Nein zu den Verschärfungen beim Bürgergeld! Kampf gegen alle Kürzungen!

Stefan Katzer, Neue Internationale 280, Februar 2024

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im November vergangenen Jahres die haushaltspolitischen Taschenspielertricks der Ampelkoalition entlarvt hat, stellt sich die Frage, wie die nun fehlenden 60 Milliarden Euro eingespart werden können. Der neueste Vorstoß der Regierung sieht vor, auch Einsparungen beim Bürgergeld vorzunehmen und das Sanktionsregime erneut zu verschärfen.

Zur Erinnerung: Die Ampelkoalition hatte Schulden, die zur Bekämpfung der Coronapandemie aufgenommen wurden, nachträglich umgewidmet und das zur Bekämpfung der Pandemie lockergemachte Geld kurzerhand in den sogenannten Klimatransformationsfonds gepackt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Umbuchung für rechtswidrig erklärt. Da das Geld bereits fest eingeplant war, stellt sich die Frage, woher die Milliarden kommen sollen, die nun im Haushalt fehlen.

Die Antwort der Regierung auf dieses Problem zeichnet sich immer deutlicher ab: Anstatt das fehlende Geld bei denjenigen abzuschöpfen, die in den vergangenen Jahren enorme Gewinn- und Vermögenszuwächse verzeichnen konnten, möchte die Regierung lieber notwendige Investitionen weiter aufschieben, weitere Kürzungen im sozialen Bereich vornehmen und zusätzlich den – im übertragenen Sinne –  nackten Leuten in die Taschen greifen, also das fehlende Geld dort holen, wo ohnehin kaum welches vorhanden ist: bei Erwerbslosen und Geringverdiener:innen, die ihren Lebensunterhalt durch den Bezug von Bürgergeld absichern müssen.

Leere Versprechen und faule Kompromisse

Dabei war mit seiner Einführung seitens der Regierung das Versprechen verknüpft, Erwerbslose künftig nicht mehr unnötig zu drangsalieren. Stattdessen sollten die „Klient:innen“ künftig auf Augenhöhe behandelt und der Fokus auf Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen gelegt werden. Im Zuge der Bürgergeldreform wurden dann aber tatsächlich nur kosmetische Veränderungen am „Hartz 4“-System vorgenommen. So wurde etwa das Schonvermögen erhöht und es wurden Anreize geschaffen, an Weiterbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. In diesem Zusammenhang werden vom Jobcenter geringfügige Bonus-Beträge ausgezahlt, die für Qualifizierungsmaßnahmen, die nicht auf einen Berufsabschluss zielen, nun wieder gestrichen werden sollen.

Arbeitslosigkeit: eine Frage der Motivation?

Das Problem der Arbeitslosigkeit solchermaßen zu adressieren, heißt in Wahrheit jedoch, es zu verschleiern. Denn das Problem der Arbeitslosigkeit wird letztlich nicht auf seine gesellschaftliche Ursache zurückgeführt – d. i. die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals, durch welche immer mehr variables Kapital, lebendige Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt wird –, sondern auf die Eigenschaften und Einstellungen der Erwerbslosen. Entsprechend dieser falschen, ja verkehrten Problemanalyse fällt auch die Lösungsstrategie der bürgerlichen Parteien aus.

Arbeitslosigkeit wird von ihnen wahlweise als ein Bildungs- oder Motivationsproblem derer behandelt, die in Wirklichkeit deshalb arbeitslos sind, weil die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft dem Kapital keinen Mehrwert verspricht. Ein gesellschaftliches Problem wird so unter der Hand individualisiert und psychologisiert.

Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, statt der gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen selbst zu bekämpfen. Dabei werden die Erwerbslosen zunächst stigmatisiert. Ihnen wird unterstellt, nicht arbeiten zu wollen. Sie werden als „Asoziale“ hingestellt, die auf Kosten anderer ein angenehmes Leben führen.

In einem zweiten Schritt wird politisches Handeln durch (schwarze) Pädagogik ersetzt. Das Problem der Arbeitslosigkeit soll durch eine nachträgliche Erziehung der Arbeitslosen gelöst werden. Diese sollen durch Überwachung, Beschämung, Demütigung und Bestrafung zum richtigen Verhalten „motiviert“ werden. Die Frage, über die sich die bürgerlichen Parteien dann noch streiten, betrifft letztlich nur noch die nach der richtigen „Erziehungsmethode“: bestrafen oder motivieren, Leistungen kürzen oder Anstrengungen belohnen?

„Arbeitsscheue Arbeitslose“ als Ausbeuter:innen des „hart arbeitenden kleinen Mannes“

Das Klischee der arbeitsscheuen Langzeitarbeitslosen, der sich über die Dummheit derer lustig macht, die noch arbeiten gehen, während sie selbst schlau und vor allem dreist genug ist, andere für sich arbeiten zu lassen, erfüllt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Diese besteht in erster Linie darin, die gesellschaftlichen Ursachen des Problems zu verschleiern und die berechtigte Wut über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne seitens der arbeitenden Bevölkerung auf die Erwerbslosen umzulenken.

Dabei wird denjenigen, die einer Lohnarbeit nachgehen und vielleicht auch ein Gefühl dafür haben, dass sie um ihre tatsächliche Leistung (ihre Mehrarbeit) gebracht werden, suggeriert, ihre wahren Ausbeuter:innen seien nicht etwa die von ihrer Mehrarbeit lebende Kapitalist:innen, sondern faulenzende Arbeitslose, die sie von ihrem Lohn mit durchfüttern müssen. Durch diese perfide Verkehrung der tatsächlichen Zusammenhänge können sich diejenigen, die gegen Arbeitslose hetzen, auch noch als Kämpfer:innen für die Interessen „des kleinen Mannes“ inszenieren – und die BILD-Zeitung sich selbst als deren Sprachrohr.

So war es auch im Falle der nun bevorstehenden Verschärfungen beim Bürgergeld. Vorbereitet und begleitet wurde die Verschärfung von einer Kampagne, in der erneut das Zerrbild der „Arbeitsverweiger:innen“ an die Wand gemalt wurde, die sich auf Kosten der hart arbeitenden Bevölkerung ein angenehmes Leben mache.

Und was soll man sagen: Es hat wieder einmal gezündet. Die SPD ist erneut eingeknickt und verspricht nun, hart gegen sogenannte „Totalverweiger:innen“ vorzugehen. Durch verschärfte Sanktionen bei Leistungsberechtigten, die sich „beharrlich verweigern“, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen, soll jährlich ein Betrag von 170 Millionen Euro eingespart werden. Zum Vergleich: Allein durch Steuerhinterziehung gehen dem Staat nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung jährlich ca. 100 Milliarden (!) Euro verloren. Verschärfungen in diesem Bereich sind jedoch nicht geplant. Den von den nun angedrohten Sanktionen Betroffenen droht dabei die Streichung sämtlicher Bezüge (außer für Miete und Heizung). Die vollständige Sanktionierung soll bis zu zwei Monate andauern können.

Die entsprechende Regelung ist allerdings sehr schwammig formuliert. Sie besagt, dass eine „willentliche“ Weigerung, „eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“, vorliegen muss, um die Sanktionsmechanismen auszulösen. Diese Formulierung lässt somit viel Interpretationsspielraum, den besonders eifrige Jobvermittler:innen im Zweifelsfall dazu nutzen können, ungerechtfertigte Sanktionen zu verhängen, unter denen die Betroffenen auch dann leiden werden, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass die verhängten Sanktionen doch nicht angemessen waren. Dies wird aller Voraussicht nach besonders Menschen treffen, die nicht deutsch sprechen oder sich gegenüber Behörden ohnehin hilflos fühlen, also vornehmlich rassistisch Unterdrückte und psychisch belastete Menschen.

Neben der Tatsache, dass die von der Regierung prognostizierten Einsparpotentiale durch die nun anvisierten Kürzungsmaßnahmen völlig übertrieben erscheinen, ist daran vor allem problematisch, dass den Betroffenen damit de facto die notwendigen finanziellen Mittel entzogen werden, mit denen diese ihre Existenz sichern können. Ihnen droht die völlige Verarmung.

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass ca. zwei Millionen Kinder Bürgergeld beziehen. Sanktionen, die sich gegen ihre Eltern richten, treffen natürlich auch sie. Dabei bekommen sie schon jetzt nicht das, was für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig wäre. Weitere Kürzungen wären daher vor allem für sie fatal, da sie sich langfristig auf ihre Entwicklung auswirken können.

Rechte und neoliberale Scharfmacher:innen

Davon lassen sich die Scharfmacher:innen von rechts allerdings nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Sie befeuern lieber weiterhin die leidliche Debatte um das sogenannte „Lohnabstandsgebot“ und verteufeln in diesem Zusammenhang die letzte Bürgergelderhöhung von 12 % als arbeitsmarktpolitische Generaldummheit. Sie argumentieren dabei, dass die Erhöhung des Bürgergeldes dazu verführe, sich auf Kosten der Allgemeinheit einen faulen Lenz zu machen. Dabei hält die Erhöhung kaum Schritt mit der dramatischen Inflation und ist folglich keine reale. Zugleich „vergessen“ sie gerne, dass die Erhöhung des Bürgergeldes keine gönnerhafte Wohltat ist, die der Staat nach Lust und Laune gewähren kann oder auch nicht. Vielmehr geht es hier um die Existenzsicherung und um einen Rechtsanspruch, der sich aus dem Grundgesetz herleitet.

Ebenso verschweigen sie die Tatsache, dass das von Ihnen hochgehaltene „Lohnabstandsgebot“ auch anders gewahrt werden könnte als durch die Absenkung des Existenzminimus – nämlich durch die Erhöhung der (Mindest-)Löhne. Gegen die Einführung eines Mindestlohns haben sie selbst aber jahrelang gekämpft. Schon alleine daran erkennt man die ganze Heuchelei dieser Parteien und ihrer Führungsfiguren. Aber auch SPD und Grüne spielen das perfide Spielchen mit und drücken nun die Sanktionen durch, die sie zuvor noch als unmenschlich und weitgehend wirkungslos kritisiert haben.

Widerstand aufbauen, Kürzungen bekämpfen!

Umso dringender ist es, dass sich gegen diese Politik auf den Straßen Widerstand formiert. Dabei kommt den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu. Als Kampforgane der Arbeiter:innenklasse mit Millionen Mitgliedern wären sie dazu in der Lage, den notwendigen Widerstand zu organisieren. Dafür müssen sie aber endlich mit ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik brechen und anfangen, entschlossen für die Interessen der gesamten Klasse zu kämpfen. Um dorthin zu gelangen, müssen die Mitglieder Druck aufbauen und die Führung ihrer Gewerkschaften zum Handeln auffordern.

Der Kampf gegen die Verschärfungen beim Bürgergeld muss dabei mit dem gegen die weiteren Einschränkungen im Asylrecht sowie mit dem für höhere Löhne und gegen Entlassungen verbunden werden. Dadurch kann der spalterischen Politik der Herrschenden entgegengearbeitet und die Einheit der Lohnabhängigen erkämpft werden. Der Kampf gegen die geplanten Verschärfungen und Kürzungen kann aber letztlich nur erfolgreich sein, wenn er von Massenmobilisierungen, Streiks und  Besetzungen getragen wird und weitergehende Forderungen umfasst, die letztlich auf die Überwindung des kapitalistischen Ausbeutungssystems zielen.

  • Weg mit allen Bürgergeldgesetzen und Nein zu den geplanten Sanktionen! Für die Kontrolle der Arbeitsagenturen durch Gewerkschaften und Erwerbslosenkomitees anstelle von Ämterwillkür! Allgemeines, uneingeschränktes Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung während der Erwerbslosigkeit!
  • Für die sofortige Wiedereinführung der Vermögensteuer! 115 Mrd. Euro jährlich durch progressive Besteuerung!
  • Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro/Stunde! Für Arbeitslose, Studierende, RentnerInnen, SchülerInnen ab 16, chronisch Kranke, Schwerstbehinderte und Invalid:innen kämpfen wir für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation ,von 1.100 Euro plus Warmmiete! Die Kontrolle darüber den Gewerkschaften!
  • Streiks und Besetzungen im Kampf gegen Massenentlassungen und Schließungen! Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung/Umstellung der Produktion solcher Firmen!
  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der Beschäftigten, der Gewerkschaften unter Einbeziehung von Ausschüssen der Lohnabhängigen und aller nicht-ausbeutenden Schichten der Bevölkerung!



Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Tabula rasa – Tafeln in Not

Bruno Tesch, Infomail 1227, 9. Juli 2023

Auf seiner Internetseite bittet der Verband der Tafeln in Deutschland um Spenden:

„Über 960 Tafeln, eine Mission: Lebensmittel retten und armutsbetroffenen Menschen helfen. Die Tafeln retten Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, und geben sie an Menschen in Armut weiter, die sich eine ausgewogene Ernährung nicht leisten können.“

Schon im 1. Weltkrieg gehörten Suppenküchen für Bedürftige besonders in Großstädten zum Alltag, um den ärgsten Hunger zu stillen. Dort wurde Essen an Erwachsene gegen ein geringes Entgelt ausgegeben, für Kinder auch kostenlos verabfolgt. Diese Speiseanstalten wurden zumeist von kommunalen Verwaltungen, den Kriegshilfsausschüssen, unterhalten. Nach dem Krieg kamen sie vermehrt wieder in der Zeit der schwindelerregenden Verteuerung von Lebensmitteln und während der hohen Arbeitslosigkeit zum Einsatz.

Der Dachverband beziffert die vor der Entsorgung geretteten und gespendeten Lebensmittel auf jährlich rund 265.000 Tonnen, die an etwa zwei Millionen Menschen weitergegeben werden. Diese Zahlen haben sich jedoch in der jüngsten Zeit dramatisch auseinanderentwickelt. Nebenbei bemerkt: Hauptursache dieser Lebensmittelverschwendung ist im Gegensatz zur herrschenden Meinung nicht das Verhalten der Verbraucher:innen, sondern sind Auflagen des Handels, zumeist ökologisch völlig unsinnige Normen.

Engpässe

Die Tafeln schlagen Alarm, denn das Versorgungsangebot ist deutlich geschrumpft. Bisher kamen die Spenden zum allergrößten Teil von den großen Lebensmittelketten, die sie mit Produkten versorgten, deren Verfallsdatum kurz vor dem Ablauf stand, aus Lagerbeständen, Überproduktionen oder Sortimentsumstellungen stammen oder aus anderen Gründen sich nicht verkaufen ließen. Nun haben die Lebensmittelhändler:innen ihre Mengen im Sortiment einer knapperen Kalkulation unterworfen, so dass sie den Tafeln weniger Ware übereignen.

Binnen anderthalb Jahren hat sich die Länge der Menschenschlangen, die bei der Essensausgabe anstehen, verdreifacht. Es sind nicht nur Arbeitslose oder Zugewanderte, die sich dort einfinden. Die Arbeitslosigkeit, Hauptgrund für Bedürftigkeit wie etwa Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts, ist in den letzten Jahren nur unwesentlich gestiegen. War es bis vor kurzem noch schambehaftet, sich in die Kette der Wartenden einzureihen, treibt jetzt die Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die für die Bevölkerungsmehrheit weit über der offiziellen Inflationsrate liegt, die Menschen massenweise zur Tafel.

In der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung steckte schon immer ein Klassenproblem. Armenpflege war bis in die Neuzeit karitative Aufgabe der Kirche. Der Klerus als parasitäre Klasse (und im Kapitalismus: Kaste) erfüllte wenigstens eine soziale Pflicht, indem er für die Mittellosen Almosen- und Krankenpflegedienste organisierte.

Durch das Anwachsen des städtischen Proletariats wuchsen auch die Versorgungsprobleme.

Der bürgerliche Staat entledigte sich erst im 1. Weltkrieg, als diese soziale Unruhen heraufbeschworen, auf seine Weise des Dilemmas. Er stellte zwar Räumlichkeiten und Ausstattung für Verpflegungsstationen, wälzte aber die Arbeit darin auf unbezahlte Kräfte ab, indem an das patriotische Gewissen appelliert wurde, die Nation in der gemeinsamen Kriegsanstrengung zusammenzuhalten.

Diese ehrenamtlichen Tätigkeiten verrichteten parallel zu den medizinischen Pflegediensten in Kriegslazaretten in erster Linie Frauen. In den derzeitigen Tafeln überwiegen ebenfalls weibliche Arbeitskräfte, die nur einen Spesentagessatz – ein Almosen – für ihren physisch und psychisch anstrengenden Einsatz erhalten. Von den 60.000 Helfer:innen wandern jedoch viele ab, so dass neben Material- auch Personalengpässe entstehen.

Tafelverband

Der Tafelverband rühmt sich, mit seinem Mitarbeiter:innenstab „eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland“ zu sein. Der Dachverband ist seit 1995 als gemeinnütziger Verein eingetragen, betreibt Lobbyarbeit und erhält auch „projektgebundene“ Fördermittel aus dem mit der Schirmherrschaft betrauten Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das aber gerade bei der neuesten Bundeshaushaltsvorlage mit empfindlichen Einbußen rechnen muss. In der Summe sind die Tafeln aber auf Spenden von privater Seite angewiesen, die bisher zum großen Teil von Lebensmitteldiscountern stammten. Diese leisteten sich die Abgaben zur Aufpolierung ihres Images als nachhaltige Wirtschaftsunternehmen. Doch sie schränken nun ihr ja auf Freiwilligkeit beruhendes Engagement ein. Die Tafeln stehen also auf wackligem Fundament.

Gegen Mildtätigkeit und Spendenbereitschaft hat sicher niemand etwas einzuwenden. Sie verdecken allerdings nur das eigentliche Problem: die gesellschaftliche Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, die der Kapitalismus niemals garantiert und, wenn überhaupt, nur durch Unterdrückung und Ausbeutung imperialisierter Länder und deren proletarischer und kleinbäuerlicher Klassen gewähren kann.

Eine „sozial-ökologische Bewegung“, die der Tafelverband vorgibt zu sein, müsste sich also auch mit den Arbeitsverhältnissen und Umweltbedingungen beschäftigen, unter denen Nahrungsmittel hergestellt und vertrieben werden. Außerdem müsste auch die heimische Lebensmittelindustrie ins Visier genommen werden.

Die vier Branchenries:innen des Handels, die den deutschen Markt unter sich aufgeteilt haben, gehören zu den großen Profiteur:innen der Inflation. Ihre aggressive Einkaufspolitik verschafft ihnen bereits bei den Hersteller:innen hohe Zwischenmargen, die sie, ähnlich wie die Energiekonzerne, durch die Aufschläge in der Preisansetzung im Verkauf realisieren und in keiner Weise an die Endverbraucher:innen weitergeben.

Preiskontrollen in der Lebensmittelindustrie wären also an der Tagesordnung. Vertrauen darauf, solche durchzuführen, kann natürlich einer bürgerlichen-karitativen Institution wie der „Tafelbewegung“ nicht entgegengebracht werden. Das ist vordringliche Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung.

Derartige Einrichtungen wie die Tafel bestehen auch in anderen Industrieländern. In Frankreich existiert ein Zwangsabgabegesetz, das Lebensmittelfirmen mit mehr als 400 Quadratmeter Verkaufsfläche dazu anhält, eine bestimmte Menge ihres Sortiments an Sozialstätten abzutreten. Ein solches Gesetz kann nützlich sein, muss aber in ein allgemeineres Preisüberwachungssystem einbezogen und einer strengen Kontrolle unterworfen werden.

Hier könnten demokratisch gewählte Ausschüsse als geeignetes Instrument dienen. In ihnen müssten nicht nur Aktist:innen aus der Arbeiter:innenbewegung tätig sein. Sie könnten auch nicht-berufstätige proletarische Frauen, Migrant:innen und Verbraucher:innen und vor allem Verbindungen zu den Beschäftigten in der Lebensmittelbranche aufnehmen, damit die Arbeiter:innenkontrolle mittels Einsichtnahme in Geschäftsunterlagen der Lebensmittelkonzerne Substanz gewinnen könnte.

Um ihren politischen Wirkungsgrad zu erhöhen, sollten Verbindungen zu Mieter:innenvereinigungen und zum Energiesektor aufgebaut werden, also vornehmlich zu Bereichen, die besonders unter Inflation und Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse zu leiden haben, Diese Ausschüsse gälte es zu zentralisieren. Außerdem könnten internationale Verbindungen z. B. nach Frankreich, hergestellt, deren Erfahrungen mit dem Zwangsabgabegesetz ausgewertet und unter Umständen gemeinsame Kampforgane aufgebaut werden.




Pakistan: Todesfälle an den Zentren zur Armenspeisung

Revolutionary Socialist Movement Pakistan, Infomail 1219, 3. April 2023

In der letzten Woche sind 12 Menschen, drei Kinder und neun Frauen, gestorben, als sie in einem Wohltätigkeitszentrum für den Fastenmonat Ramadan in Karatschi für Mehl anstanden. Hunderte von Frauen und Kindern hatten sich vor dem Zentrum versammelt, das von einer Textilfärberei eingerichtet worden war, in der Hoffnung, wenigstens einen Sack Mehl zu bekommen, während die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen. Als die Menschenmenge immer größer wurde, ging die Polizei mit Schlagstöcken gegen sie vor.

Ähnliche Szenen spielten sich im Quaid-e-Azam-Stadion (Mirpur-Cricketstadion in Azad Kaschmir) ab, wo 45 Frauen verletzt wurden und eine alte Frau bei einer Massenpanik nach einem weiteren Schlagstockeinsatz der Polizei und Schlägen zu Tode kam. Die vom Fasten bereits dehydrierte und geschwächte Menge hatte mehrere Stunden in der prallen Sonne ausgeharrt, nachdem die für die Identifizierung der Empfänger :innen verwendete Handy-App ausgefallen war.

Aus vielen anderen Städten des Landes wurden Tote und Verletzte gemeldet, was die Nahrungsmittelkrise, mit der Millionen Menschen konfrontiert sind, verdeutlicht.

Lebensmittelknappheit

Weizen ist das Grundnahrungsmittel in Pakistan. Der Premierminister kündigte ein Ramadan-Paket an, das den von der Inflation betroffenen Armen kostenloses Mehl zur Verfügung stellt. Die Regierung von Punjab stellte 64 Milliarden Rupien bereit, um 15,8 Millionen Haushalte, die von Armut betroffen sind, mit je drei 10-kg-Säcken zu versorgen. Die Regierung von Khyber Pakhtunkhwa kündigte die gleiche Regelung für 5,8 Millionen Haushalte an, die im Benazir Income Support Programme (Einkommensunterstützungsprogramm BISP) registriert sind, und stellte 19,7 Milliarden Rupien bereit.

Die Regierung von Belutschistan kündigte an, sie werde 0,5 Millionen 20-kg-Säcke verteilen, als ob die Menschen in der ohnehin schon verarmten Provinz weniger Lebensmittel bräuchten als die in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa! In der Zwischenzeit hat die Regierung von Sindh angekündigt, dass sie 7,8 Millionen Familien, die beim BISP registriert sind, 2.000 Rupien zur Verfügung stellen wird, um Mehl zu kaufen.

Die dreißigjährige Asma Ahmed, deren Großmutter und Nichte unter den Toten in Karatschi waren, sagte gegenüber AFP: „Wir kommen jedes Jahr in die Fabrik, um die Zakat (Abgabe gegen den Hunger) abzugeben. Sie begannen jedoch, die Frauen mit Knüppeln zu schlagen und sie zu schubsen. Überall herrschte Chaos. Warum haben sie uns gerufen, wenn sie nicht damit umgehen können?“

Der Vorfall ereignete sich am Freitag, dem 31. März. Der Freitag ist der „heilige Tag“ im Islam, und normalerweise geben die Menschen an diesem Tag ihre jährlichen Almosen in Form von Zakat an die Armen, weil sie glauben, dass dies an einem Freitag im Ramadan mehr Segen bringt. Schon vor der Pandemie und den Überschwemmungen im Jahr 2022 war es üblich, dass die Armen freitags im Ramadan an die Türen der Wohlhabenden klopften oder zu karitativen Einrichtungen strömten, um Almosen zu sammeln.

Verschärfung der Lage

Jetzt hat sich das Elend für die arme, arbeitende Bevölkerung für Tausende von Menschen verdoppelt und verdreifacht, die während der Covidpandemie und den verheerenden Überschwemmungen im Jahr 2022 entlassen wurden. Die durch den Klimawandel verursachten Überschwemmungen haben einen Großteil der Ernte vernichtet, aber das ist nur einer der Gründe für die exorbitant hohen Lebensmittelpreise. Hinzu kommen die Auswirkungen der Mehrwertsteuer, die auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhöht wurde.

