Vorwort

Die Redaktion, Berlin/Wien, Februar 2010

Manche Zeitungskommentatoren jubeln über das Ende der Wirtschaftskrise und den neuen Aufschwung an den Börsen. Doch die schlaueren Ökonomen der herrschenden Klasse sind nach wie vor besorgt. Zu  Recht. Der Kapitalismus ist in eine historische Krisenperiode eingetreten und die kommenden Jahre und Jahrzehnte werden von einer Verschärfung der ökonomischen, politischen, sozialen und militärischen Gegensätze sowie einer immer dramatischer werdenden ökologischen Krise geprägt sein. Die Menschheit steht vor der Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Nur eine weltweite sozialistische Revolution kann eine lebenswerte Zukunft sichern.

Doch dazu bedarf die Arbeiterklasse eines auf historischen Erfahrungen und aktuellen Analysen beruhenden Programms und daraus abgeleiteter Strategien und Taktiken. Um dieses Programm herum gilt es die aktivsten und bewusstesten Teile der Lohnabhängigen und der Jugend zu sammeln und zu einer revolutionären Kampfpartei zu vereinen. Im Zuge eines solchen Kampfes zur Bewaffnung der Klasse mit einem ihrer Befreiung dienlichen Programm, gilt es auch, eine beharrliche Auseinandersetzung mit verschiedenen falschen, in die Irre führenden Programmen und Konzepten zu führen. In diesem Sinn bildet “Krise und Widerstand” das Motto der vorliegenden Ausgabe des Revolutionären Marxismus.

Anknüpfend an die ausführliche Untersuchung, die Markus Lehner im Sommer 2008 veröffentlichte („Finanzmarktkrise und fallende Profitraten“, RM 39), untersucht der Autor die aktuellen Entwicklungen.

In einem weiteren Artikel widmet sich Michael Pröbsting der Frage, ob die Weltwirtschaft am Ende der schwersten Rezession seit 1929 steht und welche Aussichten sich daraus für die Arbeiterklasse ergeben.

Seit vielen Jahren spielen die „Autonomen“ eine wichtige Rolle in den antikapitalistischen Protestbewegungen. Martin Suchanek setzt sich mit deren theoretischer Tradition auseinander und mit den Anti-Krisenrezepten des „Post-Operaismus“.

Jürgen Roth unterzieht die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen einer grundsätzlichen Kritik und legt dar, für welche Alternative  KommunistInnen im Kampf gegen Arbeitslosigkeit eintreten.

Roman Birke, Theo Tiger und Georg Sax untersuchen die Ursachen der großen Studentenbewegung in Österreich und Deutschland im Herbst 2009 und entwickeln Eckpfeiler einer antikapitalistischen Bildungsprogramms.

Abgerundet wird diese Ausgabe des RM mit einem Artikel von Max Laszer über die Kontroverse um den Generalstreik zwischen Luxemburg und Kautsky im Jahr 1910.




Finanzmarktkrise – Rückblick und Ausblick

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Im Sommer 2008 brachten wir den RM 39 mit dem Titel „Finanzmarktkrise und fallende Profitraten“ heraus. Darin vertraten wir die These, dass sich mit den Turbulenzen auf den Finanzmärkten die „Globalisierungsperiode“ nach 1990/91 endgültig als 20 Jahre Scheinblüte herausgestellt habe und dass das Platzen der Spekulationsblase die Krisenabschwächungseffekte der „neo-liberalen Reformen“ dieser Periode mit einem Schlag zunichte machen würde – und dass die Kosten dafür natürlich auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden würden. Nach dem Erscheinen des RM 39 wurden wir mit diesen Aussagen noch als „Katastrophisten“ belächelt. Noch bis kurz vor dem Zusammenbruch der Investment Bank „Lehman Brothers“ glaubten auch viele Linke (mehr oder weniger insgeheim), dass der Globalisierungs-Kreislauf „China-Billigware“ in Kombination mit „US-Schuldenökonomie“ gemanaged durch FED/US-Regierung und chinesische Bürokratie die globalen Finanzmarktturbulenzen nach dem Platzen der US-Immobilienblase aussteuern könne. Der „Abgrund“, der sich nach dem Lehman-Crash auftat, auf den gleich der Zusammenbruch des Finanzversicherungs-Giganten AIG zu folgen drohte, hat den Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse der kapitalistischen Scheinwelt weit geöffnet.

In diesem Artikel ergänzen wir die Ausführungen des Artikels „Finanzkapital, Imperialismus und die langfristigen Tendenzen der Kapitalakkumulation“ aus dem RM 39 um die Erfahrungen der Entfaltung der Krise der letzten anderthalb Jahre, sowie die daraus zu ziehenden Schlüsse für die weitere Entwicklung.

Kritik der bürgerlichen Krisen-Ökonomie

Heute ist es ein Gemeinplatz auch in der bürgerlichen Presse, dass das globale Finanzsystem spätestens seit 1990 sich in ein gigantisches Kartenhaus entwickelt hat. Man braucht nur als Beispiel zu erwähnen, dass der nominelle Wert der Kreditderivate (eine Art Kettenwette auf Kreditausfall) im zweiten Halbjahr 2005 das 18-fache der Preissumme aller an der New Yorker Börse gehandelten Papiere im selben Zeitraum betrug, um sich an die absurden Dimensionen dieses Kartenhauses zu erinnern. In diesem Finanzkasino konnten Gewinne in Ausmaßen gemacht werden, die in keinem anderen kapitalistischen Business zu erzielen waren – aber natürlich auch Verluste in unvorstellbarem Ausmaß. Letzteres ließ sich in den Bilanzen der großen Finanzjongleure bis 2007 jedoch mehr oder weniger verbergen. Es schien, als ob diese Profitmaschine vom Rest der „realen“ Ökonomie abgeschottet und gesichert sei. Letztlich stellte sich natürlich heraus, dass das Geld, das sich hier verdienen lies, rückgebunden ist an die Liquidität und die Zahlungsströme aus dem Rest der Ökonomie; dass die Zahlungsprobleme, die zuerst auf dem US-Immobilienmarkt und in Folge auf den bombastischen Märkten für „gebündelte Verbriefungen“ auftraten, zu Liquiditätsproblemen im gesamten Finanzsystem führten; dass schließlich mit dem Lehman-Crash eine der Stützen des globalen Kartenhauses einbrach, also das ganze fragile Gebilde vor einer Kettenreaktion stand.

Nur die massive staatliche Intervention aller imperialistischer Mächte mitsamt einer Reihe der mehr entwickelten Halbkolonien konnte die Katastrophe aufhalten und die „systemrelevanten“ Finanzhäuser retten. Eine Zeitlang schien es sogar, als ob der „Keynsianismus“ wieder offizielle Staatsdoktrin werden würde. Heute sind die meisten großen Spieler im globalen Kasino wieder wohl auf und zurück im Spiel um gigantische Finanzprofite, die Verursacher der Krise kassieren wieder milliardenschwere Boni – während der Preis für die vorangegangenen Rettungsaktionen von den ArbeiterInnenn der ruinierten „realen“ Firmen gezahlt wird und von allen, die von den massiven sozialen Kürzungen betroffen sein werden, die mit der Staatsdefizit-Sanierung der nächsten Jahre unweigerlich kommen werden.

Die Funktion des Finanzsystems im kapitalistischen Gesamtsystem lässt sich vergleichen mit dem Blutkreislauf im Körper, der notwendig für die Versorgung der Zellen mit Blut und für den Abtransport der Stoffwechselprodukte ist. Dem Finanzkapital wurde nun der real-existierende kapitalistische „Körper“ für seine Profiterwartungen zu mickrig – es schuf sich einen parallelen virtuellen Körper, der eine vielfach gesteigerte Operationsbasis versprach. Für diesen bombastischen Körper wurde der Blutkreislauf gewaltig gesteigert und beschleunigt. Damit arbeitet das „Herz“ des kapitalistischen Körpers immer weniger für seinen ursprünglichen Zweck, sondern für mehr und mehr abgehobene Ziele, die für den Rest des Körpers zur enormen Plage werden. Dies ist nicht nur eine Belastung an sich, sondern zusätzlich ist das Zentrum des Systems labil wie ein Kartenhaus und droht also den Rest des Körpers mit ins Verderben zu reißen. Jede Rettungsoperation am Herzen des Kapitalismus muss so also auch seinen parasitischen Charakter wiederherstellen, will sie nicht den ökonomischen Zusammenbruch riskieren. Die auch vom kapitalistischen Standpunkt zunehmend irrsinnige Funktionsweise des Finanzkapitals hält den Rest der Ökonomie in Geiselhaft – sie muss in einer noch so schweren Finanzkrise bei Strafe des Untergangs vom Rest des Kapitals ertragen und in ihren wesentlichen Strukturen gerettet werden.

So ist es nicht verwunderlich, dass alles Gerede der großen Staatenlenker von „wesentlichen Regeländerungen“, von einem „Ende des Finanzsystems, wie wir es kannten“, von einem „Vorrang der Realwirtschaft“ etc sich längst in Schall und Rauch aufgelöst hat. Kleinere kosmetische Operationen in bezug auf Bonus-Systeme und unbedeutende Besteuerungen bestimmter Spekulationsgewinne mögen überleben, jedoch ist nichts in Sicht, was die wesentlichen Funktionsmechanismen des Finanzsystems anfasst. Selbst die erwähnten Maßnahmen ergeben sich aus der falschen Analyse, dass die Probleme des Finanzsystems aus „Übertreibungen“ eines an sich gesunden Systems stammten und vor allem von einigen besonders „gierigen“, „unmoralischen“ Individuen verursacht seien, die man gesetzlich in Schranken weisen könne.

Dies führt zum nächsten damit zusammen hängenden Thema: dem völligen Unverständnis der bürgerlichen Ökonomie und Öffentlichkeit für die Krise. Zu Beginn der Krise wurde das Ausmaß und die Bedeutung der Probleme vor allem erst einmal klein geredet, selbst als die auf uns zurollende Flutwelle ziemlich deutlich zu sehen war. Um nur ein spektakuläres Beispiel zu geben: noch im Sommer 2008 erklärte der hochbezahlte Sachverständigenrat der Bundesregierung – mit dem „wissenschaftlichen“ Hintergrund von fünf großen Forschungsinstituten -, dass keine bedeutsamen Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf die deutsche Wirtschaft zu erwarten seien und dass sich der Aufschwung der ersten Monate 2008 fortsetzen würde, mit geringer Wachstumsabschwächung im Jahre 2009 (1). Nur zwei Monate nach dieser Prognose war dann plötzlich alles ganz anders – ein Institut überbot das andere im Ausmalen von Schreckensszenarien und Wachstumseinbrüchen. Den Vogel schoss schließlich DIW-Chef Zimmermann ab, als er feststellte, dass die hochbezahlten „Wirtschaftsexperten“ eigentlich gar nicht wüssten, was da gerade passiert und man besser sämtliches Prognostizieren einstellen solle. Auf diesen „Meistern der Wissenschaft“ hatte übrigens Gerhard Schröder seine Agenda-Politik und die folgende Implosion der SPD aufgebaut, denn als er 2003 diese Politik als alternativlos bezeichnet hatte, da „Politik nicht die fundamentalen Wahrheiten der geballten ökonomischen Wissenschaften ignorieren kann“ – sprach er vom eben genannten „Sachverständigenrat“ und seinen Prognosen!

Als die besagten Sachverständigen nun ihre Fehler im Folgejahr analysierten, stellten sie in ihrem Frühjahrsgutachten 2009 fest: „Eine Ursache für den großen Fehler liegt darin, dass die Wechselwirkungen zwischen Finanzmärkten und Gütermärkten sowie die Ursachen und Abläufe von Finanzkrisen in der Ökonomie insgesamt nicht soweit verstanden sind, dass Situationen wie die gegenwärtige genau prognostiziert werden können“ (2).

Im Kern ist dies ist nichts anderes als eine Bankrotterklärung der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft. Es wird nicht nur festgestellt, dass diese „Wissenschaft“ die Gesetze nicht versteht, die die Wechselwirkungen zwischen den Finanzmärkten und der Realökonomie bestimmen. Sondern dies ist auch aufs engste verknüpft mit dem Verständnis des Kapitalismus als monetärem System, d.h. mit dem Verständnis von Geld, Warenproduktion, Profit, Zins, etc. und deren Wechselwirkungen. Vor allem aber drückt sich darin das Nicht-Verstehen der wesentlichen Krisenhaftigkeit dieser Wechselwirkungen und des kapitalistischen Gesamtsystems durch die bürgerliche Ökonomie aus.

Vor dem Crash 2008 war es ein Gemeinplatz der bürgerlichen Ökonomie, dass deregulierte Märkte die perfekten Instrumente zur Verarbeitung der gigantischen wirtschaftlichen Informationsmengen seien. Dass es irrational und anmaßend sei, die „Richtigkeit“ von Marktpreisen in Frage zu stellen, die durch die Entscheidungen von Millionen Käufern und Verkäufern zustande kämen – und die daher die tatsächlichen Bedürfnisse und Werte in wesentlich genauerer Weise widerspiegeln würden als dies jegliches menschliches Planen und Festsetzen je erreichen könne. Daher wäre es lächerlich die Marktpreise z.B. auf den Finanzmärkten in Frage zu stellen, diese als Spekulations-Blasen zu verunglimpfen, von spekulativen Übertreibungen der Bewertung von Finanzanlagen zu sprechen oder gar – Gott sei bei uns – staatliche Eingriffe in diese Märkte zu fordern. Und selbst wenn es zu Schwierigkeiten und Turbulenzen käme, wären die modernen, wissenschaftlich beratenen, Institutionen wie Zentralbanken, Finanzministerien, IWF etc in der Lage in kürzester Zeit wieder für Ruhe zu sorgen. Eine Situation wie 1929 könne nie mehr auftreten!

Nachdem die „neo-liberale“ Doktrin zumindest in Bezug auf die Effizienz der Finanzmärkte gegenwärtig etwas erschüttert ist, wird als ihre Schwäche angeführt, dass sie zu stark auf die Rationalität der Marktteilnehmer bauen würde und dass sie die irrationalen Ausschläge z.B. in Richtung übertriebener Erwartungen, Wunderglauben bezüglich bestimmter Märkte oder Produkte, Herdentriebe etc übersehen hätte – kurz, dass die von den Wirtschaftswissenschaften nicht vorausgesehene Krise auf deren mangelnder Berücksichtigung der „Psychologie der Märkte“ beruhe, ja dass die Krise zum Großteil eigentlich ein Problem der Psychologie sei.

Im Gegensatz dazu zeigt die marxistische Kritik der politischen Ökonomie, dass im Kapitalismus eine systematische Abweichung der Marktpreise von den Werten genauso wie der Verwertungsbedürfnisse von den Verwertungsbedingungen des Kapitals die Regel ist, dass also Krisen und ihre Bewältigung keine Abweichung, Ausnahmen oder Übertreibungen sind, sondern wesentliche Achsen, um die sich die jeweilige Entwicklungsperiode des Kapitalismus jeweils bewegt. Entgegen der neoklassischen Theorie ist es nicht die „unsichtbare Hand“ der perfekten, im Gleichgewicht befindlichen Märkte, die die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus verstehen lässt – sondern ähnlich wie es in der physikalischen Raum-Zeit die schwarzen Löcher oder ähnliche Singularitäten sind, sind es die systembedrohenden Krisen, die den jeweiligen kapitalistischen Perioden ihre Struktur in Raum und Zeit geben. Es sind die während der Krise und in ihrem Verlauf erfolgenden Umwälzungen, angefangen von Produktionsmethoden, Klassenkampfbeziehungen, Marktverhältnissen, institutionellen Veränderungen, Verschiebungen in den Welthandelsbeziehungen bis hin zum ideologischen Rahmen, die bestimmte Phasen der kapitalistischen Entwicklung jeweils von den vorhergehenden abheben – wodurch eben die Kritik der Ökonomie wesentlich zu einer historischen, gesellschaftlichen Wissenschaft wird.

Das marxistische Verständnis von Finanzkrise gründet sich auf der widersprüchlichen Natur der kapitalistischen Warenproduktion als der Ursache für die krisenhafte Natur des Kapitalismus als monetäres System. Es zeigt auf, dass die Ursache für die massive Entwicklung des parasitischen Finanzmarktsystems in den Grenzen der kapitalistischen Akkumulation selbst liegt. D.h. dieser Akkumulationsprozess ist nicht fähig zum „Gleichgewicht“, sondern zerrissen zwischen dem Zwang zur maßlosen Ausdehnung und der Beschränktheit der Verwertungsbedingungen (tendenzieller Fall der Profitrate). Von daher muss Profitwachstum zumindest auf den Finanzmärkten fortgesetzt werden, wenn es schon real lange nicht mehr die gewünschten Renditesteigerungen gibt. Die Finanzkrise ist somit in den allgemeinen Krisentendenzen der Kapitalakkumulation angelegt und keine Ausnahme oder Übertreibung gegenüber der „normalen“ kapitalistischen Entwicklung. Mit seiner dominierenden Rolle im kapitalistischen Gesamtsystem charakterisiert das Finanzkapital schließlich die gesamte gegenwärtige Epoche des Kapitalismus als eine von Parasitismus und Stagnation, gefolgt von stürmisch-fieberhaften Booms und Aufschwüngen, die letztlich wieder durch dramatische Kriseneinbrüche beendet werden – dies ist das Entwicklungsmuster der imperialistischen Epoche, die der Durchsetzungsepoche des Kapitalismus Ende des 19.Jahrhunderts folgte.

Dies ist auch die Epoche, in welcher schwerwiegende Krisen jeweils die Frage des Zusammenbruchs des Gesamtsystems auf die Tagesordnung setzen. So ist es kein Wunder, dass eine Menge bürgerlicher Ökonomen und „Vordenker“ unmittelbar nach dem Crash 2008 von der Notwendigkeit sprachen, die „Regeln des Spiels“ grundlegend zu ändern – anderenfalls würde die Krise unweigerlich noch schwerwiegender wiederkehren und „unsere gesamte Existenz bedrohen“ (3). Offensichtlich ist das Kapital aber zu einer solchen Regeländerung nicht in der Lage: die eingeleiteten Rettungsoperationen haben die Kasino-Spieler gerettet, ihnen ihr Spielgeld wiederbeschafft und dabei die Verschuldungslast der öffentlichen Haushalte nochmals unvorstellbar gesteigert. „Keynsianismus“ ohne Finanzmarktregulierung ist schlichtweg die Begründung einer neuen Blasenökonomie. Auf diese Weise ist die nächste schwerwiegende Krise keine Frage von Jahrzehnten, sondern von Jahren – und ihre Bedrohlichkeit für das System ist sicherlich nochmals gesteigert. Dies signalisiert umso mehr die unmittelbare historische Notwendigkeit die Wurzel dieses krisenhaften, parasitischen Systems, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst, zu überwinden und durch eine geplante, sozialistische Ökonomie zu ersetzen. Erst dann wird die Krise aufhören das wesentliche Moment der historischen Veränderung zu sein.

Grenzen der Kreditgeldexpansion und die marxistische Analyse des Geldes

Was ist eigentlich Geld? Diese scheinbar theoretische Frage wurde in der Finanzmarktkrise für eine Menge an Akteuren zu einer drängenden praktischen. Waren die diversen Kontoeinträge in diversen Fonds-Accounts oder die Verbriefung irgendwelcher Geldansprüche noch etwas wert, oder einfach nur Futter für den elektronischen Papierkorb?

Tatsächlich erscheint es seit der Marginalisierung der Golddeckung des Geldes (dem Übergang zu einer sogenannten Fiat-Währung) so, als sei das Geld völlig losgelöst von jeglicher Warennatur, selbst ohne Wert und nur als Wertzeichen für die Erleichterung des Warentausches im Umlauf. Probleme des Wertmaßstabes, der mit Geld als Preis verbunden ist, seien durch die Geldmengensteuerung von Zentralbanken rein technischer Natur.

Dabei ist auch Geld in der Fiat-Währung zurückgebunden an die Funktion des Geldes als Zahlungsmittel: es kommt in den Umlauf durch den Kredit der Zentralbanken an die Geschäftsbanken. Diese wiederum können (bei Berücksichtigung von Mindestreserveanforderungen) dieses Kreditgeld wiederum zur Deckung eines noch wesentlich höheren Umfangs an „Buchgeld“ verwenden. Der Großteil dieses Buchgeldes muss gar nicht in Zentralbankgeld (= Schuldschein bei der Zentralbank) ausgezahlt werden, sondern Geschäft und Gegengeschäft gleichen sich zumeist aus. Es ist jedoch klar, dass das so in Umlauf gebrachte Geld als Schuldschein nur dann seinen Wert behalten kann, wenn die zugrundeliegenden Kreditgeschäfte auch gelingen. Wenn also die mit dem „neuen Geld“ getätigten Geschäfte, die gekauften Waren, die finanzierten Produktionsprozesse etc letztlich auch termingerecht zu Verkäufen führen, die die Begleichung der Schuld ermöglichen. Die Umkehrung der „natürlichen“ Reihenfolge der Warenzirkulation W-G-W, d.h. von Verkauf vor Kauf, zum Kauf „auf Schuldschein“ vor Verkauf zur Schuldbegleichung, lässt die Geldware mehr und mehr aus der Zirkulationssphäre entweichen.

Sobald jedoch die Kreditkette zu reißen droht und wesentliche Teile der ausstehenden Schulden von den Banken abgeschrieben werden müssen, gerät der Schein der Irrelevanz der Geldware (des „Eigenwerts“ des Geldes) ins Wanken: Schulden müssen mit Geld als Zahlungsmittel beglichen werden, es wird also verzweifelt nach „hartem Geld“ gejagt – das Kreditsystem schlägt plötzlich in das Monetärsystem um (4). Neues Kreditgeld G muss im Prozess G-W-G‘ tatsächlich auch der Ausweitung des Wertprodukts entsprechen – aber nicht nur das, sondern diese Ausweitung muss in einer solchen Verteilung erfolgen, dass sie einen Rückfluss an die Schöpfer des Kreditgeldes ermöglicht. Das setzt also eine beständig gesteigerte Form von gesellschaftlicher Produktion voraus, die immer wieder durch die private Aneignung des produzierten Reichtums vermittelt werden muss. „Der Kredit als ebenfalls gesellschaftliche Form des Reichtums verdrängt das Geld und usurpiert seine Stelle. Es ist das Vertrauen in den gesellschaftlichen Charakter der Produktion, welches die Geldform der Produkte als etwas nur Verschwindendes und Ideales, als bloße Vorstellung erscheinen lässt“ (5). Genauso unvermeidlich muss in der Krise die dingliche Form, die Geldform des gesellschaftlichen Reichtums wieder manifest werden: Hier „tritt also der Umstand, dass die Produktion nicht wirklich als gesellschaftliche Produktion der gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen ist, schlagend hervor in der Form, dass die gesellschaftliche Form des Reichtums als ein Ding außer ihm existiert“ (6).

