten Flügel dominiert, auch wenn sie weiterhin die sklavische Unterstützung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) genießt. Die peronistischen Regierungen, beginnend mit Carlos Menem in den 1990er Jahren und weiterführend mit den Kirchnern Nestor und Cristina sowie dem amtierenden Albertio Fenandez, waren dadurch gekennzeichnet, dass sie riesige Schulden bei ausländischen Banken auftürmten und dann vom IWF diktierte brutale Sparpakete durchsetzten. Trotz des rhetorischen argentinischen Nationalismus des Peronismus hat er sich immer den Forderungen des globalen Kapitalismus und des US-Imperialismus gebeugt. 

Massa steht ganz in dieser Tradition. Er ist eine Figur des Establishments und hat im letzten Jahr als Wirtschaftsminister versucht, einen Ausgleich zwischen den eher interventionistischen und den marktwirtschaftlich orientierten Fraktionen in der peronistischen Koalition zu schaffen. Unter ihm werden die argentinische Lebenshaltungskostenkrise und der Kotau der Regierung vor dem IWF weitergehen. Sein überraschend gutes Ergebnis ist auf die verständlichen Ängste vor der extremen Rechten zurückzuführen.

Faschismus oder extremer Neoliberalismus?

Die Freiheitsbewegung von Javier Milei ähnelt dem rechten MAGA-Flügel der Republikanischen Partei in den USA, mit einer ultra-neoliberalen „libertären“ Wirtschaftspolitik und einer heftig reaktionären Sozialpolitik. Das Ganze ist verpackt in die „Anti-Establishment“-Demagogie, die von Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien vorangetrieben wird. 

Milei ist ein rechtsgerichteter Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Zu seiner Politik gehören Angriffe auf die Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu Abtreibung und Sexualerziehung. Er plant, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, und während des Wahlkampfs sprach sich Milei für die Privatisierung der argentinischen Eisenbahnen aus. Seine schockierendste Politik ist das Versprechen, den argentinischen Peso abzuschaffen und die Wirtschaft zu dollarisieren. Tatsächlich gibt es in der Zentralbank nicht genügend Dollarreserven, um dies zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu einigen der hysterischen Reaktionen auf seinen Aufstieg ist Mileis Bewegung nicht faschistisch. Der Faschismus kommt auf der Grundlage außerparlamentarischer paramilitärischer Gewalt an die Macht, die auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung abzielt, während seine Bewegung in erster Linie auf Wählerstimmen setzt. Zwar haben sich Mitglieder seiner Bewegung, darunter auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel, positiv über die argentinische Militärdiktatur von 1976-83 geäußert, aber wie bei Trump und Bolsonaro gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Militärhierarchie Milei bei der Errichtung einer Diktatur unterstützt, zumindest nicht unter den unmittelbaren Bedingungen. Es ist vielmehr der brutale neoliberale Abbau von Sozialleistungen, Frauenrechten, staatlicher Beschäftigung und den Überresten von Arbeits- und Umweltvorschriften, den die Arbeiter:innen zu fürchten haben.

Milei und sein Wahlbündnis enthalten zwar Elemente, die sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in eine faschistische Richtung entwickeln könnten, sind aber eigentlich ein Beispiel für das, was in der kapitalistischen demokratischen Politik üblich geworden ist – ultrakonservative, extreme Neoliberale, die darauf abzielen, den Kapitalismus von den letzten Resten der Beschränkung zu befreien und ihn auf die Arbeiterklasse und die Armen loszulassen. 

Das geringere Übel?

Aufforderungen an die Linke und die Arbeiter:innenbewegung, sich hinter Massa und das Establishment zu stellen, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Das System der Stichwahlen ist darauf ausgelegt, die Wähler zu disziplinieren, damit sie die etablierten Parteien unterstützen. Sie dürfen sich im ersten Wahlgang mit Stimmen für alternative Kandidaten vergnügen, aber danach wird von ihnen erwartet, dass sie „ernst machen“ und für eine der beiden verbleibenden Optionen stimmen. 

Dies gilt insbesondere angesichts eines möglichen Sieges der Rechten, wobei Politiker und Medienvertreter die Menschen auffordern, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, warum nicht den Kandidaten wählen, der trotz seiner Schwächen zumindest kein fanatischer Reaktionär ist, der alles, was von den Rechten der Lohnabhängigen, der Frauen und der Homosexuellen übrig geblieben ist, abschaffen will?

Es ist die neoliberale Politik der peronistischen Koalition, die Argentinien in diese Sackgasse geführt hat. Wenn sie weiter regiert, wird sich die Krise nur vertiefen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechte dies ausnutzen und an die Macht kommen kann.

Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein kämpferischer Kampf, bei dem die Gewerkschaften in den Betrieben, die Arbeitslosenorganisationen und die Frauenbewegung zu einer gemeinsamen Front des Widerstands gegen denjenigen, der Präsident wird, gewonnen werden. Nur eine unabhängige, vom Peronismus und allen kapitalistischen Parteien losgelöste Arbeiter:innenbewegung kann sich sowohl den Angriffen des Neoliberalismus als auch einer aufständischen extremen Rechten entgegenstellen.

Eine solche Bewegung ist kein Hirngespinst. In Jujay, der ärmsten Provinz Argentiniens mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von 80 %, haben Kampagnen gegen die Auswüchse der Lithiumkonzerne und reaktionäre Verfassungsänderungen die argentinische Politik in diesem Jahr erschüttert, wobei Lehrer:innen und indigene Arbeiter:innen den Kampf anführten. Eine solche Bewegung kann als Vorbild dienen und auf nationaler Ebene verallgemeinert werden. 

Eines der Hauptziele der Linken muss es sein, die argentinische Arbeiter:innenbewegung von ihrer historischen Unterstützung für den Peronismus zu lösen, und das kann nur geschehen, indem der Ruf nach einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei laut wird. Der bescheidene Erfolg des linksextremen Wahlbündnisses FIT-U zeigt, dass es Aktivist:innen gibt, die eine solche Partei aufbauen könnten. Doch dazu bedarf es einer Einheit, die über die von zersplitterten Wahlbündnissen hinausgeht. Es erfordert ein revolutionäres Aktionsprogramm, das bei den wichtigsten Forderungen und Taktiken ansetzt und notwendig ist, um den neuen Präsidenten anzugreifen und zu besiegen.




Argentinien: Rechtsruck bei den Vorwahlen

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Der Sieg des rechten, ultraliberalen Javier Milei bei den Vorwahlen am 13. August kommt einem politischen Erdbeben gleich. Überraschend ließ der Kandidat der rechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) die Vertreter:innen der großen bürgerlichen Parteiblöcke – der rechtsliberalen Allianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) und der peronistischen Unión por la Patria (Union für das Vaterland) hinter sich.

Umfragen prognostizierten Milei, dessen Partei erst 2021 gegründet worden war, zwar einen beachtlichen Zulauf von bis zu 20 % der Stimmen und damit den dritten Rang unter den Präsidentschaftskandidat:innen. Dass er gewinnen würde, hatte jedoch niemand auf dem Schirm.

Ergebnis der Vorwahlen

Die Vorwahlen dienen in Argentinien zwei Zwecken. Erstens dürfen nur Parteien oder Allianzen, die die 1,5 %-Hürde knacken, zu den Präsidentschaftswahlen, zur Wahl von 130 der 257 Parlamentssitze sowie von 24 der 72 Senator:innen antreten. Zweitens können für eine Partei zwei Kandidat:innenlisten zur Vorwahl antreten und das Ergebnis legt fest, wer die Liste anführt. Darüber hinaus fanden am 13. August auch noch Vorwahlen zu den Gouverneur:innenwahlen und der Legislative mehrerer Provinzen, darunter auch Stadt und Region Buenos Aires statt.

Bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft erhielten Milei und die als Vizepräsidentkandidatin antretende Victoria Villarruel 30 % der Stimmen. Anders als bei den meisten anderen Listen gab es hier keine parteiinterne Konkurrenz Auf dem zweiten Platz folgte Juntos por el Cambio mit 28,3 %, wobei sich dort Patricia Bullrich, die Vorsitzende der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015 – 2019) und einstige Sicherheitsministerin, mit 17 % durchsetzen konnte.

Die zur Zeit noch regierende peronistische Unión por la Patria errang nur 27,27 % – und verlor damit gegenüber den Vorwahlen 2019 rund 20 %! Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Massa, also der Kandidat vom rechten Parteiflügel, setzte sich mit 21,4 % klar durch. Der linkspopulistische Gegenkandidat Grabois errang gerade 5,89 %, obwohl er vom Papst und der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner unterstützt wurde.

Nur zwei weitere Listen schafften es zu den Präsidentschaftswahlen, alle andere blieben unter 1,5 %. So treten neben den oben genannten drei großen Lagern noch die aus dem Peronismus kommenden Schiaretti und Randazzo an, die bei den Vorwahlen 3,8 % erhielten. Die Kandidat:innen der Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad (FIT-U = Front der Linken und Arbeiter:innen – Vereinigte Front) vereinten 2,7 % auf sich. Insgesamt erhielt die FIT-U 630.000 Stimmen – ein deutlicher Rückgang gegenüber den letzten Vorwahlen 2021 (zur anderen Hälfte der Parlamentssitze), als sie fast eine Million Stimmen erhielt, aber auch gegenüber den Wahlen von 2019. In der FIT-U setzte sich die Liste der PTS/IS (Bregman und del Caño) mit 1,86 % gegenüber jener von PO/MST (Solano und Ripoll) durch, die 0,79 % erhielt. Andere linke Kandidaturen aus dem trotzkistischen Spektrum verfehlten mit 0,4 % (Nuevo MAS) und 0,3 % (Politica Obrera) die 1,5 %-Hürde.

Sieg der Rechten und Krise

Betrachten wir nur die Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen, so erzielten Kandidat:innen rechts von den regierenden Peronist:innen rund 60 %! Hinzu kommt, dass La Libertad Avanza auch in vielen Provinzen stark abschnitt, also nicht nur Milei als ernstzunehmender Kandidat, sondern auch seine Partei sich etablieren konnten. Die Stimmen für die regierenden Peronist:innen dürfen darüber hinaus auch keineswegs als „links“ gewertet werden. Vielmehr stellt der Peronismus den linken Flügel des bürgerlichen Spektrums dar, eine populistische politische Strömung, die letztlich die Interessen des Kapitals vertritt, auch wenn sie die Gewerkschaften und deren Führung über Jahrzehnte inkorporiert, gewissermaßen eine Volksfront in Parteiform darstellt.

In jedem Fall haben die beiden Hauptparteien des politischen Systems an Positionen verloren. Über Jahrzehnte stellten sie – und nur sie – Präsidentschaft und Regierung, wechselten sich gewissermaßen ab, wenn darum ging, die Staatsgeschäfte zu erledigen und die damit verbundenen Pfründe untereinander aufzuteilen. Dieses System war schon immer untrennbar mit Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und mehr oder weniger offener Plünderung staatlicher Gelder für eigene Zwecke oder im Interesse des inländischen und ausländischen Kapitals verbunden.

Doch Argentinien befindet sich seit Jahren in einer extremen ökonomischen und sozialen Krise, die eng mit der halbkolonialen Abhängigkeit des Landes verbunden ist. Schon um die Jahrhundertwende stand das Land infolge von Verschuldung, Bankcrash und Zusammenbruch der Währung vor dem Ruin. Nachdem diese vorübergehend überwunden werden konnte, dreht sich wieder die Schuldenspirale. Seit spätestens 2014 schrammt das Land nah an der Insolvenz vorbei.

Seit Jahren verhandelt Argentinien eine Umschuldung nach der anderen mit dem IWF, da es sonst kaum noch neue Kredite erhält. Im März 2023 betrugen die Schulden rund 276 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 148 Milliarden auf den Nationalstaat, der beim IWF mit rund 45 Milliarden in der Kreide steht. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 36,5 Milliarden US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 2016.

Die Inflation ist von Juni 2022 bis Juni 2023 von 64 % auf 115 % gestiegen, was auch dazu führt, dass viele versuchen, ihre Reserven in US-Dollar anzulegen. Extreme Dürren, begleitet von massiven Ernteeinbrüchen – Schätzungen gehen von 30 – 40 % für verschiedene Agrarprodukte aus –, haben die Situation weiter zugespitzt. Verschärfend kommen Energie- und Treibstoffknappheit hinzu. Für 2023 prognostiziert der IWF ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2,5 % und eine Inflationsrate von 120 %.

Dabei leben schon heute rund 40 % der Bevölkerung in völliger Armut – und zwar mit massiver Steigerung. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht, auch aus den Mittelschichten – nicht zuletzt infolge der Kürzungen, die für IWF-Kredite ausgehandelt wurden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 7,5 %, die Jugendarbeitslosigkeit bei 18,3 %. Nur 43 % der Beschäftigten haben einen „regulären“ Arbeitsvertrag, die Mehrheit der Lohnabhängigen arbeitet ohne soziale Absicherung über Vertragsarbeit oder als Scheinselbstständige. Das führt auch dazu, dass die Gewerkschaften an potentiellem Einfluss verloren, weil mittlerweile die Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse nicht über gewerkschaftliche Abkommen reguliert wird (was umgekehrt die Gewerkschaftsspitzen nicht hindert, sich weiter den Peronist:innen unterzuordnen).

Widerstand

All dies findet keineswegs ohne Widerstand und Protest statt. Im Sommer 2022 gab es bedeutende Demonstrationen gegen Preissteigerungen und umfangreiche Kürzungen an Sozialprogrammen durch die peronistische Fernández-Regierung. Mehrere landesweite Protesttage 2023 mobilisierten Hunderttausende – 160.000 am 7. Februar,

rund 350.000 Menschen am 18. Mai 2023 nach einem Sternmarsch nach Buenos Aires gegen Hunger und IWF-Sparpolitik. Maßgeblich organisiert wurden sie von einer  Koordination für die soziale Veränderung, einem Bündnis der Erwerbslosenorganisationen namens Unidad Piquetera.

Am 4. Juli 2023 fanden in mindestens 87 Orten Argentiniens Proteste statt, vielerorts wurden auch Straßen und Kreuzungen blockiert. Unter dem Banner „Unidad Piquetera“ (Vereinte Blockade) demonstrierten verschiedene soziale Bewegungen gemeinsam gegen die wachsende Ungleichheit im Land.

Die vier Forderungen der Unidad Piquetera: „20 Millionen Arme, und das Essen geht in den Wahlkampf. [1] Ganzheitliche Versorgung der Suppenküchen. 2) Lieferung der Hilfsmittel für selbstverwaltete Arbeit. 3) Teuerungsausgleichszulage. 4) Erhöhung der Sozialprogramme = Inflation.“

Ein anderes Beispiel für Proteste ereignete sich im Juni 2023 in der Nordwestprovinz Jujuy, wo der Gouverneur eine Verfassungsreform durchdrücken will. Die neue Verfassung verbietet es, Straßen zu blockieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die in den letzten Wochen in der Provinz bei Demonstrationen gegen die Reform und für eine bessere Bezahlung der Lehrer:innen eingesetzt wurden.