Der IWF vergibt Kredite an Pakistan nur unter ganz bestimmten Bedingungen, von denen die meisten direkt die Armen treffen, wie z. B. die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Kürzung der Subventionen für Strom, Gas und Benzin, die Privatisierung der Industrie und die Einführung eines marktgerechten Wechselkurses für die Rupie gegenüber dem US-Dollar.

Letztes Jahr lag die Inflation im März bei 12,72 Prozent. In diesem Jahr hat  sie bereits 35,37 Prozent erreicht. Dies ist die höchste Inflationsrate, die das Land in den letzten sechs Jahrzehnten verzeichnet hat. Bei verderblichen Lebensmitteln beträgt die Inflation im Jahresvergleich 51,81 Prozent, bei nicht verderblichen Waren liegt sie bei 46,44 Prozent.

Im Bericht des Finanzministeriums heißt es eindeutig: „Es wird erwartet, dass die Inflation auf einem hohen Niveau bleibt, was auf die Marktspannungen zurückzuführen ist, die durch die relative Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage bei wichtigen Gütern, die Abwertung des Wechselkurses und die jüngste Anpassung der administrierten Preise für Benzin und Diesel nach oben verursacht werden. Aufgrund der verlängerten Auswirkungen der Überschwemmungen sind die Produktionsverluste, insbesondere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Kulturen, noch nicht vollständig aufgeholt worden. Infolgedessen ist ein Mangel an lebenswichtigen Gütern entstanden und hält an. Die Inflation könnte durch den Zweitrundeneffekt weiter ansteigen.“

Außerdem geht der Bericht davon aus, dass die Weizenproduktion durch verspätete Regenfälle und anschließende Hitzewellen im April und Mai beeinträchtigt werden könnte. Alles in allem macht die Übersicht des Ministeriums überdeutlich, dass Armut, Elend und Hunger in den kommenden Wochen und Monaten weiter bestehen und sich sogar noch verschärfen werden.

Was tun?

In dieser Situation zeigen Philanthropie und Wohltätigkeit ihr wahres Gesicht: Staatliche und nichtstaatliche Akteur:innen kombinieren ein Minimum an Hilfslieferungen mit einem Maximum an Fototerminen. Sie versammeln große Menschenmengen, damit sie ihren Spender:innen Fotos von ihnen zeigen können, um mehr Geld in ihre eigenen Taschen zu bekommen.

Selbst wenn all dieses Geld den Armen zugutekäme, wäre es immer noch unzureichend. Solche einmaligen kostenlosen Mehllieferungen, die ohnehin mit dem Risiko von Schlägen und Todesfällen verbunden sind, werden nicht ewig reichen. Was sollen die Menschen unterhalb der Armutsgrenze essen, wenn die 30 Kilo Mehl aufgebraucht sind?

Die Misswirtschaft in den Verteilungszentren hat gezeigt, dass die herrschenden Klassen gleichgültig und unfähig sind, die Krise zu bewältigen. Wir rufen die Arbeiter:innen auf, Lebensmittelausschüsse zu bilden, um den Verteilungsprozess zu kontrollieren. Die Unfähigkeit der herrschenden Klassen, die anhaltend dramatischen Zustände zu meistern, zeigt sowohl die realen Gefahren als auch die Aussichten auf eine wirkliche soziale Umgestaltung. Rosa Luxemburgs Vorhersage „Sozialismus oder Barbarei“ ist heute zutreffender als je zuvor. Die herrschenden Klassen in Pakistan bewegen sich in eine Richtung, in der sie nicht mehr in der Lage sein werden, so zu regieren, wie sie es bisher getan haben. Es ist höchste Zeit, den subjektiven Faktor vorzubereiten, um diese objektiven Bedingungen zu ergänzen.

Dies ist umso wichtiger, als sich sonst reaktionäre Kräfte wie die Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaftspartei) wieder durchsetzen werden. Wenn die Geschichte uns etwas gezeigt hat, dann, dass solche Parteien die Feind:innen der Arbeiter:innenschaft, der Frauen und der Minderheiten sind. Deshalb müssen sich die Arbeiter:innen, die Armen auf dem Land und in der Stadt, die Bauern und Bäuerinnen sowie die unterdrückten Teile der Gesellschaft jetzt zusammenschließen, um gemeinsam gegen die derzeitige Wirtschaftskrise zu kämpfen. Unsere Frauen haben etwas Besseres verdient! Wir verdienen es nicht, für eine Handvoll Mehl zu sterben!

Wir rufen alle linken Parteien und Organisationen sowie die Gewerkschaften und Frauenorganisationen auf, sich für eine entschlossene Strategie gegen die Wirtschaftskrise zusammenzuschließen. Keine NGO oder Wohltätigkeitsorganisation wird diese Krise lösen. Nur eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innenklasse mit einem echten Aktionsprogramm, das die Kämpfe für freie Lebensmittel und gegen Inflation und IWF mit dem Kampf für eine Revolution der Arbeiter:innenklasse in Pakistan verbindet, kann dies tun!

Vorwärts zu einer sozialistischen Revolution in Pakistan und ganz Südasien!




Bürgergeld als Bürgerschreck?

Jürgen Roth, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Als bedeutendste Sozialreform der letzten 20 Jahre war es angekündigt worden, das „neue“ Bürgergeld. Wir hatten bereits in Neue Internationale 268 erläutert, warum dieses hochtrabend formulierte Etikett auf einer Mogelpackung, die Hartz IV fast aufs Haar gleicht, nichts zu suchen hat.

Das parlamentarische Gerangel um das Reförmchen, das diese Bezeichnung kaum verdient, hat in einem Kompromiss gemündet, der fernab von einem Abschied von Hartz IV selbst die wenigen Brosamen an Verbesserungen, die das neue Gesetz mit sich bringt, fast vollständig getilgt hat.

Die Debatten in Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss werfen aber auch in ihrer unangemessenen Hitze ein Schlaglicht auf die Argumente von Gegner:innen wie Anhänger:innen des Entwurfs der Ampelkoalition.

Minimal ist schon zu viel

Dieser Untertitel beschreibt recht gut die Haltung von CDU/CSU und AfD. Ihre Redner in der 1. Bundestagsdebatte am 10. November überboten sich mit Vokabeln. „Anstrengung, Leistungs- und Risikobereitschaft“ würden durch eine vermeintlich vom Bürgergeld geförderte „Arbeitsverweigerung“ unterhöhlt. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter (ein passender Nachname) verstieg sich sogar dazu zu behaupten, „man müsse unsere Arbeitslosen vor dieser Regierung schützen“. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei, richtete das rhetorische Feuer auch gegen die Ampelkoalitionär:innen: „Sie haben mit ihrer Bräsigkeit erst Friedrich Merz ermöglicht“. Er verwies auch auf den Zusammenhang des ALG II mit dem Niedriglohnsektor: „Wir haben ein millionenfaches Lohnproblem.“

Tags zuvor war seine Stellvertreterin Susanne Ferschl konkreter geworden. Es handele sich beim Gesetzentwurf nicht um eine Abkehr von Hartz IV oder gar der „Arbeitsgesellschaft“. Gut sei, dass Ausbildung und Qualifizierung Vorrang vor prekären Bullshit-Jobs bekämen. Der Koalitionsentwurf sieht vor, bei Absolvieren einer Weiterbildung 150 Euro auf die Grundsicherung draufzulegen, bei unterstützenden Maßnahmen, die zur langfristigen Rückkehr in den Job führen, 75 Euro. Die Freibeträge bei Zuverdienst sollen steigen. Ein Berufsabschluss soll in 2 statt 3 Jahren nachgeholt werden können.

Schließlich sei jede/r 4. Empfänger:in von Grundsicherungsleistungen erwerbstätig (Aufstocker:innen). Notwendig seien eine „armutsfeste“ Grundsicherung im Fall der Bedürftigkeit sowie gute, tarifgebundene Arbeit in der Fläche. Lassen wir mal beiseite, dass die von ihr geforderten 200 Euro Erhöhung nur „armutsfest“ in dem Sinne sind, dass sie nicht davor schonen, sondern Armut festschreiben, und tarifgebundene Beschäftigung angesichts der Zaghaftigkeit und Zahnlosigkeit „unserer“ Gewerkschaften noch lange nicht mit guter Entlohnung identisch ist, so hat sich Ferschl von allen Redner:innen am deutlichsten links positioniert.

Holpriger Weg zum Kompromiss

Union und AfD stimmten im Bundestag gegen den Gesetzentwurf, DIE LINKE enthielt sich. Damit nahm die 1. Parlamentskammer die Regierungsvorlage mit den Stimmen der Koalition an. Sie sah eine Erhöhung des Regelsatzes von 449  auf 502 Euro vor, ferner Lockerungen bei Sanktionen in Gestalt von Leistungsentzug, stärkere Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen, verbesserte Vorgaben zur Höhe des Schonvermögens, das nicht auf die Bezüge angerechnet wird, und Wohnungsgröße.

Viele Sozialverbände und auch Gewerkschaften, die zuvor noch den Ampelentwurf kritisiert hatten, begrüßten jetzt das Abstimmungsergebnis. Dieser „Sinneswandel“ erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Union angekündigt hatte, im am 14. November tagenden Bundesrat, der 2. Parlamentskammer, das Gesetz scheitern zu lassen. Getreu der sozialdemokratischen Politik des „kleineren Übels“ reagierten also unter diesem Druck die SPD-Parteigänger:innen in ihren Vorfeldorganisationen. Nur neigt diese Logik die Wippe des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Lohnabhängigen, führt auf dieser schiefen Ebene schnell zum nächstgrößeren Übel.

Im Bundesrat fiel das Gesetz denn auch prompt durch. Dabei agierten auch einige SPD-geführte Landesregierungen (Brandenburg) im Sinne des nächstgrößeren Übels und enthielten sich der Zustimmung zum Gesetzesantrag der von der eigenen Partei im Bund geführten Koalition.

Folglich ging die Vorlage in den Vermittlungsausschuss am 23. November. Tags zuvor hatten sich rot-grün-gelbe Koalition und oppositionelle Union auf einen Kompromiss geeinigt. Er beinhaltete den Verzicht auf die geplante sechsmonatige Vertrauenszeit. In den ersten 6 Monaten des Bürgergeldbezugs können nun Jobcenter Leistungen bei Nichtkooperation kürzen. Die geringfügigen Sanktionslockerungen, die die Bundesregierung vorsah, umfassten aber sowieso erstens nur das, was das Bundesverfassungsgericht bereits 2019 moniert hatte, und zweitens blieben damit die häufigsten Verstöße gegen die Zusammenarbeitsvorschriften mit der Agentur für Arbeit, solche gegen Meldepflichten (80 %), von Sanktionsbefreiung ausgenommen. Im Vergleich zur aktuellen Situation läuft der Deal sogar auf eine Verschlechterung hinaus, denn als Übergang zur Einführung des Bürgergeldes gilt gerade ein Sanktionsmoratorium.

Außerdem sah der vor der Tagung des Vermittlungsausschusses ausgekungelte Kompromiss eine Senkung der Schonvermögenshöhe vor. Für den Haushaltsvorstand gelten jetzt 40.000 statt 60.000 Euro, für jede weitere Person 15.000 statt 30.000. Lediglich eine private Altersvorsorgeversicherung wird von der Anrechnung auf die Sozialleistung ausgenommen und geschützt. Die Karenzzeit, bis es anrechnungsfrei bleibt, sinkt von zwei Jahren auf eines. Ebenfalls nach einem Jahr statt zweien greift jetzt der Zwangsumzug in eine kleinere Wohnung.

Die Erhöhung des Regelsatzes war auch bei der Union nicht umstritten, wohl weil es sich gar nicht um eine Erhöhung, sondern verspätete und unzureichende Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten handelt.

Vermittlungsausschuss gibt grünes Licht

Nicht überraschend wurde oben geschilderter Deal denn auch in der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 23. November abgesegnet. Bundesarbeits- und -sozialminister Heil (SPD) dankte CDU und CSU für ihre Zustimmung. Mit der Einigung sei eine gesellschaftliche Polarisierung entgiftet. Die SPD lobte das Bürgergeld als einen „Systemwechsel“, die Union dafür, gerade diesen verhindert zu haben. So viel zur Einigkeit.

Doch wie war es um die Standhaftigkeit der 2. deutschen Sozialdemokratie alias DIE LINKE bestellt? Gesine Lötzsch gestand freimütig, im Vermittlungsausschuss für ihre Fraktion gegen den Kompromiss gestimmt zu haben. Im Bundestag hatte die Fraktion sich beim Regierungsentwurf enthalten. Besser wäre auch hier ein Nein gewesen auch auf die Gefahr hin, mit AfD und Christenfraktionsgemeinschaft in einen Topf geworfen zu werden.