Mag also in normalen Kreditgeldzeiten die dingliche Form des Geldes als etwas Imaginäres, bloß Virtuelles erscheinen, so bleibt sie doch immer Bezugspunkt der Geldform, um sich in der Krise auch wieder real geltend zu machen (als das „Liquiditätsproblem“). Diese oszillierende Wirkungsweise der Geldform liegt in der Widersprüchlichkeit der Warenform unter den Bedingungen der verallgemeinerten Warenproduktion (d.h. der kapitalistischen Produktionsverhältnisse) selbst. Geht es in dieser um die Aneignung des Tauschwertes der Ware, so ist der nur durch tatsächliche konkret-nützliche Arbeit zu erzeugen, soweit sich in dieser wertbildende, „abstrakte Arbeit“ vergegenständlicht in einer Ware, die sich wiederum als Gebrauchswert für jemanden erweisen muss.

Dreh- und Angelpunkt dieses Widerspruchsprozesses (wechselseitige Begründung von Gegensatzverhältnissen) ist, dass er nur gelingen kann durch den unmittelbar gesellschaftlichen Charakter von „abstrakter Arbeit“, „Arbeit an sich“. Arbeit, abgesehen von jedem Inhalt und Zweck, als bloße Verausgabung von Arbeitskraft ist Teil der gesellschaftlichen Arbeit, wirkt „wertbildend“ und stellt einen proportionalen Teil des gesellschaftlichen Wertprodukts dar, das sich erst nachträglich auf dem Warenmarkt als real zu bewähren hat. Dieser im Produktionsprozess begründete, aber noch nicht realisierte gesellschaftliche Wert muss sich in einer verselbständigten, dinglichen Form darstellen – eine Ware muss ausgesondert werden, um den Wert aller anderen Waren darzustellen. So ist die Geldform sowohl notwendiges Produkt des widersprüchlichen Charakters der Ware, als auch durch diesen Ursprung selbst von Widersprüchen bestimmt. Sie ist einerseits dingliches Äquivalent des gesellschaftlichen Reichtums als „ungeheure Warenansammlung“, Repräsentant der geleisteten „Arbeit an sich“ (Geld als Maßstab der Werte); in der realisierten Preissumme dagegen repräsentiert sie die sich als real gesellschaftlich nützlich erwiesene Arbeit (Geld als Zirkulationsmittel); schließlich erlaubt sie als „Wertspeicher“ im Sparen oder Verleihen die zeitliche Verschiebung seiner Nutzung als Äquivalent (Geld als Zahlungsmittel). Durch die Beziehung zur Wertsumme aller Waren, modifiziert durch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes als Zirkulationsmittel einerseits und die Sparquote (Bestimmung der Masse der Zahlungsmittel) andererseits erweist sich das Geld als Maß der Werte entweder als „überbewertet“ oder als „unterbewertet“ (Inflation oder Deflation).

Dabei ist der Geldwert als Vergleichsmaßstab zu dem so bestimmten Warenäquivalent im Zeitalter des Kreditgeldes nicht mehr einfach durch das Verhältnis von Banknoten zur Golddeckung und den Goldpreis bestimmt. Vielmehr ist die gesellschaftliche „Liquidität“, das Verhältnis der in Umlauf gebrachten Kreditgeldmenge zur wahrscheinlichen Kreditausfallhäufigkeit wesentlich für die Frage, inwieweit Geldentwertung stattfindet oder nicht. So ist der Geldwert heute kaum mehr von einem in realen Depots gelagerten vergoldeten Warenberg abhängig, sondern bestimmt durch eine sehr viel weniger greifbare Warenmenge, die jeweils zufällig für die Liquidität der Geldschöpfer zu unterschiedlichsten Zeitpunkten wesentlich wird.

Von daher wird verständlich, dass die mit der Kreditkrise seit 2007 auftretenden Turbulenzen natürlich wesentliche Auswirkungen auf das Geldsystem selbst hatten und haben. Die schwerwiegendste davon ist das Auftreten des „Sturms auf die Bank“ – ein Phänomen, das sich anders als in den klassischen Finanzkrisen diesmal meist wenig sichtbar, dafür aber viel heftiger, auf elektronischem Weg abspielte. Dabei versuchen Inhaber unsicherer „Geldzeichen“ diese in möglichst hartes Geld umzuwandeln – und dies in für die Reserven der Banken bedrohlichen Maßen. Dies setzt sich fort in der Umwandlung auch von hartem Zentralbankgeld in noch härtere „Geldware“, wie Edelmetalle, Rohstoffe und ähnliches. Schließlich muss der Geldwert durch Staat und Zentralbanken gesichert werden durch Rettung der Bankenliquidität auf Kosten von Staatsverschuldung und massiver Ausweitung der Geldmenge (als Zentralbankgeld).

Die Bankenrettungspakete und die Politik des offenen Geldhahns der Zentralbanken waren tatsächlich nach dem Crash im September 2008 für das kapitalistische Geldsystem „lebensnotwendig“. Andernfalls hätte die Entwertung von mehr und mehr Kreditgeldsegmenten zu einem immer umfassenderen Zusammenbruch von Wegen des Zahlungsverkehrs geführt, der letztlich weite Teile des Welthandels gefährdet hätte. Da die meisten größeren Geschäfte auf Kreditgeldbasis ausgeführt werden (G-W vorgezogen, W-G nachgeordnet oder mit Gegengeschäften verrechnet), muss der Vertrauensverlust in das G als Kreditgeld zum Zusammenbruch des normalen Geschäftsbetriebes führen. Auf dem Höhepunkt der Krise 2008 brach so auch eines der wichtigsten Finanzierungsmittel des Welthandels, der „Akkreditiv“, zusammen (7). Plötzlich konnten Käufer von Importgütern ihre Geschäfte nicht mehr zu Ende führen, und Schiffe wurden stillgelegt: innerhalb kurzer Zeit fiel der Baltic Dry Index, ein Index, der die Frachtraten der Seeschifffahrt erfasst, um 89%.

Hierin drückt sich aus, dass in der Funktion des Geldes in der Warenmetamorphose die Möglichkeit der Krise selbst angelegt ist: „Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktenaustausches eben dadurch, dass sie die hier vorhandene unmittelbare Identität zwischen dem Austausch des eigenen und dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf spaltet. Dass die selbständig einander gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebenso, dass ihre Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine – Krise. Der der Ware immanente (…) Widerspruch erhält in den Gegensätzen der Warenmetamorphose seine entwickelten Bewegungsformen. Diese Formen schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit der Krisen ein“ (8). Insbesondere mit der Bewegungsform des Kreditgeldes entwickelt sich die Krise zur Geldkrise, in der die Warenmetamorphose ohne das Wiederauftauchen von „harter Geldware“ auf äußerste in Frage gestellt ist: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit seine (des krisen-getroffenen Bürgers, d.A.) Seele nach Geld, dem einzigen Reichtum. In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert“ (9).

 

Abbildung 1: Entwicklung der Geldmenge – USA und Eurozone 2007-2009 (10)

 

Insofern war es tatsächlich „systemrelevant“, dass die am Abgrund torkelnden Finanzkapitale in der Krisenperiode Herbst/Winter 2008/2009 mit einer waren Sintflut von Geld vollgepumpt wurden. Um nur an die Aktivitäten der US-Zentralbank zu erinnern:

Um die 300 Milliarden Dollar kaufte die FED US-Regierungsanleihen auf (eine Umschreibung für „Geld drucken“ im Kreditgeldzeitalter).

Für 1 Billion Dollar übernahm die FED „faule“ Immobilienkredite.

Die Absenkung der Leitzinsrate auf fast 0% führte zu einem Abrufen von über einer weiteren Billion Dollar durch die Banken, zum Teil mit für Zentralbankkredite ungewöhnlich langen Laufzeiten (z.B. Einjahreskredite).

Das Ergebnis dieses Geldsegens war eine Ausweitung der Geldmenge von Anfang 2007 bis Mitte 2009 um 138% in den USA – und mit ähnlichen Mitteln um fast bescheidene 35% in der Euro-Zone (siehe Abbildung 1: Entwicklung der Geldmenge – USA und Eurozone 2007-2009).

Diese Ausweitung der Geldmenge nach dem September 2008 ging einher mit einem scharfen Einbruch der Wirtschaftsleistung – das US-BIP sank nach dem Horrorjahr 2008 nochmals um 2,6%, während das deutsche BIP um 5% einbrach. Normalerweise ist eine solche Auseinanderentwicklung von Geldmenge und Wirtschaftswachstum notwendigerweise mit Inflation verbunden. Nicht so 2009: Denn während die Banken wie Vampire heftig Geld von den Zentralbanken und Regierungen saugten, fiel ihr Kreditvolumen an ihre eigenen Kunden dramatisch. Sowohl US- als auch Euro-Banken reduzierten ihre Umsätze (d.h. ihr Kreditgeschäft) um zweistellige Prozentsätze. Weil sie faule Papiere an den Staat abgeben und durch günstiges Zentralbankgeld die Verluste auffangen konnten, die durch die Abschreibung von Kreditausfällen entstanden waren, konnte eine großer Teil der Banken trotz Krise Bilanzgewinne verbuchen. Der Zweck der Operation, Bankenanstürme zu vermeiden und Spekulationswellen gegen „systemrelevante“ Banken zu verhindern, wurde erreicht.

Diese in höchstem Maße widersprüchliche Situation von enormer Kreditgeldausweitung auf Seiten der Zentralbanken und Kreditgeldschrumpfung auf der Seite der Nicht-Finanzwirtschaft bedeutet, dass sich in der rezessiven Nicht-Finanzwirtschaft „Geldmangel“, Nachfrageschwäche, ja sogar Deflationsgefahr breit macht. Dies wird noch durch die typischen Merkmale der „neoliberalen Globalisierung“ verstärkt: Lohndumping, niederpreisige Importware, wachsende Sparquote in den „Exportnationen“, etc.. Auf der anderen Seite findet sich eine wahre Sintflut von Geld in der „Liquiditätsfalle“ des Finanzkapitals – eine Erscheinung, die John M. Keynes als Charakteristik für die Zeit nach dem Crash 1929 und Auslöser für die Depression in den 30er-Jahren analysiert hat (11). Keynes zog die Konsequenz, dass nur Staatsintervention, sprich Konjunkturpakete und staatliche Einflussnahme auf die Kreditvergabe (z.B. durch Verstaatlichungen) aus dieser Liquiditätsfalle führen können – und so zum „Anspringen“ des kapitalistischen Motors führen. Im Wesentlichen wurde dieser Teil seiner Ratschläge befolgt, was zumindest ab der zweiten Hälfte 2009 zu einem gewissen Wiederanspringen der Konjunktur in den G20-Ländern geführt hat. Insgesamt wurde von den G20-Ländern staatlicherseits etwa 1,5 Billionen Dollar in Konjunkturpakete und ähnliches investiert – mit dem Ergebnis von im Vergleich zu den dramatischen Einbrüchen schwächlichen Wachstumsraten. Trotzdem birgt dieser „Aufschwung“ eine neue Gefahr: die enorme in den Banken aufgehäufte Geldmenge drängt in gewinnbringende Anlagen. Bei den mickrigen Margen in der Realwirtschaft sind die „Aufschwungserwartungen“ eine willkommene Grundlage für neue Spekulationsblasen.

Zusätzlich birgt die anziehende Nachfrage, die sich wieder ausweitende Kreditierung auch der „Real-Wirtschaft“ und der verstärkte Bedarf an Rohstoffen, in Kombination mit der weiter andauernden Geldentwertung durch Kreditausfälle auch die Gefahr, dass sich die Ausweitung der Geldmenge auch tatsächlich in Inflation auswirkt. Schon vor dem Crash 2008 drohten Kreditausfälle und spekulatives Hochtreiben der Rohstoffpreise die Rezession mit Inflation zu paaren – ein Schreckensszenario, das nun den schwachen Aufschwung im Keim ersticken könnte (wenn die Zentralbanken ihre Geldpolitik aufgrund von Inflationsgefahr völlig umpolen müssten).

Die Grenzen der expansiven Geld- und Finanzpolitik, d.h. von Kreditexpansion und Staatsverschuldung sind sicherlich erreicht. Die Liquiditätsprobleme der Privatbanken und ihre „Risiken“ wurden im Großen und Ganzen auf die Staatshaushalte verschoben. Nunmehr droht neben Inflation und durch Haushaltskürzungen gedrückte Konjunktur vor allem auch die Gefahr, dass ganze Staaten am Rande des finanziellen Abgrunds stehen. Das Beispiel Griechenlands zeigt, wie sich jetzt die Liquiditätskrise vom Bankensektor auf die Staaten verlagert hat, die ihre kurzfristigen Verbindlichkeiten nur noch erfüllen können, indem sie horrende Renditen für Staatsanleihen versprechen – doch selbst dafür immer weniger Geld auftreiben können. Wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist durch Expansion seines Kreditgeldes für Liquidität zu sorgen, dann muss diese Rolle offensichtlich vom „Geld als Weltgeld“ erfüllt werden. Im Falle von Griechenland wird so ein ganzes Land unter die Kontrolle des Euro-Finanzkapitals gestellt (der Euro ist heute neben dem Dollar zum Bestandteil des Weltgeldes geworden). Im Fall von Dubai waren es die Petro-Dollars der Nachbarstaaten. Spanien, Portugal, Irland und Italien werden als nächste in der Reihe in Europa genannt, während in den USA der größte Bundesstaat Kalifornien unter Schuldenverwaltung steht. Für eine Vielzahl anderer, vor allem halbkolonialer, Länder (auch in Europa) ist wiederum das IWF-Schuldenmanagement am Werk. In jedem Fall ist eine große Zahl weiterer Staaten auf dem Weg in diese Richtung – und damit ist auch ein neues Spekulationsgeschäft eröffnet, das horrende Gewinne verspricht. Zusätzlich ermöglicht die finanzielle Notlage der Staaten nunmehr dem Finanzkapital diesen Staaten eine weitere Welle an Privatisierungen und Deregulierungen aufzuzwingen.

Unter diesen Bedingungen suchen die Zentralbanken und Finanzministerien der imperialistischen Zentren seit einiger Zeit nach der sogenannten „Exit-Strategie“. Es geht um die Frage, wie sich die enorme Geldmenge und die Verstrickung der Staaten (bzw. vor allem ihrer Haushalte) in die Finanzinstitutionen zurückfahren lässt – ohne dass dadurch der nächste Crash ausgelöst wird. Als erstes hat China hier eine Kehrtwende vollzogen, als Mitte Januar 2010 die Zinsen erhöht und die Kreditvergabe stark gebremst wurde. Nicht zufällig führte dies zusammen mit den Problemen in der Euro-Zone zu einem Abbruch der bis dahin seit März 2009 andauernden stetigen Aufwärtsbewegung an den internationalen Börsen. Inwieweit die Exit-Strategien in den imperialistischen Zentren im Laufe der nächsten 1-2 Jahre zu einem neuen Crash führen werden oder nicht – auf jeden Fall werden sie massive Einbrüche in der Realwirtschaft (Austeritätspolitik, Kreditklemmen, keine Hilfen mehr bei Firmenzusammenbrüchen,…) zur Folge haben, die das wahre Ausmaß der Krise für die Arbeiterklasse weiter fühlbar machen werden.

Zinsen, fiktives Kapital und die Auswirkungen auf die „Realwirtschaft“

Im RM 39-Artikel zum Finanzkapital wurde in ausführlicher Form das zinstragende Kapital werttheoretisch aus dem allgemeinen Kapitalbegriff abgeleitet. Hier sei noch einmal an die wesentlichen Punkte erinnert: In der Marx’schen Analyse des Zinses ist dieser nicht etwa der Wert einer besonderen Kapital-Ware (dies ist vielmehr eine der Fetischformen des Kapitals), sondern er ist Verkaufspreis des Eigentumstitels an Kapital, das einem fungierenden Kapitalisten zur Aneignung von Mehrwert dient, mit dessen Realisierung auch die Begleichung des Zinses möglich ist (G-G-W-G‘-G‘). Über den Ausgleich der Profitraten zur Durchschnittsprofitrate für das produzierende Kapital ist damit ein allgemeiner Kapitalzinssatz möglich, der unabhängig von der speziellen Art des fungierenden Kapitals rein auf Grund von Angebot und Nachfrage auf dem Kapitalmarkt gebildet wird.

Im zinstragenden Kapital sind sämtliche seiner Voraussetzungen verschleiert: die Genese von Waren- und Geldform; die Verwandlung aller Produktionsbedingungen in Warenkapital, welches durch Lohnarbeit verwertet wird; die Verwandlung von Geld in Geldkapital; die Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozess als Akkumulationsprozess des Kapitals; die Herausbildung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate, sowie seiner langfristigen und konjunkturellen Entwicklungstendenzen. Trotzdem sind alle diese Bedingungen in den Bewegungsformen des zinstragenden Kapitals wirksam (aufgehoben) und mit ihm aufs engste verwoben – und nur in ihrem Zusammenhang lassen sie sich auch analysieren. Letztlich basieren sie alle auf dem Eigentum an vergegenständlichter fremder Arbeit (und dessen Reproduktion) als Grundlage der Aneignung von mehr fremder Arbeit auf erweiterter Stufenleiter. Zins ist eine Form der Aufteilung des Profits, ein Mittel zur Aneignung fremder Arbeit, ohne selbst den Prozess der industriellen oder kommerziellen Profitwirtschaft durchlaufen zu müssen. Ohne entsprechende Entwicklung der Profite muss daher auch der Zins nachgeben – auch wenn er, abgeleitet vom Durchschnittsprofit, mehr zeitliche und räumliche Bewegungsfreiheit hat als industrielles oder kommerzielles Kapital.

Als abgeleitete Größe – abhängig von den längerfristigen und untergründig vor sich gehenden Ausgleichungstendenzen der Profitraten – hat das zinstragende Kapital keinen eigenständigen Wert oder „natürlichen Zins“. Der Zins bildet sich zu gegebenen Zeitpunkten (stündlich, täglich, monatlich…) auch immer entsprechend dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage in der willkürlichen Spanne zwischen Null und den durch die Profitratenbewegungen bestimmten Grenzen. Er ist somit im Gegensatz zu den sonstigen Warenmärkten wirklich ein Beispiel für das Gesetz von Angebot und Nachfrage (ohne Schwankung um einen tatsächlichen Wert). Aufgrund seiner zeitlich fixierbaren Festlegung in Kursbewegungen von Raten erscheint der Zins an der Oberfläche als die Erscheinungsform der Durchschnittsprofitrate: „Die Durchschnittsprofitrate erscheint nicht als unmittelbar gegebene Tatsache, sondern als erst durch Untersuchung festzustellendes Endresultat der Ausgleichung entgegengesetzter Schwankungen. Anders der Zinssatz. Er ist in seiner, wenigstens lokalen, Allgemeingültigkeit ein täglich fixiertes Faktum, das dem industriellen und merkantilen Kapital sogar als Voraussetzung und Posten bei seinen Operationen dient“ (12).

Diese Erscheinungsform ist Grundlage einer weiteren „Wertillusion“: Mithilfe des Zinses lässt sich ein sogenannter „Kapitalwert“ bestimmen – das ursprünglich investierte Geld mitsamt Verzinsung über die gesamte Laufzeit. Durch Diskontierung des Kapitalwerts auf jeglichen Zeitpunkt zwischen Investition und Kapitalrückfluss, lässt sich der „Kapitalwert“ als variable Größe auch zu diesen Zeitpunkten berechnen. Auf diese Weise kann jegliche Kapitalanlage (bezeichnenderweise vielfach „Risiko“ genannt) auch mehr oder weniger jederzeit „kapitalisiert“, verbrieft und als Wertpapier gehandelt werden. Mit dem Kapitalwert wird die Bewegungsform des zinstragenden Kapitals um die des fiktiven Kapitals erweitert – Kapital hat sich endgültig in (nur fiktiv Wert tragenden) Eigentumstitel und reales, fungierendes Kapital geteilt. Aufgrund seiner Genese verhält sich der Wertpapierkurs in umgekehrtem Verhältnis zum Zins (13) – de facto wird sich der Wertpapierkurs gegenüber dem Zinssatz jedoch verselbständigen und selbst von Angebot und Nachfrage abhängen. Nur in letzter Instanz werden Zinssatz und Wertpapierkurs mehr oder weniger gewaltsam in Gleichgewicht zur tatsächlichen Ausgleichung der Profitraten tendieren. Mit der Einberechnung des fiktiven Kapitals (mit seinem „aktuellem Kapitalwert“) in die Bilanzen von Unternehmen und Volkswirtschaften lebt auch die politisch-ökonomische Wahrnehmung der Realität in fiktiven Welten, um nur kurzfristig während der Krisen auf den Boden der Realität geholt zu werden. Da die Bewertung des fiktiven Kapitals auf Erwartungen in zukünftigen Profitrückfluss beruht, wird ein immer größer werdender Teil der Gesamtökonomie von Spekulationen auf ungewisse räumlich-zeitliche Tendenzen der Profitratenentwicklung abhängig. Da die reale Tendenz der Profitratenentwicklung zumeist keine großen Spielräume erlaubt, muss sich diese positive Kapitalwert-Erwartung mehr und mehr selbst auf spekulative Anlagefelder beziehen.

Mit Blick auf die Entwicklung der gegenwärtigen Finanzkrise ergeben sich aus diesen Überlegungen unter anderem folgende Fragen: Welche Tendenzen lassen sich aus der Zinsratenentwicklung ablesen? Inwiefern wurde das fiktive Kapital „berichtigt“? Wie stellt sich die Rückwirkung des Finanzsektors auf die Realwirtschaft dar?