„Die CGT von Jujuy hat einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Alle zum Streik und zur Mobilisierung. Er muss andauern, bis die Reform fällt und sie auf alle Forderungen reagieren. Ein nationaler Streik der CGT und der CTA zur Unterstützung der Bevölkerung von Jujuy ist unerlässlich. Nach Tagen des Kampfes und der Repression in Purmamarca sind die Worte des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Nation angekommen. Ihre Partei hat die Reform von Morales unterstützt und heute waren sie noch im Plenarsaal und haben geschworen, dass es eine schlechte Reform ist, während sie das Volk unterdrücken. Nieder mit der Reform. Hoch mit den Löhnen und Rechten. Freiheit für alle Verhafteten und Inhaftierten. Generalstreik, bis die Verfassungsreform von Morales und der PJ fallen gelassen wird“. (Aus einem Bericht des linken Wahlbündnisses FIT-U) (Gerardo Morales=Gouverneur von Jujuy)

Allerdings gingen die Proteste trotz beachtlicher Größe bislang nicht über Großdemonstrationen oder lokale, befristete Besetzungen und Streiks hinaus. Zweitens tragen viele auch einen defensiven, eher appellativen Charakter.

Warum siegte die Rechte?

So wichtig, diese Mobilisierungen daher sind, so schlägt in Argentinien das politische Pendel inmitten der kombinierten sozialen, wirtschaftlichen Krise massiv nach rechts aus. Zweifellos sind die Wahlbewegungen instabil und Momentaufnahmen. Sicherlich wählten viele Milei auch, um den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, nicht weil sie von seiner Politik so überzeugt wären. Aber die Bilanz der Vorwahlen ist eindeutig (und wird sich bis zu den Wahlen auch nicht extrem verändern, selbst wenn Juntos por el Cambio oder Unión por la Patria besser abschneiden sollten. Der Rechtsruck ist deutlich – und wir müssen uns fragen, warum ein Kandidat wie Milei, der 2019 noch gar nicht zur Wahl stand, 30 % erreichen konnte.

Ähnlich wie Trump inszeniert sich der Wirtschaftswissenschafter und selbsternannte „Anarchokapitalist“ als Kandidat gegen das „korrupte“ Establishment. Er verspricht, mit der Korruption, mit dem „alten System“, zu dem auch die Gewerkschaften, Linke, Errungenschaften der Frauenbewegung und Unterdrückten gehören, aufzuräumen.

Den Peso will er abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, die Zentralbank würde dann nicht mehr gebraucht und folgerichtig geschlossen. Die Bindung an den US-Imperialismus würde verstärkt.

Milei hat Verbindungen zu bekannten rechten Organisationen wie z. B. der „Fundación LIBRE“ und findet lobende Worte für die ehemalige Militärdiktatur. Auch spricht er sich gegen Abtreibung aus. Seine wirtschaftliche Agenda ist eine besonders radikale Form des Neoliberalismus. Er will alle Sozialprogramme abschaffen und Unternehmen nicht mehr besteuern. Bildung und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen restlos privatisiert werden.

Kein Wunder also, dass er Unterstützung bei den reichsten Menschen sowie bei bedeutenden Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten findet. Aber er erhielt paradoxerweise auch bei den ärmsten Menschen massiv Zuspruch.

Dies verdeutlicht nicht nur deren massive Entfremdung vom argentinischen politischen System und insbesondere auch vom Peronismus, der diese lange integriert hatte. Die Wahl der Rechten als „Protest“ verweist auch auf die Verzweiflung und teilweise Demoralisierung dieser Schichten. Gelingt es den Gewerkschaften und der Linken nicht, die Massen gegen die Krise zu mobilisieren und für diese einen Pol der Hoffnung darzustellen, so droht, sich diese Schicht zu einer rechten populistischen Bewegung zu verfestigen und im Falle zukünftiger Kämpfe sogar weiter zu radikalisieren.

Die Mischung aus heterogenen Klassenkräften – von verarmten, deklassierten Schichten über das Kleinbürger:innentum bis hin zu Teilen des herrschenden Klasse – kann nur zusammengehalten werden, indem der anarchokapitalistische Führer sein Programm, das sich unmittelbar gegen die Masse seiner Wähler:innen richtet, mit rassistischer, reaktionärer, demagogischer und irrationaler Hetze gegen eine/n gemeinsame/n Feind:in verbindet. Sollte Milei in der Opposition bleiben, wird er in jedem Fall diese Strategie verfolgen. Aber auch, wenn er einen bedeutenden Einfluss auf die nächste Regierung erlangen oder gar, was unwahrscheinlich ist, die Präsidentschaft gewinnen sollte, wird er auf eine solche reaktionäre Mobilisierung weiter zurückgreifen müssen, will er seine Anhänger:innen bei der Stange halten.

Die radikale Linke

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der „radikalen Linken“ analysiert und deren Aufgaben bestimmt werden.

Die FIT-U hat mit 2,7 % (=620.000 Wähler:innen) ein Ergebnis erzielt, das in jedem anderen Land überaus beachtlich wäre. Die Wahlallianz FIT-U aus vier trotzkistischen Organisationen besteht aber bereits seit 2011 und die Ergebnisse pendeln seither um diesen Prozentsatz. Die FIT-U ist zwar etwas gewachsen, aber ihr gesellschaftlicher Einfluss stagniert seit Jahren.
Das liegt an mehreren Faktoren. Erstens bildet sie im Wesentlichen nur eine Wahlallianz. Außerhalb der Wahlen treten die vier Gruppierungen vor allem als verschiedene Organisationen auf.

Auch wenn alle gern betonen, dass die FIT-U mehr werden müsse als eine Wahlallianz – so hat auch niemand den Schritt, über diese hinauszugehen, ernsthaft versucht.

Dies würde nämlich bedeuten, offen und öffentlich über eine programmatische Vereinheitlichung und die programmatischen Differenzen zu debattieren. Es würde auch bedeuten, die FIT-U für Arbeiter:innen und Jugendliche zu öffnen, die deren Wahlprogramm unterstützen.

Das ist aber nicht möglich. Die Mitglieder der FIT-U sind vier Organisationen – Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS), Izquierda Socialista (IS) und Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST). Wer mitbestimmen will, muss einer der vier betreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der FIT-U aus dem Jahr 2011 (!) stammt und seither nicht aktualisiert wurde. Dabei wäre das dringend nötig. Erstens, weil das Programm nicht auf die aktuellen Aufgaben fokussiert ist, zweitens, weil es wichtige Schwächen aufweist, die es zu einem zentristischen, nicht-revolutionären Programm machen. So enthält es keine klare Orientierung auf eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den bestehenden, vom Peronismus politisch dominierten Gewerkschaften. Das Programm spricht zwar die Forderung nach einer Arbeiter:innenregierung an, aber es lässt offen, auf welche Organe sich eine solche stützen müsste, wie überhaupt Räte und bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innen und Unterdrückten (Milizen) nicht vorkommen.

Teile der FIT, z. B. Izquierda Socialista, halten dieses ungenügende Programm für ausreichend. Faktisch agieren die Kandidat:innen der FIT-U darüber hinaus mit ihren jeweils eigenen Wahlplattformen. Nicht nur zum Wahlprogramm gibt es massive Differenzen, auch zu anderen, für den Klassenkampf wichtigen Fragen (Charakterisierung von Russland und China, Krieg in der Ukraine, Verhältnis zu Kuba und Venezuela, Haltung zu den Piquetero-Organisationen und zum Peronismus).

Die Wahlen dürfen daher auch von der FIT-U nicht als Aufruf zu einem „Weiter so!“ verstanden werden. Vielmehr müssen zwei, miteinander verbundene strategische Aufgaben angegangen werden:

a) Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriff des Kapitals mit dem Ziel, auch die Gewerkschaften in den Kampf zu zwingen.

b) Ausarbeitung eines Aktionsprogramms, das im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung gipfelt, die sich auf Räte und Milizen stützt, das Großkapital unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und einen Notplan gegen die Krise umsetzt.

Dies würde aber erfordern, dass die FIT-U selbst eine Kurskorrektur vornimmt, eine Diskussion um diese Fragen organisiert, um eine vereinte revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.




Tabula rasa – Tafeln in Not

Bruno Tesch, Infomail 1227, 9. Juli 2023

Auf seiner Internetseite bittet der Verband der Tafeln in Deutschland um Spenden:

„Über 960 Tafeln, eine Mission: Lebensmittel retten und armutsbetroffenen Menschen helfen. Die Tafeln retten Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, und geben sie an Menschen in Armut weiter, die sich eine ausgewogene Ernährung nicht leisten können.“

Schon im 1. Weltkrieg gehörten Suppenküchen für Bedürftige besonders in Großstädten zum Alltag, um den ärgsten Hunger zu stillen. Dort wurde Essen an Erwachsene gegen ein geringes Entgelt ausgegeben, für Kinder auch kostenlos verabfolgt. Diese Speiseanstalten wurden zumeist von kommunalen Verwaltungen, den Kriegshilfsausschüssen, unterhalten. Nach dem Krieg kamen sie vermehrt wieder in der Zeit der schwindelerregenden Verteuerung von Lebensmitteln und während der hohen Arbeitslosigkeit zum Einsatz.

Der Dachverband beziffert die vor der Entsorgung geretteten und gespendeten Lebensmittel auf jährlich rund 265.000 Tonnen, die an etwa zwei Millionen Menschen weitergegeben werden. Diese Zahlen haben sich jedoch in der jüngsten Zeit dramatisch auseinanderentwickelt. Nebenbei bemerkt: Hauptursache dieser Lebensmittelverschwendung ist im Gegensatz zur herrschenden Meinung nicht das Verhalten der Verbraucher:innen, sondern sind Auflagen des Handels, zumeist ökologisch völlig unsinnige Normen.

Engpässe

Die Tafeln schlagen Alarm, denn das Versorgungsangebot ist deutlich geschrumpft. Bisher kamen die Spenden zum allergrößten Teil von den großen Lebensmittelketten, die sie mit Produkten versorgten, deren Verfallsdatum kurz vor dem Ablauf stand, aus Lagerbeständen, Überproduktionen oder Sortimentsumstellungen stammen oder aus anderen Gründen sich nicht verkaufen ließen. Nun haben die Lebensmittelhändler:innen ihre Mengen im Sortiment einer knapperen Kalkulation unterworfen, so dass sie den Tafeln weniger Ware übereignen.

Binnen anderthalb Jahren hat sich die Länge der Menschenschlangen, die bei der Essensausgabe anstehen, verdreifacht. Es sind nicht nur Arbeitslose oder Zugewanderte, die sich dort einfinden. Die Arbeitslosigkeit, Hauptgrund für Bedürftigkeit wie etwa Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ist in den letzten Jahren nur unwesentlich gestiegen. War es bis vor kurzem noch schambehaftet, sich in die Kette der Wartenden einzureihen, treibt jetzt die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die für die Bevölkerungsmehrheit weit über der offiziellen Inflationsrate liegt, die Menschen massenweise zur Tafel.

In der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung steckte schon immer ein Klassenproblem. Armenpflege war bis in die Neuzeit karitative Aufgabe der Kirche. Der Klerus als parasitäre Klasse (und im Kapitalismus: Kaste) erfüllte wenigstens eine soziale Pflicht, indem er für die Mittellosen Almosen- und Krankenpflegedienste organisierte.

Durch das Anwachsen des städtischen Proletariats wuchsen auch die Versorgungsprobleme.

Der bürgerliche Staat entledigte sich erst im 1. Weltkrieg, als diese soziale Unruhen heraufbeschworen, auf seine Weise des Dilemmas. Er stellte zwar Räumlichkeiten und Ausstattung für Verpflegungsstationen, wälzte aber die Arbeit darin auf unbezahlte Kräfte ab, indem an das patriotische Gewissen appelliert wurde, die Nation in der gemeinsamen Kriegsanstrengung zusammenzuhalten.

Diese ehrenamtlichen Tätigkeiten verrichteten parallel zu den medizinischen Pflegediensten in Kriegslazaretten in erster Linie Frauen. In den derzeitigen Tafeln überwiegen ebenfalls weibliche Arbeitskräfte, die nur einen Spesentagessatz – ein Almosen – für ihren physisch und psychisch anstrengenden Einsatz erhalten. Von den 60.000 Helfer:innen wandern jedoch viele ab, so dass neben Material- auch Personalengpässe entstehen.

Tafelverband

Der Tafelverband rühmt sich, mit seinem Mitarbeiter:innenstab „eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland“ zu sein. Der Dachverband ist seit 1995 als gemeinnütziger Verein eingetragen, betreibt Lobbyarbeit und erhält auch „projektgebundene“ Fördermittel aus dem mit der Schirmherrschaft betrauten Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das aber gerade bei der neuesten Bundeshaushaltsvorlage mit empfindlichen Einbußen rechnen muss. In der Summe sind die Tafeln aber auf Spenden von privater Seite angewiesen, die bisher zum großen Teil von Lebensmitteldiscountern stammten. Diese leisteten sich die Abgaben zur Aufpolierung ihres Images als nachhaltige Wirtschaftsunternehmen. Doch sie schränken nun ihr ja auf Freiwilligkeit beruhendes Engagement ein. Die Tafeln stehen also auf wackligem Fundament.

Gegen Mildtätigkeit und Spendenbereitschaft hat sicher niemand etwas einzuwenden. Sie verdecken allerdings nur das eigentliche Problem: die gesellschaftliche Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, die der Kapitalismus niemals garantiert und, wenn überhaupt, nur durch Unterdrückung und Ausbeutung imperialisierter Länder und deren proletarischer und kleinbäuerlicher Klassen gewähren kann.

Eine „sozial-ökologische Bewegung“, die der Tafelverband vorgibt zu sein, müsste sich also auch mit den Arbeitsverhältnissen und Umweltbedingungen beschäftigen, unter denen Nahrungsmittel hergestellt und vertrieben werden. Außerdem müsste auch die heimische Lebensmittelindustrie ins Visier genommen werden.

Die vier Branchenries:innen des Handels, die den deutschen Markt unter sich aufgeteilt haben, gehören zu den großen Profiteur:innen der Inflation. Ihre aggressive Einkaufspolitik verschafft ihnen bereits bei den Hersteller:innen hohe Zwischenmargen, die sie, ähnlich wie die Energiekonzerne, durch die Aufschläge in der Preisansetzung im Verkauf realisieren und in keiner Weise an die Endverbraucher:innen weitergeben.

Preiskontrollen in der Lebensmittelindustrie wären also an der Tagesordnung. Vertrauen darauf, solche durchzuführen, kann natürlich einer bürgerlichen-karitativen Institution wie der „Tafelbewegung“ nicht entgegengebracht werden. Das ist vordringliche Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung.