Parlamentarischer Schlussakkord

Doch nun musste dieser Mehrheitsbeschluss des Vermittlungsausschusses noch durch beide Kammern abgesegnet werden. Der Bundestag stimmte mit 557 Stimmen dafür (98 dagegen, 2 Enthaltungen). AfD und DIE LINKE votierten geschlossen dagegen. Und im Bundesrat? Thüringen stimmte für den Kompromiss. Jedenfalls treten somit die erhöhten Regelsätze ab Beginn nächsten Jahres in Kraft. Die weiteren Neuerungen greifen ab Juli 2023.

Oberjanuskopf Katja Kipping, Berlins Nochsozialsenatorin, argumentierte so für die Richtigkeit diese unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens: „Zu den von der Union erzwungenen sozialen Verschlechterungen haben wir als Linke ganz klar Nein gesagt, im Bundestag“, um gleich nachzuschieben, bei der Abstimmung im Bundesrat gehe es dagegen um die Regelsatzerhöhung und einige Verbesserungen. Wüsste man es nicht besser und glaubte Gen. Kipping, könnte man meinen, es handele sich um 2 entgegengesetzte Abstimmungsthemen.

Die organisierte Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, sich nicht auf die parlamentarischen Winkelzüge beider bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verlassen, sondern ihrer Kraft in Betrieben und auf der Straße zu vertrauen. In diesem Zuge ist es gut, DIE LINKE daran zu erinnern, wie eilig sie 2004 auf den Zug der Proteste und Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 aufgesprungen ist. Heute verleiht sie Hartz IV Flankendeckung von links, mit welchen rhetorischen Kniffen auch immer sie dies zu tarnen versucht.




Haiti: Nein zur UN-US- oder französischen Militärintervention!

Dave Stockton, Infomail 1203, 26. Oktober 2022

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen berät über einen Aufruf seines Generalsekretärs António Guterres zu „bewaffneten Maßnahmen“, um den wichtigsten Hafen Haitis freizugeben und einen humanitären Korridor zu schaffen, um die, wie er es nennt, „absolut albtraumhafte Situation“ zu lösen. Aus Kreisen der Biden-Administration verlautet, der Präsident erwäge die Option, Truppen von den engsten Verbündeten der USA in Lateinamerika einzusetzen, vor allem wegen der massiven Ablehnung früherer nordamerikanischer „Stiefel auf haitianischem Boden“ durch die Einwohner:innen.

Im Jahr 2010 gab es einen Einsatz von US-Marineinfanterieeinheiten, der angeblich die Lieferung von Hilfsgütern nach dem schrecklichen Erdbeben erleichtern sollte. In der Praxis bestand ihre Haupttätigkeit darin, Plünderungen zu verhindern, bei denen es sich in vielen Fällen einfach um hungrige Menschen handelte, die versuchten, Lebensmittel zu bekommen. Die US-Truppen entfremdeten die haitianische Bevölkerung, die sie der sexuellen Belästigung und rassistischen Verhaltensweisen beschuldigte. Es ist klar, dass die Menschen in Haiti keine weitere bewaffnete Scheinintervention aus humanitären Gründen wünschen oder unterstützen.

Lage im Land

Sicherlich ist die wirtschaftliche Lage im Lande erschreckend. Jean-Martin Bauer vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) äußert, dass fast die Hälfte der Bevölkerung, 4,7 Millionen Menschen, von akutem Hunger betroffen ist. Darüber hinaus ist das Land mit einem Ausbruch der Cholera konfrontiert, der auf den Mangel an sauberem Trinkwasser zurückzuführen ist. Beim letzten Ausbruch vor etwa zehn Jahren, nach dem Erdbeben, starben 10.000 Menschen. Bauer sagt:

„Wir haben auch 19.000 Menschen, die im Stadtteil Cité Soleil in Port-au-Prince leben, die mit dem konfrontiert sind, was wir eine Nahrungsmittelkatastrophe nennen würden. Jüngste Daten deuten darauf hin, dass eines von fünf Kindern in diesem Viertel von akuter Unterernährung betroffen ist.“ 75 Prozent der jungen Menschen des Landes sind arbeitslos.

Haitis Staatsfinanzen sind seit langem bankrott, und zwar aus verschiedenen Gründen, die von der grassierenden Korruption bis zu den winzigen Steuereinnahmen reichen, die nur 5,6 Prozent des BIP betragen. (Frankreichs Quote liegt bei 45,4 Prozent.)

Banden

Auch die Frage der Banden ist alles andere als unbedeutend. Bewaffnete Banden kontrollieren die Hälfte der Hauptstadt und haben seit letztem Monat das wichtigste Treibstoffterminal in der Hauptstadt Port-au-Prince blockiert und den Zugang zu den Versorgungswegen im ganzen Land unterbrochen. Es liegt auf der Hand, dass Haiti Lebensmittel, Treibstoff und sauberes Wasser braucht. Natürlich braucht das Land „Recht und Ordnung“, um Lebensmittel und medizinische Teams sicher in die derzeit abgeschnittenen Gebiete zu bringen. Aber dies muss von der Masse der Menschen selbst, an der Basis, geschaffen werden.

Echte Ordnung und Frieden werden nicht durch ausländische Truppen geschaffen, die bei ihren zahlreichen früheren Interventionen die Lage nur noch verschlimmert haben, nicht zuletzt, weil die Bereitstellung humanitärer Hilfe nie ihr Hauptanliegen bildete.

Außerdem sind die Banden eine Folge und nicht die Ursache der schrecklichen Probleme des Landes. Diese rühren von der zersplitterten politischen Elite des Landes her, die jegliche demokratische und soziale Lösung für Haitis Armut blockiert und die Banden bewaffnet und finanziert hat. Doch hinter dieser korrupten haitianischen Elite steht der westliche Imperialismus, insbesondere die USA, aber auch Frankreich, Kanada, Spanien und andere, die die natürlichen Ressourcen des Landes gestohlen haben, anstatt das Land zu entwickeln.

Die westlichen Medien konzentrieren sich vor allem auf das Problem der Banden, aber in den letzten Monaten und auch schon mehrmals in den vergangenen Jahrzehnten hat das Land große Wellen von Straßenprotesten erlebt, denen sie viel weniger Aufmerksamkeit schenkten. Die letzten fanden im vergangenen Jahr und in den letzten Monaten statt, um gegen die steigenden Kraftstoff- und Lebensmittelpreise zu protestieren und den Rücktritt von Interimspremierminister Ariel Henry zu fordern, der kein demokratisches Mandat besitzt.

Er wurde nach der „mysteriösen“ Ermordung von Präsident Jovenel Moise im Juli 2021 durch professionelle Auftragskiller:innen, die, wie viele Haitianer vermuten, von Personen aus den USA und Kolumbien organisiert wurden, faktisch von der US-Administration eingesetzt. Moise gehörte einer rechtsgerichteten neoliberalen Partei an und stellte 2017 die Armee wieder auf, die 1995 nach einer Reihe von blutigen Militärputschen aufgelöst worden war.

Die neue Truppe verfügte nur über etwa 500 Soldat:innen und war den Banden, deren Zahl heute auf 20.000 bis 30.000 geschätzt wird, zahlenmäßig weit unterlegen. Die haitianische Polizei, die etwa 15.000 Kräfte zählt, ist nur mangelhaft ausgerüstet. Daher verbündete sich Moise mit einigen der Banden, um die Straßenproteste der Opposition gegen seine Sparmaßnahmen zu unterdrücken.

Eine der größten Banden ist die G9, deren vollständiger Name „G9 Familie und Verbündete“ lautet und die von einem ehemaligen Polizisten, Jimmy Chérizier (Babekyou), angeführt wird. Wie der Name schon sagt, handelt es sich um einen Zusammenschluss von neun in der Hauptstadt ansässigen Banden, deren Kräfte das größte Tanklager des Landes blockiert und 50 Millionen US-Dollar für die Verteilung von Erdölprodukten gefordert haben, was zu großen Engpässen in ganz Haiti führte. Chérizier ist ein erbitterter Gegner von Henry und besteht darauf, dass seine Bande in Wirklichkeit eine politische Bewegung ist. Er gibt Interviews vor einem Poster von Che Guevara.

Geschichte

Haiti blickt auf eine lange Geschichte von US-Militärinterventionen und -besetzungen zurück, die bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichen; die erste dauerte 30 Jahre. Die USA unterstützten die berüchtigte Duvalier-Dynastie, „Papa Doc“ und „Baby Doc“, zwischen 1957 und 1985. Dann unterstützte die CIA 1991 einen Militärputsch, durch den der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes, Jean-Bertrand Aristide, gestürzt wurde. Als die Militärjunta 1994 mit einem Volksaufstand konfrontiert wurde, besetzten 20.000 von den USA gesponserte „friedenserhaltende“ Truppen Haiti. Ihr Ziel war nicht, wie sie behaupteten, die Wiederherstellung der Demokratie, sondern die Verhinderung der Machtergreifung durch Aristide-freundliche Kräfte.

Aristides linkspopulistische Partei Fanmi Lavalas (Wasserfallfamilie; in Bezug auf die biblische Sintflut) gewann die Wahlen 2001 erneut mit einem ehrgeizigen Programm sozialer Reformen, die in vielerlei Hinsicht denen von Hugo Chávez in Venezuela ähnelten. Doch als er versuchte, diese umzusetzen, wurde er von der einheimischen Elite und der US-Regierung sabotiert, die einen Bürger:innenkrieg auslösten und Aristides Entführung und Absetzung im Jahr 2004 verursachten.

Ein nicht unwesentliches Motiv für diese Putsche war die Entschlossenheit der USA, radikale „Experimente“ wie in Kuba oder Venezuela zu verhindern und auch die Kontrolle über Haitis Naturreichtum zu erlangen. Das Land verfügt über große, noch nicht erschlossene Öl- und Kupferreserven sowie über Uranvorkommen und die zweitgrößten Iridiumvorräte der Welt.

Forderungen und Perspektive

Angesichts einer weiteren geplanten Intervention durch US- oder UN-Kräfte sollten Sozialist:innen und Internationalist:innen in den USA und Europa fordern:

  • Keine militärischen Operationen auf der Insel durch externe Kräfte!

  • Eine internationale Hilfsaktion – zur Bereitstellung von Lebensmitteln, Treibstoff und medizinischer Versorgung, aber ohne Bedingungen und unter Kontrolle der Haitianer:innen selbst!

Sozialist:innen weltweit sollten den Kampf des Proletariats des Landes – einschließlich der riesigen Zahl der städtischen Armen – gegen die korrupte Elite und den US-Imperialismus unterstützen.

Inselbewohner:innen, die in gewaltiger Zahl gegen aufeinander folgende korrupte und repressive Regierungen demonstriert haben, müssen ihre eigene Basisdemokratie in Gestalt von Delegiertenräten aus den Betrieben, den Elendsquartieren und auf dem Lande schaffen. Diese sollten die Verteilung von Notversorgungsgütern an die Bedürftigsten überwachen und organisieren. Solche Räte müssen Milizen formieren zum Schutz und zur Wiederherstellung von Ordnung für die Bevölkerung.

Darauf aufbauend könnte eine Arbeiter:innen und Bäuerinnenregierung errichtet werden, die Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung abhalten, die lokale Oligarchie stürzen und das Land dem Würgegriff des Imperialismus entwinden könnte.




Bürgergeld und neuer Mindestlohn: Reform oder Fassadenanstrich?

Jürgen Roth, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die Einführung des Bürgergelds am 1. Januar 2023 rückt näher. Mittlerweile ist bekannt, wie hoch die Regelsätze ausfallen sollen. Gleichzeitig wird über die Frage der Sanktionen weiter debattiert.

Was ist der Unterschied?

Das Bürgergeld wird etwas höher ausfallen als die bisherige Grundsicherung, im Volksmund Hartz IV genannt. Schon ein Blick auf die geplanten Veränderungen und Regelsätze verdeutlicht den betrügerischen Charakter der Umbenennung.