Zunächst sollte noch klar sein, dass es „die Zinsrate“ natürlich nicht gibt – auch wenn ihre verschiedenen Ausprägungen auf der Durchschnittsprofitrate beruhen. Gerade ihre starke Marktabhängigkeit bedeutet, dass sich die Zinsrate in verschiedensten Raten darstellt: langfristige/kurzfristige, Zinsen für Kredite an unterschiedlich „bewertete“ Gläubiger (gute Bonität = „prime“ = „AAA“,…; schlechte Bonität = „sub-prime“ = „B“, etc.), Zinsen für verschiedene Anlagetypen (z.B. Unternehmensanleihen, Staatsanleihen, etc.), Zinsen für verschiedene Kreditinstitute (z.B. Geschäftsbanken, Inter-Bankenkredite, Zentralbanken) – und dies auch noch in verschiedensten Kombinationen. Genauso differenziert ist natürlich auch der Wertpapiermarkt, der über die verschiedensten Arten von Termingeschäften und über „Strukturierung“ von Wertpapieren eine ganze Stufenleiter von „abgeleiteten“ Wertpapiermärkten erlaubt (z.B. Derivate zur Absicherung von Kursverlusten).

In Abbildung 2 wird die Entwicklung wichtiger Zinsarten in den USA seit den 50er-Jahren veranschaulicht anhand des Leitzinses (FED Rate), dem Zins für AAA-geratete Unternehmensanleihen, sowie dem normalen Geschäftsbankzins und dem Zins für 10-jährige Staatsanleihen. Dabei ist wichtig, dass speziell der Zins für die prime-gerateten Unternehmensanleihen für Kapitalwertberechnungen von Investitionen oder z.B. Rentenwerten dient. So wird auch deutlich, dass die Bewegung des Leitzinses nicht gleichbedeutend ist mit der Zinsentwicklung. Er ist wesentlich für den Geschäftsbankzins, aber nicht unbedingt für Unternehmensanleihen und langfristige Anlagen.

Natürlich stellen Leitzinssenkungen immer eine Möglichkeit zur Steigerung der Gewinnspanne der Banken dar. Deutlich wird an der Abbildung, dass es nach dem sogenannten Volcker-Schock der frühen 80er-Jahre (Reagans FED-Chef Volcker erhöhte angesichts der Inflationstendenzen der 70er-Jahre gemäß monetaristischer Lehre die Zinsen schockartig) zu einem tendenziellen Absinken des Zinsniveaus kam. Die fallenden Zinsen insbesondere ab den 90er-Jahren waren jeweils eng verknüpft mit spekulativen Bewegungen im Wertpapiersektor (insbesondere wenn die Zinsen trotz Rezession niedrig bleiben!). Die jeweils kurzen Zwischenerhöhungen sind nicht zufällig mit dem Auftreten von Finanzkrisen verknüpft: Tequila-Krise/Mexiko 94/95, Asienkrise 97, Dotcom-Blase/Argentinien 99/2000, schließlich die Subprime-Krise nach 2005.

 

Abbildung 2: Zinsratenentwicklung USA 1954-2008 (Quelle: FED-Website)

 

Mit dem Crash 2008 wurde der Leitzinssatz fast gegen Null gesenkt. Natürlich hat dies mitsamt den anderen schon geschilderten Maßnahmen zur Öffnung der „Geldschleusen“ eine Wiederbelebung von spekulativen Wertpapiergeschäften zur Folge. Es ist so kein Wunder, dass der Dow Jones von März 2009 bis Jahresende um fast 20% stieg, während das BIP um 2,5% sank (beim DAX sind die Verhältnisse sogar noch extremer). Ebenfalls drohten im Herbst 2008 bis zum Gegensteuern der Zentralbank die Zinsen für Unternehmensanleihen (AAA) von ihrem stabilen Niveau um 5,4% in die Höhe zu schnellen. Tatsächlich schnellten Kreditzinsen für nicht-prime Unternehmen sogar über die 10%-Marke. Auch wenn sich in Folge die Zinsen für AAA-Unternehmen stabilisieren ließen, bleiben die Zinsen für die schlechter bewerteten Unternehmen auf hohem Niveau (um die 9%).

Da viele Firmen, die nicht zu den ganz großen Unternehmen gehören(bei denen Liquiditätsprobleme zumeist zu Staatshilfen führen, wie bei GM zu sehen), in Zeiten der Rezession schnell vom Absinken ihrer Eigenkapitalquote betroffen sind, bedeutet dies für viele dieser Unternehmen schnell auch „Kreditunwürdigkeit“, also nicht leistbare Kreditkonditionen, Zahlungsschwierigkeiten, bis hin zur Insolvenz. Insofern bedeutet diese Spreizung zwischen niedrigen Zentralbankzinsen und hohen Kreditzinsen für „Normalunternehmen“ einerseits eine Sanierung der Bankengewinne, andererseits eine massive Welle von Firmenzusammenbrüchen gerade in Industrie und Handel aufgrund der „Kreditklemme“. Bleibt zu erwähnen, dass die Zinsgewinne der Banken sich letztlich aus den Profiten von Industrie und Handel ableiten. Derzeit drückt sich dies in einem mit der Gewinnstabilisierung einhergehenden Schrumpfen des Umsatzes der Banken aus. Gleichzeitig ist die Rate der Kreditausfälle jedoch weiterhin hoch (auch wegen der Insolvenzen) und kann daher verzögert wiederum zum Gewinneinbruch bei den Banken führen. Es gibt keinen Münchhausen-Trick für das Finanzkapital, wenn die Konjunktur nicht wirklich kräftig anspringt.

Zur Frage des fiktiven Kapitals. Das Ausmaß der aktuellen Fehlbewertung von fiktivem Kapital wird sicherlich an der Subprime-Krise am deutlichsten. Die Literatur (14) zu dieser Krise ist inzwischen sehr umfangreich und gibt gute Einblicke in die Bewegungsformen von fiktivem Kapital. Gerade die höheren Zinsraten für US-Häuslebauer mit geringer Bonität ermöglichten bei sinkenden Zinsen die gewinnbringende Kapitalisierung der entsprechenden Schuldverschreibungen. Solange die Zinsen fielen (und die Schuldner sich so immer wieder refinanzieren konnten) und die Immobilienpreise stiegen, waren somit gerade diese Subprime-Papiere äußerst lukrativ. Zudem konnten die „Risiken“ durch die Unterbringung dieser Papiere in strukturieren Fondspapieren mit AAA-Bewertung breit gestreut werden – tatsächlich stellte sich heraus, dass diese Streuung fast die ganze Welt und Finanzwirtschaft umfasst.

Der Umfang dieser Scheinblüte wird klar, wenn man bedenkt, dass in den Jahren 2002 bis 2005 mehr als die Hälfte aller neu geschaffenen Jobs in den USA mit dem Bau- und Immobilienboom zu tun hatte. Der gesamte Zuwachs des privaten Konsums in den USA in diesem Zeitraum wird von der FED auf dieses Segment zurückgeführt. Allein die Provisionen, die Investmentbanken noch 2006 mit Securitization erzielen konnten, hatten sich in fünf Jahren auf 5,6 Milliarden Dollar verdreifacht, die Hälfte davon im Hypothekenbereich. Im Jahr 2003, dem Höhepunkt der Spekulationswelle wurden allein 4 Billiarden US-Dollar mit Hypotheken umgesetzt (15). Bis Ende 2006 war dies auf 2,5 Billiarden zurückgegangen, im Hypothekengeschäft brachen die Margen wegen Überkapazitäten und beginnendem Kreditausfall weg. Die Pioniere der Branche wie Bear Stearns und Goldman Sachs waren die ersten, die sich rechtzeitig aus dem Geschäft zurückzogen.

Tatsächlich ist der Wertpapiermarkt – anders als vielfach behauptet – kein Nullsummenspiel, bei dem die Verluste der einen die Gewinne der anderen sind. Denn sobald die dem Wertpapier zu Grunde liegenden Werte ausfallen, stehen die Verluste der Besitzer des Eigentumstitels in keinem Verhältnis mehr zu den Gewinnen derjenigen, die rechtzeitig verkauft haben. Zusätzlich gibt es die unmittelbar vom Wertverlust Betroffenen, also z.B. die delogierten Immobilienbesitzer. Mit dem Ausbruch der Subprime-Krise waren also nicht bloß die unmittelbaren Eigner solcher Papiere oder davon abgeleiteter Fondspapiere betroffen, sondern die Masse der Vermögensverluste betraf die Zahlungsfähigkeit eines großen Teils der Gläubiger der Finanzwirtschaft – womit ein Domino-Effekt von Liquiditätsproblemen eintrat, der auch Gewinner der Subprime-Aktion, wie Bear Stearns heftig treffen konnte. Nur Goldman Sachs, die rechtzeitig zusätzlich in das Geschäft mit Baisse-Spekulation (Derivate auf fallende Kurse, Verluste, Firmenzusammenbrüche,… – jeweils ihrer eigenen Kunden!) eingestiegen war, konnte im Großen und Ganzen unbeschadet durch die Krise tauchen. Daher hat sich ihr CEO, Lloyd Blankfein, seine Rekord-Boni mitten in der Finanzkrise auch redlich verdient (2007: 67,9 Millionen Dollar). „Ich bin bloß ein Banker, der Gottes Werk verrichtet“, äußerte er dazu bescheiden jüngst in einem Interview (16).

Die Maximalkosten der durch die Krise ausgelösten Zahlungsprobleme berechnete der Sonderbeauftragte der US-Regierung für das Bankenrettungsprogramm TARP, Neil Barofsky, mit 23,7 Billionen Dollar (17). Dazu zählen 6,8 Billionen Hilfen für wackelnde Finanzfirmen, 2,3 Billionen für die Einlagesicherung, 7,4 Billionen für die Stabilisierungsprogramme des Finanzministeriums, 7,2 Billionen für die Stützung von Hypothekenfinanzierern, vor allem Fannie Mae und Freddie Mac. Macht zusammen etwa das Achtfache eines US-Jahreshaushaltes.

Dies ist sicherlich eine ganz gute Schätzung für den Umfang der Überbewertung von fiktivem Kapital im Gefolge der Subprime-Blase. Wie viel davon tatsächlich „sozialisiert“ gerettet wird und wie viel an Überkapazität durch die Krise vernichtet wird, lässt sich dagegen bisher schwer sagen. Die Indikatoren, wie Größe der Kreditabschreibungen, Delogierungen, Firmenpleiten, Anstieg der Arbeitslosigkeit, sind für die betroffenen US-ArbeiterInnen bestürzend – zeigen in ihrem Ausmaß im Vergleich zum Problem jedoch, dass die Kapitalvernichtung bisher wohl nicht die für die kapitalistische Krisenbewältigung notwendigen Ausmaße angenommen hat. Dazu passt, dass die sogenannten „toxischen Papiere“ aus der Immobilienkrise an der Wall Street längst wieder in neue Anlageformen verpackt werden – die sogenannten Re-Remic („Resecuritization of Realestate Mortgage Investment Conduit“) (18): die alten, unverkäuflichen Wertpapiere werden neu aufgeschnürt, die darin enthaltenen Hypotheken neu sortiert, so dass die vermeintlich „guten“ nun wieder das AAA bekommen. Und nicht nur hier beginnt „das Spiel“ von neuem.

Längst fließen die Milliarden wieder zurück an die Wertpapiermärkte, aus denen sie in Panik abgezogen worden waren. Über 200 Millionen riskieren die Händler von Goldman Sachs schon wieder pro Tag. Schon wurden in einigen Ländern auch hoch-riskante Geschäfte, die nach dem Crash 2008 verboten worden waren, wieder zugelassen: So hat jüngst das Finanzministerium den ungedeckten Leerverkauf für Finanztitel wieder freigegeben – sehr zur Freude aller Hedge-Fonds, die sich wieder munter tummeln. War im Herbst 2008 noch das Ende solcher Fonds und der Investmentbanken vorhergesagt worden, so sind sie heute die ersten, die wieder Rekordgewinne und Expansion vermelden können. Die Turbulenzen nach der Ankündigung von US-Präsident Obama, dass er eine strengere Regulierung gerade solcher Geschäfte anstreben würde, sind mehr als gespielt: so sehr wie gerade die Obama-Administration mit Lobbyisten von Goldman Sachs und Co durchsetzt ist, ist nicht zu erwarten, dass diese „Reform“ zu deren Schaden sein wird.

Zur Frage der Auswirkungen auf das Realkapital. Es wurden in diesem Artikel schon eine Reihe dieser Auswirkungen analysiert: die Probleme für die Abwicklung des Welthandels in Finanzkrisen; die Kreditklemme für die Realwirtschaft (wenn auch nach Sektoren unterschiedlich); die Schwierigkeit der Finanzierung von Großgeschäften. Dazu kommt die Bedeutung des Finanzsektors für die Finanzierung von Großinvestitionen gerade am Beginn von Konjunkturzyklen, sowie seine Bedeutung bei der Zentralisation und Konzentration von Kapital (siehe detailliert im RM 39-Artikel). Gerade im Monopolkapitalismus ist die Kapitalaufbringung für Neugeschäfte die gewinnbringendste Aktivität des Finanzkapitals („Gründergewinn“ bei Hilferding), die Dividenden oder Zinsen bei weitem in den Schatten stellt.

 

Abbildung 3: Komponenten des Profits von nicht-finanziellen US-Unternehmen (Mrd. US Dollar) (19)

 

Abbildung 3 zeigt die Entwicklung von Unternehmensgewinn im Verhältnis zu den Lasten der Finanzwirtschaft auf das nicht-finanzielle Kapital in den USA von 1954 bis 2007. Es wird deutlich, dass die re-investierbaren Unternehmensgewinne seit den 70er-Jahren deutlich hinter den Zins- und Dividenden-Verpflichtungen hinterher hinken. Nach einer gewissen Entspannung zwischen 1991 und 1996, gefolgt von einem erneuten Rückschlag um den Jahrtausendwechsel, schienen sich die Probleme der Profitabilität während der Subprime-Blase gelöst zu haben. Offensichtlich wurden auch bei vielen Nicht-Finanz-Unternehmen die Bilanzen mit „wertgestiegenen“ Papieren aufgefrischt. Somit hat die Finanzkrise auch unmittelbare Auswirkungen auf die Gewinnsituation dieser Unternehmen. Mit den steigenden Zinslasten wird so die Finanzierungsproblematik für die Unternehmen nochmals verschärft.

Andererseits ist auch bekannt, dass mit der seit den 80er-Jahren gesteigerten Abgabenquote des produktiven Kapitals an das Finanzkapital, der Druck auf Absenkung der „Steuer- und Abgabenlasten“ gegenüber dem Staat immer größer wird. Mitsamt den Einbrüchen bei den Steuereinnahmen durch die Krise wird dies die Haushaltsprobleme der sowieso schon durch die Rettungspakete hoch verschuldeten Staatshaushalte nochmals verschärfen. Die Kabarett-Einlage der deutschen Bundesregierung mit der Verkündung von Steuersenkungen mitten in der Finanzkrise ist hier nur ein dilettantischer Vorbote eines drängenden Widerspruchs der nächsten Jahre.

 

Abbildung 4: Anteil der Top 10% Gehaltsempfänger am US-Lohneinkommen (Quelle: Piketty/Saez)

 

Abbildung 4 zeigt, dass der tatsächlich in den Bilanzen ausgewiesene Unternehmensgewinn nicht den tatsächlich vom fungierenden Kapital angeeigneten Gewinn wiedergibt. Der Teil der als „lohnabhängig“ geführten Top-Verdiener ist in den USA besonders seit den 90er-Jahren extrem angestiegen. Diese „oberen 10%“, mit einem Jahres-Durchschnittsverdienst von 250.000 Dollar, arbeiten im Management, in Aufsichts- und Finanzpositionen, die einen großen Teil ihrer Einkünfte als „Funktionäre des Kapitals“ über Gewinnbeteiligungen, Boni, Aktienoptionen oder ähnliches beziehen. Der Anstieg der Verdienste dieser Beschäftigten auf über ein Drittel der Gesamtverdienste zeigt, dass die absolute Mehrwertrate weitaus stärker gesteigert wurde, als der 3% Rückgang der Lohnquote seit den frühen 90er-Jahren andeutet. Das bedeutet auch, dass diese Schicht von Beschäftigten aufs engste mit dem Finanzkapital verbunden ist und natürlich auch selbst beträchtliche Investoren stellt. Außerdem zeigen die Daten, dass es für sie kaum Einschnitte während der Finanzkrise gab.

Insgesamt wird das produktive Kapital auf diese Weise immer mehr von einem parasitären System überlagert – ob außer- oder innerhalb des fungierenden Kapitals ist hier ganz egal. Es gibt also kein positives, nicht-parasitäres „schaffendes Kapital“, das vom „reinen Finanzkapital“ erdrückt wird. Das System des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Epoche ist insgesamt vom Kopf her parasitär.

Die Notwendigkeit von Bankenkrisen und Spekulationsblasen in der Epoche des Finanzkapitals

Das zinstragende Kapital erreicht seine enorme Wirkkraft im Kapitalismus durch seine Konzentration in eignen Finanzinstitutionen. Erst durch diese geballte Konzentration von Geldkapital ist Akkumulation auf immer größerer Stufenleiter möglich. Die Finanzinstitutionen konzentrieren die Akkumulations- und Reservefonds des fungierenden Kapitals, die Rücklagen und Versicherungen, die Ersparnisse aus Profiten, Löhnen, Renten, etc um sie für Anlagen verschiedenster Art und Größe zu bündeln. Nebenbei organisieren sie dabei große Teile der Zirkulation, des Zahlungsverkehrs selbst (historisch gesehen ist das die Wurzel des Bankwesens), und senken durch die Ökonomie der Skalenerträge die Zirkulationskosten (auch wenn sie dies durch Gebühren großteils selbst einbehalten).

Entsprechend den unterschiedlichen Funktionen (Anlage/Investitionen, Zahlungsverkehr, Handel von fiktivem Kapital,…), Anlagearten (Hypotheken, Versicherungen, Investitionen,…), dem Umfang und der Dauer etc, gibt es eine große Fülle von Finanzinstitutionen (Geschäftsbanken, Investmentbanken, Fondsgesellschaften, Versicherungen, Finanzmakler,…). Zusätzlich setzt sich, wie überall im Kapitalismus, die Trennung zwischen Kapitaleigentum und fungierendem Kapital durch. So ist das Finanzkapital (als Eigentümer) einer seiner größten Anleger (in sein fungierendes Kapital) selbst, während seine Top-Angestellten ihrerseits Zentralfiguren des Systems darstellen (seine „Charaktermaske“ tragen). Schließlich ist das Finanzkapital, sowohl was seine Eigentümer, als auch was das fungierende Personal betrifft, aufs engste mit dem Kapital der Großkonzerne in Industrie und Handel verschmolzen. Dieses „Monopolkapital“ – wie wir es auf der Grundlage von Lenins Analyse im RM 39 ausführlich entwickelt haben – ist weiterhin das bestimmende Moment der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des imperialistischen Monopolkapitals.

Wie kommen nun die Gewinne der Finanzwirtschaft (im Folgenden verkürzt „Banken“ genannt), die oft jedes Maß zu sprengen scheinen, zustande? Wie schon dargelegt, basieren diese Gewinne letztlich auf der Aneignung eines beträchtlichen Teils der Profite des produktiven Kapitals. Diese Aneignung wird in der Zirkulationssphäre vermittelt über den sogenannten „Hebeleffekt“:

Im Wesentlichen ist das Geschäft der Banken dort besonders gewinnbringend, wo es ähnlich funktioniert wie die jetzt so anrüchigen „Leerverkäufe“: man leiht sich kurzfristiges Geld auf Basis geringerer Zinssätze, um langfristige Kredite mit höherem Zinssatz zu finanzieren. Durch die Masse solcher Geschäfte und ihre Zeitverteilung gibt es gewöhnlich genug Rückfluss aus den Krediten um selber die kurzfristigen Verbindlichkeiten zu erfüllen, so dass nur eine kleine eigene Rückstellung zur Absicherung der Verbindlichkeiten notwendig ist („Eigenkapitaldeckung“). Dieser kleine Kapitaleinsatz wird so zum „Hebel“, mit dem große Kreditgeschäfte finanziert werden können, die weitaus mehr Zinsgewinn abwerfen, als die eigenen Finanzierungszinsen (für die „Einlagen“). Diese Bewegungsform lässt sich in folgender Formel für das Bankkapital zusammenfassen:

 

 

Hier stellt G das Einlagekapital der Gläubiger der Bank dar, während g das Eigenkapital der Bank symbolisiert. Im Prozess des Bankkapitals ist die Formel des zinstragenden Kapitals enthalten: G-G‘ und (G+g)-G“. Durch die besondere Rolle des Kredits in der Akkumulation ist es nun möglich, dass große Geldmengen weitaus mehr Profit und damit auch Zins abwerfen können als Kleingeld, woraus sich real der Zinsunterschied zwischen dem „normalen“ Zins (G‘) und dem „Hebel-Zins“ (G“) ergibt. Während die Einleger so nur ihr Kapital zum normalen Einlagezins (G‘) zurückerhalten, erhält die Bank das gehebelte Eigenkapital g“=G“-G‘, das bei weitem höher als die normale Verzinsung von g sein wird.

Nehmen wir als Beispiel eine Bank, in die Anleger 1.000.000 Dollar zum Zinssatz von 5% eingelegt haben, und die nun diese Anlage zusammen mit 100.000 Dollar Eigenkapital in eine Investition steckt, die 10% Zinsgewinn verspricht. Wenn das Geschäft gelingt, werden die 110.000 Dollar Zinsgewinn so aufgeteilt: 50.000 Dollar (5% auf die Einlage) fließen an die Anleger der Bank, die restlichen 60.000 jedoch an die Bank selbst – satte 60% Zinsgewinn auf die riskierte Eigenkapitalsumme! Da die Verzinsung des eigenen Kapitals 10% gebracht hätte, wurde durch die Aufstockung des eigenen Kapitals dieser Zinsgewinn um weitere +50% aufgehebelt.

Sei L (für „Leverage“, engl. Hebel) das Verhältnis von Bank-Verpflichtungen zum Bank-Eigenkapital, NIM („net interest margin“ = Nettozinsgewinn) die Differenz von G“ zu G‘ (also die durchschnittliche Differenz von Eingangs- und Ausgangszinsen der Banken) und sei FIM („financial interest margin“ = Finanzzinsgewinn) die Rate der bei großen Finanzinvestments zu erzielenden Zinsgewinne (G“), so ergibt sich als Formel für die Eigenkapitalrendite (engl. „return on equity) RoE:

RoE = FIM + L * NIM

Im obigen Beispiel: 60 (% Eigenkapitalrendite) = 10 (% Finanzgewinn) plus 10 (Hebelwirkung) mal 5 (% Differenz von Finanzgewinn zu Anlegerzins).