Derartige Einrichtungen wie die Tafel bestehen auch in anderen Industrieländern. In Frankreich existiert ein Zwangsabgabegesetz, das Lebensmittelfirmen mit mehr als 400 Quadratmeter Verkaufsfläche dazu anhält, eine bestimmte Menge ihres Sortiments an Sozialstätten abzutreten. Ein solches Gesetz kann nützlich sein, muss aber in ein allgemeineres Preisüberwachungssystem einbezogen und einer strengen Kontrolle unterworfen werden.

Hier könnten demokratisch gewählte Ausschüsse als geeignetes Instrument dienen. In ihnen müssten nicht nur Aktist:innen aus der Arbeiter:innenbewegung tätig sein. Sie könnten auch nicht-berufstätige proletarische Frauen, Migrant:innen und Verbraucher:innen und vor allem Verbindungen zu den Beschäftigten in der Lebensmittelbranche aufnehmen, damit die Arbeiter:innenkontrolle mittels Einsichtnahme in Geschäftsunterlagen der Lebensmittelkonzerne Substanz gewinnen könnte.

Um ihren politischen Wirkungsgrad zu erhöhen, sollten Verbindungen zu Mieter:innenvereinigungen und zum Energiesektor aufgebaut werden, also vornehmlich zu Bereichen, die besonders unter Inflation und Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse zu leiden haben, Diese Ausschüsse gälte es zu zentralisieren. Außerdem könnten internationale Verbindungen z. B. nach Frankreich, hergestellt, deren Erfahrungen mit dem Zwangsabgabegesetz ausgewertet und unter Umständen gemeinsame Kampforgane aufgebaut werden.




Komödiant:innenstadl Ampelkoalition: das Gebäudeenergiegesetz

Gerald Falke, Infomail 1226, 28. Juni 2023

Nachdem die Grünen ein Markenzeichen – die Ablehnung militärischer Mittel zur Konfliktlösung – längst abgelegt haben, sie gewissermaßen mittlerweile olivgrün geworden sind, konzentrieren sie sich auf das Thema Klimawandel. Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) sollte den ramponierten Ruf der Ökopartei aufpolieren. Raus kam ein Rohrkrepierer.

Kosten

Immerhin kann sich eine Klasse der Gesellschaft über die Maßnahmen der Ampel freuen. Begleitend zu den mit dem GEG verbundenen Kosten erfolgte eine deutliche Senkung der Energiepreise für die Industrie.

Nachdem die durch den initiierten Wirtschaftskrieg gegen Russland verstärkte Inflationswelle eine erhebliche Verarmung der Bevölkerung erzwang, wurde jetzt auch eine finanzielle Entlastung der Industriebetriebe durchgesetzt, für deren Ausgleich letztlich wieder die Bevölkerung wird zahlen müssen. Kam also erst der Angriff auf die Einkommen und Ersparnisse durch die erhöhten Energiepreise, so wurde jetzt mit Verweis auf die international gefallenen eine weitere finanzielle Belastung ermöglicht. Solche Geschenke fördern freilich neue Begehrlichkeiten, weshalb jetzt die Wirtschaftsministerien der Länder eine weitere Senkung des Industriestrompreises von 6 auf 4 Cent pro Kilowattstunde fordern.

Das GEG, das von Beginn an heftigst kritisiert und unter dem Druck verschiedener gegensätzlicher Interessen immer wieder modifiziert wurde, gilt offenbar als so bedenklich, dass es inzwischen sogenannte „Leitplanken“ mit „angemessenen Übergangsfristen“ erhielt. In diesen Auseinandersetzungen verdeutlichte sich für die Grünen die Schwierigkeit, aus einer scheinbar klassenunabhängigen Perspektive heraus eine gesamtbürgerliche Strategie umzusetzen. Angesichts dieser erlebten realen Machtverhältnisse räumte die Fraktionschefin Britta Haßelmann vorweg noch weitere Veränderungsmöglichkeiten in den Fachausschüssen ein. Die Regierungsvorlage, die diese Woche verabschiedet wurde, unterscheidet sich kaum noch vom Entwurf der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Dennoch bemühte sich der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andreas Audretsch um beruhigenden Optimismus und sieht die Koalition in „neuem Schwung“.

Der Druck aus der Basis kommt mittlerweile auch eher von außen und versuchte nur noch beim Thema der europäischen Asylpolitik ein Aufständchen. Die Kritik daran erfolgte auf einem kleinen Parteitag zunächst schriftlich, dann moderat mündlich und letztlich praktisch eher unerheblich.

FDP

Die FDP zeigt sich in ihrem typischen Pragmatismus, frei nach dem Motto: Wahr ist, was mir nützt. Dazu wurde zunächst die Koalitionsvereinbarung zum GEG schlichtweg ignoriert.

Scheinbar überrascht nannte der Abgeordnete Frank Schäffler, seinerzeit Kritiker des „Eurorettungsschirms“, dieses Gesetz eine „Atombombe für unser Land“ und forderte eine grundlegende Revision nach dem Motto: „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. Und der bayerische FDP-Landtagsfraktionschef Martin Hagen sprach auch auf einer Demo in Erding gegen (!) die Heizungspläne.

Hintergrund dafür war vermutlich ein befürchtetes Absinken der Liberalen in die Bedeutungslosigkeit. Während andere Parteien ihre Größe als Druckmittel verwenden, ist es bei der FDP ihre Kleinheit. Immerhin würde aus ihrem Untergang auch der der Regierung resultieren. Damit sieht sie sich offenbar in der Position, in der Ampel eine Oppositionsrolle einzunehmen – noch dazu eine mit der Finanzhoheit. Und weil ja ohne Geld alles nichts ist, wähnt sie sich auch in der Rolle einer Regierung in der Regierung.

Nachdem die Ignoranz nicht nachhaltig wirksam war, ist die bevorzugte Technik jetzt die der Verzögerung: Wie Finanzminister Lindner den Haushalt für das nächste Jahr blockiert und fordert, dass sich die Ministerien einmal zusammenreißen sollen, so wird auch der von den Koalitionspartner:innen angestrebte Zeitplan für unhaltbar erklärt.

Für diese Unhaltbarkeit bürgt freilich vor allem die eigene Rolle. Erst wenn die an Habeck gestellten 100 Fragen beantwortet wurden, können Beratungen beginnen.

SPD

Die SPD wiederum fällt in diesem Streit durch ihre verhältnismäßige Unsichtbarkeit und ihre zwangsläufige Vermittlungsrolle auf. Gegenüber den Ansprüchen seitens der Industrie machte sich beispielsweise Olaf Lies, Wirtschaftsminister aus Niedersachsen, stark für eine staatliche Hilfe bei den Stromkosten der Wirtschaft zur Standortsicherung.

Gegenüber den kritischen Stimmen aus der übrigen Bevölkerung bemüht sich die SPD vor allem um Beschwichtigung: So schlug sie vor, das Gesetz auf Neubauten und den Austausch defekter Heizungssysteme zu beschränken. Fraktionschef Rolf Mützenich räumte zusätzlich ein, dass die Wärmepumpe auch nicht überall funktionieren werde.

Mittlerweile wurde dank der reformistischen Weitsicht auch deutlich, dass damit die Misere im Bereich der Wohnungsmieten noch drastisch verstärkt zu werden droht. Da hatte die Bundesbauministerin Klara Geywitz wohl die Dimension einer vorprogrammierten Schwierigkeit übersehen: der Modernisierungsumlage von 8 % jährlich, die den Mieter:innen auch nach Amortisation der neuen Heizung erhalten bleibt. Jetzt ereifert sich das Führungspersonal umso mehr mit einer sozial akzentuierten Haltung. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil plädiert für eine sozial darstellbare Lösung und Co-Vorsitzender Lars Klingbeil möchte, dass die Modernisierungsumlage nicht vollständig auf die Mieten umgelegt werden soll. Jetzt wird über zumutbare Eigenanteile und eine gestaffelte soziale Unterstützung diskutiert. Beispielsweise meint Daniel Keller, SPD-Landtagsfraktionsvorsitzender in Brandenburg, dass eine finanzielle Förderung durch den Bund nicht auf 30 bis 50 % begrenzt werden soll.

Solche Initiativen drücken aber insgesamt mehr den Druck der eigenen Basis aus als eine Bemühung um eine Gesamtkonzeption, in der sowohl die gesellschaftlichen Ursachen der ökologischen Krise verstanden als auch ein sozial angemessenes Programm ausgedrückt werden.

Außerhalb?

Die CDU wiederum hat ihre innere Führungskrise auch unter Merz nicht überwunden. So ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass vor allem die AfD weitere Zugewinne verzeichnen kann. Während nämlich die Ampelkoalition den vernünftigen politischen Weg in den objektiven Tendenzen sieht, die das Kapital vorgibt, präsentiert sich die AfD als Sammelbecken aller bürgerlichen und kleinbürgerlichen wirklichen und vermeintlichen Opfer diese Politik – verbindet sie mit Populismus, Nationalismus und Rassismus.

DIE LINKE ist hingegen hilflos und paralysiert, nachdem sie große Teile des Gesetzentwurfs prinzipiell akzeptiert und lediglich eine „sozial gerechte“ Finanzierung als größtes Problem versteht. Im Übrigen ist sie am meisten mit ihrer Selbstzerfleischung beschäftigt.

Wer die AfD wirklich stoppen will, darf sich nicht wie die Gewerkschaften als bessere Sozialpartner:innen oder wie DIE LINKE opportunistisches Anhängsel im Bund der „Demokrat:innen“ betätigen, die gerade die Festung Europa dichtmachen und einen neuen Kalten Krieg forcieren. Nur wenn die Arbeiter:innenbewegung unabhängig von den Rechten und der Regierung agiert, kann sie Anziehungskraft für die gesamte Klasse der Lohnabhängigen entwickeln.




Die zahlreichen Krisen unserer Zeit und unsere Antworten: Zentrale Eckpunkte eines Aktionsprogramms für Österreich

Michael Märzen und Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, zuerst veröffentlicht in Flammende 3, Frühjahr 2023, Infomail 1221, 21. April 2023

Unser aktuelles Aktionsprogramm für Österreich „Reaktion oder Sozialismus!“ stammt aus dem Jahr 2019 und seine Erarbeitung fiel in eine Zeit, als das Land von der schwarz-blauen Regierung unter Sebastian Kurz regiert wurde. Wenige Wochen nach Veröffentlichung des Aktionsprogramms brach dann die rechte Bürger:innenblockregierung im Zuge der Ibiza-Affäre zusammen. Seitdem hat sich die innenpolitische und internationale Situation massiv geändert (schwarz-grüne Koalition, Rücktritt von Sebastian Kurz, Inflation, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, …). Außerdem arbeiten wir seit Anfang 2020 im Wiener Parteiaufbauprojekt LINKS mit. Eine Aktualisierung unserer programmatischen Vorschläge ist deshalb eigentlich mehr als überfällig. Hier ist aber nicht der Platz um das in größerem Umfang zu tun. Vielmehr wollen wir hier unsere programmatischen Vorstellungen exemplarisch darlegen und unsere Methode anhand der wichtigsten Thematiken darlegen.

Multiple Krisen als Krise des Kapitalismus

Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine ist die Weltwirtschaft in ein „realwirtschaftliches Ungleichgewicht“, wie es die Neue Zürcher Zeitung nennt, gefallen. Schon seit Mitte 2021 erleben wir in Europa relevant steigende Inflationsraten. Inwiefern sich diese nun bei einer Hochinflation  um 10 Prozent „stabilisiert“ hat oder noch weiter steigen wird, ist noch nicht ganz absehbar. Was aber außer Frage steht ist, dass die schon stattgefundene Teuerung die Lebenssituation der lohnabhängigen Bevölkerung in Österreich massiv belastet. Ebenfalls offenkundig zeigt sich  die Gefahr einer Rezession, also eines Schrumpfens der Wirtschaftsleistung, in diesem Jahr. Darin sind sich mittlerweile die meisten bürgerlichen Ökonom:innen und Institute einig. Ausführlicher wird das in unserem Artikel „Wirtschaftskrise und politische Instabilität“ in dieser Ausgabe der Flammenden diskutiert.

Neben den aktuellen wirtschaftlichen Problemen, wie der Inflation und deren massiven Auswirkungen wie Teuerung und Reallohnverlusten, hat uns das letzte Jahr deutlich vor Augen geführt, dass das kapitalistische Weltsystem immer mehr auf eine bewaffnete Konfrontation zwischen den imperialistischen Machtblöcken zusteuert. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt uns klar, dass eine Welt dominiert von einzelnen imperialistischen Großmächten immer auch einen Kampf um Absatzmärkte und Einflusssphären bedeutet, sowie reaktionäre Ideologien wie Nationalismus in sich führt. Die Herrschenden in Europa rüsten aktuell ihre Streitkräfte für ebensolche direkte Konfrontationen mit Russland oder China hoch. Eine mutige antimilitaristische und internationalistische Politik ist essenziell um eigenständige Klassenpolitik machen zu können und nicht zum Weggefährten der Kapitalist:innen im eigenen Land zu werden.

Doch nicht nur eine mögliche Konfrontation zwischen den bis an die Zähne mit Atomsprengköpfen bewaffneten Großmächten gefährdet die Zukunft der Menschheit. Die Umweltkrise und insbesondere der Klimawandel mit seinen direkten Auswirkungen sind mittlerweile von einer abstrakten Zukunftsperspektive zur realen Gefahr für Millionen Menschen auf dem ganzen Globus geworden. Pakistan erlebte 2022 eine massive Flutkatastrophe, Madagaskar eine akute Hungersnot und Inselstaaten im Pazifik sind überhaupt in ihrer Existenz bedroht.

In Österreich ist währenddessen die Regierungskoalition seit dem Skandal rund um Sebastian Kurz immer noch stark angeschlagen. Die Kanzlerpartei ÖVP ist in Umfragen nur noch auf Platz 3 – hinter FPÖ und SPÖ. Eine neue Welle des Rassismus erfasst alle etablierten Parteien von den Regierungsparteien bis zu FPÖ und SPÖ. Die wirtschaftlich schwierigen Aussichten machen eine Neuorientierung der österreichischen Bourgeoisie und ihrer Regierungszusammensetzung möglich. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind noch immer alles andere als überwunden, das österreichische Gesundheits- und Pflegesystem ist weiterhin am Rande des Zusammenbruchs.

Was es braucht ist eine Kraft zur Überwindung dieses Systems. Das kann nur erfolgreich sein mit einem klaren programmatischen Verständnis, welches sich aus einer Analyse der politischen Lage, deren Möglichkeiten und Notwendigkeiten sowie der Erfahrungen des Klassenkampfs begründet. Auf den folgenden Seiten wollen wir versuchen aktuelle Ansätze dazu zu geben.