Im Prinzip wird im 1. Schritt genauso gerechnet wie bei Hartz IV. Die Regelsätze werden mit Hilfe eines Mischindexes fortgeschrieben, der zu 30 % die Lohn- und zu 70 % die Preisentwicklung abbilden soll. Grundlage sind dabei die Daten aus dem 2. Quartal des Vorvor- und dem 1. des Vorjahres. Nach diesem Mechanismus erhöht sich der Regelsatz für alleinstehende Erwachsene (Haushaltsvorstände) von 449 auf 469 Euro.

Im 2. Schritt soll auch die zu erwartende künftige Inflation miteinbezogen werden. So kommt der neue Regelsatz für o. a. Personengruppe von 502 Euro zustande, was einer Erhöhung um 53 Euro oder 11,8 % entspricht.

Wenn wir uns vor Augen halten, dass der Hartz-IV-Regelsatz 2022 gegenüber 2021 um statt 3 Euro (!) von 446 auf 449 Euro angehoben wurde und die reale Preissteigerung die untersten Einkommensgruppen überdurchschnittlich trifft, so kommt die ganze Reform einer weiteren Verarmung gleich.

Regelsätze und weitere Änderungen

Wie bei der Grundsicherung gibt es außer für alleinstehende Erwachsene bzw. Haushaltsvorstände unterschiedliche Regelsätze für verschiedene Personengruppen. Das Bürgergeld soll betragen für volljährige Partner:innen 451 Euro, Kinder zwischen 14 und 17 Jahren 420 Euro, 7- bis 13-Jährige 348 Euro, bis zu 5-Jährige 318 Euro. Das Kindergeld, das allen Eltern zusteht, die diese Leistungen nicht beziehen, wird aber laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.03.2010 (Az. 1 BvR 3163/09) auf Grundsicherung und Bürgergeld angerechnet und der Regelsatz entsprechend gekürzt.

Im Vergleich zur sofortigen Vermittlung in Arbeit soll ab 2023 Weiterbildung eine größere Rolle spielen. In den ersten beiden Jahren des Bezugs soll wie schon während der Coronakrise generell die Wohnung als angemessen betrachtet werden. Ferner werden die Regeln für das Schonvermögen (Ersparnisse, die nicht zuerst aufgebraucht werden müssen, bevor man Grundsicherung bzw. Bürgergeld bezieht) „besonders großzügig“ ausgelegt.

Wenn real wenig bis nichts rumkommt für die Bezieher:innen des neuen Bürgergelds, so sollen die Bezieher:innen wenigstens moralisch etwas aufgebaut werden. Die Jobcenter-Mitarbeiter:innen  sollen gegenüber den Arbeitslosen zu einem „Umgang auf Augenhöhe“ angehalten werden. Das kostet nichts – und ändert auch nichts daran, dass es weiter ein, wenn auch gelockertes Sanktionsregime geben wird.

Sanktionen

Grundsätzlich bleibt es nämlich bei den bisherigen „Mitwirkungspflichten“. Geplant ist allerdings eine 6-monatige Vertrauenszeit, in der es keine Leistungsminderung geben wird. Bei hartnäckigen Terminversäumnissen könne es aber auch in dieser Frist Ausnahmen geben, so der federführende Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD).

Der Verein Sanktionsfrei erklärt dazu, Kürzungen der Grundsicherung bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter hätten lediglich einschüchternden Effekt, verfehlten aber sonst jede Wirkung (Erleichterung der Arbeitsvermittlung).

Dieses Urteil stützt sich auf eine von dieser Initiative in Auftrag gegebene Studie des Instituts für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (Ines). Sie ergab, dass der Kontakt mit den Jobcentern im Allgemeinen von den befragten Betroffenen größtenteils als hinderlich statt unterstützend empfunden wird. So weit zur „Augenhöhe“.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, nennt das Hartz-IV-Sanktionssystem denn auch Missbrauch, der überwunden gehöre. Schließlich gehe es nur um 3 bis 4 % der Hartz-IV-Bezieher:innen, die aufgrund von Terminversäumnissen oder Ähnlichem tatsächlich sanktioniert werden. Für die anderen 97 % stelle es eine reine Drohkulisse dar. Für eine Anhebung des Regelsatzes auf 700 Euro brauche es nur 10 Mrd. Euro.

Auch Marcel Fratzsch, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), monierte am geplanten Bürgergeld die zu geringe Anhebung des Regelsatzes um 11,8 %. Menschen mit geringem Einkommen spürten die Inflation dreimal heftiger als Gutverdienende. Zu Recht spielt er damit darauf an, dass diese beim Grundbedarf (Lebensmittel, Energie) höher als die amtliche ausfällt und dessen Anteil am Haushaltseinkommen bei Grundsicherungsleistungsbezieher:innen ebenso.

Und die FDP?

Doch von der Ampel ist hier nichts zu erwarten. Während die SPD Sozialschaum schlägt, verteidigt die Freie Deutsche Porschefahrer:innenpartei die „Errungenschaft“ von Rot-Grün. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gab zum Besten, der „Leistungsgedanke“ und das „Prinzip Fördern und Fordern inklusive Sanktionsmechanismen“ dürften nicht untergraben werden, lobte aber auch den Inflationsanpassungsmechanismus. Schließlich hinkt dieser weit hinter der Realität von Grundsicherungshaushalten hinterher, dürfte aber mit dem Hintergedanken konzipiert worden sein, eine erneute Radikalisierung wie in den Jahren nach dem November 2003 (Riesendemonstration gegen die Agenda 2010) zu verhindern. Die ganze Ampel steht also auf Grün fürs Bürgergeld.

Mindestlohn, Minijobobergrenze und Übergangsbereich

Am 23. Februar wurde beschlossen, dass der gesetzliche Mindestlohn in 3 Schritten erhöht wird: ab 1.1.2022 auf 9,82 Euro, ab 1.7.2022 auf 10,45 Euro, ab 1.10.2022 auf 12 Euro. Zukünftig wird er weiterhin auf der Grundlage von Beschlüssen der Mindestlohnkommission angepasst, erstmals wieder bis zum 30.6.2023 mit Wirkung zum 1.1.2024.

Ab 1.10.2022 wird zudem die Minijobobergrenze (nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung) auf 520 Euro (von 450 Euro) erhöht, so dass die monatliche Höchstarbeitszeit für Minijobber:innen ab 1.1.2022 bei rund 45 Stunden (450 Euro : 9,82 Euro = 45,82), ab 1.7.2022 bei rund 43 Stunden (450 : 10,45 = 43,06) lag und ab 1.10.2022  rund 43 Stunden betragen wird (520 : 12 = 43,33).

Ab 1.10.2022 wird außerdem die Entgeltgrenze für Beschäftigte im Übergangsbereich angehoben. Von 450,01 bis 1.300 Euro steigt sie auf 420,01 bis 1.600 Euro. In dieser Zone steigen die Sozialabgaben nur schrittweise bis zum vollen Satz. Das soll die Anreize erhöhen, über einen Minijob hinaus zu arbeiten (Midijobbereich). Oft wird dieser vergessen. Insgesamt entlasten alle ganz oder teilweise sozialversicherungsfreien Tätigkeiten nur das Kapital, aber nicht die Beschäftigten, denn diese schauen bei Arbeitslosigkeit und Rente eben ganz oder teilweise in die Röhre! Von daher konterkariert ihre Ausweitung die minimalen Verbesserungen beim Mindestlohn.

Europaparlament

Am 15. September stimmte das Straßburger EU-Parlament für einheitliche Entgeltstandards. Die Zustimmung der Mitgliedsstaaten gilt als Formsache. Mindestlöhne gelten demnach als fair, wenn sie 50 Prozent des Bruttodurchschnittsarbeitseinkommens entsprechen. Zudem müssen die Länder Aktionspläne zur Steigerung der Tarifbindung ausarbeiten, wenn diese bei unter 80 % liegt. Nach Zustimmung bleiben ihnen 2 Jahre Zeit für die Umsetzung der Richtlinie in nationale Gesetze. Die nordischen Länder, in denen es zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn, aber dafür eine starke Tarifbindung gibt, wittern Einmischung in ihre nationalen Angelegenheiten.

Doch darf die EU gar keine konkreten Lohnhöhen vorschreiben. Die Richtlinie verpflichtet Mitgliedsstaaten nicht einmal, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen! Richtlinie heißt im EU-Jargon also, dass sich niemand danach richten muss.

Kommentare

Die deutschen Gewerkschaften begrüßten den Straßburger Beschluss dennoch als wichtigen Schritt für mehr soziale Gerechtigkeit, Erfolg der Gewerkschaften und Ausgangspunkt für ein solidarisches Miteinander und gegen den sozialen Unterbietungswettbewerb im europäischen Binnenmarkt. So tönte Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. An Lobhudelei nicht nachstehen wollte ihm die Europaabgeordnete der Linkspartei, Özlem Alev Demirel. Anders als die fatale Troikapolitik stärke die Richtlinie den Ausbau von Tarifverträgen, schaffe die Grundlage für angemessene Mindestlöhne oberhalb der Armutsschwelle. Mit Ausnahme von zweien liege dieser in Ländern, in denen ein gesetzlicher Mindestlohn gelte, unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Angesichts der Preissteigerungen bleibe aber selbst die Bundesregierung mit ihrer beschlossenen Anhebung auf 12 Euro auf Armut programmiert. Diese sieht indes keinen Anpassungsbedarf.

Der Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments, Dennis Radtke (CDU) kaufte diesen Schönfärber:innen und Gesundbeter:innen fast noch den Schneid ab. Zwar unterstrich auch er, Arbeit„nehmer:innen“rechte seien gestärkt worden und damit die Sozialpartnerschaft, doch kritisierte er u. a. auch die BRD, dass den gesetzlichen Mindestlohn zu erreichen möglich sei, indem Urlaubs-, Weihnachtsgeld, Schmutz-, Lärmzulagen und sogar Trinkgelder eingerechnet werden können.

Alle vergaßen, auf die Ausnahmen der deutschen Mindestlohnregeln zu verweisen: Pflichtpraktikant:innen, Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Auszubildende, ehrenamtlich tätige Mitarbeiter:innen, Langzeitarbeitslose, Freiberufler:innen und Selbstständige (beide Letzteren fallen oft unter die Kategorien Scheinselbstständige, eine „Erfindung“ der famosen Agenda 2010) erhalten keinen Mindestlohn. Nicht zu vergessen: Beschäftigte in Behindertenwerkstätten (Durchschnittslohn: 1,35 Euro!) und Gefängnissen. Seit dem 1. Januar 2020 gibt es eine eigene Mindestvergütung für Auszubildende.

Forderungen

Statt leeren Gewäschs und Schönrederei braucht es einen Kampf um effektive Verbesserungen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen:

  • Weg mit Bürgergeld und Grundsicherung! Mindesteinkommen von 1.600 Euro!
  • Arbeit oder voller Lohn! Gesetzlicher Mindestlohn von 15 Euro ohne Ausnahmen!
  • Entschädigungslose Verstaatlichung von Firmen, die sich weigern, diesen zu zahlen, unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Verteilung der Arbeit auf alle: 30-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich! Für ein Programm öffentlicher, nützlicher Arbeiten zu Tariflöhnen!
  • Automatische Preisgleitklausel gegen die Inflation: Gleitende Skala der Löhne und Sozialeinkünfte, überwacht von Arbeiter:innenpreiskontrollkomitees!



Altersarmut von Frauen in Deutschland

Helga Müller (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 10, März 2022

Der Armutsbericht 2021 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes macht deutlich, dass die Pandemie die Armutsquote in Deutschland nach oben getrieben hat: Insgesamt 16,1 % oder 13,4 Millionen Menschen waren 2020 von Armut betroffen. Seit 2006 – mit einer Quote von 14 % – ist ein stetiger Aufwärtstrend in Deutschland auszumachen. Und das in einer der reichsten Industrienationen der Welt. Die soziale Ungleichheit vertieft sich auch hier: 10 % der Reichsten in Deutschland verfügen über 67 % des Nettogesamtvermögens. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/armut-in-deutschland-die-soziale-ungerechtigkeit-waechst-100.html). Sozialwissenschaftler:innen sprechen von einer relativen Armut in Deutschland, die nach EU-Standard so definiert ist: Als Arm gelten Menschen, die über weniger als 60 % des mittleren Einkommens verfügen. (nach: https://www.deutschlandfunkkultur.de/armut-in-deutschland-die-soziale-ungerechtigkeit-waechst-100.html)

Nach Meinung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wäre die Armutsquote während der Pandemie noch schneller in die Höhe geschossen, hätte die Große Koalition nicht Maßnahmen wie die Verlängerung und Aufstockung des Kurzarbeitergeldes oder des Arbeitslosengeldes I ergriffen.