Dies bedeutet, dass so lange es eine für das Finanzkapital vorteilhafte Spreizung der Zinssätze gibt, seine Eigenkapitalrendite um so höher sein wird, je höher der Hebel ist, d.h. das Verhältnis von Bankschulden gegenüber dem Eigenkapital der Bank gesteigert wird. Daher ist es eine ganz natürliche spekulative Tendenz des Finanzkapitals diesen Hebel höher und höher zu treiben, und so die „Kapitaldeckung“ zu verringern (engl. „capital ratio“ – das Verhältnis zwischen dem Eigenkapital zum Anlagekapital der Bank, bestehend aus Fremd- und Eigenkapital).

Je mehr sich die Kapitaldeckung in den einstelligen Prozentbereich bewegt, desto mehr stellt sich natürlich die Frage der Liquidität der Bank. Wenn z.B. eine größere langfristige Investition „abgeschrieben“ werden muss, so könnte es geschehen, dass die Bank einen Großteil ihres Eigenkapitals zur Bedienung der kurzfristigen Verbindlichkeiten aufbraucht. Dies wiederum führt zu einem „Vertrauensverlust“ der Anleger und kann zu einem plötzlichen massiven Zurückziehen von Einlagen führen – dem sogenannten „Bankenansturm“. In so einer Situation kann eine Bank innerhalb kürzester Zeit vom Unternehmen mit „Milliardengewinnen“ zum Bankrotteur abstürzen.

Tatsächlich sind solche spekulativen Hebel-Booms mit gefährlichen Kapitaldeckungstendenzen gefolgt von Bankanstürmen und -zusammenbrüchen in der Geschichte des Kapitalismus nicht nur nicht ungewöhnlich, sondern sogar eine notwendige Konsequenz der Bewegungsform des Finanzkapitals. Nach den meisten dieser Crashs wurden dann „Regulationen“ entwickelt, die angeblich das System sicherer machen würden. So etwa der Glass-Steagal Act von 1933 in den USA, dessen Aufweichung in den 90er-Jahren nun als Krisenursache ausgemacht wird. Solche Regulationen beziehen sich etwa auf die Mindesteinlageregelungen (in Bezug auf Zentralbankgeld), untere Grenzen für die Kapitaldeckung (zumindest für Geschäftsbanken), Gewichtung und Bewertung von Risiken (zur Bestimmung von Deckungsgrenzen).

Des Weiteren wurden Institutionen geschaffen, z.B. zur Bankenaufsicht, zur Bewertung von Kreditwürdigkeit (z.B. mit Standards für Abstufungen wie AAA-, subprime, etc.), zur Einlagensicherung (z.B. in den USA die FDIC = „Federal Deposit Insurance Corporation“). Viele dieser Regelungen wurden internationalisiert in den sogenannten „Abkommen von Basel“, mit der „Bank für internationalen Zahlungsverkehr (BIS)“ als zentraler Agentur. Allerdings wurde „Basel II“ von den USA bis heute nicht umgesetzt. Außerdem wurde, wie gesagt, 1999 der Glass Stegal Act aufgehoben. Dieser verbot Banken andere Finanzdienstleistungen zu verkaufen, beispielsweise Maklerdienste oder Versicherungen. Insbesondere sollte mit diesem Gesetz das Geschäft von normalen Einlagebanken (mit Konten hautsächlich für Zahlungsverkehr, z.B. Girokonten) von dem der Investmentbanken (mit Einlagen, die primär für Investitionen gedacht sind), getrennt werden. Für letztere wurde schon unter Reagen 1980/82 in den „Banking Acts“ die Regulierung weitgehend aufgeweicht.

Mit diesen Deregulierungen im Bankensektor und entsprechenden Deregulierungen für internationale Kapitalanlagen („Deregulierung der internationalen Finanzmärkte“) in den 90er-Jahren eröffnete sich ein weites Feld für „Schattenbanken“, „Nichtbanken-Banken“, kurz Banken für Anlage-Arten, die von keiner Regulierung in nationalen Gesetzen oder vom Basel-Abkommen betroffen waren. Diese Institutionen operierten zumeist im Umfeld der großen „Investment-Banken“, zum Teil als unmittelbare Töchter, zum Teil als „Partner“, wenn nötig auch als eingegliederte Einheit. Ihr Hauptzweck bestand üblicherweise in der Transformation von kurzfristigen „Risiken“ (d.h. Schuldenmachen) in hoch-profitable Großinvestitionen, unter Erzielung von schwindelerregenden „Hebelwirkungen“.

So war etwa Lehman Brothers seit 1984 auf das Geschäft mit „Auction Rate Securities“ (20) spezialisiert: Sie boten zinsgünstige langfristige Kredite für große Institutionen an(z.B. dem Hafen von New York); diese Kredite wurden verbrieft und auf wöchentlichen Auktionen gehandelt; da sich immer wieder Käufer fanden, konnten Kurzfrist-Anleger höhere Zinsen als gewöhnlich erzielen, während für Lehmans immer noch eine Zinsdifferenz heraussprang. Im Jahr 2007 war das ARS ein 400 Milliarden Dollar Markt – und natürlich gab es keine FDIC, BIS oder eine sonstige Institution, die auf irgendwelche Mindestreserven oder sonstige Regeln prüfte. Und die ARS waren nur ein sehr kleines „Instrument“ in einer Masse von „innovativen, neuen Finanzprodukten“. Im Jahr 2007 handelten die 5 großen US-Investmentbanken in diesen Sektoren mit einem Kapital, das zwei Drittel des Anlagekapitals aller US-Geschäftsbanken umfasste.

In Abbildung 5 wird der erzielte Hebel („Leverage“) einer typischen Investmentbank – nicht zufällig Lehman Brothers – und den „normalen“ US-Geschäftsbanken in den Jahren 2003-2009 dargestellt. (Lehmans muss dabei leider im 3.Quartal 2008 beendet werden) (Quelle: FDIC)

 

Abbildung 5: Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital Lehman Brothers im Vergleich zu US-Geschäftsbanken (Quelle: FDIC Website)

 

Es wird deutlich, dass Lehmans am Ende mit einem Kapital operierte, das mehr als 30 mal so groß wie sein eigenes war, (dabei wurde Lehmans von anderen Investmentbanken, z.B. Bear Stearns noch übertroffen!) und damit noch 2007 Rekordgewinne erzielte. Dies ist zu vergleichen mit den Geschäftsbanken, die bloß 12-mal mehr als ihr Eigenkapital bewegten, was einer Kapitaldeckung von 8% entspricht, die damit noch oberhalb der Regulationsgrenzen (6%) liegen. Auch die Kurve der Geschäftsbanken geht Ende 2008 nach oben, da die Turbulenzen nach dem Kollaps von Lehmans, und die folgenden „Bankanstürme“ auch die Eigenkapitaldeckung aller anderen Banken wackeln ließ. Ohne die massiven Hilfen von US-Regierung und FED zur Sicherung der Eigenkapitaldeckung im letzten Quartal 2008 wäre diese Kurve wohl für alle Banken in die Höhe geschnellt – Zeichen für den allgemeinen Bankenansturm.

Tatsächlich erlitten hat das „Schattenbank-System“ diesen Ansturm auf seine „neuen, innovativen Finanzprodukte“. So kollabierte z.B. der ARS-Markt 2008 innerhalb weniger Wochen. Als es immer weniger Käufer für ARS-Papiere auf dem Markt gab, schnellten die Zinsraten für die Papiere in unermessliche Höhen – die Zinsdifferenz wurde für Lehmans negativ, und man verlor eine wichtige Finanzierungsquelle für kurzfristige Verbindlichkeiten. Der Markt für ARS ist verschwunden – wie für viele andere damals „moderne“ Instrumente – nur um heute wieder unter neuen Namen wieder auf zu erstehen.

Die Krise des Schattenbank-Systems ist daher eine logische Fortsetzung der Subprime-Krise: Die großen Profite waren durch das leveraging möglich geworden, durch die enorme Spreizung zwischen „Normalzinsen“ und den in speziellen „hoch-profitablen“ Anlagen erzielbaren Zinsen. Als sich herausstellte, dass ein Großteil dieser „hoch-profitablen“ Anlagen sich tatsächlich in der Spekulationsblase des Marktes für Subprime-Kredite befand, drehte die Zinsspreizung ins Negative – aus dem Hebel für enorme Gewinne, wurde ein Hebel für enorme Verluste („deleveraging“).

 

Abbildung 6: Kerndaten der US-Geschäftsbanken 2004-2009 (1: nur bis 9/2008; 2: nur die ersten 3 Quartale) (Quelle: FDIC Website)

 

In der Abbildung 6 können die Auswirkungen der Finanzkrise auf die US Geschäftsbanken studiert werden (Quelle: FDIC). Während sich die Eigenkapitalrendite stabilisiert hat (wenn auch auf niedrigem Niveau gegenüber 2006/2007!) und auch die Kapitaldeckung sogar über dem Wert von 2006 liegt, wird deutlich, dass einerseits immer noch hoher Kreditausfall (2,38% im Vergleich zum Anlagekapital!) auftritt, andererseits auch das Anlagekapital durch Drosselung der Kreditvergabe weiter sinkt (-2,4%). Dieser Gegensatz drückt die Tatsache aus, dass die Bankenrettungsgelder vornehmlich zur Eigenkapitalsicherung verwendet wurden, während sie nicht verhindern konnten, dass die Banken mit der Vergabe von Krediten und deren Konditionen sehr geizig geworden sind. Hinter den -2,4% steht etwa ein zweistelliger Rückgang des Kreditvolumens an die Industrie und vor allem an die Bauwirtschaft (bis zu -20%). Außerdem ist die Situation der Banken sehr unterschiedlich, was Kreditausfall- und Deckungsprobleme betrifft. Während 2008 nur 25 Geschäftsbanken zusammenbrachen (d.h. von der FDIC übernommen und abgewickelt wurden), waren es bis Ende 2009 über 100! Nachdem weitere 552 Banken von der FDIC als „problematisch“ bezüglich der Regulationskriterien eingestuft werden (das sind über 6% der Banken), ist ein Ende der Finanzkrise in den USA damit noch lange nicht in Sicht.

Als die Regierungen der G20-Staaten im Herbst 2008 zur „Rettung der Welt“ einschritten, ihre Bankenrettungs- und Konjunkturpakete ins Rollen brachten und mit Billionenbeträgen den Absturz des Finanzsystems erst einmal verhinderten, gab es allenthalben große Reden über radikale Veränderungen in Bezug auf Banken und Spekulanten. Das „Ende der Finanzwelt wie wir sie kennen“ wurde ebenso beschworen, wie der Spruch „die Steuerzahler werden nicht für das Desaster der Finanz-Hasardeure zahlen“. Zumindest aber wurde eine „entschiedene Regulierung der Finanzmärkte“ als unumgänglich verkündet. Nur etwas mehr als ein Jahr danach können wir feststellen, dass der Machtkampf in der Bourgeoisie (sofern es ihn denn gegeben hat), selbst unter diesen Umständen vom Finanzkapital gewonnen wurde- was nicht verwunderlich ist, sofern nicht die einzige Klasse in diesem System, die eine Alternative durchsetzen kann, das Proletariat, der Bourgeoisie etwas anderes aufzwingt.

Bis heute sind weder der Glass-Steagal-Act oder ähnliche Regulierungen wieder in Kraft, noch sind die Reformen von Basel II irgendwie von der Stelle gekommen. Regulationen in diesem Abkommen wurden für die nächsten 10 Jahre angekündigt. Genug Zeit, um neue Wege für das Schattenbanksystem zu finden. Selbst der „radikalste“ Regulierungsschritt war sehr beschränkter Art: das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen auf Finanzwerte. Hierbei verkaufen Banken Aktien, die sie gar nicht besitzen – mit der Vorgabe, sie zu einem bestimmten zukünftigen Termin zu liefern; dabei wird darauf spekuliert, dass bis dahin der Kurs gefallen ist, zu dem man dann die schon teurer verkauften Aktien zur Übergabe beschafft; die Kursdifferenz (minus Gebühren) ist dann der Gewinn. Da diese Spekulation auf Kursverfall von Bankaktien die schlingernden Banken ausgerechnet während der Rettungsaktionen durch Kapitalerhöhungen extrem gefährdeten (viele der Rettungsgelder, die über Aktienkäufe an die Banken fließen sollten, landeten so schlicht bei den Spekulanten), mussten die Finanzbehörden sie verbieten, sollte nicht das ganze Rettungspaket gefährdet werden. Selbst diese logische Maßnahme führte zum „Sozialismus“-Aufheulen der Hedgefonds-Manager und ihrer Lobbyisten – und wie wir heute sehen mit Erfolg. Inzwischen, so meint man in den Regierungen, sei die „Volatilität“ aus den Märkten verschwunden und für solche „Überregulationen“ kein Bedarf mehr (21). Die Finanzwelt ist im Großen und Ganzen schon wieder so wie zuvor. Während die „normalen“ Banken und Unternehmen noch mit den Folgen der Finanzkrise zu kämpfen haben, sind es gerade die „Master of Desaster“, die Investmentbanken, die ihre profitablen Hebelgeschäfte in die Höhe schrauben und Rekordgewinne vermelden. Goldman Sachs verfünffachte seinen Jahresgewinn 2009 gegenüber dem Vorjahr auf 9,5 Milliarden Euro – bei 50,8 Milliarden Euro Eigenkapital also immerhin wieder über 18% Eigenkapitalrendite und einem Leverage um die 14 (man vergleiche dies mit den gewöhnlichen Geschäftsbanken!). Der nächste Crash kann also kommen – und die Akteure werden dann wieder auf Rettung ihrer „systemrelevanten“ Spekulationsmasse rechnen können.

Auch Spekulationsblasen sind im Kapitalismus nichts ungewöhnliches, sondern ergeben sich aus der Bewegungsform des fiktiven Kapitals. Die Grundlage aller Spekulationsblasen bildet die schon beschriebene Kapitalwertbildung – d.h. die aktuelle (verkaufbare, verbriefte) Wertfestsetzung einer erst in Zukunft erzielbaren Kapitaleinkunft. Auf diese Weise können Unternehmungen heftige Gewinne ausweisen, ohne auch nur eine produktive oder sonstige Aktivität vollbracht zu haben, nur aufgrund der Tatsache, dass sie irgendwelche Papiere besitzen, die enorm „an Wert“ gewonnen haben. Mit dieser Wertsteigerung kann nun dieses Unternehmen seinerseits Wertpapiere in den Umlauf bringen, die ebenso an Wert gewinnen. Ähnlich wie beim Pyramidenspiel lässt sich so mit Hilfe des Kapitalwerts ein Kartenhaus aus fiktiven, wachsenden Werten aufbauen, die alle darauf basieren, dass der Wert des ursprünglichen Papiers auch tatsächlich in erwarteter Höhe realisiert wird – etwaige Verluste werden auf das Ende der Kette gestreut.

Um ein Beispiel für die „Mutter aller Finanzspekulation“ zu geben, für den „Gründungsgewinn“, speziell für die Gründung einer Bank:

Nehmen wir zwei Banken X und Y, die jede mit je 5 Milliarden Startkapital beginnen. Die Banken werden als Aktiengesellschaften mit Eingangspreis 1 Euro pro Aktie gegründet. Nun geben sich beide Banken gegenseitig je einen Kredit von 10 Milliarden Euro, mit Verzinsung von 10% über 20 Jahre. Nun sinkt wegen einer allgemein schlechten Lage der allgemeine Zinssatz auf 5%. Damit steigt der Kapitalwert der verbrieften Kredite von X und Y enorm: die Differenz ihres Kredit zu 10% gegenüber dem allgemeinen Kapitalwert zu 5% erscheint als 50%-tiger Gewinn in den Büchern der Banken, also als zusätzliche 5 Milliarden – ohne dass die Banken irgendetwas machen mussten! Sie können diesen nun z.B. zur Hälfte (2,5 Milliarden) an die Gründungs-Aktionäre ausschütten. Diese Dividende und die enorme Eigenkapitalrendite (100%) haben nun natürlich profunde Wirkung auf dem Aktienmarkt, auf dem nun Aktien im ursprünglichen Wert von 1,5 Milliarden angeboten werden. Rentenfonds und andere Kapitalgesellschaften, die nach profitabler Anlage um jeden Preis suchen, reißen sich um die Aktien von X und Y, so dass ein Preis von 2 Euro pro Aktie erzielt wird (was sogar eine angemessene Kurssteigerung im Vergleich zur Gewinnsteigerung darstellt). Damit erzielen die Gründer nun je Bank eine Einnahme von 3 Milliarden – zusammen mit der Dividendenausschüttung also 5,5 Milliarden. Damit haben die Gründer bereits 10% Gewinn gemacht, ohne auch nur eine wesentliche Geschäftsoperation vollzogen zu haben. Selbst wenn die Bank in Zukunft Verlust machen sollte, werden die Gründer noch Gewinn gemacht haben. Das Verlustrisiko liegt nun ganz bei den Kapitalen, die den spektakulären Gründungsgewinnen gefolgt sind (die nur auf Kapitalwertverschiebungen beruhten) und davon zur Investition angeregt wurden. Nicht nur das: auf die beschriebene Weise wurden in Wirklichkeit bereits 5,5 Milliarden Euro für Gründungsgewinn unproduktiv verbraucht, die tatsächlich erst durch die zukünftigen realen Geschäfte herein kommen müssen. Nachdem die außergewöhnlichen Kursgewinne auf spektakulären Wertzuwächsen, d.h. entsprechenden Gewinnerwartungen auf die Zukunft, beruhten, sind die nachfolgenden Investoren in der Gefahr, mit einem Rückgang der Eigenkapitalrendite auf geringere (im Vergleich zur Restökonomie auch noch hohe) Margen und durch Kursrückgänge sofort Verluste zu machen.

Dieses Beispiel erklärt Verschiedenes: einerseits wird deutlich, dass Investmentbanken, die ihre Gewinne auf solche Art von „Gründungsgeschäften“ bauen, selbst zumeist nicht die Verluste zu tragen haben, sondern diese an Investment-, Rentenfonds, Geschäftsbanken, deutsche Landesbanken etc weiterreichen können. Weiter erklärt es den Zwang, den letztere Institute ausüben, schon sehr hohe Eigenkapitalrenditen um jeden Preis weiter in die Höhe zu treiben (Shareholder-Value). Vor allem aber erklärt es die Suche nach Feldern, in denen sich solche Renditen erzielen lassen, und sei es auf dem Weg, die fiktiven Anfangsgewinne durch weitere neue „Gründungen“ fortzusetzen. Wie in dem Beispiel gezeigt, wird dadurch immer mehr Gründungsgewinn angehäuft, der erst von den letzten Gliedern in der Kette der Eigentümer der Kapitaltitel dann realisiert werden muss.

 

Abbildung 7: Kurs-Gewinn-Verhältnis für den S&P-Aktienindex und für den US-Immobiliensektor (22)

 

In Abbildung 7 wird deutlich, wie sich solche Spekulationsblasen im Verhältnis der Kurse (Kapitalwert) zu den entsprechenden Realwerten (tatsächlich erzielten Gewinnen) darstellen. Es ist deutlich, dass zunächst Ende der 90er-Jahre die Aktienkurse, gemessen am Standard&Poors-Index von Top-500 US-Unternehmen, gegenüber den tatsächlich erzielten Gewinnen dieser Unternehmen in irreale Höhen schnellten (die Zahl 15 entspricht etwa dem Erzielen des Normalzinses, alles drüber ist weitaus schlechter als Zinsanlage): die Illusion zukünftig zu erwartender enormer Gewinne, z.B. im Internetbereich, war Grundlage für ein scheinbar von der Realwirtschaft abhebendes, garantiertes Kurswachstum. Ein Gründungsgewinn nach dem anderen konnte eingestrichen werden – bis die ersten Gründungen zahlungsunfähig waren. Die Blase platze ziemlich schnell und eindrucksvoll, um an ihren Tiefpunkt das neue Investitionsfeld „Immobilien“ zu finden. Auch hier entwickelten sich Immobilienpreise und Gewinne aus Investitionen in Immobilien in pyramiden-artiger Ungleichmäßigkeit. Die Wertsteigerung von Immobilien und verbrieften Hypothekenkrediten wurde wiederum zur Quelle von Gründungsgewinnen spekulativer Immobiliengesellschaften – und wiederum waren es die Investmentbanken, die sich als erste rechtzeitig wieder aus der Pyramide verabschiedeten. Das Platzen der Blase Ende 2006 bis Anfang 2007 ist deutlich zu sehen.

Bisher konnte, wie an Abbildung 7 sichtbar, die geplatzte Immobilienblase nicht durch eine neuerliche Blase im Aktienmarkt ersetzt werden. Allerdings ist der Anstieg der Aktienindizes seit März 2009 „blasenverdächtig“. Immerhin liegen ihm nur „zukünftige Gewinnerwartungen“ zugrunde, die mit den realen Gewinnen (eher Verlustbewältigungen) der zugrundeliegenden Werte kaum etwas zu tun haben. Daher ist auch seit März 2009 in Abbildung 7 ein deutlicher Anstieg des Aktien-KGV zu sehen.

Ein anderes Feld für Spekulationsblasen hat sich seit 2008 herausgebildet, ohne noch die Ausmaße von Aktien- und Immobilienmarkt zu besitzen: das der Rohstoffmärkte, speziell für Edelmetalle, Öl, Kupfer und Lebensmittel, die an Terminbörsen gehandelt werden. Speziell Mitte 2008 erwiesen sich die Kurssteigerung auf diesen Märkten als rezessions-verstärkend und speziell für Halbkolonien als katastrophal inflationär (speziell was die Nahrungsmittelversorgung betraf). Durch die Weltrezession Ende 2008 setzte hier zunächst eine leichte Beruhigung ein. Sobald jedoch die Hoffnungen auf eine „Erholung“ wieder einsetzte, war die Spekulation in diese Werte auch schon wieder da. Ein besonders absurdes Beispiel ist die „Warteschlange“ von Öltankern im Ärmelkanal vor dem Hafen von Rotterdam, die sich nur im Rhythmus der Kursschwankungen des Ölpreises langsam auflöst. Im Jahr 2009 ist auf diese Weise der Kupferpreis um 133%, der Ölpreis um 112% und der Zuckerpreis um 79% gestiegen – um nur einige Beispiele zu nennen. Natürlich entspricht diese Kurssteigerung nirgends dem tatsächlichen Anstieg der Nachfrage, sondern vor allem den Erwartungen auf eine solche. Auf der anderen Seite werden die darauf aufbauenden Spekulationsgewinne in die tatsächlichen Preise einberechnet und müssen so letztlich von Produzenten und Konsumenten bezahlt werden. Sie sind somit eine schwere Last für die Konjunktur und inflationstreibend.