Inflation und Rezession

Die Inflation des letzten Jahres war nach vielen Jahren der Niedrigstinflation für viele Menschen kaum vorstellbar. Die größten Auswirkungen – wie die, für viele Menschen noch ausstehenden, Energierechnungen des Winters – stehen teilweise noch bevor. Die Bundesregierung beschränkte sich darauf, durch Einmalzahlungen und Zuschüsse die schlimmsten Folgen abzufedern. Die realen Einkommensverluste zu kompensieren, wird sich damit aber kaum ausgehen. Schon jetzt zeigt sich sehr deutlich, wie sehr sich die Inflation auf den Lebensstandard der Menschen in Österreich auswirkt. Zwei Drittel der Menschen in Österreich, die dieses Jahr keinen Winterurlaub machen, geben an, dass die Teuerung dafür hauptverantwortlich ist;[i] 41 % der Menschen in Österreich haben Sorgen, sich bei weiteren Preissteigerungen verschulden zu müssen[ii] und mehr als die Hälfte beginnt sich beim Essen einzuschränken[iii]. Auf die sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften war wie so oft kein Verlass. Stolz verkündeten sie Abschlüsse, die teilweise deutlich unter der aktuellen Inflation zurückbleiben. Eine richtige Mobilisierung zum Arbeitskampf blieb bisher aus. Statt die Ansätze zum Arbeitskampf in unterschiedlichen Branchen hin zu einem branchenübergreifenden Kampf gegen die Inflation vorzubereiten und dann zu eskalieren, gab es unterschiedlich schlechte Abschlüsse in unterschiedlichen Branchen. Die Abschlüsse wurden nach der traditionellen Herangehensweise der durchschnittlichen Inflation der letzten 12 Monate verhandelt, womit die Gewerkschaftsbürokratie Abschlüsse deutlich unter der aktuellen (und prognostizierten) Inflation als Reallohnerhöhungen verkaufte. Statt einen der Situation angemessenen Kampf gegen die Teuerung zu führen blieb man lieber im guten alten Trott – wenig verwunderlich, wenn man sich ansieht, dass die Gewerkschaftsspitzen ein Vielfaches der Gehälter ihrer Mitglieder bekommen. Die Teuerung trifft sie also relativ wenig[iv].

Die Inflation ist aber nicht nur ein Problem für die Lohnabhängigen, sondern auch für große Teile des Kapitals. Von Seiten der Zentralbanken wird versucht mit Erhöhungen der Leitzinsen der Inflation entgegen zu wirken. Damit wird aber gleichzeitig massiv auf die wirtschaftlichen Aussichten gedrückt. Die Wahl, vor die uns das Kapital und seine Regierung stellen, ist Inflation und Teuerung auf der einen Seite und Rezession und Arbeitsplatzverluste auf der anderen Seite. Am Ende ist es nicht unwahrscheinlich, dass uns beides treffen wird. Die aktuelle Prognose der Europäischen Kommission sieht für das Jahr 2023 für Österreich ein Wirtschaftswachstum von 0,3 % vor[v]. Arbeitsplatzverlust, Kurzarbeit und Lohneinbußen sind also schon quasi vorprogrammiert. Was es braucht ist ein mutiges Programm gegen die Teuerung, aber auch vorbereitend ein Programm gegen die Auswirkungen einer wahrscheinlichen Rezession, damit der Widerstand dagegen frühzeitig vorbereitet werden kann. Das bedeutet für uns zu fordern:

  • Automatische Anpassung von Löhnen, Pensionen und Sozialleistungen an die Inflationsrate, kontrolliert durch Komitees aus Beschäftigten, Betroffenen und die Gewerkschaftsbewegung
  • Festlegung der Warenkörbe für die Inflationsberechnung durch Komitees aus Vertreter:innen der Gewerkschaftsbewegung
  • Gegen Armut: Massive Anhebung von Löhnen und Einkommen (Mindestsicherung, Arbeitslosengeld, Pensionen) auf mindestens 1800,- netto/Monat
  • Abschaffung von indirekten Massensteuern
  • Einführung einer Energiegrundsicherung. Enteignung der Energiekonzerne und deren Gewinne und Fortführung unter Kontrolle der Beschäftigten
  • Bei (drohenden) Betriebsschließungen: Enteignung und Weiterführung unter Verwaltung der Beschäftigten
  • Einsicht in die Geschäftsbücher für Komitees der Beschäftigten und der Gewerkschaften um dem Kapital und seinen Machenschaften auf die Finger zu schauen!
  • Gegen Arbeitslosigkeit: Massive staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Sozialbereich sowie für den ökologischen Umbau!

Gewerkschaften zurückerobern!

Die österreichische Gewerkschaftsbewegung ist zwar seit den 80er Jahren am absteigenden Ast was Mitgliedschaft und gesellschaftlichen Einfluss anbelangt, aber mit mehr als einer Million Mitgliedern ist der ÖGB immer noch der größte und mächtigste, wenn auch bürokratischste, Ausdruck der Arbeiter:innenbewegung in Österreich. In den letzten Jahren gab es innerhalb der Gewerkschaftsbewegung neue politische Entwicklungen. Die traditionelle Speerspitze des ÖGB – die Metaller:innen – wurde durch die Politik der Gewerkschaftsführung immer mehr abgestumpft. Gleichzeitig haben sich in neuen Sektoren wie dem Sozialbereich oder bei den Pädagog:innen neue kämpferische – und streikfähige – Sektoren herausgebildet. Auch die Eisenbahner:innen haben in den letzten Jahren immer wieder am Vollstreik gekratzt und im Kampf gegen die Teuerung 2022 den bedeutendsten Arbeitskampf geführt.

Insgesamt bleibt die Gewerkschaftsbewegung aber immer noch in der Ideologie der Sozialpartner:innenschaft gefangen. Während der Hochphase der Pandemie waren die Spitzen der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführung wieder froh darüber, dass sie in die Verwaltung der Krise auf Kosten der Arbeiter:innen miteinbezogen wurden, doch seit mehr als 2 Jahrzehnten hat die organisierte Kapitalist:innenklasse in Österreich nur mehr sehr selten Bedarf an einem ernsthaften Ausgleich mit den Spitzen der Gewerkschaften. Aber anstatt dem geänderten Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter:innenklasse und Kapital mit einer klassenkämpferischen Ausrichtung zu begegnen, versucht die Gewerkschaftsbürokratie lieber durch möglichst zahme Politik ihre Kompromissbereitschaft zu signalisieren. Das Kapital nimmt die Kompromissbereitschaft der Gewerkschaften gerne an, macht aber selbst kaum Zugeständnisse. Ganz im Sinne der bürgerlichen „Standortlogik“ spielt die Gewerkschaftsführung bei staatlichem Rassismus oder Umwelt- und Klimapolitik nur zu oft eine reaktionäre Rolle.

Gleichzeitig stützt sie sich weiterhin vor allem auf die privilegierten Teile der Klasse. Weibliche oder migrantische Arbeiter:innen sind deutlich unterrepräsentiert – in der Gewerkschaftsführung noch einmal deutlich mehr als  in der ohnehin verbesserungswürdig zusammengesetzten Basis. Es braucht hier bewusste Schritte um sozial unterdrückte Teile der Klasse zu organisieren.

Von selbst werden die sozialdemokratisch geführten Apparate ihre Politik nicht ändern, es braucht vielmehr eine systematische Intervention linker und klassenkämpferischer Kräfte innerhalb der Gewerkschaften und in den Betrieben. In manchen Branchen wie im Sozial- und Gesundheitsbereich gibt es auch erste vielversprechende Ansätze dafür. Ziel muss sein nicht nur die Führung auszutauschen und linke Betriebsrät:innen zu etablieren, sondern von Grund auf die Organisationen zu revolutionieren. Es braucht die Verbindung des Kampfes für demokratische Gewerkschaften mit einer klar klassenkämpferischen Ausrichtung!

  • Für eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Gewerkschaften um sie wieder zu demokratischen Kampforganisationen der Arbeiter:innenklasse zu machen!
  • Für die Organisierung der Unorganisierten. Für eine gewerkschaftliche Organisierungskampagne insbesondere in prekär besetzten Branchen wie Lieferdiensten, Pflegebereich oder Einzelhandel
  • Aufbau gewerkschaftlicher Basisorganisationen, um die Gewerkschaftsmitglieder in ihren Betrieben und in den Gewerkschaften zu organisieren
  • Für einen durchschnittlichen Facharbeiter:innenlohn für alle Gewerkschaftsfunktionär:innen
  • Verpflichtende Urabstimmungen der Beschäftigten über KV-Abschlüsse

Soziale Unterdrückung bekämpfen

Die kapitalistische Krise verschärft das Elend all jener, die abseits bzw. zusätzlich zu der Unterdrückung und Ausbeutung durch Lohnabhängigkeit aufgrund anderer Kriterien, wie Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung, Alter und Einschränkung unterdrückt werden. Denn es sind diejenigen, die aufgrund bestehender Marginalisierungen, Abhängigkeit und Prekarität am einfachsten anzugreifen sind, sowie auch von allgemeinen Verschlechterungen stärker getroffen werden. Rassismus und Sexismus sind zwei Unterdrückungsmechanismen, die in unserer Gesellschaft besonders weit verbreitet sind. Dahinter steht aber ein tief mit dem Kapitalismus verwurzeltes System sozialer Unterdrückung. Teilweise mit tiefen ideologischen und strukturellen Wurzeln in vorkapitalistischen Gesellschaften, ermöglicht es heute den Herrschenden eine Politik der Spaltung und Ablenkung und erleichtert auf diese Weise die Ausbeutung von Arbeitskraft.

Der beliebteste Mechanismus bürgerlicher Politik zur Ablenkung von ihren Machenschaften im Interesse des Kapitals ist die rassistische Hetze gegen Geflüchtete, Migrant:innen und Personen of Color. Über 100.000 Asylanträge wurden im Jahr 2022 in Österreich gestellt[vi], mehr als in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Geflüchtete werden in Zelte gepfercht, der ÖVP-Innenminister forciert einen Ausbau der „Festung Europa“ mit neuen Zäunen und blockiert den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Die FPÖ fordert Grenzschließungen und spricht von einer „Festung Österreich“. Die SPÖ propagiert eine „Bodenseekoalition“ um „irreguläre Migration“ zu verhindern. Es wird zwischen guten Geflüchteten und Zugewanderten aus der Ukraine und schlechten Geflüchteten aus Afghanistan, Indien oder Tunesien gespalten.

Zum Teil noch viel akzeptierter und im Alltag allgegenwärtig ist der Sexismus, welcher der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen entspringt und sich über heterosexistische Geschlechternormen auch gegen LGBTQIA+ Personen richtet. Der materielle Kern der Frauenunterdrückung liegt in der unbezahlten Reproduktionsarbeit (Hausarbeit, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen etc.), welche überwiegend von Frauen verrichtet wird und häufig mit einer Mehrfachbelastung, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation einhergeht. Eine Entwicklung in Österreich, welche die Lage der Frauen, sowie von Sexismus Betroffenen, gefährlich zu verschärfen droht, besteht in der drastischen Personalnot in Pflege und Kindergärten. Bis 2030 braucht es 100.000 zusätzliche Pflegekräfte[vii] und rund 14.000 – 20.000 Kindergartenbetreuer:innen[viii]. Diese Entwicklung bedroht die soziale Stellung der Frauen heute mit einem gewaltigen Rückschritt zu unbezahlter Care-Arbeit und damit verbunden ökonomischen Abhängigkeiten.

Die traditionellen Rollenbilder und Geschlechtsidentitäten zu hinterfragen, ist in annähernd progressiven Gesellschaftsschichten inzwischen normal, besonders unter jungen Menschen. Die LGBTQIA+ Community erhält Zulauf sowie Solidarität von liberalen Politiker:innen und so manchen Konzernen. Doch oft steckt dahinter nur ein profitables „pink washing“. Die ökonomischen Verhältnisse und die gesellschaftlichen Strukturen, wie insbesondere die bürgerliche Kernfamilie, welche die sozialen Geschlechter prägen, sind nicht verschwunden und können im Kapitalismus nicht verschwinden. Gerade in der Krise können sich diese Verhältnisse durch ökonomische Zwänge wieder stärker bemerkbar machen. Es droht ein queerfeindlicher Backlash.

  • Öffnet die Grenzen für alle Geflüchteten! Gegen rassistische Grenzpolitik, Grenzzäune, Obergrenzen für Geflüchtete und Push-Backs! Zugang zum Arbeitsmarkt für Geflüchtete und sowie gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen!
  • Recht auf Staatsbürger:innenschaft und Wahlrecht für alle mit Lebensmittelpunkt in Österreich!
  • Für das Recht auf Muttersprache auf Behörden und Ämtern! Ausbau von mehrsprachigem Unterricht an Schulen!
  • Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit! Gewerkschaftliche Organisierungskampagnen in von Frauen dominierten Berufen und Erkämpfung höherer Löhne!
  • Kürzere Arbeitszeiten sowie bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen in Pflege und Kindergärten! Um den Anreiz zu erhöhen müssen die Ausbildungen für diese Berufe bezahlt werden!
  • Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit! Massiver Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, Pflegeeinrichtungen, kollektiven Wohnformen, öffentlichen Kantinen und Waschküchen!
  • Für einen Ausbau von Gewaltschutzzentren! Organisierter Schutz von Frauen und LGBTQIA+ Personen gegen sexistische und sexualisierte Gewalt!

Krieg dem Krieg!

Schon seit Jahren zeichnet sich auf geopolitischer Ebene eine Verschärfung im Kampf um eine Neuverteilung der Welt an. Sei es in Syrien oder dem südchinesischen Meer, die Welt war gekennzeichnet von sich zuspitzenden Widersprüchen. Vor allem zwischen den alteingesessenen imperialistischen Großmächten, die die Nachkriegsordnung in ihrem Interesse prägen konnten (USA, EU und Japan) und der aufstrebenden imperialistischen Großmacht China mit Russland im Gepäck, das ebenfalls wenig Interesse an der „regelbasierten Weltordnung“ hatte.

Mit Russlands Krieg in der Ukraine sind diese Konflikte in einer noch nicht dagewesenen Intensität ausgetragen worden. Der russische Imperialismus möchte sich zurückholen, was er fälschlicherweise als seine „Einflusssphäre“ betrachtet. Die Leidtragenden sind vor allem die Menschen in der Ukraine, sowie alle von massiver Repression betroffenen Kriegsgegner:innen und Eingezogenen in Russland. Gleichzeitig präsentiert auch die „demokratische Wertegemeinschaft“, wie sich der westliche Imperialismus gerne bezeichnet, keine fortschrittliche Lösung. Sie steht vielmehr für den Status quo aus globalem Ausbeutungsregime und Umweltzerstörung und hat ihr eigenes Ausbeutungsinteresse an der Ukraine. Aufgrund der enormen Involvierung des Westens, sowie der kompletten Abhängigkeit des ukrainischen Regimes davon, ist für uns im aktuellen Krieg das Element des innerimperialistischen Konflikts dominant. Auch wenn es noch in weiter Ferne scheint, braucht es schon jetzt das Eintreten für eine unabhängige Antwort der Ausgebeuteten und Unterdrückten in allen Ländern und auf allen Kontinenten. Eine ausführlichere Diskussion zum Krieg in der Ukraine findet sich im Artikel „2022 – ein Jahr des Kriegs um die Ukraine“.