Unter Erwerbstätigen – vor allem bei den Selbstständigen – hat die Einkommensarmut auf derzeit 53 % zugenommen. Wie in den letzten Jahren tragen auch 2021 vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Paarhaushalte das höchste Armutsrisiko. Unter den Armen sind besonders Rentner:innen und Pensionär:innen mit 17,6 % überproportional betroffen. Bis zum Jahr 2013 spielte Altersarmut dagegen statistisch gesehen nur eine untergeordnete Rolle.

Wenn man Armut nach Geschlechtern auswertet, dann wird deutlich, dass vor allem unter Frauen (16,9 %) eine höhere als unter Männern (15,3 %) herrscht, besonders bei den Älteren ab 65 Jahren. Dies ist gegenüber 2019 nochmal eine Steigerung um 1 Prozentpunkt. Selbst der Armutsbericht kommt zu dem Ergebnis „Die Altersarmut ist damit überwiegend weiblich.“ (alle Zahlen nach: Armutsbericht 2021)

Die Gründe dafür, dass vor allem Frauen von (Alters-)Armut betroffen sind, sind vielfältig, aber auch Politiker:innen der Ampelkoalition bekannt und haben sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Die Vorhaben im Koalitionspapier werden zur Linderung nicht viel beitragen, sofern sie überhaupt umgesetzt werden. Alle sozialen Maßnahmen stehen ja bekanntlich unter dem Vorbehalt der Wiedereinführung der Schuldenbremse und keinerlei zusätzlichem Einkommen durch Steuererhöhungen – vor allem für die Superreichen und großen Konzerne, die auch während der Pandemie einen guten Schnitt gemacht haben. Hier konnte sich die FDP voll durchsetzen:

  • Alleinerziehende – dies sind nach wir vor vor allem Frauen – stehen oft gar nicht in Lohnarbeit und sind auf Hartz IV angewiesen, dessen Regelsatz zu einem existenzsichernden Leben nicht ausreicht. Wenn sie arbeiten, müssen sie aufgrund der nicht ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten oft genug auf Teilzeitjobs oder gar Mini- oder Midijobs zurückgreifen. Mitte 2020 übten 4,1 Millionen Frauen und 2,9 Millionen Männer einen Minijob aus. (https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Jede-vierte-Frau-arbeitet-im-Niedriglohnsektor-417694.html). Die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld im Koalitionsvertrag, ohne kräftige Erhöhung des Regelsatzes und Abschaffung der Sanktionen ist – wie der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen in seinem Statement zum Armutsbericht sagt – nur eine Mogelpackung. Zu den Mini- oder Midijobs steht im Koalitionspapier lediglich, dass verhindert werden soll, dass reguläre Arbeitsverhältnisse in solche umgewandelt werden. Aber wie das konkret geschehen soll, bleibt unerwähnt.
  • Frauen verdienen nach wie vor deutlich weniger als Männer. Der Gender Pay Gap liegt 2020 lt. Statistischem Bundesamt noch bei 18 % (https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/gender-pay-gap.html). Auch daran wird die Ampelkoalition nichts ändern. Das Einzige, was dazu im Koalitionspapier steht, ist, dass das Entgelttransparenzgesetz – das nur einen Auskunftsanspruch gegenüber dem/r Arbeit„geber“In zu den Gehaltskriterien einer Tätigkeit beinhaltet – weiterentwickelt und die Durchsetzung gestärkt werden soll.
  • Wenn Frauen auf Teilzeit angewiesen sind, ist dies oft unfreiwillig und reicht nicht für ein selbstständiges, existenzsicherndes Leben. Vor allem aber wirkt sich dies negativ auf die Altersrente aus. Im Koalitionsvertrag wird hierzu nur Bezug auf Mini- und Midijobs genommen, die nicht zur Teilzeitfalle für Frauen werden sollen. Wie, bleibt auch hier offen.
  • Mehr Frauen als Männer arbeiten im Niedriglohnsektor: Ende 2019 rund 25,8 %. Bei Männern hingegen liegt der Niedriglohnanteil nur bei 15,5 % (Zahlen nach: Bundesagentur für Arbeit, in: Ärztezeitung vom 7.3.2021, s.o.). Viele von ihnen sind entweder auf einen Zweitjob angewiesen oder gehören zu den sogenannten Aufstocker:innen. Die im Koalitionspapier angekündigte Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, die am 1. Oktober kommen soll, ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wird aber nicht ausreichen, um Frauen aus dieser Armutsfalle herauszuholen.
  • Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – vor allem Frauen arbeiten in sogenannten sozialen Berufen wie Pflege, Erziehung u. ä. – spiegelt sich auch in einem geringerem Gehalt wider. Auch die aktuellen Tarifabschlüsse dienen nicht dazu, dort eine angemessene Bezahlung zu ermöglichen. Außer allgemeinen Floskeln, dass die Löhne für Pflegekräfte verbessert werden sowie die Zuschläge und Prämien (bis 3.000 Euro) steuerfrei sein sollen, steht dazu nichts im Koalitionsvertrag.
  • Unterbrechung der Arbeit aufgrund der Versorgung von Kindern oder zu pflegenden Angehörigen, was in den meisten Fällen von Frauen geleistet wird – oft schon allein deswegen, weil sie in der Regel weniger verdienen als ihre Männer –, bedeutet weniger Rentenanspruch. Im Koalitionsvertrag steht dazu, dass haushaltsnahe Dienstleistungen gefördert werden sollen und Brückenteilzeit in Zukunft mehr in Anspruch genommen werden kann. Das ist sicherlich etwas, dass dazu beitragen kann, Familie und Beruf besser zu vereinbaren, wird aber nichts Grundlegendes verändern.
  • Hinzugekommen ist eine gestiegene Arbeitslosenquote während der Pandemie, welche das Altersarmutsrisiko von Frauen noch weiter erhöhen wird. Dabei stieg sie im Zeitraum von Februar 2020 bis Januar 2021 bei Frauen mit 5,7 % stärker als bei Männern (1,8 %). (s.: Ärztezeitung vom 7.3.2021).

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zynisch, was die Ampelkoalition zur „Sicherung“ der Renten in Zukunft vorhat. Dazu „werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen. Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fonds von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen. Dazu werden wir in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro zuführen.“

D. h. nichts anderes, als dass ein Teil der Rente in Zukunft von den Finanzmärkten abhängig gemacht werden soll. Das ist ein weiterer Schritt zur Privatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung nach Einführung der Riesterrente durch die rot-grüne Koalition 2001. Diese zusätzliche „Säule“ ist alles andere als sicher und stabil. Zudem weiß niemand, wann angesichts der zunehmend instabilen internationalen Situation es zu einem neuen Börsencrash kommen wird. Darüber hinaus werden 10 Milliarden aus dem laufenden Haushalt dafür zur Verfügung gestellt, die dann anderswo fehlen. Diese „Anschubfinanzierung“ wird nach Aussagen des Rentenexperten des DIW, Johannes Geyer, nicht ausreichen: „Man bräuchte mindestens 300 Milliarden Euro. Dann könnte man hoffen, jährlich 15 Milliarden Kapitalerträge zu erzielen, die dann an Rentner ausgeschüttet werden.“ (zit. nach: Das Renten-Versprechen und der Bluff, NEUES DEUTSCHLAND vom 21.02.22).

Es gibt keinen Grund, die Rente immer mehr vom Kapitalmarkt abhängig zu machen. Sie müsste stattdessen mit einer besseren Einzahlungsstruktur und mehr Mitteln aus dem Haushalt finanziert werden: Das Pro-Kopf-Volkseinkommen ist trotz beginnender Krise im Jahr 2019 um das Doppelte gestiegen (Die Rente könnte sicher sein, NEUES DEUTSCHLAND 25.7.2020). Auch das Steuereinkommen könnte ohne weiteres erhöht werden: Eine einmalige Vermögensabgabe mit einer Laufzeit von 10 Jahren würde 300 Milliarden Euro einbringen. Auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer bei einem Steuersatz von 1 % könnte 20 Milliarden Euro auftun (a. a. O.).

Ganz klar zeigt sich hier, dass es nicht um eine Stabilisierung der Renten geht, sondern die Unternehmer:innen weiter von solch lästigen Dingen wie Lohnnebenkosten oder höheren Kapitalsteuern zu entlasten, um deren Wettbewerbsfähigkeit in der zukünftigen, krisenhaften Entwicklung nicht zu beeinträchtigen.

Es gibt jedoch Systeme, in denen Rentner:innen mehr erhalten und besser vor Altersarmut geschützt sind. Das bekannteste ist wohl Österreich: Die im Jahr 2018 in Ruhestand gegangenen Menschen erhielten hier ca. 1.700 Euro im Monat – in Deutschland waren das nur 1.000 (Zahlen nach Sozialwissenschaftler Florian Blank; in: Geteilter Genuss, NEUES DEUTSCHLAND vom 25.07.20). Das ist ein Unterschied von 70 %. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fließt in Österreich mehr öffentliches Geld in Renten und Pensionen. Die Rentenbeiträge liegen seit Jahrzehnten stabil bei 22,5 %, 12,5 % davon zahlen die Arbeit„geber“:innen. Ein anderer entscheidender Grund ist, dass fast alle Erwerbstätigen einschließlich der Selbstständigen (außer den Beamt:innen) verpflichtend in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind. (a. a. O.) Aber auch in Österreich gibt es einen großen geschlechtsspezifischen Unterschied. Zudem ist auch hier damit zu rechnen, dass eine neoliberale Politik versuchen wird, diese Kosten zugunsten der Kapitalist:innen zu reduzieren.

Was wir brauchen, um Altersarmut zu verhindern:

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Mindestlohn für alle Frauen, um ein Mindesteinkommen zu sichern, das die Reproduktionskosten deckt und ein Leben ohne Abhängigkeit vom (männlichen) Partner erlaubt!
  • Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für alle Arbeitslosen und Rentner:innen. Diese Regelung soll auf alle Freiberufler:innen, (Schein-)Selbstständigen, Studierende, Sexarbeiter:innen und andere ausgedehnt werden, die wegen der Pandemie ihre Dienste nicht verkaufen können!
  • Kostenloser Zugang zu Gesundheits-, Krankenversorgung, Pflegeeinrichtungen und gesicherte Renten für alle Frauen!
  • Kostenlose und bedarfsorientierte Kinderbetreuung, öffentliche Kantinen und Wäschereien – um eine gesellschaftliche Gleichverteilung der Reproduktionsarbeiten auf alle Geschlechter sicherzustellen!
  • Alle müssen in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen – auch Selbstständige, Beamt:innen und Parlamentarier:innen!
  • Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Umwandlung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in tariflich gesicherte; Abschaffung der Leiharbeit und Übernahme der Leiharbeiter:innen!
  • Für ein Programm gemeinnütziger öffentlicher Arbeiten mit Vollzeitstellen und auskömmlichen Tariflöhnen für Frauen, bezahlt aus Unternehmerprofiten und Vermögensbesitz!
  • Keine Rettungspakete und keine Milliardengeschenke für die Konzerne! Die Reichen müssen zahlen! Progressive Besteuerung von privaten Vermögen und Unternehmensgewinnen zur Finanzierung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und der Sicherung der Einkommen und Renten der arbeitenden Bevölkerung! Entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle, welche Löhne kürzen, Arbeitszeit verlängern oder Standorte schließen wollen!
  • Für eine verstaatlichte, einheitliche Sozialversicherung unter Arbeiter:innenkontrolle (Gesetzliche Krankenversicherung, Bundesanstalt für Arbeit, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe), finanziert durch eine progressive Besteuerung!
  • Für kommunale, regionale, bundesweite und internationale Selbstverwaltung der Einheitsversicherung durch die Versicherten! Unternehmer:innen raus aus den Aufsichtsräten der Sozialversicherungen! Weg mit jeder Einmischung des bürgerlichen Staats!

Um dies zu erreichen, ist der Aufbau einer Einheitsfront der gesamten Arbeiter:innenklasse, einschließlich aller Arbeitslosen und Rentner:innen, notwendig. Der Kampf gegen Altersarmut muss mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft werden.




Südafrika: Die Armen konfrontieren den ANC mit seiner Verkommenheit

Jeremy Dewar, Infomail 1157, 26. Juli 2021

Südafrika erlebt gerade die schlimmste Gewalt im Land seit dem Fall der Apartheid vor fast drei Jahrzehnten. Fünf Tage lang plünderten und brannten verarmte ArbeiterInnen und städtische Arme Einkaufszentren, Supermärkte und lebensmittelverarbeitende Fabriken im ganzen Land nieder – unter Missachtung von Polizei und Militär. Dies war in erster Linie ein Aufstand der Armen gegen die vom African National Congress geführte Regierung (Afrikanischer Nationalkongress, ANC).