Natürlich ist keiner dieser Spekulationsmärkte nach der Finanzkrise geschlossen oder nennenswert „reguliert“ worden. Wie könnte das auch sein – das Geschäft mit den spekulativen Gründungen gehört zum Kerngeschäft des Monopolkapitals. Und dieses wird immer Wege finden es auch umzusetzen, solange ihm nicht endgültig das Handwerk gelegt wird.

Finanzkapital und strukturelle Überakkumulation

Im RM 39 wurde ausführlich der Zusammenhang von langfristigen Krisentendenzen der kapitalistischen Akkumulation (strukturelle Überakkumulation) und der Modifikation der Bewegungen des Konjunkturzyklus durch das monopolistische Finanzkapital mit den Bedingungen für Finanzmarktkrisen dargestellt. Offensichtlich sind seit Ende des „langen Booms“ 1948-1973/74 Finanzmarktkrisen mehr und mehr wieder zur Normalität geworden. Gerade aufgrund der strukturellen Überakkumulation wurde die „Ersatz-Expansion“ auf den Finanzmärkten zur Basis der anfangs erwähnten, finanzkapitalistischen Kartenhäuser, die in schöner Regelmäßigkeit ins Rutschen kommen. In den vorherigen Abschnitten haben wir mit der Analyse der Entwicklung der jetzigen Finanzmarktkrise gezeigt, dass hierbei eine neue Qualität erreicht worden ist. Die jetzige Finanzkrise ist tiefergehender, sie stellt die ganze Periode der finanzkapitalistischen Scheinblüten nach 73/74 auf den Prüfstand – kurz, sie begründet eine neue historische Periode im Rahmen der imperialistischen Epoche. Deswegen wollen wir hier diese Krise in die historische Perspektive dieses Umbruches stellen, um die Frage der weiteren Entwicklung besser beantworten zu können.

Die Periode der beschleunigten Akkumulation nach 1948 endete mit den weltweit synchronisierten Rezessionen von 1973/74. Fast zur selben Zeit, angekündigt durch den Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton-Woods, wurden die internationalen Finanzmärkte immer weiter dereguliert und immer umfangreicher. Für mehrere Jahrzehnte konnte die Finanzmarkt-Akkumulation die Illusion einer Fortsetzung des Nachkriegsbooms aufrechterhalten, oder gar sich als „neue Form“ von Kapitalismus (neues „Regulationsregime“) darstellen. Damit wurde die Verschärfung der Widersprüche übertüncht, um zu verbergen, dass der Nachkriegsboom an sich auf besonderen Bedingungen beruhte und eine Ausnahmeerscheinung in der von Stagnation geprägten imperialistischen Epoche darstellte (und keine wiederholbare Aufschwungbewegung einer „langen Welle“). Er beruhte auf außergewöhnlichen historischen Ereignissen und Bedingungen, die sich in der Periode nach 73/74 keineswegs in dieser Tiefe wiederholt haben.

Die Voraussetzung für den für die imperialistische Epoche außergewöhnlichen Boom 1948-1974 war die historische Niederlage der Arbeiterklasse, die sie in der Periode zwischen Oktoberrevolution und der konterrevolutionären Lösung der Krisenperiode der Nachkriegszeit bis 1948/49 erlitten hatte. Diese Periode beinhaltete nicht nur die Konsequenzen des Faschismus (sowohl in Bezug auf die allgemeinen politischen und ökonomischen Niederlagen der Arbeiterklasse, als auch in Bezug auf die physische Vernichtung großer Teile der kommunistischen Avantgarde). Sie beinhaltete auch die desaströsen Ergebnisse der Konterrevolution in der Sowjetunion in den 1920er-Jahren durch die bürokratische Degeneration im Stalinismus, die durch den Fortbestand und die Ausdehnung des Stalinismus nach 1945 fortgesetzt wurden. Das Überleben des Stalinismus war nicht nur ein weiteres Element in der Zerstörung oder Degeneration der revolutionären Avantgarde, sondern auch, damit natürlich in Verbindung, ein wesentliches Element der Stabilisierung der imperialistischen Weltordnung in der „Blockkonfrontation“ – zusammen mit der noch weiter getriebenen Integration der reformistisch/sozialdemokratischen Bürokratien des „Westens“ in den imperialistischen Staats- und Herrschaftsapparat. Beides war ein wesentlicher Faktor für die Niederhaltung von Arbeiterwiderstand und von Eindämmung des Klassenkampfes in den Rahmen der „fordistischen Regulation“ bzw. seiner repressiven Unterdrückung im System der stalinistischen Arbeitsordnung.

Daher stellte der Zusammenbruch des Stalinismus um 1990 keineswegs eine historische Niederlage wie 1927 oder 1948/49 dar, sondern war ein letztes Echo dieser Niederlagen. Tatsächlich war die Todeskrise der degenerierten Arbeiterstaaten selbst ein Effekt der seit 1973/74 eröffneten Krisenperiode, in der die Marktöffnungen die sowieso schon stagnierenden bürokratischen Planwirtschaften durch die Folgen der weltweiten Krisenerscheinungen nur umso mehr erschütterten (Inflation, Schattenwirtschaft, Devisenknappheit, Mangelwirtschaft, etc). Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus erschloss sich der Imperialismus nicht nur neue Märkte und Arbeitskräftereserven, die ihm vorher nur sehr vermittelt zugänglich waren, sondern er verlor auf der anderen Seite auch eine wichtige Säule der Nachkriegsordnung. Auch wenn die ersteren Faktoren anfänglich eine anregende Wirkung auf die Akkumulation in den 90er-Jahren hatten (zusätzliche billige Arbeitskräfte, neue Absatzmärkte, Wegfall der Blockkonfrontationskosten), fügte auf lange Sicht das Restaurationsgebiet dem sowieso schon überakkumulierten Kapital weitere weltweite Überkapazitäten hinzu (nach dem Ende der Destruktionsphase in den nach-stalinistischen Ökonomien). Damit heizte dies den internationalen Verdrängungswettbewerb, die imperialistische Konkurrenz wie auch neue spekulative Anlageblasen an – und nicht zuletzt bringt es neue Herausforderer für die US-Hegemonie auf den Plan, an vorderster Stelle China.

Dies untergräbt die zweite, sowieso schon geschwächte, zentrale Voraussetzung des langen Booms: Nach 1948 war die lange, von offenen Widersprüchen geprägte Periode eindeutig zu Ende, in der es keinen klaren Welthegemon des Kapitalismus gab – was sich in zwei Weltkriegen und heftigen inter-imperialistischen Konflikten geäußert hatte. Mit der Etablierung der USA als der ökonomischen, politischen und militärischen Supermacht – in „Blockkonkurrenz“ zur Sowjetunion -, war ein klarer und umfassender Rahmen für die beschleunigte Akkumulation in der imperialistischen Sphäre gegeben. Dies umfasste nicht nur von den USA bestimmte Regeln des Welthandels, sondern auch die internationale Finanzordnung, wie sie in den Abkommen von Bretton-Woods in den 40er-Jahren festgelegt wurde (inklusive Etablierung von IWF und Weltbank). Damit war der Dollar als „Weltgeld“ etabliert.

Schon während des langen Booms führte die gewaltige Last dieser Rolle zusammen mit der Überhitzung der Konjunktur zu wachsenden Verschuldungsproblemen der USA, die die Belastbarkeit der Gold-Bindung des US Dollars weit überdehnten. Daher war der Zusammenbruch dieser Goldbindung 1971 das erste Zeichen der wachsenden ökonomischen Kosten der Welthegemonie für die USA selbst. Es bedeutete auch die Eröffnung einer Periode der Fortsetzung der US Hegemonie und des Dollars als Weltgeld unter der Bedingung einer immer willkürlicher werdenden US Geld- und Zinspolitik.

Die dritte Grundlage des langen Booms war natürlich die massive Zerstörung von Kapital während der Depressionsjahre vor dem zweiten Weltkrieg, gefolgt von den zerstörerischen Effekten im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dies war eine wichtige Voraussetzung für einen gewaltigen, US-finanzierten Investitionsboom in der Aufschwungsphase in den imperialistischen Kernländern selbst. Massive Kapitalvernichtung, repressive Durchsetzung einer gesteigerten Ausbeutungsrate und die Etablierung einer klaren imperialistischen Weltordnung, mit einem Hegemon, der sich für die Finanzierung des Booms über Jahre verschulden kann, – das war eine nachhaltige Lösung der Vorkriegskrise und die Grundlage für eine außergewöhnliche Erholungsphase unter Bedingungen der imperialistischen Epoche. Diese historischen Bedingungen für eine Erholung nach 1973/74 wurden in gleichem Ausmaß zu keiner Zeit erreicht – weder in den 90er-Jahren und schon gar nicht im Gefolge der jetzigen Finanzmarktkrise.

Von dieser historischen Perspektive aus soll hier auf die Finanzmarktzyklen seit 73/74 zurück geblickt werden.

Mit dem Beginn der strukturellen Überakkumulation von Kapital in den scharfen, synchronisierten Rezessionen der 70er-Jahre kam es zunächst zu einer massiven Ausweitung der öffentlichen Verschuldung, der Geldmengen und einer ersten spekulativen Welle von Finanzkapital (“Petro-Dollars”). Dies änderte letztlich nichts an den fundamentalen Problemen, sondern verschärfte sie sogar zur Stagflation und zu einer weiteren weltweit synchronisierten Rezession zu Beginn der 80er-Jahre.

Anders als in der Boom-Periode und in den 70er-Jahren machte die US-Geldpolitik nun eine Kehrtwende zum “knappen Geld”, zur massiven Zinserhöhungen und einem teuren Dollar (“Volcker shock”). Dies war eine bewusste Politik des US-Finanzkapitals zur Umverteilung von Finanzströmen und damit von Profit in seine Richtung. Auf der einen Seite bedeutete dies das Massaker der „Schuldenkrise“ in der halb-kolonialen Welt und damit einer (gegenüber dem langen Boom) gestiegenen Bedeutung der Kapitaltransfers aus diesen in die imperialistischen Zentren. Andererseits bedeutete der hohe Dollar ein Erholungsprogramm für die deutschen und japanischen Exportindustrien. Nach der Entspannung der Zinsschraube und der Aufrechterhaltung niedriger Zinsen nun sogar in einer Abschwungsphase – auch im Gegensatz zur „klassischen“ Konjunkturtheorie – wurde in der Mitte der 80er-Jahre eine weitere spekulative Welle, diesmal auf den Aktienmärkten, losgetreten. Diese mündete in die erste Finanzmarktkrise der Nachkriegszeit im Jahr 1987. Diese Krise beschleunigte die schon Anfang der 80er-Jahre begonnenen Deregulierungen der Finanzmärkte und führte so zum Beginn einer Folge von Finanzmarktzyklen, mit ihrem eigenen – von industriellen Zyklen scheinbar unabhängigem – Rhythmus von Aufschwüngen, gefolgt von einer Phase des Crashs, der in eine zeitweilige Beruhigungsphase bis zur nächsten Spekulationswelle übergeht. Der Crash 1987 führte zu einer massiven Welle von Zusammenbrüchen von Banken und Firmen in den USA, die in eine scharfe, bereinigende Rezession Ende der 80er-Jahre ebendort mündete.

Daraus konnte die US-Ökonomie zu Beginn der 90er-Jahre gestärkt gegenüber ihren Weltmarktkonkurrenten hervorgehen. Die zeitweilige Erholung der Profitabilität der US-Wirtschaft in den 90er-Jahren wurde daher begleitet von einem starken Niedergang der japanischen Ökonomie (Beginn einer Depressionsentwicklung) und einer stagnativen Entwicklung der deutschen und kontinental-europäischen Ökonomien. Die Deregulierungen im Rahmen der Entschuldungsprogramme der 80er-Jahre öffneten zusätzlich wesentliche asiatische und latein-amerikanische Länder für ein enormes Eindringen und Wachstum an Finanzinvestitionen. Die US-Aufschwungsblase der 90er-Jahre war daher eng verknüpft mit einer durch die US-Finanzmärkte vermittelten Kapitalexportwelle in die ASEAN-Staaten und nach Lateinamerika.

Mit dem Zusammenbruch dieser ersten spekulativen Welle der „Globalisierung“ in Tequila- und „Asienkrise“ bis 1997 wurde ein großer Teil der hier in Gang gesetzten Finanzströme wieder in die USA zurück gelenkt. Zunächst über attraktivere Zinsen, später durch die sich entwickelnde neue Blase an den Aktienmärkten, die Dotcom-Episode zum Jahrtausendwechsel. Trotz des Platzens dieser Blase und dem Einsetzen einer Rezession um 2001, konnten die USA ihre Zinsen weiter niedrig halten, ohne dass dies zu größerem Kapitalabfluss führte. Wie aus Abbildung 2 entnommen werden kann, wurde der US-Leitzinssatz sogar während dieser Rezession gar nicht erhöht – ein Faktor der wesentlich zur Überführung der Aktienblase in die nächste spekulative Blase, die Subprime-Spekulation beitrug.

Seit dem Ende der 90er-Jahre war vor allem China das Land, das in der Lage war, die Rolle der schwächelnden „Asiatischen Tiger“ und der latein-amerikanischen „Schwellenländer“ zu übernehmen und zum Billigimporteur für den US-Markt zu werden. Unter den genannten Bedingungen von US-Geldpolitik konnte dies nur über steigende Ansammlung von US-Dollars in den chinesischen Währungsdepots – zu an sich ungünstigen Zinsbedingungen – finanziert werden. Selbst die Erschütterungen von 2001 konnten diese neue welt-ökonomische Achse zwischen USA und China nicht unterminieren. Es gab einfach keine alternativen Finanzmärkte (bis auf das britische Anhängsel), in welche spekulatives Finanzkapital fließen konnte: Japan, China und Kontinentaleuropa waren alle, jeweils unter ihren speziellen Bedingungen, zur Stützung der US-Schulden und -Blasenökonomie verdammt. Dies erklärt die Besonderheit der US-Zinspolitik in der Rezession 2001 und die fast ungebremste Fortsetzung der Finanzspekulation in ihrem Gefolge. Zudem konnte die US-Staatsverschuldung wieder heftig angezogen werden, speziell im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“, der sich so als weiteres Konjunkturprogramm hinzufügte. Dabei blieben trotz lockerer Geld- und Finanzpolitik die Inflationstendenzen dank der billigen Importwaren gering.

Die Kehrseite dieser 15 Jahre dauernden Schein-Prosperität der US-Ökonomie waren eine massive Verschuldung der privaten Haushalte, des Staates und der Firmen, eine enorm aufgeblähte Masse an Kreditgeld, mit massiven Dollar-Hortungen in China, Japan und der EU erkauft, und eine weitere Schrumpfung der produktiven industriellen Basis des US-Kapitals zugunsten eines parasitären Finanzsektors. Die Hoffnung des FED-Chefs Alan Greenspan, dass sich diese „Prosperität auf Pump“ (von ihm feiner ausgedrückt : „Vermögensinflation“) zu einer neuen ökonomischen Weltordnung stabilisieren lasse, in der die US-Verschuldung den Rest der Weltökonomie in einen langen Boom trage, ist mit der Finanzmarktkrise 2007-2009 wie Schaum zerplatzt. Die Bedingungen von 2001 hatten eben doch nichts mit den Bedingungen von 1948 gemein.

Nach dem September 2008 – Ausblick

Mit dem Platzen der Immobilienblase um das Jahr 2007 konnte das Problem der Unterkapitalisierung von Realakkumulation und Überkapitalisierung der Geldkapitalakkumulation nicht mehr so einfach gelöst werden wie 2001. Alle Mechanismen, die zuvor so gut funktioniert hatten – wie eine Zinssenkung nach der anderen durch die FED, die Einführung spezieller Kreditmechanismen, die Verteilung von Steuergeschenken durch die US-Regierung, etc – stellten sich nun als völlig wirkungslos heraus. Geldgeschenke an notleidende Banken wurden sofort wieder durch Spekulationen gegen diese Banken verbrannt. Das ganze Ausmaß an Abschreibungen der Finanzinstitutionen weltweit, der Zusammenbruch von Zahlungsketten und die panische Gier nach Liquidität bedeuteten, dass die tatsächlichen Zinsraten (zwischen Banken und gegenüber der Real-Wirtschaft) in die Höhe gingen, während die allseits gegenüber den Geschäftsbanken für große Finanzierungsgeschäfte immer mehr genutzten Instrumente der „Schattenbanken“ eine nach der anderem im „virtuellen Bankensturm“ unterging. In der Konsequenz standen im Herbst 2008 alle wichtigen Investmentbanken (die „masters of the universe“) vor dem Zusammenbruch.

Tatsächlich getroffen wurde nur Lehman Brothers: Als Anfang September die Zahlungsprobleme nicht mehr durch Stützungsaktionen zu lösen waren, war die Not-Übernahme durch die britische Barclays-Bank in letzter Sekunde daran gescheitert, dass das britische Finanzministerium die notwendige Bürgschaft verweigerte. Die Erklärung des britischen Finanzministers, dass seine Steuerzahler nicht für die Spekulationsgeschäfte der Wallstreet ihren Kopf hinhalten werden, wurde später vom damaligen US-Finanzminister Paulson in seinen gerade erschienenen Memoiren als „historischer Verrat der Briten“ aufgebauscht. Mit dem Lehman-Zusammenbruch am 15.9.2008 (Beantragung des Gläubigerschutzes) drohte der Zusammenbruch des Kreditversicherungsgeschäftes von AIG, und damit das Ende auch der anderen Investmentbanken. Kurze Zeit später befanden sich Dollar und Aktienkurse im freien Fall und die Terminbörsen für Waren wie Öl und Metalle ließen die Rohstoffpreise in die Höhe schnellen. Kurz: die Finanzmarktkrise wurde zum Herzinfarkt für die industriellen Zyklen weltweit, zum unmittelbaren Katalysator einer weltweit synchronisierten Rezession mit dem letzten Quartal 2008. Die Rezession und die schier unaufhaltsame Dynamik des Finanzcrashs ließen die Schatten von 1929 vor den Augen des US-Finanzkapital und seinen politischen Repräsentanten wieder auferstehen.

In diesem Moment war klar, dass der Welt-Hegemon USA, repräsentiert durch US-Regierung, FED und seine Finanzinstitutionen, nicht mehr unilateral die Lösung diktieren konnte, dass die Zeiten vorbei waren, in denen er mit seinen Zinsentscheidungen, „Plaza Abkommen“, G7-Erklärungen etc dem Rest der Welt sein jeweiliges Krisenmanagement und die Verteilung der „Lokomotivrollen“ in der Weltwirtschaft aufzwingen konnte. Im Herbst 2008 musste ein international koordiniertes Handeln zwischen den USA, den anderen imperialistischen Staaten und selbst einiger „Schwellenländer“, wie China, Indien und Brasilien vereinbart werden. Nur massive, koordinierte Staatsintervention, vom Verbot der Leerverkäufe von Finanzwerten, über koordinierte Bankensicherungsfonds bis hin zu Konjunkturpaketen (von denen dasjenige in China sicherlich das umfangreichste war), konnte die Weltökonomie vor dem Abrutschen in ein Depressionsszenario in der Art von 1929-1932 bewahren.

Wie zuvor beschrieben handelt es sich dabei jedoch nur um einen zeitlichen Aufschub, der die wesentlichen Probleme nicht gelöst hat. Auch wenn es in absoluten Zahlen große Abschreibungen von fiktivem Kapital und auch von realem Kapital in Industrie und Handel gab, so verhinderte das Krisenmanagement ja gerade die für die Funktion kapitalistischer Krisen notwendige Zerstörung von überakkumuliertem Kapital im Verhältnis zu den vorhandenen Profitabilitätsbedingungen des Realkapitals. Daher ist es nicht nur so, dass inzwischen die großen Finanzkapitale wieder als die großen Gewinner der Krise gegenüber geschwächten Staaten und Real-Konzernen da stehen: Kapital für Kapital, Staat für Staat stehen sich verstärkt als Konkurrenten in einem härter gewordenen Vernichtungskampf gegenüber, der je zu Lasten der Kapitale der anderen Nationen ausgetragen werden soll (ganz deutliches Beispiel: Die internationale Automobilindustrie).

Während also die Realökonomie nur langsam und unter ungünstigen Konkurrenzbedingungen wieder aus der Krise kommt, mehr und mehr Staaten mit dem aus der Krise folgenden extremen Verschuldungsproblem zu kämpfen haben (Griechenland!), ist also die Hebel-Arbeit der Finanzwirtschaft wieder voll am wirken und wirft neuerlich Rekordgewinne ab. In verschiedenen Sektoren werden neue Spekulationsblasen angepustet. Staatsanleihen und Spekulation auf deren Ausfall stellen sich als lukratives Geschäft heraus – und noch dazu ist durch die staatliche Geldpolitik und die Risikoabsicherungen diese neue spekulative Welle durch die in Geiselhaft genommenen Staaten voll abgesichert. Wer der eindeutige Gewinner der Krise ist, ist also nur zu offensichtlich – genauso wie die Machtlosigkeit aller derer, die nur davon sprechen, dass das „Finanzkapital selbst für seine Krise zahlen soll“. Jegliche „Reform“, jegliches rasche „Exit“ der Regierungen aus der jetzt für das Finanzkapital so profitablen Situation, droht sofort den nächsten Crash auszulösen – wovor alle Reformer noch mehr Angst haben als vor dem Zahlen weiteren „Lösegelds“.