Für Österreich heißt das insbesondere, dass wir uns gegen jede Form der Aufrüstung und Militarisierung aussprechen. Nach deutschem Vorbild (wo ja das größte Rüstungspaket seit 1945 beschlossen wurde) soll hier der Krieg in der Ukraine dafür instrumentalisiert werden, die eigenen Streitkräfte massiv auszubauen. Gleichzeitig wird es in den nächsten Jahren mehr Versuche von Seiten der EU geben, eine gemeinsame „Verteidigungs“politik zu definieren und die einzelnen nationalen Armeen besser aufeinander abzustimmen. Eine gemeinsame EU-Armee ist zwar unwahrscheinlich muss aber trotzdem schon jetzt bekämpft werden.

Wir stehen beim Kampf gegen Krieg und Militarisierung aber nicht für pazifistische Neutralität. Wir sagen klar, dass dieses System mit all seiner Gewalt und seinem Leid nur durch die  organisierte und militante Arbeiter:innenklasse in einer Revolution gestürzt werden kann. Wir verteidigen zwar die positiven Aspekte der österreichischen Neutralität (keine Beteiligung an imperialistischen Militärbündnissen wie der NATO, etc.) aber kritisieren gleichzeitig die Illusionen die mit einem Ruf nach Neutralität verbunden sind. Österreich war nie wirklich neutral, schon zur Zeit des Kalten Kriegs war es im Lager des Kapitalismus angesiedelt, auch wenn es oft viel Spielraum in der Außenpolitik hatte.

Gleichzeitig ist die Verteidigung der Neutralität kein positives Programm: Wenn die Arbeiter:innenklasse in Österreich die Macht übernehmen würde, müsste ihre Außenpolitik alles andere als neutral, sondern auf die Unterstützung der Ausgebeuteten und Unterdrückten mit allen geeigneten Mitteln, ausgerichtet sein. Wir lehnen deshalb Rufe nach einer Neutralität Österreichs ab und vertreten stattdessen den Kampf um einen proletarischen Antimilitarismus.

  • Kompromissloser Kampf gegen die Militarisierung Österreichs und der EU. Kein Cent für die imperialistischen Armeen. Nein zu jeder Form der Aufrüstung, kein Ausbau der Militärkooperation und einer EU-Armee.
  • Enteignung der Rüstungsindustrie! Kein Export von Waffen an kapitalistische, reaktionäre Regime und für reaktionäre oder imperialistische Kriegsparteien!
  • Für den sofortigen Abbruch aller Kooperationen Österreichs mit der NATO wie der „Partnerschaft für den Frieden“ oder dem „Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat“! Konsequente Ablehnung aller Überflugs- und Transittransportrouten über und durch Österreich! Gegen jegliche NATO-Osterweiterung!
  • Gegen alle Auslandseinsätze des Bundesheers.

Die Klimakatastrophe aufhalten

Die Klimakrise ist im wahrsten Sinne des Wortes die brennendste Frage unserer Zeit. Die Klimakatastrophe bahnt sich nicht erst bedrohlich an, wie eine etwaige Dystopie am Ende des Jahrhunderts. Sie ist schon längst da und wir befinden uns mitten in ihr.

Kurz vor der 27. Klimakonferenz in Ägypten sorgte ein vorläufiger Bericht der Weltorganisation für Meteorologie für Aufsehen. Demnach sollen die vergangen acht Jahre die Wärmsten seit Anbeginn der Messgeschichte gewesen sein. Die Geschwindigkeit des Meeresanstiegs habe sich seit 1993 verdoppelt. Am höchsten Punkt von Grönland fiel dieses Jahr zum ersten Mal Regen. Ähnliche Meldungen lesen wir inzwischen tagtäglich in den Medien: Hitzewelle in Pakistan mit 51 °C, Dürre und Waldbrände, dann Rekordregenfälle, welche ein Drittel das Landes unter Wasser setzten und 33 Mio. Menschen vertrieben, 10.000 Hitzetote in Frankreich, Austrocknung des Po in Italien.

All das und vieles mehr ist Ausdruck davon, dass sich die globale Durchschnittstemperatur schon 1,2 °C über dem vorindustriellen Temperaturniveau befindet. Trotzdem war die Klimakonferenz 2022 eine Enttäuschung – schon wieder. Dabei hatten sich die Staaten dieser Erde mit dem Abkommen von Paris im Jahr 2015 darauf festgelegt, die Erderwärmung auf unter 2 °C zu begrenzen und Anstrengungen zu unternehmen, um 1,5 °C einzuhalten. Mit den bisher eingereichten nationalen Klimaplänen (NDCs) wird nicht einmal das Ziel von 2 °C erreicht. Schon jetzt erreichen wir wohl gefährliche Kipp-Punkte, bei denen das Klima weiter unkontrollierbar angeheizt wird.

Auch in Österreich spüren wir die Klimakatastrophe. Die Hitze im Sommer, die Trockenheit, welche die Landwirtschaft beeinträchtigt, Waldbrände, und geringere Wassermengen in Flüssen und Seen. Letztere wirkten sich 2022 negativ auf die Stromproduktion aus Wasserkraft aus, sodass selbst im Sommer Strom importiert werden musste. Und trotz dieser negativen Entwicklungen werden laut Prognosen die Treibhausgasemissionen wieder steigen, wenn das Gas wieder etwas billiger wird. Österreich droht seine Klimaziele einer Emissionssenkung um 36 % gegenüber 2005  sowie der Klimaneutralität bis 2040 zu verfehlen. Und die schwarz-grüne Regierung versagt in der Verabschiedung wichtiger Gesetze wie des Erneuerbaren-Ausbau-Gesetzes.

Der Kampf gegen die Erderwärmung ist keineswegs vergebens. Es macht einen enormen Unterschied, ob wir die Erderwärmung heute und in der Zukunft weiter begrenzen oder nicht. Eine lebenswerte Zukunft für unsere Generationen und die uns nachfolgenden steht auf dem Spiel. Es rettet uns keine noch zu entwickelnde „grüne Zukunftstechnologie“, wir müssen die Erdwärmung jetzt stoppen. Es reicht auch nicht, individuell klimafreundlicher zu konsumieren, weniger das Auto zu nutzen oder weniger Flugreisen zu tätigen, auch wenn das sinnvoll ist. Was uns im Weg steht ist das kapitalistische System, welches mit Privateigentum, Konkurrenz und Profitlogik einen effektiven Weg aus der Klimakrise verunmöglicht. Die Lage erfordert radikale Maßnahmen, die nur in der Begrenzung und letztlich Brechen der Macht des Kapitals bestehen können! Dazu muss eine antikapitalistische, ökologische Bewegung aufgebaut werden, die sich auf die organisierte Macht der Arbeiter*innenklasse stützt.

  • Enteignung der Energiekonzerne unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten! Einsatz der Gewinne aus fossiler Energie für einen klimafreundlichen Umbau!
  • Massive Investitionen in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, insbesondere der Zugverbindungen, sowie weg vom individuellen PKW! Gratis Öffis für Alle.
  • Ausstieg aus fossiler Energie bei schnellstmöglichem Ausbau erneuerbarer Energie wie Photovoltaik, Windkraft, Wasserkraft und Geothermie. Gezielte Förderung für Forschung und Einsatz von Speichertechnologien!
  • Aufbau einer demokratischen Planwirtschaft zum umfassenden und nachhaltigen Umbau unseres Wirtschaftssystems!

Für eine revolutionäre Partei

Viele insbesondere junge Menschen haben die Ungerechtigkeiten und die zerstörerischen Seiten des Kapitalismus erkannt und engagieren sich dagegen und für eine bessere Zukunft. Doch so wichtig das konkrete Engagement auch ist, es reicht nicht aus, wenn es nicht gleichzeitig ein Kampf gegen das zugrunde liegende kapitalistische System ist. Wie können wir also einen solchen Kampf führen?

Viele linke Organisationen und Parteien in der Vergangenheit haben sich darauf beschränkt für konkrete Verbesserungen innerhalb des Systems zu kämpfen. Für bessere Arbeitsbedingungen, gegen rassistische oder sexistische Unterdrückungen usw. Wenn sie von Alternativen zum Kapitalismus gesprochen haben, dann als abstraktes Fernziel, losgelöst von ihrer konkreten Politik. Wir nennen solche Organisationen und Parteien innerhalb der Linken und der Arbeiter:innenbewegung reformistisch, weil ihre Politik nicht über Verbesserungen oder Abwendung von Verschlechterungen im Rahmen des Kapitalismus hinausgeht. Das prominenteste und unrühmlichste Beispiel in Österreich ist die SPÖ, welche sich weitestgehend mit dem Kapitalismus ausgesöhnt hat und diesen immer wieder in der Regierung mitverwaltet. Den fortschrittlicheren Aktivist:innen ist klar, dass es eine linkere Alternative zu dieser Partei braucht.

Manche Aktivist:innen wenden sich als vermeintliche Alternative der KPÖ zu. Sie ist eine Option auf Wahllisten und hat in letzter Zeit, insbesondere durch Verjüngung ihrer Führung mit Kräften u.a. aus der Jungen Linken, ihr Image verbessert, sich modernisiert und vom Wahlerfolg in Graz profitiert. Doch auch wenn die KPÖ immer wieder vom Kapitalismus spricht und diesen in Worten überwinden möchte, ist ihre Politik letztlich eine reformistische. Denn ihre Strategie zielt auf die Eroberung des kapitalistischen Staates durch Wahlen ab, Erweiterung durch partizipative Demokratie und letztlich eine nicht klar definierte solidarische Gesellschaft, zu deren Weg ein Bedingungsloses Grundeinkommen eine zentrale Rolle spielen soll. Diese Vorstellung einer „Transformation“ des Kapitalismus verkennt die Notwendigkeit unabhängiger proletarischer Machtorganisation und die Ersetzung des bürgerlichen Staates durch einen rätedemokratischen Halbstaat. Ähnliche und andere Spielarten eines solchen neuen Reformismus findet man bei den Parteien der Europäischen Linken, zu denen die KPÖ neben der deutschen Linkspartei oder der griechischen Syriza zählt.

Abseits von SPÖ und KPÖ finden wir in Österreich eine Menge an kleinen, verhältnismäßig unbedeutenden Organisationen der radikalen Linken. Sofern diese in stalinistischer / maoistischer Tradition stehen, sind sie nicht nur für viele Menschen unattraktiv aufgrund ihrer fehlenden Aufarbeitung der bürokratischen Herrschaft der stalinistisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten, sondern verfolgen meist selbst wieder reformistische Irrwege der „Volksfront“ (eine Unterordnung unter bürgerliche Kräfte in einer gemeinsamen Allianz), etwa in Form einer anti-monopolistischen Demokratie. Andere Organisationen, meist aus trotzkistischer Tradition, verfolgen historische Konzepte, die eine zentristische Politik bedeuten, das heißt eine die sich gerne revolutionär gibt aber zwischen Reform und Revolution schwankt. Dazu zählen wir beispielsweise den Funke, die ISA (ehem. SLP) oder die Linkswende. Aufgrund der Schwäche in Bezug auf Verankerung, verknöcherter politischer Methode sowie Programmatik schließen wir im aktuellen Zustand eine gemeinsame politische Organisation mit diesen Kräften abseits einer größeren Umgruppierung aus.

Eine revolutionäre, kommunistische Partei hat die Aufgabe den Kommunismus mit der Arbeiter:innenbewegung zu vereinen. Dazu muss sie der Bewegung politisch Voranschreiten und mit ihrer Strategie, ihren Taktiken und geeigneten Forderungen das Bewusstsein der lohnabhängigen Massen heben. Das geht selbstverständlich nur durch eine enge Verbindung mit den Lohnabhängigen und der organisierten Arbeiter:innenbewegung.

Davon sind wir noch weit entfernt. Trotzdem oder gerade deswegen muss der revolutionäre Kommunismus in Österreich für seine eigenständige Programmatik in der Arbeiter:innenbewegung kämpfen. Deshalb lehnen wir Strategien zum Parteiaufbau ab, welche auf eine Auflösung in eine pluralistische Partei münden. Wir sind aber auch keine Sektierer:innen, die sich der Notwendigkeit von Zusammenarbeit und gemeinsamer Organisierung mit anderen linken Kräften verwehren. Gegen Angriffe der Regierung und der Kapitalist:innen sowie bei Kämpfen im Interesse der Arbeiter:innenklasse suchen wir die Zusammenarbeit im Rahmen einer Einheitsfront, das heißt in gemeinsamen Aktionen und möglichen dazugehörigen Organisationsformen, aber unter Beibehaltung unserer politischen und programmatischen Unabhängigkeit. Einheitsfronten zwischen verschiedenen Kräften der Arbeiter:innenbewegung oder linken Organisationen werden immer wieder nötig sein, um die Kampfkraft zu erhöhen. Sie können aber auch taktische Anknüpfungspunkte sein, um die reformistischen Apparate der Arbeiter*innenbewegung mit ihrem Massenanhang in eine Mobilisierung zu ziehen und deren Führungen in die Verantwortung zu ziehen und darin ihre verräterische Rolle zu offenbaren.

Eine neue linke Partei auf revolutionärer programmatischer Grundlage, gestützt auf die Arbeiter:innenklasse, muss in Österreich erst mühsam aufgebaut werden. Das wird unserer Einschätzung nach erst durch größere Verwerfungen in der politischen Landschaft und erfolgreichere linke Bewegungen und neue Organisierungen möglich sein, wie derzeit mit LINKS in Wien. Doch es ist notwendig in Vorbereitung darauf die revolutionären Kräfte zu sammeln, an den linken Bewegungen und relevanten Strukturen teilzunehmen und diese für den Aufbau einer revolutionären, kommunistischen Partei zu gewinnen, in Österreich und international!

Endnoten


[i] https://oesterreich.orf.at/stories/3187100/

[ii] https://www.vienna.at/jeder-zweite-oesterreicher-zu-einsparungen-gezwungen/7723816

[iii] https://www.kleinezeitung.at/home/klistenspecial/klistegross/6231088/CaritasPraesident-Landau_Ich-wuensche-mir-einen-politischen

[iv] https://www.oegb.at/der-oegb/organisation/offenlegung

[v] https://www.oenb.at/dam/jcr:e24197cc-d44a-4ef6-a0ec-fc0857dc719a/Konjunktur-aktuell-12_22.pdf

[vi] https://www.derstandard.at/story/2000141394444/100-000-asylantraege-heuerin-oesterreich-echte-staatskrise-oder-populistisches-ablenkungsmanoever

[vii] https://orf.at/stories/3228640/

[viii] https://orf.at/stories/3298709/




Droht eine neue Bankenkrise?