Viele KommentatorInnen, einschließlich der BBC, konzentrierten sich auf die Free-Zuma-Kampagne und ihre Basis innerhalb der ANC-Spitze, die nach der Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma durch das Verfassungsgericht zu Massenprotesten und orchestrierten Sabotageakten gegen wichtige Infrastrukturen wie Straßen und Schienen, Fabriken und medizinische Einrichtungen aufrief. Doch je weiter sich die Unruhen über Zumas Basis in der östlichen Provinz KwaZulu-Natal hinaus ausbreiteten, desto mehr nahmen sie die Form einer Volksrevolte gegen Armut an.

Spaltung des ANC – eine Hälfte bis ins Mark so verdorben wie die andere

Natürlich kam es beiden Seiten in dem anhaltenden ANC-Fraktionskampf gelegen, die Unruhen als das Überschwappen ihres politischen Kampfes um die Vorherrschaft auf die Straße darzustellen. Auf diese Weise konnten sie die Notlage der Massen ignorieren, die sich von Woche zu Woche verschlimmert, und das Augenmerk von ihrem Versagen im Umgang mit der Wirtschaft und der Pandemie, ihrer Bestechlichkeit und Korruption, ihrer mörderischen Repression ablenken.

Diesem Narrativ folgend, begannen die Ereignisse Ende Juni damit, dass das Verfassungsgericht Zuma zu 15 Monaten Haft verurteilte, weil er einer Untersuchung von Korruption auf Staatsebene während seiner Präsidentschaft zwischen 2012 und 2018 nicht nachgekommen war. In einer scheinbar taktisch geplanten Kapitulation stellte sich Zuma am 8. Juli.

Dies löste die ersten Demonstrationen aus, Angriffe auf die Polizei, die, wie die auf dem Capitol Hill beim Trump-Putsch, verdächtig untervorbereitet wirkte, und Transportblockaden, Plünderungen von Sanitätshäusern usw. Im Laufe der Woche wuchs die Zahl der Menschen auf den Straßen deutlich an. Zu diesem Zeitpunkt wurden vor allem Einkaufszentren und Lebensmittellager zu den Hauptzielen, da sich die Ausschreitungen auf Johannesburg und die Provinz Gauteng ausweiteten. Insgesamt wurden über 1.000 Supermärkte für Grundnahrungsmittel geplündert.

Dies führte dazu, dass die Free-Zuma-Kampagne in opportunistischer Weise behauptete: „Nur ein freier Präsident Zuma kann sich an unsere Nation wenden und zur Ruhe aufrufen“, um hinzuzufügen, dass die Ermittlungen zu Zumas Förderung von Waffengeschäften „sofort eingestellt werden müssen“ – als ob sich die DemonstrantInnen zu diesem Zeitpunkt auch nur ein Jota um die Gefängnisstrafe des korrupten Zuma oder die „Übernahme des Staates“ durch seine KumpanInnen scherten.

Dies benutzte Präsident und ANC-Vorsitzender Cyril Ramaphosa als Vorwand, um bis zu 25.000 SoldatInnen auf die Straße zu schicken, die „den demokratischen Staat“ verteidigen und einen Putsch verhindern sollten, indem er behauptete: „Die verfassungsmäßige Ordnung unseres Landes ist bedroht.“ Die wirkliche Bedrohung für Ramaphosa bestand allerdings darin, dass die Unruhen zum Auftakt eines anhaltenden Widerstands der ArbeiterInnenklasse gegen die Art und Weise werden könnten, wie er im Namen des in- und ausländischen Großkapitals regiert.

RegierungsbeamtInnen folgten dem und schürten Ängste vor einer „zweiten Phase“ des Putsches, in der das Ziel sei, das Land „unregierbar“ zu machen und Südafrika zu den ethnischen Auseinandersetzungen der letzten Tagen der Apartheid zurückzubringen, alles ohne den geringsten Beweis. Auch Zumas Lager verschärfte die Rhetorik und forderte den Sturz der Regierung. Dazu muss man wissen, dass das Verfassungsgericht am Montag, den 12. Juni, Zumas Gefängnisstrafe aufhob und damit den Weg für einen Deal ebnete, obwohl er noch nicht freigelassen worden ist.

Pandemie und Wirtschaft

Um den wahren Kern der Krise im ANC zu verstehen, muss man sich die südafrikanische Wirtschaft ansehen, die seit fast einem Jahrzehnt stagniert und im Jahr 2020 um rekordverdächtige 7 Prozent geschrumpft ist. Die Arbeitslosigkeit, die schon immer hoch war, liegt bei einem Rekordwert von 43 Prozent, bei der Jugend sogar bei astronomischen 74 Prozent; 2 Millionen Arbeitsplätze wurden während der Pandemie vernichtet.

Ende April hat die Regierung die monatlichen Zuschüsse zur sozialen Notlage (Social Relief of Distress, SRD) gestrichen, eine Leistung im Wert von nur 350 Rand (entspricht etwa 20 Euro), die Arbeitslosen zusteht. Ramaphosa behauptete, die Pandemie sei besiegt und wirtschaftliche Erholung zeichne sich ab. Das Einzige, was wuchs, waren jedoch die Kosten für Lebensmittel, die in den letzten Monaten um 7 Prozent gestiegen waren, wobei sich der Preis für Brot in der Woche vor den Unruhen verdoppelt hatte. Anfang Juli zwang eine dritte Coronawelle, die frühere sogar noch übertraf, Ramaphosa dazu, erneut harte Lockdownmaßnahmen zu verhängen und zugleich viele zu zwingen zu arbeiten, selbst wenn sie krank sind.

Obwohl die offizielle Zählung 64.000 Coronatote angibt, können wir davon ausgehen, dass es in Wirklichkeit 175.000 Tote sind (bei 60 Millionen EinwohnerInnen, also einer Bevölkerung von der Größe Großbritanniens), da der Gesundheitssektor überfordert ist. Nur 2,3 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, obwohl der Impfstoff von Johnson & Johnson vor Ort produziert wird. Arbeiten oder hungern sind die einzigen Optionen für die ArbeiterInnen und das Schlimmste steht ihnen mit ziemlicher Sicherheit noch bevor.

Weder die Aktionen von Ramaphosa noch die aus Zumas Lager haben die Situation verbessert. Die Streichung auch nur der geringsten wirtschaftlichen Unterstützung für Arbeitslose und die Isolation, Plünderung und das Niederbrennen von medizinischen Fabriken und Einrichtungen wird die Zahl der Toten unter den Armen nur erhöhen. Kein/e ArbeiterIn sollte eine der beiden Fraktionen unterstützen, die beide eingeschworene Feindinnen unserer Klasse sind, nicht nur wegen vergangener Verbrechen, sondern wegen der gegenwärtigen Gefahr, die sie darstellen.

Der entscheidende Unterschied zwischen Ramaphosas regierender Fraktion, die von ihren GegnerInnen als „weißer Monopolkapitalismus“ bezeichnet wird, und Zuma, dem die „Übernahme des Staates“ in Absprache mit der Gupta-Familie vorgeworfen wird, besteht darin, wie sie die Wirtschaft wiederbeleben wollen. Was Korruption angeht, sind beide Männer äußerst korrupt, aber das ist nicht die eigentliche Ursache der Verarmung der Massen. Die Lösungen beider Männer sind gleichermaßen nutzlos.

In Wahrheit ist Zumas „radikale wirtschaftliche Transformation“, obwohl sie einige linke Forderungen wie Verstaatlichung der Energieversorgung und Landumverteilung enthält, ein populistischer Schwindel. Wie kommt es, dass er nach acht Jahren im Amt keine einzige seiner Hauptforderungen umgesetzt hat? Wie kommt es, dass Südafrika nach seiner Amtszeit als das ungleichste Land der Welt dasteht? Und das ist nur die Bilanz, noch bevor man sich dem Thema Korruption und „Übernahme des Staates“ zuwendet.

Ramaphosa kann Zuma in Sachen Korruption, Veruntreuung und brutalen Terrors sicher das Wasser reichen, wenn man seine Bilanz über die Jahrzehnte betrachtet wie z. B. die Anordnung zur Erschießung von 34 streikenden BergarbeiterInnen im Jahr 2012. Selbst heute mussten wichtige MinisterInnen wegen der unzulässigen Vergabe von Verträgen an Günstlinge zurücktreten, nur ein Drittel des 5-Milliarden-Rand-Ausgabenpakets hat die vorgesehenen EmpfängerInnen erreicht und seine Polizei und SoldatInnen haben in der letzten Woche bis zu 200 DemonstrantInnen und ZivilistInnen getötet. Was den persönlichen Reichtum betrifft, so übersteigt sein geschätztes Nettovermögen von 450 Millionen US-Dollar die 20 Millionen US-Dollar von Zuma bei weitem – man könnte sagen, dass er mit dieser Form des „Empowerment“ sehr gut gefahren ist.

Doch Ramaphosa folgt letztlich den Interessen einer bestimmten Klasse, vor allem von ausländischen und südafrikanischen imperialistischen InvestorInnen. Sie haben eine doppelte Forderung: die Korruption, die ihre operativen Geschäfte belastet, zu reduzieren und die ArbeiterInnenklasse und ihre Gewerkschaften zu zähmen. Die ausländischen ImperialistInnen kommen heute sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen. Die Aufgabe, vor der SozialistInnen in Südafrika heute stehen, ist, den Kampf für Notmaßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen, Gesundheit, Sozialleistungen und Lebensmitteln mit einem strategischen Kampf gegen das von Zuma und Ramaphosa verteidigte System, den Kapitalismus, zu verbinden. Die Bosse planen, von der Krise zu profitieren, und das sollten die ArbeiterInnen auch.

Die Linke

Die südafrikanische ArbeiterInnenklasse hat eine stolze Kampfbilanz vorzuweisen, und das nicht nur als historische Speerspitze der Anti-Apartheid-Kämpfe in den 1980er Jahren, die das Regime in die Knie zwangen. Im letzten Jahrzehnt hat sie regelmäßig die weltweit höchste Anzahl von Streiktagen zu verzeichnen.

In dieser Zeit begann die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, vor allem in den Gewerkschaften, aber auch in den Townships und unter der Jugend, mit der ANC-Volksfrontregierung zu brechen. Dies war zwar notwendig und ein Schritt in Richtung Klassenunabhängigkeit, hat aber auch weitere Spaltungen und damit Verwirrung produziert. Leider ließ sich vieles davon während des jüngsten Aufstandes beobachten.

Die Partei der Economic Freedom Fighters (KämpferInnen für wirtschaftliche Freiheit, EFF), die von der stalinistischen Kultfigur Julius Malema angeführt wird, kämpfte während der Krise um Aufmerksamkeit. Malema übte keine Kritik an Zuma, den er als glaubwürdigen politischen Akteur und potenziellen Verbündeten ansieht. Da er die Notwendigkeit zur Schärfung des Profils der EFF sah, reagierte Malema aus heiterem Himmel mit einem Tweet auf das Vorgehen der Regierung Ramaphosa: „Keine SoldatInnen auf unseren Straßen! Ansonsten schließen wir uns an. Alle KämpferInnen müssen bereit sein … sie werden uns nicht alle umbringen.“ Nicht nur, dass dies nicht zustande kam, sondern die Farce ist nun in ein Gerichtsverfahren übergegangen, wobei Malema den Führer der oppositionellen Democratic Alliance (Demokratische Allianz, DA) wegen Verleumdung verklagte, als dieser Malema wegen Anstiftung zur Gewalt anzeigte!

Notwendig war nicht ein erbitterter Kampf mit der Armee (auf den sich die EFF nicht vorbereitet hatte und den sie nie auf die Beine stellen konnte), sondern Verteidigungsposten aus der ArbeiterInnenklasse, die die Stadtteile vor der Polizei schützen, sich mit den einfachen SoldatInnen verbrüdern und kriminelle Banden aufhalten konnten, die anrückten, um die Situation auszunutzen. Es gibt einige Berichte darüber, dass dies ansatzweise stattgefunden hat, allerdings nicht unter Führung der EFF.