Auf diese Weise wird die Last der Finanzkapitale den „Aufschwung“ noch stagnativer machen als die schon nicht besonders dynamischen zyklischen Erholungen der letzten zwei Jahrzehnte – natürlich wiederum aufgebauscht um die beschönigenden Zahlen der Ausdehnung fiktivem Kapitals. Daneben ist natürlich immer noch möglich, dass die Probleme der Staatsfinanzen oder ein zu heftiges „Exit“ aus der staatlichen Konjunktur- und Bankenstützung rasch zum nächsten Einbruch führen könnten (zur sogenannten „double dip“-Rezession). Früher oder später sind in beiden Szenarien sowohl die Staaten zu massiven Kürzungen ihrer Haushalte gezwungen, als auch in der Realwirtschaft massive Zerstörung von Kapital (sprich Arbeitsplatzabbau und weitere Angriffe auf die Bedingungen der Arbeiterklasse) angesagt.

Zusammengefasst ist die Periode der illusionären Fortsetzung des langen Nachkriegs-Booms über 1973/74 hinaus vorbei, die sich vor allem über die Erscheinungsform des Finanzmarktzyklus und der damit verbundenen Umverteilung zugunsten bestimmter imperialistischer Kapitale und zu Lasten der Weltarbeiterklasse herstellen ließ. Es gibt keine magischen Tricks mehr, mit denen das Finanzkapital seine destruktive und parasitäre Weltherrschaft als wachstums- und wohlstandsfördernd für alle darstellen kann. Mit der Geiselhaft, in die das Finanzkapital den Rest der Gesellschaft mit der Finanzkrise genommen hat, wird offensichtlich, dass für den Profit einer verschwindenden Minderheit die Verarmung der enormen Mehrheit der Menschheit erzwungen wird. Für alle wesentlichen Menschheitsprobleme – Umwelt, Ernährung, Überbevölkerung, regionale Konflikte etc – wird deutlich, dass das Finanzkapital nicht die Lösung darstellt, sondern sich im Kern des Problems befindet.

Zur selben Zeit, spätestens mit den Rettungsaktionen Ende 2008, ist die Rolle der USA als Welt-Hegemon ernsthaft auf der Kippe. Während US Dollar und die US Finanzmärkte weiterhin als zentrale Instrumente des imperialistischen Finanzkapitals ohne Alternative sind, sind die Kosten dieser Führungsrolle, zusammen mit der Rolle als politisch-militärischer Hegemon für die US-Wirtschaft mehr und mehr Belastung.

Auf diese Weise sind alle Säulen der Nachkriegsordnung im Wanken, ohne dass die Bedingungen für eine vergleichbare Ordnung und für einen neuen außergewöhnlichen Boom gegeben wären. Das kann nur bedeuten, dass wir in eine Periode des Kapitalismus eintreten, in der die Zukunft des Kapitalismus und der weiteren Entwicklung der Menschheit als Ganzes auf der Tagesordnung stehen und nach einer fundamentalen Antwort verlangen wird. Nachdem die destruktive, durch Krisen bestimmte und vorangetriebene Rolle des imperialistischen Finanzkapitals für uns keine Antwort mehr zu bieten hat als noch mehr Desaster und Katastrophen, kann für uns die Antwort nur der Sozialismus sein.

Dabei bleibt es ein zentrales Element des Programms der sozialistischen Revolution, dass die Diktatur des Proletariats und die Vorbereitung des Übergangs zur Planwirtschaft nur gelingen kann, wenn mit der sozialistischen Umwälzung das Finanzkapital enteignet wird und die verschiedenen Typen von Finanzinstitutionen und -märkten in eine zentralisierte Staatsbank überführt werden. Solange die monetäre Form von ökonomischen Beziehungen nicht durch höhere Formen der Selbstorganisation der Produzenten ersetzt werden kann, ist dies der einzige Weg, um die Verzerrungen, krisenausbrütenden und entfremdenden Effekte von Geld und Kredit einzudämmen, zu kontrollieren und der Auflösung entgegen zu führen. Zusätzlich kann der Wirkung des international agierenden Finanzkapitals nur durch ein entsprechend einheitliches und an den Außengrenzen kontrolliertes Monetär- und Kreditsystem aller sozialistischen Staaten entgegen getreten werden. Ein solches internationales, demokratisches und transparentes Finanz- und Kreditsystem ist wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung einer demokratischen Planwirtschaft als Alternative zum Kapitalismus.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Siehe dazu: Lisa Neuhaus, „Die Blindgänger. Warum die Ökonomen auch künftige Krisen nicht erkennen werden“. Campus Verlag, 2009. Hier finden sich noch eine Reihe weiterer Beispiele zum Thema Unverständnis der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften und Krise. Allerdings ist die Ursachenforschung der FAZ-WirtschaftsjournalistInnen mehr als mangelhaft – was wiederum auch nicht so überraschend ist (die Funktion der bürgerlichen Wirtschaftsjournalistik bleibt natürlich ebenso unterbelichtet).

(2) Ebd., S.96

(3) Z.B.: Wolfgang Eichhorn/Dirk Solte, „Das Kartenhaus Weltfinanzsystem. Rückblick – Analyse – Ausblick“, Fischer 2009, S.28.

(4) Marx, Das Kapital, Band 1, S.152 (MEW 23).

(5) Marx, Das Kapital, Band 3, S.588 (MEW 25).

(6) Ebd., S.589.

(7) Siehe: Paul Krugman, Die neue Weltwirtschaftskrise, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2009, S. 215.

(8) Marx, Das Kapital, Band 1, S.127f.

(9) Ebd., S.152.

(10) Siehe: Der Spiegel, Wahnsinn 2.0. Warum nach der Jahrhundertkrise schon die nächste droht. 13.11.09. S.78.

(11) Siehe: John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, Prometheus Books (1936), S.194 f.

(12) Karl Marx, Das Kapital, Band 3, S.380.

(13) Bei einem Wertpapier verspricht ein Gläubiger zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Summe zu zahlen. Dieses Wertpapier wird also immer zu einem niedrigeren Preis gehandelt, die Differenz entspricht dem Zins, den der jeweilige Käufer für sein eingesetztes Kapital = dem Kaufpreis erwartet. Beispiel: wenn der Zinssatz steigt, fällt der Kurs eines Wertpapiers: das in ihm angelegte Geld könnte anderswo eine höhere Rendite erzielen.

(14) Siehe z.B.: Rainer Sommer, Die Subprime-Krise und ihre Folgen. Von faulen US-Krediten bis zur Kernschmelze des internationalen Finanzsystems. Heise. 2009.

(15) Ebd., S. 107.

(16) Siehe: Der Spiegel, Wahnsinn 2.0. Warum nach der Jahrhundertkrise schon die nächste droht. 13.11.09. S.73.

(17) Siehe: Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung 2009, S.50.

(18) Der Spiegel. Wahnsinn 2.0. S.78.

(19) Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der USA, veröffentlicht auf der Website des DoC (Department of Commerce).

(20) Siehe: Krugman, Weltwirtschaftskrise, S.186f..

(21) Siehe: FAZ. Leerverkäufe von Bankaktien wieder erlaubt. 2.2.2010. S.17.

(22) Quelle: P/E-ratio für Immobilien berechnet auf Grundlage des Case-Shiller-Index (Preis) und der Ertragsstatistik des DoC. P/E für Aktien des S&P500-Index ist den Webseiten von S&P entnommen. Die Idee der Berechnung stammt jeweils von Paul Krugman, Die neue Weltwirtschaftskrise, S.171




Vor einem neuen Wirtschaftsaufschwung?

Thesen zum marxistischen Konzept des Zyklus, dem Verhältnis des gegenwärtigen Zyklus zur Periode der Globalisierung sowie den Aussichten und Widersprüchen der künftigen Entwicklung der Weltwirtschaft (*)

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

In den bürgerlichen Medien häufen sich Berichte über einen beginnenden Aufschwung der Weltwirtschaft. MarxistInnen müssen diese Frage wissenschaftlich untersuchen. Dabei dürfen sie sich weder von eklektischem Impressionismus, der die bürgerlichen Einschätzungen für bare Münze nimmt, leiten lassen noch von einem dogmatischen Schematismus, nach dem Konjunkturbewegungen – also auch ein zyklischer Aufschwung – der marxistischen Analyse des niedergehenden Kapitalismus widersprechen würden.

Notwendig ist vielmehr die streng wissenschaftliche Untersuchung der kurz- und langfristigen Tendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus; d.h. davon, was der Konjunkturverlauf über die inneren Zusammenbruchstendenzen des Kapitalismus verrät und welche Auswirkungen dieser auf den proletarischen Klassenkampf hat. Im Folgenden konzentrieren wir unsere Untersuchung auf die imperialistischen Metropolen, die das Herz der Weltwirtschaft darstellen. Obwohl diese imperialistischen Zentren die Weltwirtschaft dominieren, ist diese natürlich weit umfangreicher. Insbesondere Länder wie China spielen eine wachsende Rolle in der Weltwirtschaft.

Skizze der Theorie des kapitalistischen Zyklus bei Marx

Beginnen wir mit einer kurzen Rekapitulation der marxistischen Theorie des kapitalistischen Wirtschaftszyklus. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass der „Grundwiderspruch, aus dem alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt“ in folgendem besteht: „Die Produktion ist ein gesellschaftlicher Akt geworden; der Austausch und mit ihm die Aneignung bleiben individuelle Akte, Akte des einzelnen: Das gesellschaftliche Produkt wird angeeignet vom Einzelkapitalisten“. (1)

Dieser Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und der Produktion einerseits und dem privaten, kapitalistischen Charakters des Eigentums an Produktionsmitteln und der Aneignung der Produktionsergebnisse andererseits bildet die Grundlage, auf der sich die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus und seine inneren Gegensätze entfalten. Produktion um des Profites willens, führt zu steter Akkumulation von Kapital, einer fortschreitenden Ersetzung lebendiger Arbeit durch tote Arbeit, von menschlichen Arbeitskräften durch Maschinen. Da jedoch nur die gesellschaftliche Arbeit des Lohnarbeiters Wert (und damit auch den Mehrwert für den Unternehmer) schafft, kommt es zu einer stetigen Verminderung des Anteils des variablen Kapitals sowie der Steigerung des Anteils des konstanten Kapitals (steigende organische Zusammensetzung des Kapitals) und somit längerfristig zum tendenziellen Fall der Profitrate. Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem kapitalistischen Charakter der Eigentumsverhältnisse führt auch zu regelmäßigen Krisen der Überakkumulation von Kapital und den daraus folgenden Überproduktionskrisen. Die Unvermeidlichkeit der zyklischen Krisen hat daher ihre Ursache im widersprüchlichen, krisenhaften Wesen des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst.

Nach Marx unterteilt sich der Zyklus in mehrere Phasen: der Phase des Belebung, der Prosperität, der Überhitzung der Konjunktur auf ihrem Höhepunkt, der Krise und schließlich der Stagnation oder Depression am Tiefpunkt des Zyklus: „Zustand der Ruhe, wachsende Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krach, Stagnation, Zustand der Ruhe etc.“ (2)

Die Krise bildet den Ausgangspunkt des Zyklus. Ihr liegt die Überakkumulation von Kapital zugrunde, es existiert also ein Überschuß an Kapital, welches nicht mehr profitabel angelegt werden kann. Es kommt zu einem Rückgang der Profitrate. Resultat ist eine Überproduktionskrise, also eines enormen Überschusses an Waren, welche die Konsumtionskraft der Gesellschaft (also die Löhne der ArbeiterInnen und jener Teil des Mehrwerts der Kapitalisten, der nicht akkumuliert wird) übersteigt und nicht verkauft werden kann. Parallel dazu Preissturz, Stocken der Kreditzirkulation, Krise an den Börsen, Einbruch des Handels. Der Verwertungsprozeß des Kapitals stockt, geringere Auslastung der industriellen Kapazitäten ist die Folge. Daher Lohnkürzungen, viele Betriebe gehen zugrunde, massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit. „Es ist kein Widerspruch, dass diese Überproduktion von Kapital begleitet ist von einer mehr oder minder großen relativen Überbevölkerung. (…) eine Überbevölkerung von Arbeitern, die vom überschüssigen Kapital nicht angewandt wird ….“ (3) Kurz: die Krise führt zu einer enormen Vernichtung von Produktivkräften. Durch eine solche Vernichtung von Kapital werden kurzzeitig die Widersprüche vermindert und ein neuer Abschnitt der Kapitalakkumulation kann beginnen. „Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen.“ (4)

In der Phase der Depression stagniert die industrielle Produktion, die Preise bleiben auf einem niedrigen Stand, der Handel entwickelt sich schwach. Die Zinsen für Kredite bleiben auf einem relativ niedrigen Niveau, die Unternehmen sind vorsichtig bei Kreditaufnahme, Massenarbeitslosigkeit existiert. In dieser Phase der Depression werden jedoch gleichzeitig auch die Voraussetzungen für die darauf folgende Belebung geschaffen. Die Kapitalisten versuchen durch Herabsetzung der Produktionskosten, die Profite zu steigern. Dazu steigern sie einerseits die Ausbeutung der ArbeiterInnen (Verringerung des Lohnes, Steigerung der Arbeitsintensität). Andererseits jedoch kommt es jetzt auch – zuerst bei den stärksten, größten Monopolunternehmen – zu neuen Investitionen, also einer Erneuerung des fixen Kapitals und zu technischen Verbesserungen. Dadurch soll eine profitable Produktion trotz der gefallenen Preise und der verminderten Konsumtionskraft der Gesellschaft ermöglicht werden. Durch die Erneuerung des fixen Kapitals wird die Produktion von Produktionsmitteln belebt, somit auch der Bedarf an Rohstoffen und Material aller Art, somit auch der Bedarf an Arbeitskräften, somit auch die Nachfrage an Konsumgütern usw. Allmählich geht die Depression in die Phase der konjunkturellen Belebung über.

In der Phase der Belebung steigt die Produktion wieder und mit ihr die Preise, die Akkumulation des Kapitals beschleunigt sich, die Profitrate steigt. Somit steigen auch die Nachfrage nach Krediten und das Vertrauen in profitable Anlagemöglichkeiten für das Kapital, der Handel wird intensiviert, ebenso die Spekulation an der Börse. Die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Grundlage setzt ein. Die Belebung geht in den Aufschwung über.

In der Phase des Aufschwungs kommt es zu einem deutlichen Wachstum der Werteproduktion, der Stand der Produktion vor der Krise im vorangegangenen Zyklus wird überschritten. Die Kapitalakkumulation beschleunigt sich enorm, die Kapitalisten tätigen massive Erweiterungsinvestitionen und steigern die Kapazitätsauslastung. Allgemeiner Optimismus macht sich breit, neue Unternehmen werden gegründet. Allgemeine, sich beschleunigende Steigerung des Umsatzes, der Preise, der Kreditvergabe, der Börsenspekulationen. Die Löhne steigen wieder, die Arbeitslosigkeit sinkt.

Nun kommt es zur Phase der Überhitzung der Konjunktur, der Überproduktion. Die zuvor getätigten Investitionen müssen nun entsprechende Profite einbringen, um die laufenden Kredite zu bedienen, weitere Investitionen zu tätigen usw. Das akkumulierte Kapital will profitabel verwertet werden. Das wollen logischerweise alle Kapitalisten; das Resultat ist eine Produktion von Waren, die bei weitem die Konsumtionskraft der Gesellschaft übersteigt. Es kommt zu einer Überproduktion von Waren, die aber noch nicht zu einer offenen Krise führt. Denn noch scheinen die Absatzmöglichkeiten zu wachsen, durch Spekulation werden die Preise hoch getrieben und somit weitere profitable Investitionsmöglichkeiten in Aussicht gestellt. Durch die grenzenlose Vergabe von Krediten durch die Banken und andere Finanzinstitutionen – die wiederum das sich sammelnde, nicht produktiv angelegte Geldkapital profitabel verwerten wollen – an das Industriekapital wird die Überproduktion überdeckt und eine künstliche Erweiterung der Produktion ermöglicht. Ab einem bestimmten Punkt verschaffen sich jedoch die angestauten Widersprüche gewaltsam Ausdruck und die Überakkumulation des Kapitals lässt die Krise ausbrechen. Der kapitalistische Zyklus mündet wieder in seine Krisenphase.

Die materielle Grundlage dieser zyklischen Bewegung ist die Bewegung der Akkumulation des produktiven Kapitals. Kapitalistische Akkumulation ist Akkumulation von Kapital zwecks Schaffung von Mehrwert respektive Profit. Akkumulation findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern unter den Bedingungen der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten. Daher sind die Kapitalisten gezwungen, beständig die Produktivität der Arbeit zu erhöhen, um so durch kostengünstigere Produktion einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Konkurrenten zu erhalten. Neben dem Drücken des Lohnes und der Verlängerung der Arbeitszeit (Erhöhung des absoluten Mehrwerts) dient hierzu v.a. die Vergrößerung und Verbesserung der von einem Arbeiter in Bewegung gesetzten Maschinerie (Erhöhung des relativen Mehrwerts). Der Verwertungsprozess des Kapitals beinhaltet daher stets auch den Prozess der Erneuerung des Maschinenparks, des fixen Bestandteils des konstanten Kapitals. Die Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals findet daher in der Regel stets auf erweiterter Grundlage statt. Da Akkumulation von Kapital stets zum Zweck der Schaffung von Mehrwert stattfindet, vollzieht sich der Prozess der Erneuerung des fixen Kapitals nicht schrittweise, sondern stoßweise. In der Zeit der Prosperität und der Überhitzung der Konjunktur hoffen die Unternehmer, durch möglichst hohe Auslastung des eingesetzten fixen Kapitals eine möglichst hohe Profitrate zu erzielen. Erst die Krise und die damit verbundene Entwertung bzw. Zerstörung von fixem Kapital schaffen die Voraussetzungen für eine neue Runde von Investitionen. Darauf wies schon Marx im zweiten Band des Kapitals hin:

„Durch diesen eine Reihe von Jahren umfassenden Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen, in welchen das Kapital durch seinen fixen Bestandteil gebannt ist, ergibt sich eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht. Es sind zwar die Perioden, worin Kapital angelegt wird, sehr verschiedne und auseinanderfallende. Indessen bildet die Krise immer den Ausgangspunkt einer großen Neuanlage. Also auch – die ganze Gesellschaft betrachtet – mehr oder minder eine neue materielle Grundlage für den nächsten Umschlagszyklus.“ (5)

Die Verschärfung der Widersprüche in der Epoche des Monopolkapitalismus

Die zyklischen Krisen des Kapitalismus stellen jedoch keine Wiederholung des Verwertungsprozesses des Kapitals auf gleicher Grundlage dar. Eben weil die Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals stets auf erweiterter Grundlage stattfinden, weil der Verwertungsprozess des Kapitals zu einer stets voranschreitenden Akkumulation führt und damit verbunden dem Wachsen des konstanten Kapitals (v.a. des fixen Bestandteils) und dem Sinken des variablen Kapitals, eben weil sich dadurch die organische Zusammensetzung des Kapitals verändert und die Profitrate die Tendenz zum Sinken hat, weil die Kluft zwischen der akkumulierten Masse an Kapital und der – relativ dazu – stets verarmenden Masse der Bevölkerung zunimmt, eben deswegen haben kapitalistische Zyklen eine Tendenz zur Verschärfung der Krisen und schließlich zu ihrem Zusammenbruch. In diesem Sinne beendet Marx den ersten Band des Kapitals mit dem Kapitel „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ und schreibt:

„Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ (6)

In diesem berühmten Zitat hat Marx bereits die Epoche des Imperialismus als geschichtlich höchsten und letzten Abschnitt des Kapitalismus – der Epoche seines Niedergangs und des Übergangs zum Sozialismus – vorweggenommen. Den Charakter des Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus hat später Lenin herausgearbeitet und in folgenden Worten zusammengefasst: „Wir müssen mit einer möglichst genauen und vollständigen Definition des Imperialismus beginnen. Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus.“ (7) Der historische Übergangscharakter der imperialistischen Epoche liegt daher darin, dass der Kapitalismus die Produktivkräfte und die Vergesellschaftung der Produktion so weit vorangetrieben hat, dass dies solch scharfe Zusammenstöße mit den bürgerlichen Produktionsverhältnissen hervorruft, dass diese den Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise immer wieder (natürlich nicht permanent) auf die Tagesordnung stellen, so dass die Menschheit immer mehr, immer drängender vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei gestellt wird. Die gegenwärtige dramatische Wirtschaftskrise gepaart mit der wachsenden Rivalität zwischen den Großmächten und dem ökologischen Desaster bestätigt die Leninsche Imperialismus-Theorie eindrucksvoll.

Der Entwicklung des Grundwiderspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und dem privaten, kapitalistischen Charakters des Eigentums der Produktionsmitteln hat in der Geschichte des Kapitalismus zu einer solchen Konzentration und Zentralisation des Kapitals geführt, dass die freie Konkurrenz zwischen den Unternehmern – die den Kapitalismus bis Ende des 19. Jahrhunderts auszeichnete – durch die Vorherrschaft des Monopolkapitals und der Herrschaft einiger weniger imperialistischer Mächte abgelöst wurde. Durch das Monopolkapital kann die spontane Durchsetzung des Wertgesetzes zeitweise modifiziert und eingeschränkt werden bzw. das Monopolkapital kann aufgrund seiner Vormachtstellung, seiner Organisiertheit sowie seiner Verschmelzung mit dem bürgerlichen Staatsapparat die Folgen der kapitalistischen Krisen leichter auf die Arbeiterklasse, das Kleinbürgertum, die Mittelschichten und die schwächeren Teile des Kapitals abwälzen. Doch all diese Modifikationen können den konkreten Entwicklungsgang des Wertgesetzes zwar beeinflussen, aber gleichzeitig verschärfen sie auch die kapitalistischen Widersprüche und führen letztlich zu einer Tendenz der Vertiefung der kapitalistischen Krisen. (Die Durchsetzung des Wertgesetzes wird durch das Monopol modifiziert. Es wird nicht eigentlich eingeschränkt, weil überhaupt das Wertgesetz nur realisiert wird durch seine partielle Negation. So z.B. Wert-Preis-Transformation. Ähnlich der Monopolpreis. Insofern ist der Monopolpreis dem Wertgesetz nichts „Äußeres“, sondern ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus eine notwendige Form, in der das Wertgesetz realisiert werden muss).