Markus Lehner, Neue Internationale 272, April 2023

Am 8. März verkündete die Silicon Valley Bank (SVB), dass sie 2 Milliarden US-Dollar über eine Kapitalerhöhung einholen wolle, um Verluste in ihren Vermögenswerten auszugleichen. Nachdem dadurch bekannt wurde, dass die Bank mehr als die Hälfte ihres Vermögens in langfristige Staatsanleihen angelegt hatte, die massiv an Wert verloren haben, brach unter den Kontoinhaber:innen Panik aus. Die 16.-größte US-Bank, die vor allem für viele Kund:innen aus dem Technologiebereich eine wichtige Dienstleisterin war, verzeichnete massiv Einlagen oberhalb der staatlichen Garantie von 250.000 US-Dollar. Jede/r davon wollte so schnell wie möglich ihre/seine Werte sichern. Innerhalb von nur 40 Stunden verschwanden so 42 Milliarden US-Dollar aus den Büchern der Bank – eine Hightechvariante des „Bankenruns“ über Twitter und Onlinetransfers, der innerhalb von wenigen Stunden ein Viertel der Bilanzsumme der Bank in Luft auflöste. Schon am 10. März erklärte die US-Finanzaufsicht die Bank für zahlungsunfähig.

Ausbreitung der Bankenkrise

Anfänglich wirkte dies wie ein lokales Ereignis, das sich auf Managementfehler einer einzelnen Bank zurückführen ließe. Doch schnell wurde klar, dass auch andere Banken in den USA zu schwanken begannen. Insbesondere solche mit Transfergeschäften in Kryptowährungen gerieten ebenso in Schieflage wie einige mittelgroße, die ähnliche Probleme mit ihren Vermögenswerten hatten wie die SVB, z. B. die First Republic. Dies schlug sich schnell in weiterem Kapitalabfluss und sinkenden Börsenkursen für Bankaktien nieder. Innerhalb nur einer Woche nach der SVB-Pleite verloren die US-Banken 229 Milliarden US-Dollar an Marktwert (– 17 %). Immer noch verkündeten die politischen Führungen in den USA und der EU, dass es sich um nichts mit 2008 Vergleichbares handle, dass die Regularien, die nach 2008 eingeführt wurden, wirken würden und sich alles schnell wieder entspannen werde.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus dem Paradeplatz in Zürich, dem Sitz einer der beiden Großbanken der Schweiz, der Credit Suisse (CS). Angesichts ihrer nicht gerade rosigen Ertragslage (4 Verlustquartale in Folge) suchte auch sie angesichts der Erschütterungen des Bankensektors, sich durch eine Kapitalerhöhung abzusichern. Am 15. März wurde jedoch bekannt, dass einer der Hauptinvestoren in die Bank aus Saudi-Arabien nicht bereit war, ihr beizustehen. Prompt wurde Kapital in großen Mengen von der Bank abgezogen. Auch die Aussagen der Regulator:innen, der Bank beizustehen, bzw. die Bereitstellung eines 54 Milliarden US-Dollar-Kredits durch die Zentralbank führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Eine drohende Pleite der CS hätte nicht mehr wie bei der SVB durch die Finanzbehörden eingedämmt werden können.

Die CS gehört zu den 30 globalen Großbanken, die als „too big to fail“ eingestuft werden – die also mit so vielen Firmen und anderen Großbanken durch wechselseitige Verbindlichkeiten verbunden ist, dass es zu einem Systemcrash wie 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers gekommen wäre. Innerhalb von nur 4 Tagen wurde daher durch Bundesregierung und Schweizerische Nationalbank eine Notübernahme durch die andere Schweizer Großbank, die UBS, vermittelt. Eine Fusion, die sonst Jahre an Vorbereitung erfordert, wurde in wenigen Tagen so durchgeführt, dass für einen Zusammenbruch der CS keine Zeit mehr da war und die Anleger:innen erstmal beruhigt werden konnten. Die Verschiebung des Problems auf die UBS, die jetzt wider Willen mit den gigantischen Risiken der CS zurechtkommen muss, zeigt, welche Nervosität an den Schaltzentralen des großen Kapitals vor einer erneuten Erschütterung der Weltwirtschaft wie 2008 herrschte – und das angesichts der schon sowieso angespannten Weltlage nach der Pandemiekrise, dem Ukrainekrieg, den wachsenden Spannungen mit China, der fortdauernden Inflation und den Folgen der Klimakrise bzw. der damit verbundenen Energiekrise.

Von den Regierungen und Zentralbanken wird immer wieder betont, wie anders die Situation sei als 2008. Damals war die Krise durch den Totalverlust von in Wertpapiere verbrieften privaten Schulden und die mangelnde Eigenkapitalabsicherung insbesondere bei Investmentbanken zustande gekommen. Seitdem habe man Regulierungen eingeführt (Basel III), die solche Produkte und solch riskantes Kapital/Risiko-Verhältnis im Bankengeschäft unterbinden würden. Die jetzige Krise sei durch einzelne Verfehlungen, Rückschritte bei den Regulierungen etwa unter Trump bzw. durch ein zu spätes Reagieren auf die Zinswende der Zentralbanken zustande gekommen. Alles Faktoren, die durch entsprechende Maßnahmen der Finanzbehörden und der Zentralbanken rasch in den Griff zu bekommen seien.

Gründe für die gegenwärtige Krise

Bekanntlich hatte Marx in seiner Analyse der Finanzkrisen 1847 und 1857 festgestellt, dass jede solcher Krisen immer ihre ganz eigene Geschichte und Erscheinungsform hat, die immer ganz anders auszufallen scheint – um letztlich doch auf dieselben Probleme in der realen Akkumulation des Kapitals zurückzuführen zu sein. Gehen wir also zunächst auf die Gründe für die gegenwärtige Krise in ihrer unmittelbaren Form ein, um dann auf die Zusammenhänge mit der allgemeinen Krisentendenz zu kommen.

Nach der Finanzkrise 2008 betrieben die Zentralbanken eine Politik des „billigen Geldes“ (QE, Quantitative Easing) – sowohl durch niedrige Zinsen, Aufkäufe von Anleihen und anderen Wertpapieren als auch durch Expansion von niedrig verzinsten Staatsanleihen. Banken konnten dadurch ihr stockendes Kreditgeschäft weder in Gang bringen und somit das Wachstum der westlichen Wirtschaften, wenn auch auf historisch sehr niedrigem Niveau, über das 2010er Jahrzehnt aufrechterhalten. Im Allgemeinen stand damit den Einlagen und dem Kapital einer Bank gegenüber ein Mix aus „superstabilen“ Staatsanleihen, Immobilienkrediten (abgesichert durch wieder steigende Immobilienpreise) und den Krediten in anderen Bereichen. Die zum Teil riskanten Kredite (z. B. in die „Zombiefirmen“) schienen mehr als abgesichert durch den höheren Anteil an „sicheren Vermögenswerten“.

Mit der Coronakrise, der Lieferketten- und Kapazitätsausfälle, der nochmals gestiegenen Schuldenprobleme und der  wieder enorm zunehmenden Inflation kam es seit 2022 zur Abkehr von QE und einer Politik des „Quantitative Tightening“ (QT). Die Anleihekäufe wurden gestoppt, die Zinsen für Zentralbankkredite schrittweise erhöht und die Ausgabe von Staatsanleihen wieder mit Zinserträgen verbunden. In der Folge steigen Kreditkosten wieder, Immobilienpreise beginnen zu sinken und Anleihekurse, insbesondere für langfristige Staatsanleihen fallen (der „Wert“ eines Anleihepapiers berechnet sich aus der Abzinsung des Rückzahlungsbetrags zum jeweils gegenwärtigen Zinssatz). Alle diese Faktoren bedeuten, dass Vermögenswerte der Banken eigentlich neu berechnet werden müssten – bei den Anleihewerten ganz offensichtlich (teilweise auf 20 % gefallen), ebenso aufgrund der höheren Ausfallwahrscheinlichkeit von Firmenkrediten angesichts erhöhter Insolvenzgefahren und von Immobilienkrediten aufgrund der sinkenden Erträge aus dem Immobiliengeschäft.

Tatsächlich verhielt sich die Mehrheit der Banken aber so, als ob sie weiterhin in einem Umfeld wachsender Liquidität arbeiten würden und setzten ihre Anlagepolitik fast unverändert fort – mit ein Grund, warum die Wende zu QT wenig Wirkung auf das Inflationsgeschehen hatte. Um die Dimension des Problems aufzuzeigen, hier die konkreten Zahlen zur Bilanz des US-Bankensektors:

Den Einlagen der US-Bankkund:innen von 19 Billionen US-Dollar und dem Eigenkapital von 2 Billionen stehen als Vermögenswerte (nach nomineller Berechnung) 3,4 Billionen in Cash, 6 Billionen in Staatsanleihen und Immobilienkrediten sowie 11 Billionen in anderen Krediten gegenüber (noch ergänzt um etwa 3 Billionen in anderen Vermögenswerten bzw. Verbindlichkeiten auf beiden Seiten). Allein der Wertverlust der Anleihepapiere bedeutet, dass der Wert derselben bei Verkauf um 620 Milliarden niedriger ist als ihr nomineller – was bei einem Bankenrun, der die Cashreserven übersteigt, durch Notverkäufe von Anleihepapieren sofort wirksam wird. Eine Studie von Finanzwissenschaftler:innen der University of Southern California (die The Economist vom 18.3. zitiert) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertung der Vermögenswerte der US-Banken tatsächlich um 2 Billionen nach unten berichtigt werden muss. D. h., im Fall eines Bankenruns würde die Eigenkapitaldecke der US-Banken nach Auflösung der Vermögenswerte praktisch ausgelöscht werden. Im Unterschied zum Tenor der allgemeinen Beruhigung stellt The Economist daher zu Recht fest: „time to fix the system – again“. Der SVB-Crash hat daher offensichtlich gemacht, dass das Geschäftsmodell der Banken aus der QE-Zeit heute zu einer Berichtigung ihrer Vermögenswerte führen muss, die unmittelbar eine Überprüfung der bestehenden Schulden wie auch der Risiken zukünftiger Kreditvergaben verlangt. Mit Verspätung setzt also auch bei den Banken die „Verknappung des Geldes“ ein. Tatsächlich erinnert die Krise 2023 daher eher an diejenige, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nach der radikalen Zinswende der Reaganregierung („Volckerschock“) stattfand.

Falsche Fixierung und ihre Ursachen

Es wäre auch eine falsche Fixierung, die Schwere der Krise an den Ereignissen von 2008 festzumachen. Die Grundlage der wiederholten Bankenkrisen im Kapitalismus findet sich in der von Marx analysierten Verdoppelung der Ware in Ware und Geld und damit der Notwendigkeit, dass sich ihre Einheit immer wieder in der Metamorphose des Geld-Ware-Kreislaufes herstellen muss. Damit einher geht die Loslösung des realen Werts, der in tatsächlichen Arbeitsprozessen begründet ist, von der Wertform, den verschiedenen Preisausdrücken von allem Möglichen, das die Form einer Ware annehmen kann.

Die Verselbstständigung der Wertform, die im zinstragenden Kapital, im „Kapital als Kapital“ seinen Höhepunkt erreicht, ist jedoch immer rückgekoppelt an die Realisierung des realen Werts im Ware-Geldkreislauf. Während sich die Tendenz zur Ausgleichung der Profitrate nur als langfristiger Durchschnitt, aber kaum je aktuell konkret realisiert, erscheinen Zinsen, Kurse, Preise auf Terminbörsen, etc. als täglich/stündlich sich darstellende „konkrete“ Werte, um die sich das Wirtschaftsgeschehen zu drehen scheint – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse!

Nachdem sich die Übereinstimmung von Wert und Wertform nur zufällig, im Durchschnitt und über mehr oder weniger lange Zeiträume ergibt, wird das Gleichgewicht der (Kapital-)Märkte immer wieder in unvorhersehbarer (zufälliger, katastrophischer) Weise durchbrochen, um eine Berichtigung der Wert/Wertform-Widersprüche auszulösen. Diese abstrakte Tendenz zur Finanzmarktkrise bekommt ihre allgemeine Form durch folgenden Zusammenhang: Grundlegend wird die Dynamik der Kapitalakkumulation durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate und den damit verbundenen Zwang zur ständigen Ausdehnung der Kapitalverwertung bestimmt – eine Bewegung die langfristig zu Überakkumulation (Überkapazitäten, einbrechender Nachfrage, Investitionsrückgang … führt. Dieser Tendenz wiederum wirkt das scheinbar davon unabhängige beständige Wachstum aller möglichen Formen des zinstragenden Kapitals entgegen, die weiterhin Verwertung des Kapitals zu ermöglichen scheinen, wenn die realen Profite dies auch gar nicht mehr tragen können. Wertform und Wert spiegeln vor, sich vollständig zu entkoppeln, und die Akkumulation kann fortgesetzt werden, solange sich noch „Kreditgeber:innen“ finden.

Sobald aber an wichtigen Stellen ein:e Akteur:in den „Kredit“ verspielt und sich dies dominoartig auf andere Bereiche ausdehnt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen. Während es 2008 das Sinken von Immobilienpreisen und damit einhergehend der Zusammenbruch der Subprimewertpapiere war, so ist es paradoxer Weise 2023 der Wertverlust der scheinbar so sicheren Staatsanleihepapiere, der zu einer Wertberichtigung der Bankvermögen führte. Was auch immer der Anlass einer Finanzkrise ist – es geht immer darum, dass das Hinauszögern einer in der Realwirtschaft begründeten Krise durch die Finanzmärkte letztlich zu einer Berichtigung führen muss, um dann umgekehrt zum Verstärker der realwirtschaftlichen Krise zu werden.

Welche Auswirkungen wird die Bankenkrise zeitigen?

Zunächst einmal müssen hierzu die unmittelbaren Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Regierungen und Zentralbanken die Bankenkrise eingedämmt haben. Im Fall der SVB und vergleichbarer Banken hat die US-Zentralbank zunächst die Einlagensicherung über die üblichen 250.000 US-Dollar erhöht – die von der SVB verspekulierten Gelder wurden also über Steuerzahlungen den Einlegern:innen erstattet. Darüber hinaus hat die US-Zentralbank für die betroffenen Banken ein Programm eingerichtet (Bank Term Funding Program), über das sie den Wertverlust der Staatsanleihen bis zum Nominalwert durch einen Kredit ersetzen können. Letzteres ist auf 1 Jahr begrenzt und soll somit den US-Banken die Möglichkeit geben, sich in einer Übergangsfrist an die Hochzinsumgebung anzupassen. Trotzdem bedeutet dies, dass diese Banken zwar ihr Vermögen berichtigen können, aber zusätzliche Zinslasten bekommen, die insgesamt auf ihre Fähigkeit zu Kreditvergaben wirken werden. Diese Maßnahme wird zwar zur Rettung vieler Banken führen – aber zur Verstärkung der Probleme der sowieso schon schwierigen Finanzierung von Neuinvestitionen beitragen (höhere Kreditzinsen, restriktivere Kreditbedingungen). Dies wird zum schon in den letzten Quartalen feststellbaren deutlichen Rückgang in der Investitionstätigkeit in der US-Privatwirtschaft nochmals hinzukommen. In der EU und in UK sind ähnliche Programme zu erwarten und werden daher auch dort die Stagnationstendenz verschärfen.