Dass Malema Zuma stillschweigend unterstützt, ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, wie viele Gemeinsamkeiten sie haben. Sie kommen beide aus dem stalinistischen Lager innerhalb des ANC, beide sind in Korruptionsvorwürfe immensen Ausmaßes verwickelt und  Meister der Demagogie. Aber auch der Präsident der National Union of Metalworkers of South Africa (Nationaler Metallarbeiterinnenverband, NUMSA; größte Einzelgewerkschaft Südafrikas) und Führer der Socialist Revolutionary Workers Party (Sozialistische Revolutionäre ArbeiterInnenpartei, SRWP), Irvin Jim, schloss sich den beiden an und machte zu seiner Hauptbeschwerde über Ramaphosa „dessen Versäumnis, den ehemaligen Präsidenten Zuma beim Namen zu nennen“. Diese beiden falschen Führer würden lieber einen Handel mit Zuma eingehen, als einen Ausweg für die ArbeiterInnenklasse aufzuzeigen.

Wie weiter?

Unruhen, selbst wenn sie authentische Aufschreie der Armen und Verzweifelten sind, angeheizt durch die Wut gegen ihre UnterdrückerInnen, können niemals die Grundlage für einen längeren Kampf bieten. Bestenfalls können sie die Massen ermutigen und eine Minderheit politisieren, indem sie sie mit einer gewissen organisatorischen Grundausbildung ausstatten. Aber am Ende können sie genau die Gruppen von sich entfremden, die mit den Folgen leben müssen: Repression (über 2.500 Verhaftungen), Lebensmittel- und Treibstoffknappheit und weitere Entbehrungen.

Einige in der Linken, insbesondere die Workers and Socialist Party (Sozialistische und ArbeiterInnenpartei, WASP), haben diesen Punkt angesprochen und zu Recht versucht, die Aufgaben des heutigen Kampfes mit dem für den Sozialismus zu verbinden. Um dies zu konkretisieren, plädieren wir für einen vereinigten Kampf und fordern:

  • Bildung von ArbeiterInnenverteidigungseinheiten, die in jeder Ortschaft den Volksversammlungen rechenschaftspflichtig sind, repräsentativ für alle Betriebe und ArbeiterInnenviertel, um sich Polizei, Armee und kriminellen Banden zu widersetzen.
  • Bildung von Aktionsräten in jeder Stadt und jedem Bezirk, um die Krise zu diskutieren, Streiks auszurufen und durchzuführen, kostenlose Lebensmittel für die Bedürftigen zu beschaffen und zu verteilen und Massenaktionen, Demonstrationen, Mietstreiks usw. durchzuführen.
  • Aufruf an alle Gewerkschaftsverbände, insbesondere South African Federation of Trade Unions (Südafrikanischer Gewerkschaftsdachverband, SAFTU) und Congress of South African Trade Unions (Kongress Südafrikanischer Gewerkschaften, COSATU), einen Generalstreik zu starten, um KurzarbeiterInnengeld statt Stellenabbau, wirtschaftliche Unterstützung für Kranke und Arbeitslose, vollständige und schnelle Einführung des Impfstoffs und Sicherheitsmaßnahmen unter ArbeiterInnenkontrolle zu fordern.
  • Eine Basisbewegung in allen Gewerkschaften mit dem Ziel, die Bürokratie zu beseitigen, die Gewerkschaften zunächst im Kampf und dann organisatorisch zu vereinigen und sie zum Aufbau einer revolutionären sozialistischen Partei zu nutzen, die demokratisch von ihren Mitgliedern kontrolliert wird und in ihren antikapitalistischen Aktionen zentralisiert ist.

Keine der bestehenden „Parteien“ links vom ANC hat den Test der letzten Tage bestanden. Ausgehend von der aktuellen Krise kann die südafrikanische ArbeiterInnenklasse nicht nur Ramaphosa davon abhalten, sie für die vielfältigen Krisen bezahlen zu lassen, sondern auch die Basis für eine neue Partei bereiten, die den Kampf für den Sozialismus anführen kann.




Armut und Prekarisierung: Hartz IV muss weg!

Tobi Hansen, Neue Internationale, Dezember 2019/Januar 2020

Im November verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen. Ausgehend von einem Urteil des Sozialgerichts von Gotha musste überprüft werden, ob die umfangreichen Sanktionen des Hartz-Regimes noch mit dem Auftrag vereinbar wären, das „Existenzminimum“ zu sichern.

Selbst dem Gericht kamen diesbezügliche Zweifel. Es zog
damit immerhin eine banale Wahrheit in Erwägung, die Menschen, die auf Hartz IV
angewiesen sind, längst bekannt ist. Ein wie auch immer definiertes
„menschenwürdiges“ Leben gibt es für diese Bevölkerungsgruppe letztlich nicht.

Sanktionen

Die seit 2004 ausgesprochenen Sanktionen gehen in die
Hunderttausende, ja Millionen – pro Jahr! Für Arbeitslose war stets klar, dass
auch der „volle“ Satz ein „Existenzminimum“ mehr schlecht als recht sichert.
Das belegt allein schon der Ansturm auf die Geldautomaten an jedem Monatsende
in der Hoffnung, wieder Geld zu bekommen. Der Regelsatz für Alleinstehende
betrug 2004 335 Euro, 15 Jahre später liegt er bei 422 Euro. Zusätzlich werden
nur die Miete für eine „angemessene“ Wohnung und die Versicherungskosten
übernommen.

Was die Existenz noch sichern soll, welche Wohnung als
angemessen gilt, darüber entscheidet eine Bürokratie, deren Willkür alle
EmpfängerInnen ausgeliefert sind. Die sog. Sachverständigen rechneten rund um
den Warenkorb, versuchten dabei, die „soziale Teilhabe“ zu integrieren, und
hegten nach 2004 auch den Plan, bis zu zwei Drittel vom Regelsatz als
Sanktionen zu kürzen. Auch das würde nach ihren Berechnungen zum Überleben noch
reichen.

Diese Willkür wurde auch bei den Sanktionen umgesetzt.
Erscheint der/die stigmatisierte Hartzi nicht zum Termin, erfolgt eine Kürzung
von 10-30 %. Auch bei Verspätungen dürfen die SachbearbeiterInnen nach eigenem
Gutdünken entscheiden. Wer zu wenige Bewerbungen pro Monat schreibt oder
angebotene Billigjobs „verweigert“, gilt als „unwillig“ – und kann auch
sanktioniert werden.

Wenn die Entwürdigung und Bestrafung mit
Lebensmittelgutscheinen anstelle von Geld den/die Arbeitslose/n noch immer
nicht gefügig gemacht hat, wird auch die Leistung für die Wohnung gestrichen
bzw. eine Mieterhöhung nicht übernommen.

Mit diesem System wollte die damalige SPD-Grünen-Regierung
den Standort Deutschland für die 
Globalisierung fit machen. Der damalige SPD Fraktionschef Müntefering
brachte mit der Aussage „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ nicht nur
seine Menschenverachtung zum Ausdruck, sondern auch, wie weitreichend die SPD
dem deutschen Kapital bei der Verarmung der ArbeiterInnenklasse behilflich sein
kann. Das Hartz- und Agenda-System markiert eine strategische Niederlage für
alle Lohnabhängigen, nicht nur die Erwerbslosen. Ohne dieses System wäre die
Ausdehnung „prekärer“ Arbeit, des Billiglohnsektors und erhöhter
Konkurrenzdruck auf die tariflich Beschäftigten unmöglich gewesen.

Dieses System wird grundsätzlich auch vom Verfassungsgericht
nicht in Frage gestellt. Nur seine schlimmsten, menschenverachtenden
„Auswüchse“ sollen abgeschafft oder gemildert werden.

Was wird umgesetzt?

So wird nach 15 Jahren festgestellt, dass die komplette
Streichung der Geldmittel und Zahlungen für die Unterkunft verfassungswidrig
gewesen sind und dem Menschenrecht und der Auslegung des Begriffs
Existenzminimum widersprechen. Nur Kürzungen bis zu 30 % sollen erlaubt sein.
Ausgenommen davon wären noch immer Menschen unter 25, da deren Situation gar
nicht verhandelt wurde.

Somit werden zunächst nur Kürzungen über 30 % ausgesetzt.
Die „Fachebene“ soll nun entscheiden, wie das Urteil praktisch umgesetzt werden
kann und ob die unter 25-jährigen Arbeitslosen auch darunter fallen könnten.
Die TechnokratInnen kapitalistischer Unterdrückung, z. B. im SPD-geführten
Arbeitsministerium, waren schon findig. Möglicherweise gebe es „Lücken“ im
Urteil des Verfassungsgerichts. Gemeinsam mit der Bild-Zeitung, welche nach dem
Urteil den Notstand ausrief, da jetzt die „FaulenzerInnen“ und
„SchmarotzerInnen“ wieder ganz einfach mit Hartz IV überleben könnten,
überlegen BeamtInnen des Arbeitsministeriums, inwieweit addierte Sanktionen
weitergeführt werden können. Die Idee ist so simpel wie zynisch. Wenn die
Kürzung um 60 % verboten ist, dann wäre vielleicht eine sechsmal ausgestellte
10%-ige legal.

Weder bei der Urteilsverkündung noch in der anschließenden
öffentlichen Debatte wurde die Frage gestellt, wie eigentlich mit den
vollstreckten illegalen Sanktionen jenseits der „erlaubten“ 30 % umgegangen
wird? Ein Recht auf Rückerstattung der Leistungen, auf Entschädigung für den
Verlust von Wohnungen, für Obdachlosigkeit … wurde offenbar erst gar nicht in
Erwägung gezogen. Dabei betrafen allein von 2009-2019 die nun als
verfassungswidrig festgestellten Sanktionen insgesamt zwischen 700.000 und eine
Million Menschen pro Jahr.

An dieser Fortschreibung des Unrechts lässt sich ermessen,
wie ernst „linke“ SPD-Versprechungen zu nehmen sind. Während Malu Dreyer als
Interimsvorsitzende mit dem Satz „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen“
hausieren ging, beriet das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium über
die Fortführung des Sanktionsregimes.

Die Linkspartei fordert die Umsetzung des Urteils und fände
es schön, wenn auch alle Sanktionen abgeschafft würden – eine
Aktionsperspektive zur Abschaffung des Hartz- und Agenda-Systems präsentiert
aber auch sie nicht.

Eine breite Empörung über die staatliche Abzocke der
Arbeitslosen bleibt aus, obwohl es viele drastische Fälle gibt, wo Menschen
aufgrund von Kürzungen ruiniert wurden. So wurden erst vor kurzem die
Leistungen für eine physisch und psychisch erkrankte Hartz-IV-Bezieherin in
Bayern auf 4,24 Euro gekürzt, weil das Einkommen ihres Mitbewohners, eines
Gelegenheitsjobbers, gegen Hartz-IV verrechnet wurde. Da ihr Betreuer
fürchtete, dass sie zu Hause verhungern oder sich das Leben nehmen könnte, wurde
sie in die Psychiatrie eingewiesen.

So geht die Pauperisierung und Verelendung breiter Teile der
Klasse weiter, daran ändert auch der Mindestlohn wenig. Höhere Kosten für
Wohnung, Energie und Verkehr fressen für die Masse jede Erhöhung von Lohn und
Lohnersatzgeldern weg.

Was tun?

Schon 2004 stellte sich die DGB-Spitze gegen die
Anti-Hartz-Bewegung und die Montagsdemos. Die Gewerkschaften nahmen das Urteil
des Verfassungsgerichts zwar positiv auf, aber in den letzten 15 Jahren haben
sie praktisch keinen Finger für die Arbeitslosen krummgemacht.

Im Kampf gegen das gesamte Hartz-IV-System sollten wir uns
daher auch heute auf DGB, SPD, ja selbst auf die Linkspartei nicht verlassen.
Sie müssen vielmehr zu Gegenaktionen getrieben werden.

Gerade den Linken in den Gewerkschaften wie den
AktivistInnen in den sozialen Protesten (Mieten, Sozialinitiativen), aber auch
in neuen Bewegungen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Es geht um einen Neuanlauf gegen alle Hartz- und
Agenda-Gesetze. Dieser muss mit Themen wie Kampf gegen Altersarmut oder prekäre
Beschäftigung verbunden werden. Die Forderung nach Abschaffung von Hartz IV
müsste dabei mit dem Kampf um ein Mindesteinkommen von 1.100 Euro plus
Warmmiete für alle Erwerbslosen und RentnerInnen verknüpft werden, das jährlich
entsprechend der Steigerung der Lebenshaltungskosten erhöht wird.