Zyklen gibt es also immer in der Geschichte des Kapitalismus. Konkrete ökonomische und politische Faktoren, das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen usw. können eine wichtige Rolle im konkreten Entwicklungsgang des Zyklus spielen. Aber der wichtigste, grundlegendste Faktor, der die Dynamik des Zyklus bestimmt, hängt nicht von konjunkturellen Fragen ab, sondern von der historischen Epoche bzw. Periode, in der sich der Kapitalismus befindet. Trotzki legte in seiner Schrift über die kapitalistische Kurve der Entwicklung dar, dass Zyklen sich sehr unterschiedlich entwickeln – je nachdem, ob sie in einer historischen Periode (Kurve) des kapitalistischen Aufschwungs, der Stagnation oder des Niedergangs stattfinden. So schreibt Trotzki: „Aber der Kapitalismus ist nicht alleine durch die periodische Wiederkehr der Zyklen charakterisiert – was sonst geschehen würde, wäre eine vollständige Wiederholung, aber keine dynamische Entwicklung. Industrielle Zyklen haben in unterschiedlichen Perioden einen unterschiedlichen Charakter.“ (8) Aus diesem Grund hat die Kommunistische Internationale darauf insistiert, die jeweiligen Zyklen immer im Zusammenhang mit der historischen Epoche bzw. Periode zu analysieren. „Wenn aber das Entwicklungstempo sich verlangsamen sollte und wenn der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in einer größeren oder kleineren Zahl von Ländern eine Periode des Aufschwunges folgen würde, so würde diese Tatsache keinesfalls den Beginn der ‚organischen‘ Epoche bedeuten. Solange der Kapitalismus existiert, sind zyklische Schwankungen unvermeidlich. Sie werden ihn auch in der Agonie begleiten, wie sie ihn in der Jugend und in der Reifezeit begleiteten.“ (9)

Der gegenwärtige Zyklus ist ein klarer Beweis dafür. Obwohl die Arbeiterklasse bisher der Offensive der Bourgeoisie nur sehr wenig Widerstand entgegensetzen konnte und diese daher die Kosten der Krise weitgehend auf die Arbeiterklasse abwälzen konnte, und obwohl die Bourgeoisie riesige Geldkapitalsummen für Rettungs- und Konjunkturpakete mobilisierte, waren diese Maßnahmen in keinster Weise ausreichend, um eine robuste Wiederbelebung des Konjunkturzyklus zu ermöglichen. Viel zu groß sind die strukturellen Probleme der Überakkumulation des Kapitals, als dass sie durch zyklische Maßnahmen bereinigt werden könnten.

Die von uns schon mehrfach besprochenen Besonderheiten der Periode der Globalisierung konnten nicht das Wesensmerkmal unserer Epoche – des imperialistischen, höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – aus der Welt schaffen: der Grundwiderspruch des Kapitalismus – der wachsende Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und dem privaten Charakter ihrer Aneignung – führt insbesondere in der Epoche des Monopolkapitalismus dazu, dass die stetige Ausdehnung der Warenproduktion und damit die Verwertung des Kapitals auf immer höherer Stufenleiter in immer krasseren, schärferen Gegensatz zu den Fesseln der kapitalistischen Aneignung des Profits gerät. Die Kapitalisten versuchen, die Produktivität der Arbeit und dadurch ihren Profit zu steigern, indem sie günstiger produzieren als zu den branchenüblichen durchschnittlichen Produktionskosten, die bestimmend sind für die Durchschnittsprofitrate. So hoffen sie auf einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Konkurrenten. Dadurch arbeiten immer weniger Arbeiter mit immer mehr Maschinerie: der Anteil der wertschaffenden menschlichen Arbeitskraft – das variable Kapital – am Gesamtkapital sinkt und der Anteil der nur anteilig wertübertragenden (aber nicht wertproduzierenden) Maschinen, Rohstoffe, Immobilien – das konstante Kapital – steigt. Diese steigende organische Zusammensetzung des Kapitals bedingt eine langfristige Tendenz zum Fall der Profitrate. Der marxistische Ökonom Evgenij Preobrazenskij, der in den 1920er Jahren der führende ökonomische Theoretiker der Linken Opposition von Leo Trotzki war, formulierte den Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklung und Monopolkapitalismus so: „Die Produktivkräfte des Kapitalismus haben ein derartiges Stadium der Entwicklung erreicht und die Konzentration der Produktion ist so weit vorangeschritten, dass jede weitere Entwicklung der Produktivkräfte auf die unüberwindlichen Barrieren der monopolistischen Strukturen stößt.“ (10)

Gerade auch in der zunehmenden Vergesellschaftung und Internationalisierung zeigt sich die historische Überholtheit des Kapitalismus, dessen Fesseln des Privateigentums eine reichhaltige und nachhaltige Entwicklung der Produktivkräfte verhindern. In der Epoche des Imperialismus tendieren die Produktivkräfte zur Stagnation – ein Gesetz, das in für diese Epoche untypischen Phasen wie dem langen Nachkriegsboom im geringeren Maß gültig war. Doch in den für diese Epoche typischen Perioden besitzt dieses Gesetz seine volle Gültigkeit und in jenen historischen Perioden, in denen die Widersprüche des Kapitalismus sich in aller Schärfe entladen wie 1914-1948 oder auch in der 2007 begonnenen Periode sich in einen Niedergang der Produktkräfte äußert (11). In diesem Sinne stellte Lenin fest: „Es ist begreiflich, warum der Imperialismus sterbender Kapitalismus ist, den Übergang zum Sozialismus bildet: das aus dem Kapitalismus hervorwachsende Monopol ist bereits das Sterben des Kapitalismus, der Beginn seines Übergangs in den Sozialismus. Die gewaltige Vergesellschaftung der Arbeit durch den Imperialismus (das, was seine Apologeten, die bürgerlichen Ökonomen, ‘Verflechtung’ nennen) hat dieselbe Bedeutung.“ (12) Und an anderer Stelle: „Die Epoche des kapitalistischen Imperialismus ist die des reifen und überreifen Kapitalismus, der vor dem Zusammenbruch steht, der reif ist, dem Sozialismus Platz zu machen.“ (13)

Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten der profitablen Anlegung von Kapital – der tendenzielle Fall der Profitrate – führen dazu, dass die Kapitalisten zunehmend weniger ihren Mehrwert in die Erweiterung des produktiven Kapitals investieren – also die Erweiterung des Kapitalstocks – und ihn mehr in Spekulation, unproduktive Sektoren usw. anlegen. Die Kapitalisten müssen einen immer größeren Teil des Gewinns dafür aufwenden, um Dividenden oder Schulden zurückzuzahlen, um die eigenen Aktien zurückzukaufen (und dadurch das Spekulationskasino aufrecht zu erhalten usw.).

Einige Besonderheiten des Konjunkturzyklus in der Epoche des Monopolkapitalismus

Wir haben schon oben kurz darauf hingewiesen, dass die Vorherrschaft der Monopole zu einer Verzerrung des Wertgesetzes führt. Welche Auswirkungen hat die Durchsetzung des „Monopolismus“ – im Sinne, wie Lenin diesen Begriff zur Beschreibung der ökonomischen Struktur des Imperialismus verwendet (14) – auf die kapitalistischen Konjunkturzyklen?

Das ökonomische Monopol hat zur Grundlage die – der Entwicklung des Kapitalismus eigenen – Konzentration und Zentralisation des Kapitals und damit einhergehend die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals, also des im Verhältnis zum variablen Anteil des Kapitals (Löhne) immer größer werdenden konstanten Anteil des Kapitals (v.a. seines fixen Bestandteils wie Gebäude und Maschinen). Dies bedeutet, dass immer größere Mengen an Kapital notwendig sind, um eine erweiterte Reproduktion des Kapitals gewährleisten zu können. Preobrazenskij wies in einer Studie über den Kapitalismus in seiner Niedergangsepoche auf folgende Gesetzmäßigkeit des Monopolkapitalismus hin: Die Vormachtstellung der Monopole mit ihrer enorm hohen organischen Zusammensetzung des Kapitals führt dazu, dass diese dazu übergehen können und übergehen, ihre Position nicht bloß durch einen Ausbau des Produktionsapparates zu behaupten und auszubauen, sondern auch durch die Gestaltung der Preise, durch die Beeinflussung von Zoll und nicht-tarifären Handelshemmnissen (z.B. Umweltstandards), durch Marketing usw. Die Monopole müssen also einen riesigen Produktionsapparat aufbauen, um am Markt bestehen und flexibel reagieren zu können usw. Da aber alle Monopole dies tun, führt das dazu, dass das Monopolkapital immer größere Reserven an fixem Kapital aufbaut und daher einen geringer werdenden Teil seines fixen Kapital auslastet, also in den Zirkulationsprozess des Kapitals einfließen lässt. Preobrazenskij spricht daher von der zunehmenden „Immobilisierung“, man kann auch sagen zur „Brachlegung“ fixen Kapitals. Es liegt auf der Hand, dass diese Tatsache sich als letztlich verstärkend auf den tendenziellen Fall der Profitrate auswirkt. Die unten dargelegte Statistik über die langfristig sinkende Auslastung des industriellen Produktionsapparates bestätigt diese These eindrucksvoll.

Damit einher geht auch die zunehmende Ausscheidung von Teilen der Arbeiterklasse aus dem Produktionsprozess, also ihre Abstoßung in die industrielle Reservearmee. Der Monopolkapitalismus (sieht man einmal von der Ausnahmeperiode des langen Booms 1950-1973 in den imperialistischen Ländern ab) zeichnet sich durch die Existenz einer strukturellen Arbeitslosigkeit, einer „relativen Arbeiter-Übervölkerung“, aus. Marx beschreibt diese im Ersten Band des Kapital folgendermaßen: „Die Armutsbevölkerung bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee. … Sie gehört zu den toten Kosten der kapitalistischen Produktion, die das Kapital jedoch großenteils von sich selbst ab auf die Schultern der Arbeiterklasse und der kleinen Mittelklasse zu wälzen weiß.“ (15) Preobrazenskij identifiziert daher als ein zweites Merkmal des Monopolkapitalismus den zunehmenden Ausschluss oder „Immobilisierung“ von Teilen der gesellschaftlichen Arbeitskräfte. (In der Tat sahen wir nicht nur in der Zwischenkriegszeit eine enorm hohe strukturelle Arbeitslosigkeit; auch seit Mitte der 1970er können wir ein weltweit wachsendes Arbeitslosenheer beobachten.) Er spricht daher von der Verschlechterung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeiterklasse zuungunsten letzterer, ein Faktor, der aber gleichzeitig einerseits mit der Verringerung des relativen Lohnniveaus die Konsumkraft der Arbeiterklasse schwächt und andererseits die Widersprüche und somit das Potential für revolutionäre Entwicklungen steigert.

Für die spezifische Entwicklungsform des Konjunkturzyklus ergibt sich daraus, dass –  während in der Epoche des klassischen Kapitalismus die Erneuerung und Ersetzung des fixen Kapitals eine wesentliche Rolle für den Austritt des Zyklus von der Rezession hin zum Aufschwung spielte -, sich dies nun anders gestaltet. Da das Monopolkapital über enorme Reserven an fixem Kapital verfügt, ist es weniger gezwungen, am Ende der Rezession seinen Produktionsapparat zu erneuern, sondern verwendet einfach nur einen größeren Teil seines bereits bestehenden fixen Kapitals. Daher ist das Monopolkapital auch ein Hemmschuh für die technologische Entwicklung und v.a. für die Anwendung neuer Forschungsergebnisse. Stattdessen erfolgt eine Erneuerung des fixen Kapitals insgesamt in einem geringeren Maße (siehe dazu auch die Statistik über den langfristig sinkenden Anteil der Netto-Investitionen) und oft schon vor dem Beginn der Krise. Daraus folgt wiederum, so Preobrazenskij, dass sich die Zyklen der erweiterten Reproduktion des Kapitals in einem gehemmteren Entwicklungsgang vollziehen, dass also die Aufschwungphasen weniger dynamisch und energisch verlaufen als dies in der Epoche des aufstrebenden Kapitalismus der Fall war. Die Krisen hingegen „dauern unausweichlich länger und nehmen einen quälenden Charakter an“. (16) In diesem Sinne spricht Preobrazenskij davon, dass die Kapitalakkumulation im Monopolkapitalismus dazu tendiert, sich von der erweiterten Reproduktion hin zur einfachen Reproduktion zu bewegen. Wir betonen, dass dies natürlich nur als eine Tendenz und nicht als ein Ist-Zustand verstanden werden darf.

Hinzu kommt die enorm gewachsene Bedeutung des Finanz- oder Geldkapitalsektors im Monopolkapitalismus. Die enorme Konzentration des Kapitals macht die Verfügbarkeit einer immer größeren Masse an Geldkapital (Banken, Leihkapital, Aktienmarkt etc.) nötig. Daher die Fusion von Industrie- und Bankkapital zum Finanz- oder Monopolkapital. Die wachsende Bedeutung des Finanzkapitalsektors wird noch dadurch verstärkt, dass das Monopolkapital aufgrund der erschwerten Bedingungen zur profitablen Anlage des Mehrwerts im Produktionssektor einen bedeutenden Anteil des Mehrwerts in den Finanzmarkt investiert. Der enorm angewachsene Anteil an Dividenden-Ausschüttungen und Aktien-Rückkäufen am Profit des US-Großkapitals (siehe Tabelle 1) unterstreicht das. All dies führt nicht nur zu einer verstärkten Bedeutung des Finanz- oder Geldkapitalsektors, sondern auch dazu, dass dieser eine relative Eigenständigkeit gegenüber der produktiven Kapitalakkumulation erhält. Relative Eigenständigkeit ist hier so zu verstehen, dass sich die Bewegungsform der realen produktiven Kapitalakkumulation nicht direkt und im gleichen Ausmaß in der Bewegungsform des Finanzkapitals widerspiegelt. Diese eigenständige Entwicklung des Finanzkapitals – das ja keine Werte schafft, sondern vielmehr von den durch die produktive Kapitalakkumulation geschaffenen Werten schmarotzt – erreicht natürlich dann ihre Grenzen, wenn deren fiktive „Werte“ in einen zu großen Gegensatz zur Wertproduktion gerät. Nichtsdestotrotz bildet sich ein Finanzmarktzyklus heraus, der gewissen Eigengesetzen unterliegt und die Entwicklung des Zyklus der Realakkumulation beeinflusst (17).

Schließlich muss noch erwähnt werden, dass mit der Epoche des Monopolkapitalismus sich erstmals ein Weltmarkt als eine ökonomische Einheit herausbildet, die auf die Entwicklung der nationalen Ökonomien einen dominierenden Einfluss hat. Diese Entwicklung geht natürlich nicht harmonisch, im Gleichschritt vor sich, sondern ist von jenem Gesetz geprägt, dass Lenin als eines der wichtigsten des Kapitalismus überhaupt bezeichnete: dem Gesetz der ungleichzeitigen Entwicklung. Diese ungleichzeitige Entwicklung führt nicht nur zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen den imperialistischen Metropolen und der halbkolonialen Welt, sondern kann auch – und dieser Punkt ist hier relevant – dazu führen, dass bestimmte Teile der Weltökonomie von einer dynamischeren Entwicklungsform der Reproduktion des Kapitals gekennzeichnet sind als andere. Diese Ungleichzeitigkeit konnten wir gerade auch in den letzten Jahren beobachten, als einzelne kapitalistische Länder wie China oder Indien eine dynamische Wachstumsperiode durchliefen, während der Großteil der Welt von Stagnation und schließlich einer scharfen Krise gekennzeichnet war. Diese Ungleichzeitigkeit kann in einem gewissen Rahmen dadurch gemindert werden, wenn eine imperialistische Führungsmacht oder eine Art weltpolitische Ordnung (wie die Jalta-Ordnung der Nachkriegszeit) der Weltökonomie einen gewissen Stempel aufdrückt und einen relativ stabilen Rahmen für die Kapitalakkumulation schafft. Je weniger jedoch eine solche Ordnung existiert, je weniger eine imperialistische Führungsmacht und deren Monopolkapitalisten die Weltpolitik und -ökonomie beherrschen, desto stärker werden die Tendenzen der Instabilität und Ungleichzeitigkeit. Daher ist auch der Niedergang des US-Imperialismus und seiner hegemonialen Stellung eine wichtige Ursache für den Beginn der historischen Krisenperiode.

Die größer werdenden Reserven des fixen Kapitals und die geringer werdende Bedeutung der Erneuerung des fixen Kapitals sowie die wachsende Bedeutung und relative Eigenständigkeit des Finanzkapitals führen dazu, dass der kapitalistische Konjunkturzyklus nicht nur dazu tendiert, flacher zu werden, sondern auch dazu, dass er unsteter wird. Eben weil jene Elemente, die dem Zyklus in der Epoche des klassischen Kapitalismus seine typische Periodizität, seine Regelmäßigkeit verlieh, in der Epoche des Monopolkapitalismus an Kraft verlieren, vermindert sich die periodische Dynamik des Zyklus. Ausgehend von dem bereits oben festgestellten gehemmten, verlangsamten Charakter der Zyklen der erweiterten Reproduktion des Kapitals in der imperialistischen Epoche haben wir nun also auch noch die Tatsache, das bestimmte ökonomische, politische oder ökologische Entwicklungen mehr als zuvor den Entwicklungsgang des Zyklus stören, unterbrechen, umkehren können. Wir haben diese Entwicklung besonders ausgeprägt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen (Unterbrechung einer sich anbahnenden schweren Depression durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914, Nachkriegsdepression 1920-21, kurze Rezession 1924, schwere und lang gezogene Depression 1929-33, neue Depression 1937/38, „Ausweg“ daraus durch den Beginn des 2. Weltkriegs 1939). Wir sprechen daher also von einer Tendenz zur unsteten Dynamik des kapitalistischen Konjunkturzyklus.

Wir denken, dass die hier zusammengefassten Besonderheiten der erweiterten Reproduktion des Kapitals und der Konjunkturzyklen in der Epoche des Imperialismus gerade in historischen Krisenperioden des Kapitalismus an Schärfe gewinnen. Eine solche historische Krisenperiode des Kapitalismus hatten wir 1914-1948, und in eine solche historische Krisenperiode sind wir 2007 eingetreten. So gehen wir davon aus, dass die Entwicklung der erweiterten Reproduktion des Kapitals in den kommenden Jahren sowohl gehemmt und verlangsamt verlaufen wird, als auch leicht durch verschiedene Faktoren unterbrochen werden kann und früher, als es der eigentliche Zyklus erwarten lassen würde, in eine neuerliche scharfe Rezession mündet (z.B. durch eine scharfe Krise der Finanzmärkte wegen der extrem gewachsenen Staatsschulden, neuer Spekulationsblasen, Kriegen, ökologischen Katastrophen etc.)

Die gegenwärtige historische Krise als Ergebnis der vorangegangenen Periode

Die schwere Rezession 2007-09 kann nur verstanden werden als Resultat der akkumulierten Widersprüche der vorangegangenen kapitalistischen Periode. Der gegenwärtige Zyklus findet in der Epoche des niedergehenden Kapitalismus, des Kapitalismus in seinem Greisenalter, statt. Wie von uns wiederholt dargestellt, zeichnete sich die Periode der Globalisierung durch eine umfassende Offensive der Bourgeoisie aus: massive Angriffe auf die Arbeiterklasse, Zerstörung fast aller degenerierten Arbeiterstaaten, verstärkte Unterwerfung und Ausbeutung der halbkolonialen Welt. Durch diese Angriffe konnte die Bourgeoisie sowohl die Mehrwertrate (v.a. durch die Steigerung des absoluten Mehrwerts) als auch die imperialistischen Extraprofite aus den Halbkolonien steigern. Doch die historische Niedergangstendenz des Kapitalismus hat auf ökonomischer Ebene zur Grundlage, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals (also das Verhältnis des bloß wertübertragenden konstanten Kapital zum wertschaffenden variablen Kapital) dermaßen anwächst, dass es für das Kapital immer schwieriger wird, den Fall der Profitrate durch entgegenwirkende Faktoren aufzuhalten. Aus diesem Grund hat die gesteigerte Profitmasse nur zu einem relativ geringen Teil – und v.a. einem immer geringer werdenden Teil – Eingang in die Akkumulation des Kapitals gefunden. Zu einem größeren – und immer größer werdenden – Anteil sind die Profite in die Sphäre der Spekulation bzw. der Schuldenrückzahlung gewandert. Das Ergebnis der Periode der Globalisierung war, dass die Bourgeoisie nicht nur darin scheiterte, die kapitalistische Akkumulation wiederzubeleben, sondern dass sie einen massiven Niedergang der Weltwirtschaft nur dadurch verhinderte, dass sie immer gieriger und kurzsichtiger von ihren künftigen Reserven zehrte. Kurz: sie brachte eine gewisse Stabilität in die Weltwirtschaft, indem sie massive Schulden anhäufte und durch eine enorme Aufblähung des Spekulationssektors künstliche Profite und „Wohlstand“ schuf. Die Widersprüche der Gegenwart wurden eine gewisse Zeitlang übertüncht durch die Aufblähung der Widersprüche der Zukunft (18).

Die enormen Massen an Geldkapital, welche in die höchst spekulative Welt der Devisenmärkte und der Hedgefonds wandern, sind oft erwähnt worden. Folgende Tabelle für die USA im Zeitraum 1947-2007 zeigt auch den enorm wachsenden Anteil an Dividenden-Ausschüttungen und Aktien-Rückkäufen am Profit vor Steuern.