Die Maßnahmen in Verbindung mit der CS-Krise waren teilweise noch radikaler. Bei der Übernahme durch die UBS wurde nicht nur die CS weit unter Marktwert verscherbelt (um 3,2 Milliarden US-Dollar Kaufpreis für eine Bank, die noch zur letzten Finanzkrise über 100 Milliarden Marktwert auswies), es wurden auch hohe Staatsgarantien zur Risikoabsicherung bereitgestellt. Für die unmittelbar zu befürchtenden Ausfälle wurden fast 10 Milliarden von der Schweizer Regierung versprochen und für längerfristige Risiken weitere 100 Milliarden. Während hier also die Schweizer Steuerzahler:innen zur Kasse gebeten werden, wurde immerhin auch den Investor:innen in die CS etwas abverlangt: die Tier-1-Bonds (spezielle Form der Wandelanleihen) der CS wurden nicht mit dem Eigenkapital in die UBS überführt, so dass hier einige Premiuminvestor:innen (z. B. aus Saudi-Arabien) zusammen ungefähr 17 Milliarden verloren haben. Insgesamt ist mit der UBS+ aber eine Monsterbank entstanden, deren Bilanzsumme etwa doppelt so groß ist wie das Bruttonationalprodukt der Schweiz. Sollte also die UBS scheitern (wie schon mal 2008), könnte die „Rettung der globalen Märkte“ wohl nicht mehr von der Schweiz allein gestemmt werden. Auch wenn der Zusammenbruch einer Großbank damit erst mal verhindert wurde, wird die UBS schwer an der Abarbeitung der Probleme zu leiden haben und mit den Herkulesaufgaben einer solchen Großfusion (z. B. in der ganzen IT-Infrastruktur) noch lange beschäftigt sein. Jedenfalls ist mit der CS eine der wichtigen Investitionsbanken für Restrukturierungs- und Großinvestitionsvorhaben in Europa und den USA weggefallen bzw. nur teilweise durch die UBS+ ersetzt worden. Die CS-Krisenbewältigung verschärft damit nicht nur die Verschuldungsprobleme, sondern wird ebenfalls negative Folgen auf die Finanzierung von Investitionen haben.

Wie auch immer es mit der Bankenkrise weitergeht (nicht abschätzbar sind noch die Risiken im sogenannten Schattenbankensektor), jedenfalls wird die Krisenbewältigung die sowieso schon bestehenden Tendenzen zur Stagnation verstärken. Auch wenn eine synchronisierte Rezession in der EU und den USA dieses Jahr ausbleiben mag, so sind Wachstumsraten unter ein Prozent für die Kapitalverwertung katastrophal. Mit der Bankenkrise wird zur schwachen Investitionsnachfrage jetzt auch eine Welle von Insolvenzen folgen, die aus „Risikoberichtigungen“ und „Abschreibungen“ im Rahmen der Bankenstabilisierung resultieren. Mit der hartnäckigen Inflation um 5 – 10 % kombiniert sich diese Entwicklung zu einer chronischen Stagflation. Sinkende Reallohneinkommen, Austeritätsprogramme, drohender Arbeitsplatzverlust bei Pleiteunternehmen usw. werden auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Masse der Lohnabhängigen immer schlimmer einwirken – und zu einer Verstärkung der Abwehrkämpfe führen müssen!

Was tun gegen die Bankenkrise?

Neoliberale Kampfblätter wie The Economist oder die Financial Times streiten durchaus über den richtigen Umgang mit der erneuten Bankenkrise. Letztere befürchtet durch die neuerlichen Rettungsmaßnahmen einen „moral hazard“ (moralisches Risiko), eine Bestärkung von Fehlverhalten auf den Finanzmärkten und tendiert dazu, dass man der Krise endlich freien Lauf lassen müsse, um die „schlechten“ Finanzakteur:innen aus dem Markt zu drängen. The Economist neigt eher zum Vertrauen in die „Regulierer:innen“ und meint, dass man Extreme wie die SVB oder CS zwar tatsächlich „bestrafen“ muss, aber die Auswirkungen dann durch das Wirken der Regulierer:innen eingedämmt werden müssen. Dabei wird behauptet, dass dies von Krise zu Krise immer besser gelernt wird und das System so auch diesmal wieder gestärkt aus den Turbulenzen herauskommen würde. Liberale Ökonom:innen wie z. B. Joseph E. Stiglitz sehen dagegen das Problem, dass bestimmte Finanzmarktakteur:innen jede Regulierung umgehen würden und immer wieder das Gleichgewicht des Gesamtsystems ins Wanken bringen. Er fordert daher weitergehende „wissenschaftliche“ Kontrolle über Bankengeschäft und ihr Risikomanagement, wobei z. B. die Fehler bei der Bewertung der gegenwärtigen Bankvermögen in den USA vermieden werden hätten können.

Offensichtlich gehen alle diese Ansätze insofern in die Irre, als sie das Problem an der „Irrationalität“ einzelner Finanzakteur:innen und dem Mehr oder Weniger der Regulierung von Finanzmärkten festmachen. Tatsächlich liegt der Ursprung der Krise aber gar nicht in den Finanzmärkten. Diese sind nur ein Element und Symptom der Gesamtkrise der Kapitalverwertung und können auch nur dort in den Griff bekommen werden. Eine linke Antwort darauf gibt z. B. Michael Roberts in seinem Blogbeitrag „Bank Busts and Regulation“ (21.3.), wo  er die Frage der Verstaatlichung des Bankensektors konkret aufwirft. Er entwickelt dabei ein Modell der „demokratischen Kontrolle“ der Banken und ihrer Finanzierungsgeschäfte sowie ihrer Einbettung in einen nationalen ökonomischen Entwicklungsplan.

So sehr die Bankenverstaatlichung natürlich im Zentrum eines Aktionsprogramms im Rahmen der kapitalistischen Gesamtkrise steht, so sehr kann diese Forderung nicht isoliert von der Frage des Gesamtkampfes gegen die Krise aufgestellt werden. Ein staatliches Bankensystem im Rahmen einer „Selbstverwaltung“ führte z. B. im früheren Jugoslawien zu einer de facto wirtschaftlichen Diktatur der Republiksbanken, die über ihre Kreditvergabe letztlich alle Ebenen der betrieblichen Selbstverwaltung und „Demokratie“ aushebeln konnten – und erst recht zu einer Finanzkrise führten.

Die Arbeiter:innenkontrolle über einen staatlicher Bankensektor kann letztlich keinen Dauerzustand bilden, sondern nur einen Hebel auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus selbst liefern. Dieser Kampf muss daher mit dem um Vergesellschaftung aller zentralen Produktionssektoren und für einen demokratisch bestimmten Plan entwickelt werden, in dessen Rahmen dann Banken reine Vermittlungsorgane für die gesellschaftliche Gesamtrechnung sind. Erst dann ist gewährleistet, dass die Verselbständigung der Wertform gegenüber den eigentlichen Gebrauchswert produzierenden Bereichen nicht wieder zu deren Diktatur über den Menschen wird und sich die Vermittlung von gesellschaftlichem Bedarf und produktiven Kapazitäten aus bewusster menschlicher Kooperation und Kommunikation herstellt. Eine solche, qualitativ andere Form der Vergesellschaftung erfordert eine Zerschlagung der alten Staatsmacht und die Errichtung einer rätedemokratischen neuen – kurz, eine proletarische Revolution.




Pakistan: Todesfälle an den Zentren zur Armenspeisung

Revolutionary Socialist Movement Pakistan, Infomail 1219, 3. April 2023

In der letzten Woche sind 12 Menschen, drei Kinder und neun Frauen, gestorben, als sie in einem Wohltätigkeitszentrum für den Fastenmonat Ramadan in Karatschi für Mehl anstanden. Hunderte von Frauen und Kindern hatten sich vor dem Zentrum versammelt, das von einer Textilfärberei eingerichtet worden war, in der Hoffnung, wenigstens einen Sack Mehl zu bekommen, während die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen. Als die Menschenmenge immer größer wurde, ging die Polizei mit Schlagstöcken gegen sie vor.

Ähnliche Szenen spielten sich im Quaid-e-Azam-Stadion (Mirpur-Cricketstadion in Azad Kaschmir) ab, wo 45 Frauen verletzt wurden und eine alte Frau bei einer Massenpanik nach einem weiteren Schlagstockeinsatz der Polizei und Schlägen zu Tode kam. Die vom Fasten bereits dehydrierte und geschwächte Menge hatte mehrere Stunden in der prallen Sonne ausgeharrt, nachdem die für die Identifizierung der Empfänger :innen verwendete Handy-App ausgefallen war.

Aus vielen anderen Städten des Landes wurden Tote und Verletzte gemeldet, was die Nahrungsmittelkrise, mit der Millionen Menschen konfrontiert sind, verdeutlicht.

Lebensmittelknappheit

Weizen ist das Grundnahrungsmittel in Pakistan. Der Premierminister kündigte ein Ramadan-Paket an, das den von der Inflation betroffenen Armen kostenloses Mehl zur Verfügung stellt. Die Regierung von Punjab stellte 64 Milliarden Rupien bereit, um 15,8 Millionen Haushalte, die von Armut betroffen sind, mit je drei 10-kg-Säcken zu versorgen. Die Regierung von Khyber Pakhtunkhwa kündigte die gleiche Regelung für 5,8 Millionen Haushalte an, die im Benazir Income Support Programme (Einkommensunterstützungsprogramm BISP) registriert sind, und stellte 19,7 Milliarden Rupien bereit.

Die Regierung von Belutschistan kündigte an, sie werde 0,5 Millionen 20-kg-Säcke verteilen, als ob die Menschen in der ohnehin schon verarmten Provinz weniger Lebensmittel bräuchten als die in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa! In der Zwischenzeit hat die Regierung von Sindh angekündigt, dass sie 7,8 Millionen Familien, die beim BISP registriert sind, 2.000 Rupien zur Verfügung stellen wird, um Mehl zu kaufen.

Die dreißigjährige Asma Ahmed, deren Großmutter und Nichte unter den Toten in Karatschi waren, sagte gegenüber AFP: „Wir kommen jedes Jahr in die Fabrik, um die Zakat (Abgabe gegen den Hunger) abzugeben. Sie begannen jedoch, die Frauen mit Knüppeln zu schlagen und sie zu schubsen. Überall herrschte Chaos. Warum haben sie uns gerufen, wenn sie nicht damit umgehen können?“

Der Vorfall ereignete sich am Freitag, dem 31. März. Der Freitag ist der „heilige Tag“ im Islam, und normalerweise geben die Menschen an diesem Tag ihre jährlichen Almosen in Form von Zakat an die Armen, weil sie glauben, dass dies an einem Freitag im Ramadan mehr Segen bringt. Schon vor der Pandemie und den Überschwemmungen im Jahr 2022 war es üblich, dass die Armen freitags im Ramadan an die Türen der Wohlhabenden klopften oder zu karitativen Einrichtungen strömten, um Almosen zu sammeln.

Verschärfung der Lage

Jetzt hat sich das Elend für die arme, arbeitende Bevölkerung für Tausende von Menschen verdoppelt und verdreifacht, die während der Covidpandemie und den verheerenden Überschwemmungen im Jahr 2022 entlassen wurden. Die durch den Klimawandel verursachten Überschwemmungen haben einen Großteil der Ernte vernichtet, aber das ist nur einer der Gründe für die exorbitant hohen Lebensmittelpreise. Hinzu kommen die Auswirkungen der Mehrwertsteuer, die auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhöht wurde.

Der IWF vergibt Kredite an Pakistan nur unter ganz bestimmten Bedingungen, von denen die meisten direkt die Armen treffen, wie z. B. die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Kürzung der Subventionen für Strom, Gas und Benzin, die Privatisierung der Industrie und die Einführung eines marktgerechten Wechselkurses für die Rupie gegenüber dem US-Dollar.

Letztes Jahr lag die Inflation im März bei 12,72 Prozent. In diesem Jahr hat  sie bereits 35,37 Prozent erreicht. Dies ist die höchste Inflationsrate, die das Land in den letzten sechs Jahrzehnten verzeichnet hat. Bei verderblichen Lebensmitteln beträgt die Inflation im Jahresvergleich 51,81 Prozent, bei nicht verderblichen Waren liegt sie bei 46,44 Prozent.

Im Bericht des Finanzministeriums heißt es eindeutig: „Es wird erwartet, dass die Inflation auf einem hohen Niveau bleibt, was auf die Marktspannungen zurückzuführen ist, die durch die relative Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage bei wichtigen Gütern, die Abwertung des Wechselkurses und die jüngste Anpassung der administrierten Preise für Benzin und Diesel nach oben verursacht werden. Aufgrund der verlängerten Auswirkungen der Überschwemmungen sind die Produktionsverluste, insbesondere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Kulturen, noch nicht vollständig aufgeholt worden. Infolgedessen ist ein Mangel an lebenswichtigen Gütern entstanden und hält an. Die Inflation könnte durch den Zweitrundeneffekt weiter ansteigen.“

Außerdem geht der Bericht davon aus, dass die Weizenproduktion durch verspätete Regenfälle und anschließende Hitzewellen im April und Mai beeinträchtigt werden könnte. Alles in allem macht die Übersicht des Ministeriums überdeutlich, dass Armut, Elend und Hunger in den kommenden Wochen und Monaten weiter bestehen und sich sogar noch verschärfen werden.

Was tun?

In dieser Situation zeigen Philanthropie und Wohltätigkeit ihr wahres Gesicht: Staatliche und nichtstaatliche Akteur:innen kombinieren ein Minimum an Hilfslieferungen mit einem Maximum an Fototerminen. Sie versammeln große Menschenmengen, damit sie ihren Spender:innen Fotos von ihnen zeigen können, um mehr Geld in ihre eigenen Taschen zu bekommen.

Selbst wenn all dieses Geld den Armen zugutekäme, wäre es immer noch unzureichend. Solche einmaligen kostenlosen Mehllieferungen, die ohnehin mit dem Risiko von Schlägen und Todesfällen verbunden sind, werden nicht ewig reichen. Was sollen die Menschen unterhalb der Armutsgrenze essen, wenn die 30 Kilo Mehl aufgebraucht sind?

Die Misswirtschaft in den Verteilungszentren hat gezeigt, dass die herrschenden Klassen gleichgültig und unfähig sind, die Krise zu bewältigen. Wir rufen die Arbeiter:innen auf, Lebensmittelausschüsse zu bilden, um den Verteilungsprozess zu kontrollieren. Die Unfähigkeit der herrschenden Klassen, die anhaltend dramatischen Zustände zu meistern, zeigt sowohl die realen Gefahren als auch die Aussichten auf eine wirkliche soziale Umgestaltung. Rosa Luxemburgs Vorhersage „Sozialismus oder Barbarei“ ist heute zutreffender als je zuvor. Die herrschenden Klassen in Pakistan bewegen sich in eine Richtung, in der sie nicht mehr in der Lage sein werden, so zu regieren, wie sie es bisher getan haben. Es ist höchste Zeit, den subjektiven Faktor vorzubereiten, um diese objektiven Bedingungen zu ergänzen.

Dies ist umso wichtiger, als sich sonst reaktionäre Kräfte wie die Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaftspartei) wieder durchsetzen werden. Wenn die Geschichte uns etwas gezeigt hat, dann, dass solche Parteien die Feind:innen der Arbeiter:innenschaft, der Frauen und der Minderheiten sind. Deshalb müssen sich die Arbeiter:innen, die Armen auf dem Land und in der Stadt, die Bauern und Bäuerinnen sowie die unterdrückten Teile der Gesellschaft jetzt zusammenschließen, um gemeinsam gegen die derzeitige Wirtschaftskrise zu kämpfen. Unsere Frauen haben etwas Besseres verdient! Wir verdienen es nicht, für eine Handvoll Mehl zu sterben!

Wir rufen alle linken Parteien und Organisationen sowie die Gewerkschaften und Frauenorganisationen auf, sich für eine entschlossene Strategie gegen die Wirtschaftskrise zusammenzuschließen. Keine NGO oder Wohltätigkeitsorganisation wird diese Krise lösen. Nur eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innenklasse mit einem echten Aktionsprogramm, das die Kämpfe für freie Lebensmittel und gegen Inflation und IWF mit dem Kampf für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan verbindet, kann dies tun!

Vorwärts zu einer sozialistischen Revolution in Pakistan und ganz Südasien!




Kritische Bilanz der bundesweiten „Genug ist Genug!“-Konferenz

Valentin Lambert/Lukas Müller, Infomail 1217, 22. März 2023

Am 03./04. März 2023 fand in den Räumlichkeiten der Universität Halle das erste bundesweite Vernetzungstreffen von „Genug ist Genug!“ (GiG) statt. Angekündigt wurde dieses als „Aktionskonferenz“. Gut 80 Aktivist:innen, die meisten davon bereits politisch organisiert und jünger als 30 Jahre, nahmen an der Konferenz teil. Die Kampagne wurde 2022 vor allem von Jacobin-Magazin und linken Hauptamtlichen aus GEW und ver.di ins Leben gerufen, um gegen die steigenden Preise und die soziale Schieflage zu kämpfen. Zu diesem Zweck wurden die folgenden Forderungen aufgestellt:

1. 1000 Euro Wintergeld für alle. 2. Das 9-Euro-Ticket verlängern. 3. Löhne endlich erhöhen. 4. Energiepreise deckeln. 5. Energieversorgung sichern. 6. Krisenprofiteur:innen besteuern.

Konferenz mit dem Ziel, „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“

An Gruppen konnten wir wahrnehmen: SDAJ, SDS, FAU, Falken, Grüne Jugend, Soli-Netz, Armutsbetroffeneninitiative, ver.di und uns als GAM. Besonders stark vertreten waren die Grüne Jugend und ver.di. Eine große Mehrheit der Aktivist:innen sagte aus, noch im Studium zu stecken, ein kleinerer Teil stellte sich als Gewerkschaftsfunktionär:innen vor. Als Beschäftigte/r aus den Betrieben stellte sich kaum jemand vor, bis auf wenige Redner:innen beim Auftakt, welche teilweise als Gäste eingeladen wurden.

Die Aktionskonferenz hatte das Ziel, „sich für die anstehenden Kämpfe aufzustellen“, um „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“. Am ersten Abend wurde über die Aktivitäten der letzten sechs Monate berichtet. Thesen zur aktuellen politischen Lage wurden vorgestellt und eine sehr kurze offene Debatte geführt. Den Auftakt bildeten Eröffnungsreden von Beschäftigten aus verschiedenen Branchen, u. a. aus der Krankenhausbewegung in NRW, dem Fabrikkollektiv GKN aus Italien und der Initiative #ichbinarmutsbetroffen. Außerdem redete eine Reihe von Gewerkschaftsfunktionär:innen.

GiG orientiert sich um

In den Thesen zur aktuellen Lage in Deutschland wurde festgestellt, dass der erhoffte „heiße Herbst“ von linken Kräften ausblieb. Die Proteststimmung sei nun weg. Trotzdem sei die Lage prekär und es müsse irgendwie weitergehen, aber auf anderen Wegen. Durch die anstehenden bzw. laufenden Tarifverhandlungen rücken Arbeitskämpfe und der Streik als Mittel nun in den Vordergrund der politischen Kämpfe. In Zukunft möchte sich die Kampagne daher innerhalb der Tarifkämpfe einbringen. Die Tarifverhandlungen seien so politisch wie lange nicht mehr und sollen gesellschaftliches Gewicht erlangen.

Diese Analyse und die Schlussfolgerung sind soweit sehr richtig, aber auch mehr oder weniger Allgemeingut. Zudem ging die Analyse kaum über diese wenigen Sätze hinaus und war nach 5 – 10 Minuten abgehandelt. Die Frage, warum es nicht gelungen ist, Massenproteste von links zu initiieren, die durchaus vorhandene Wut der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken, ja an etlichen Orten stattdessen die Rechten das Ruder übernommen haben und was wir daraus lernen können, wurde nicht bearbeitet. Zudem wurde nicht darauf eingegangen, dass die Tarifkämpfe zwar polarisierter sind und heftiger mobilisiert wird, dass sie zugleich aber unter Kontrolle der Bürokratie stattfinden und auch den Rahmen ökonomischer Kämpfe nicht verlassen haben.

Die abschließende „offene Debatte“ wirkte verkürzt und war mit einer einminütigen Redezeit und einem Beitrag pro Person quasi nicht möglich. Bei mehr als 80 Personen ist so etwas zwar zwangsläufig nicht einfach, allerdings für einen tatsächlich bundesweiten Austausch dennoch von zentraler Bedeutung. Hier hätte man deutlich mehr Zeit einplanen müssen. Vom Podium wurde dazu aufgerufen, die Redezeit zu nutzen, um anzureißen, welche Themen man am nächsten Tag vertiefen möchte. Allerdings waren diese hierfür bereits gesetzt und Raum für in der offenen Debatte aufgekommene Themen gar nicht vorgesehen.

Kämpferische Bewegung von unten oder geordnete Bahnen?

Am zweiten Tag der Aktionskonferenz fanden Workshops und Arbeitsgruppen statt, welche auch nach der Konferenz weiter aktiv sein sollen: Inflation und Preise, öffentlicher Dienst, Post, Bus und Bahn, GiG an den Unis, Social Media und interne Kommunikation. Diese schienen überwiegend von Gewerkschaftshauptamtlichen vorbereitet worden zu sein. Wir beteiligten uns am Workshop zum TVöD.

Hier wurden vor allem verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie man die Aktionen der Beschäftigten „von außen“ unterstützen kann. Diskutiert wurde aber auch über die starren Strukturen der Gewerkschaften. Von der Genossin aus der Krankenhausbewegung in NRW wurde von Erfahrungen der Selbstorganisation von unten berichtet, was nicht gerade auf Begeisterung seitens der an der Debatte beteiligten Gewerkschaftsfunktionär:innen stieß.

Die Idee der Zusammenführung von Streiks zu einem Generalstreik wurde von der ver.di-Funktionärin Jana Seppelt aus Berlin aufgrund einer angeblichen Spaltung der Bewegung abgelehnt und es wurde vor einem utopischen „Überschuss“ gewarnt. Die Kritik einer marxistischen Gruppe auf einem GiG-Treffen in Berlin an der Beteiligung der Grünen Jugend, da die Grünen im Bundestag gegen eine Vermögenssteuer gestimmt haben, bezeichnete Jana Seppelt in Halle als „linksradikale Kleinscheiße“. Im Allgemeinen wurde/n selbst auf vorsichtige Kritik an der Gewerkschaftsführung umgehend mit entsprechenden Gegenredebeiträgen von Gewerkschaftssekretär:innen reagiert und kämpferische Vorschläge eher ausgebremst.

GiG ist leider noch nicht genug

Als im vergangenem Jahr linke Gewerkschafter:innen und andere Aktivist:innen „Genug ist Genug!“ aufbauten, um einen bundesweit koordinierten Kampf gegen die Krise zu entfalten, ergriffen sie eine bitter nötige und unterstützenswerte Initiative. Auch die nun vollzogene Orientierung auf die Tarifkämpfe und der Versuch, diese zusammenzuführen und die gesellschaftliche Debatte dadurch insgesamt zu prägen, sind für sich genommen richtig. Allerdings weisen die Struktur und die Strategie von GiG unserer Ansicht nach Schwächen auf und sind zumindest in ihrer aktuellen Form noch nicht geeignet, diesen Aufgaben gerecht zu werden.

Welche Struktur brauchen wir?

So wurden von verschiedenen Personen zu Recht die eher undurchsichtigen Strukturen und Verantwortlichkeiten von GiG kritisch angesprochen. Ist GiG ein Bündnis oder eine eigene Organisation? Wer trifft die Entscheidungen und schnürt die Kampagnen? Auch auf der Konferenz war für uns nicht ersichtlich, wer die Leute sind, die da vorne auf dem Podium sitzen und die Konferenz organisiert haben. Ein gewähltes bundesweites Koordinierungsgremium, welches politisch verantwortlich und rechenschaftspflichtig ist, Protokolle seiner Arbeit intern veröffentlicht und so weiter, scheint es nicht zu geben. Bisher hat GiG vor allem so funktioniert, dass „von oben“ vorgefertigte Kampagnen und Materialien „unten“ in den Ortsgruppen einfach reproduziert wurden, ohne dass die Aktivist:innen und Gruppen vor Ort diese inhaltlich mitgestalten konnten. Die Tatsache, dass GiG behauptet, 38 Ortsgruppen zu haben, sich aber nur gut 80 Leute an der ersten bundesweiten Konferenz beteiligten, zeigt, dass die Struktur von einer lebendigen Kultur der Mitgestaltung weit entfernt ist und/oder viele Ortsgruppen gar nicht mehr aktiv sind.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass GiG fast ausschließlich aus Studierenden zu bestehen scheint. Natürlich ist es löblich, wenn sie, die nicht unmittelbar von Tarifkämpfen betroffen sind, diese unterstützen wollen. Ein Fehler ist es aber, diesen Zustand nicht überwinden und mit den Beschäftigten aus den Betrieben praktisch wie organisatorisch zu einer gemeinsamen Bewegung verschmelzen zu wollen. So wurde von der Vertreterin der Grünen Jugend sogar explizit vorgeschlagen zu versuchen, primär Studierende in die Arbeit einzubinden, denn diese hätten im Gegensatz zu Beschäftigten Zeit. In den ganzen Debatten wurde von GiG gesprochen als einer Supporter:innenstruktur, welche von außen an die Streiks herantritt, den Beschäftigten und der Gewerkschaftsführung bei ihrem Kampf zur Hand geht, die Moral durch die gezeigte Solidarität stärkt und innerhalb der Bevölkerung Öffentlichkeit und Verständnis schafft.

Was wir aber versuchen müssen, ist der Aufbau eines gemeinsamen bundesweiten Aktionsbündnisses aus allen kampfbereiten Beschäftigten, unterstützenden Studierenden, linken Organisationen und Gewerkschaften, welches die verschiedenen Tarifkämpfe, die Umwelt- und die Antikriegsbewegung zu einem gemeinsamen Kampf vereint, statt sich gegenseitig von außen zu unterstützen. Dieses bundesweite Aktionsbündnis sollte lokale Ableger in den Städten haben und versuchen, Verankerung vor allem in den Betrieben, aber auch an Unis und Schulen aufzubauen. In dem Bündnis sollten die verschiedene Organisationen und (Betriebs-)Gruppen bzw. deren Vertreter:innen auf Augenhöhe diskutieren und mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fällen. Eine demokratisch gewählte, rechenschaftspflichtige und transparent arbeitende Koordinierung sollte die Arbeit und Kämpfe bundesweit zusammenführen. Ein erster Schritt in diese Richtung müsste die Einberufung einer Aktionskonferenz über GiG hinaus sein, unter Einbezug aller oben genannten Akteur:innen. Dafür müssten die Gründer:innen von GiG, welche wie gesagt vor allem aus den Apparaten von ver.di und GEW kommen, allerdings bereit sein, die Zügel aus der Hand zu geben und die Initiative für einen solchen Schritt zu ergreifen.

Welche Strategie führt zum Sieg?

Die Debatten zur Intervention in die Tarifkämpfe klangen auf der Konferenz vor allem nach Vorfeldarbeit für die Politik der Gewerkschaftsführung. Wenn GiG die Tarifkämpfe zuspitzen und zusammenführen möchte, hätte man eine eigenständige Perspektive diskutieren müssen, wie und wohin die Streiks konkret führen sollen. Die aktuellen Tarifverhandlungen bei der Post machen deutlich, dass auf die Gewerkschaftsbürokratie kein Verlass ist, wo sich ver.di nach knapp 90 % Zustimmung unter den Beschäftigten für einen Streik auf einen in letzter Sekunde vorgelegten faulen Kompromiss eingelassen hat. Die demokratische Urabstimmung zum Streik wurde kalt missachtet und die Bewegung ausverkauft (https://arbeiterinnenmacht.de/2023/03/14/post-guter-streik-statt-schlechter-verhandlungen-das-ergebnis-muss-abgelehnt-werden/). Eine Zuspitzung der Kämpfe wird wohl kaum ohne massiven Druck von unten gegen die Bürokratie durchzusetzen sein. Aktuell wird die GiG aber vor allem aus den Apparaten heraus finanziert.

Diese Zuspitzung darf nicht alleine bedeuten, die einzelnen Tarifauseinandersetzungen zusammenzuführen, viele Mitglieder in die Auseinandersetzung zu ziehen oder neue zu gewinnen, auch wenn dies ein nützlicher Teilschritt wäre. Ein weiterer Zwischenschritt wäre eine Kampagne gegen die Gefahr eines Schlichtungsverfahrens im öffentlichen Dienst und für die Aufkündigung dieser Vereinbarung. Unserer Einschätzung nach bedarf es einer Vorbereitung auf den politischen Massenstreik branchenübergreifend und notfalls unbefristet. Zugleich müssen wir uns darauf vorbereiten, dass solche radikaleren Kampfmaßnahmen auch den Widerstand von Staat und Kapital befeuern.

Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass die Forderungen von GiG überarbeitet werden müssen. Wir schlagen der Kampagne deshalb abschließend folgende zentrale Forderungen vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!