 

Tabelle 1: Anteil an Dividenden-Ausschüttungen und Aktien-Rückkäufen am Profit vor Steuern in den USA, jeweiliger Durchschnitt in den Wirtschaftszyklen 1949-2007 (19)

Beginn des Wirtschaftszyklus         Anteil an Dividenden-Ausschüttungen und Aktien-

                                                      Rückkäufen am Profit vor Steuern

Q II 1949                                       16.7%

Q III 1953                                      19,9%

Q IV 1957                                      23.5%

Q III 1960                                      13.9%

Q I 1970                                        16.7%

Q I 1974                                        35.7%

Q I 1980                                        66.5%

Q I 1990                                        62.3%

Q II 2001                                       89.1%

 

Die Überakkumulation des Kapitals, die fallende Profitrate, die Tendenz zur Verschärfung der Krisen – all dies prägt die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten. Der lange Boom erweckt bei bürgerlichen und vielen linken Theoretikern die Illusion, als habe der Kapitalismus ein Mittel gefunden, seiner Tendenz zum Zusammenbruch zu entgehen. Tatsächlich ging der lange Boom auf außergewöhnliche Umstände zurück, nämlich die massenhafte Vernichtung von Kapital durch zwei Weltkriege und die schwere Depression nach 1929 sowie die Durchsetzung einer weltpolitischen Ordnung unter Führung einer imperialistischen Großmacht bzw. eines (zeitweiligen) stabilisierenden Ausgleichs mit der stalinistischen Bürokratie in der UdSSR. Seit den frühen 1970ern ist die Weltwirtschaft von der Überakkumulation des Kapitals und der damit einhergehenden Tendenz zur Stagnation gekennzeichnet. Diese Tendenz zur Stagnation konnte auch nicht durch die kapitalistische Offensive in der Periode der Globalisierung umgekehrt werden, sondern verstärkte sich sogar. (siehe Tabelle 2) Allerdings war diese Tendenz zur Stagnation sehr uneinheitlich, da es gleichzeitig auch wichtige Teile der Welt gab, in denen eine beschleunigte Kapitalakkumulation stattfand. (China, Indien)

 

Tabelle 2: Wachstumsrate des Welt-Brutto-Inlandsproduktes 1971-2009 (in % pro Jahr) (20)

1971-1980            +3.8%

1981-1990            +3.2%

1991-2000            +2.6%

2001-2009            +2.36%

Graphik 1: Wachstumsraten des Welt-Brutto-Inlandsproduktes und des Warenexportes 1951-2008 (in % pro Jahr) (21)

 

Diese in der Periode der Globalisierung sich verschärfende Tendenz der Überakkumulation des Kapitals drückte sich darin aus, dass in den USA, der größten Nationalökonomie der Welt, die Kapitalisten aufgrund der mangelnden Profiterwartungen immer weniger ihren Mehrwert in die Erweiterung des Kapitalstocks investieren. Diese Stockung des Kapitalakkumulationsprozesses drückt sich in sinkenden Netto-Investitionen (also der Erweiterungsinvestitionen im Gegensatz zu jenen Investitionen, die nur das physisch oder moralisch verschlissene Kapital ersetzen) aus. Die Tabellen 3 und 4 zeigen klar, dass die von den Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals herrührenden Stockungen im Kapitalakkumulationsprozess in der Periode der Globalisierung nicht geringer, sondern schärfer wurden. Das gleiche Bild ergibt sich für die europäischen imperialistischen Mächte. So reduzierte sich in den EU-15 Staaten die Wachstumsgeschwindigkeit des Netto-Kapitalstocks sukzessive: von einem Jahresdurchschnitt von 4.2% (1961-73), 2.7% (1974-85), 2.4% (1986-1990), 2.1% (1991-1995), 2.2% (1996-2000) und schließlich 2.1% (2001-2005) und 1.9% (2006-2010). (22)

 

Tabelle 3: Netto-Investitionen als Anteil an den Brutto-Investitionen in den USA, jeweiliger Durchschnitt in den Wirtschaftszyklen 1949-2007 (23)

Beginn des Wirtschaftszyklus            Netto-Investitionen als Anteil an Brutto-Investitionen

Q II 1949                                               37.4%

Q III 1953                                              37,7%

Q IV 1957                                              31.8%

Q III 1960                                              40.5%

Q I 1970                                                40.4%

Q I 1974                                                35.7%

Q I 1980                                                31.8%

Q I 1990                                                26.9%

Q II 2001                                               18.9%

 

Tabelle 4: Wachstumsraten der Brutto-Anlageinvestitionen in den imperialistischen Zentren 1961-2010 (in % pro Jahr) (24)

                        USA                        Japan                      EU-15

1961-1970      +4.7%                      +15.7%                    +5.9%

1971-1980      +3.9%                        +3.5%                    +1.8%

1981-1990      +3.0%                        +5.7%                    +2.7%

1991-2000      +6.4%                          -0.6%                   +2.2%

2001-2010       -0.5%                          -1.9%                   +0.3%

 

Die zunehmenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals drücken sich in einem wachsenden Anteil überschüssigen, brachliegenden Kapitals aus. Ein klarer Indikator dafür ist die sinkende Kapazitätsauslastung in der Industrie. Der Höhepunkt der Kapazitätsauslastung in der US-Industrie betrug im Wirtschaftszyklus in den 1980ern 85.1%, in jenem der 1990er Jahre 84.9 und seit 2000 überschritt er nie die 81%-Marke. Die Tiefpunkte in diesen drei Zyklen waren 78.7%, 73.5%, im Juni 2009 lag die Kapazitätsauslastung am historischen Tief von 68.3%. (25) Mitte 2009 wurde also knapp 1/3 des produktiven Kapitals in den USA nicht für den Verwertungsprozess genutzt! Wir sehen also, dass die Periode der Globalisierung die Widersprüche des Kapitalismus nicht lösen konnte, sondern diese sich sogar verschärft haben! Graphik 2 gibt ein klares Bild der niedergehenden Tendenz der Kapitalakkumulation in den USA von 1967 bis heute.

 

Graphik 2: Kapazitätsauslastung in der US-Industrie 1967-2009 (26)

Aus diesem stockenden, krisenhaften Kapitalakkumulationsprozess ergab sich eine zunehmende Abwanderung des Mehrwerts einerseits in den Spekulationssektor (2007 stammten 41% aller US-Profite aus dem Finanzsektor!), andererseits mittels Kapitalexport ins Ausland. Das Resultat ist eine rückläufige Dynamik der erweiterten Reproduktion des Kapitals, die sich in sinkenden Wachstumsraten der Warenproduktion in der Periode der Globalisierung niederschlägt. Während in den 1960er Jahren die Industrieproduktion in den imperialistischen Zentren um durchschnittlich zwischen 5 und 13% pro Jahr anwuchs, verlangsamte sich diese Tendenz in den 1980er Jahren auf 1,7 bis 4% und betrug in den 2000ern durchschnittlich überhaupt nur zwischen 0.5 und 1%.

Steht die Weltwirtschaft vor einem neuen Aufschwung?

Gegenwärtig lässt sich feststellen, dass die Weltwirtschaft den vorläufigen Tiefpunkt der Rezession, welche Ende 2007 in den USA einsetzte, im ersten Quartal 2009 durchschritten hat. Seitdem hat sich die Rezession abgeschwächt bzw. mündete in einzelnen Ländern in einen leichten Aufschwung. Insgesamt rechnen wir aber nicht mit einem starken Aufschwung. Ob es zu einem schwachen Aufschwung kommt oder ob eine zweite Rezession – ähnlich wie das 1980-82 der Fall war – bevorsteht, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Auf jeden Fall konnte die jetzige Rezession trotz ihres historisch schweren Charakters kein einziges der grundlegenden Probleme der kapitalistischen Ordnung verringern oder gar lösen. Dies gilt für die ökonomischen Widersprüche (Überakkumulation von Kapital und die Krise der Profirate) wie auch für die politischen Gegensätze (wachsende Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten).

Tabelle 5: Wachstumsraten der Industrieproduktion in den imperialistischen Zentren 1961-2008 (in % pro Jahr) (27)

                        USA                        Japan                        EU-15

1961-1970      +4.9%                      +13.5%                       +5.2%

1971-1980      +3.0%                        +4.1%                        +2.3%

1981-1990      +2.2%                        +4.0%                        +1.7%

1991-2000      +4.1%                        +0.2%                        +1.6%

2001-2008      +0.6%                        +0.7%                        +0.8%

 

Die konjunkturelle Bewegung der Weltwirtschaft lässt sich anhand verschiedener Indikatoren ablesen, die in der einen oder anderen Form die Entwicklung der Wertproduktion widerspiegeln. Die folgenden Indikatoren zeigen, dass die kapitalistische Weltwirtschaft sich nach wie vor in der Phase der Stagnation oder am Anfang der Phase der zyklischen Belebung befindet. Die vorliegenden Daten verweisen auf ein Wachstum des Brutto-Inlandsprodukts in Japan, Deutschland und Frankreich im 2. Quartal bzw. prognostizieren ein solches für das 3. Quartal 2009.

Aussagekräftiger als das BIP sind jedoch die Angaben für die Industrieproduktion, die stärker mit der Werteproduktion korreliert. Auch hier sehen wir (allerdings schwächer als beim BIP) in den imperialistischen Zentren eine gewisse Belebung der Industrieproduktion zuerst in Japan, später dann auch in den USA und der EU. Hier sehen wir einen scharfen Einbruch der Industrieproduktion 2008 bis in das 1./2. Quartal 2009. In den letzten Monaten jedoch kommt es zu einer leichten Belebung der Industrieproduktion. In Japan hat diese Belebung bereits im März begonnen, in den USA erst im Juli.

Diese leichte Belebung der Industrieproduktion vollzieht sich jedoch auf äußerst niedrigem Niveau. In allen imperialistischen Ländern hat der tiefste Einbruch der Industrieproduktion und der Investitionen seit der Depression 1929 stattgefunden. In den USA lag am Ende des 1. Quartals 2009 das Niveau der Brutto-Inlandsinvestitionen um 26.8% unter dem Stand des 3. Quartals 2007, als die Rezession begann. (30) Hält man sich vor Augen, in welch dramatischen Ausmaß die Industrieprodukten eingebrochen ist, so wäre eigentlich ein scharfer Aufschwung zu erwarten. Tatsächlich jedoch sehen wir bloß eine leichte Belebung in den letzten Monaten. Der Grund dafür liegt darin, dass es zu keiner wirklichen Belebung der Kapitalakkumulation kommt. Die Bourgeoisie hat den Zusammenbruch des Kapitalismus dadurch verhindert, indem sie in allen wichtigen Ländern gewaltige Konjunktur- und Bankenhilfspakete anschob. Diese staatskapitalistischen Maßnahmen ermöglichten das Auffangen bzw. die Konsolidierung des Geldkapitalsektors und schufen gewisse Anreize zur Stimulierung der Nachfrage für Konsumgüter wie z.B. Autos (Verschrottungsprämie). Aber diese Maßnahmen sind z.T. zeitlich begrenzt und konnten viele Firmenzusammenbrüche nicht verhindern. Die Kapitalisten haben daher keine optimistischen Erwartungen für die Steigerung der Profitrate. Noch immer ist die Wirtschaft von enormer Überakkumulation geprägt. Die entsprechend den kapitalistischen Bewegungsgesetzen stetig steigende organische Zusammensetzung des Kapitals erfordert immer umfangreichere, zerstörerische Vernichtungen fixen Kapitals, um einen neuen Zyklus der Kapitalakkumulation auszulösen. Ganz offenkundig hat trotz der enormen Vernichtung von Werten – bis zu 45% des „globalen Wohlstandes“ sollen durch die Krise innerhalb von eineinhalb Jahren vernichtet worden sein (31), andere sprechen sogar von noch höheren Werten (32) – keine ausreichende Vernichtung von Kapital stattgefunden, um eine kräftige Konjunkturbelebung zu ermöglichen.

 

Tabelle 6: Wachstumsraten des Brutto-Inlandsprodukts in den imperialistischen Zentren 2008/09 (in %) (28)

Tabelle 7: Wachstumsraten der Industrieproduktion in den imperialistischen Zentren 2006-09 (in %) (29)

                                    USA                      Japan                   EU-16

2006                           +1.8%                    +4.5%                   +4.1%

2007                           +1.8%                    +2.8%                   +3.2%

2008                           – 6.7%                    – 3.4%                   – 2.2%

* * *                                * * *                      * * *                       * * *

2008 Q2                        –                           -1.3%

2008 Q3                        –                           -3.2%                    – 2.2%

2008 Q4                      -13.0 %                -11.3%                     -8.9%

2009 Q1                      -19.0%                 -22.1%                    -17,0%

2009 Q2                      -10.4%                  +8.3%                    -16.7%

2009 Q3                       +6.1%                   +7.4%                   -13.8%

* * *                                * * *                        * * *                       * * *

2009 Januar                        –                     -10.1%                  -1.6%

2009 Februar                 -0.8%                     -9.4%                  -2.3%

2009 März                      -1.6%                    +1,6%                  -0.9%

2009 April                       -0.6%                    +5,9%                  -1.2%

2009 Mai                        -1.1%                    +5,7%                  +0.5%

2009 Juni                       -0.5%                     +2,3%                 +0.7%

2009 Juli                        +1.1%                    +2,1%                  -0.2%

2009 August                  +1.3%                    +1,6%                  +0.6%

2009 September            +0.6%                     +2,1%                 +0.5%

2009 Oktober                 +0.0%                    +0,5%                  -0.6%

2009 November             +0.8%                     +2,2%

 

Diese stockende Kapitalakkumulation lässt sich an verschiedenen Indikatoren ablesen. Die Überakkumulation von Kapital hat solch enorme Ausmaße erreicht, dass in den USA und in der Euro-Zone die Auslastung der industriellen Kapazitäten sich noch immer auf einem historischen Tiefststand befindet und ca. 30% der Kapazitäten brachliegen. In Japan, wo im 1. Quartal 2009 ein unglaublicher Tiefststand von gar nur 50.4% erreicht wurde (33), setzte die Erholung früher ein. Auch die diesbezüglichen Zahlen weisen darauf hin, dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft noch in der Phase der Stagnation bzw. ganz am Anfang einer leichten Belebung befindet.

Dies wird auch deutlich, wenn wir uns die Entwicklung der Brutto-Anlageinvestitionen ansehen, welche die Dynamik der Kapitalakkumulation widerspiegeln. In allen imperialistischen Staaten hat auch noch im 2. Quartal 2009 ein Rückgang der Investitionen stattgefunden, auch wenn er sich im Vergleich zu den Quartalen zuvor verlangsamt hat. Selbst noch im 3. Quartal 2009 findet keine Belebung der Kapitalakkumulation statt, in Japan und der EU gehen die Investitionen weiter zurück, in den USA herrscht Stagnation vor.

 

Tabelle 8: Industrielle Kapazitätsauslastung in den imperialistischen Zentren (in %) (34)

                        USA                     Japan (2005 = 100)            EU-16

2006                                                                                      83.1%

2007                                                       104.1                       84.1%

2008                                                         88.6                       81.8%

* * *                      * * *                                * * *                            * * *

2008 Q2                                                                                  83.3%

2008 Q3                                                  100.4                       82.2%

2008 Q4            74.2%                              87.1                       78.1%

2009 Q1            70.4%                              63.4                       72.5%

2009 Q2            68.7%                              71.4                       70.0%

2009 Q3            69.9%                              78.8                       70.1%

* * *                         * * *                             * * *                        * * *

2009 Februar     70.6%

2009 März          69.5%                              61.0

2009 April           69.2%                              67.2                      70.3%

2009 Mai            68.5%                              72.6

2009 Juni           68.3%                              74.3

2009 Juli             69.1%                              77.2                      69.6%

2009 August       70.1%                              79.0

2009 September 70.6%                              80.3

2009 Oktober      70.6%                                                           70.7

2009 November   71.3%

 

Was ist die Ursache für die Zurückhaltung der Kapitalisten, stärker zu investieren und so einen neuen Zyklus der Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter einzuleiten? Sie liegt letztlich darin, dass die Profitrate gefallen ist und die Aussichten auf eine substantielle Steigung derselben gering sind. Das soll nicht über die Veränderungen der letzten Monate hinwegtäuschen. Tatsächlich hat hier eine wichtige Trendumkehr stattgefunden. Der Fall der Profitmasse wurde aufgehalten und ein Wachstum der Profite hat eingesetzt. Aber dieses Wachstum ist gebremst und angesichts der enormen Verschuldung, der riesigen Überkapazitäten usw. werden die Kapitalisten diese Profite nur eingeschränkt für neue Investitionen verwenden.

 

Tabelle 9: Wachstumsraten der Brutto-Anlageinvestitionen in den imperialistischen Zentren 2006-09 (in %) (35)

                                 USA                        Japan                      EU 16

2006                        +2.0%                     +0.5%                      +5.5%

2007                         -2.0%                     +1.1%                      +4.3%

2008                         -3.5%                      -4.6%                      +0.7%

* * *                             * * *                        * * *                        * * *

2008 Q3                    -1.7%                      -2.7%                      -1.4%

2008 Q4                    -4.7%                      -4.0%                      -3.8%

2009 Q1                    -9.9%                      -6.0%                      -5.4%

2009 Q2                     -1.7%                      -3.2%                     -1.6%

2009 Q3                    +0.1%                     -3.2%                      -0.8%

Tabelle 10: Entwicklung der Unternehmensprofite 2007-09 (in %) (36)

                                    USA (Q-Q)            Japan (J-J)

2007                              -4.1%                        -40.9

2008                            -11.8%                        -19.2%

2008 Q3                        +3.6%

2008 Q4                        -22.8%                       -64.6%

2009 Q1                        +5.3%                        -70.1%

2009 Q2                        +3.7%                        -62.7%

2009 Q3                        +10.8%

Graphik 3: Brutto-Profite in der Euro-Zone 2000-09 (37)

 

Besonders deutlich zeigt sich die Tiefe der Rezession auch bei der Entwicklung des Welthandels. Bürgerliche Ökonomen sprechen mittlerweile vom „Großen Handelszusammenbruch“. Während der Welthandel von 2001-08 um jährlich 6.5% wuchs, brach er zwischen April 2008 und Juni 2009 um 19% ein. (38) Damit sank der Welthandel stärker als in den bisherigen Rezessionen nach dem 2. Weltkrieg und sogar schneller als im vergleichbaren Zeitraum nach Beginn der großen Depression 1929. (siehe Graphik 4)

Graphik 4: Entwicklung der Welt-Exporte während der Depression 1929 und der Depression ab 2008 (Anzahl der Monate nach Beginn der Depression) (39)

 

Was hat diesen massiven Rückgang des Welthandels verursacht? Im wesentlichen ist er ein Resultat der Globalisierung. Wie wir schon in früheren Analysen zeigten, hat die Globalisierung zu einer enormen Internationalisierung der Produktion geführt. In Tabelle 11 sehen wir, dass sich in der Periode der Globalisierung die Kluft zwischen dem Wachstum der Industrieproduktion und dem Wachstum des Handels mit industriellen Waren zunehmend vergrößerte. Wuchs der Welthandel in den 1970ern noch „nur“ um knapp 2/3 schneller als die Industrieproduktion, so war dieses Tempo des Welthandels in den 1980er Jahren fast doppelt so hoch und in den 1990er und 2000er Jahren sogar mehr als doppelt so hoch. Heute kontrollieren die multinationalen Konzerne (und ihre Tochterunternehmen) 2/3 des Welthandels. Ein schwerer Einbruch in der Produktion dieser Konzerne, das Zudrehen des Kredithahns durch die Banken führte daher zu einem umfassenden Einbruch des Welthandels. Mit dem leichten Aufschwung, der nun einsetzt, wird es auch zu einer gewissen Wiederbelebung des Welthandels kommen.

 

Tabelle 11: Entwicklung des Welthandels und der Weltproduktion 1970-2008 (in %) (40)

                     Produktion in der               Welthandel mit Waren

                     verarbeitenden Industrie    der verarbeitenden Industrie

1970-1979            +4,81%                                    +7,53%

1980-1989            +2,98%                                    +5,62%

1990-1999            +2,29%                                    +6,42%

2000-2008            +2,84                                       +6,86%

 

Da die Profiterwartungen niedrig und die Überakkumulation des Kapitals drückend ist (Überkapazitäten, Verschuldung etc.), vollzieht sich die Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals auf erweiterter Stufenleiter nur stockend. Trotz einer gewissen Belebung der Produktion werden daher keine neuen Arbeitsplätze geschaffen; im Gegenteil: die Arbeitslosigkeit steigt und die Löhne sinken. Wir sehen daher auch in den letzten Monaten weltweit ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit. Insgesamt wird ein Anstieg der Arbeitslosigkeit allein in den imperialistischen Ländern (OECD-Staaten) zwischen dem Höhepunkt des letzten Wirtschaftszyklus und den Prognosen für nächstes Jahr um mehr als 25,5 Millionen Menschen angenommen. In den USA ist die Arbeitslosigkeit 2009 bereits auf 9.3% hochgeschnellt, 2010 soll sie sogar auf 10.2% wachsen. (41)

 

Tabelle 12: Anstieg der Arbeitslosigkeit in den imperialistischen Staaten zwischen 2007-10 (42)

Anstieg der Arbeitslosigkeit vom Höhepunkt des Wirtschaftszyklus´ bis zum 4. Quartal 2010 (in Tausend)

Kan  Frankr.    BRD     Irl.     Ita.      Japan    Spa      UK     USA

733   1.019    1.833   232   1.124    1.239    2.706   1.388    8.698

Arbeitslosenrate (Angaben in %)

Am Höhepunkt des Wirtschaftszyklus´ 2007/2008

6.1       7.9        7.5     4.5      6.2       3.8       8.0      5.3          4.7

Schätzungen für das 4. Quartal 2010

9.8      11.3      11.8   15.1    10.5      5.8      19.8      9.8         10.1

 

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass der aktuellste OECD-Zwischenbericht zum Stand der Weltwirtschaft zum dem Schluss kommt, dass die Weltwirtschaft wohl nur langsam wachsen wird. So meint der Autor der Studie, dass die Krise den wichtigsten Industriestaaten zu sehr zugesetzt habe: „Überkapazitäten, eine geringe Profitabilität, hohe und steigende Arbeitslosigkeit, kaum wachsende Arbeitseinkommen und die Krisen auf dem Immobilienmarkt in einigen Ländern dürften den privaten Verbrauch belasten. Zudem müssen Verbraucher, Unternehmen, Banken und Regierungen ihre Schulden abbauen, die sie im Zuge der Krise angehäuft hatten.“ (44) Daher, so der Autor: „Das heißt, dass kurzfristig eine starke politische Unterstützung der Wirtschaft nötig ist“.

Graphik 5: Zunahme der Arbeitslosigkeit zwischen Anfang 2008 und dem 2. Quartal 2009 (43)

Staatskapitalismus und öffentliche Verschuldung

Damit kommen wir zu einem entscheidenden Punkt: Warum ist die kapitalistische Weltwirtschaft in ihrer historisch schwersten Krise seit 1929 nicht zusammengebrochen? Der Hauptgrund dafür war die entschlossene Intervention des kapitalistischen Staates, welcher der Kapitalistenklasse durch enorme öffentliche Schuldenaufnahme zu Hilfe gekommen war. Allein die Konjunkturprogramme der Regierungen weltweit sollen nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtschaft einen Umfang von 3.000 Milliarden US-Dollar, das entspricht 4,7 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, betragen. Hinzu kommen die Rettungspakete für die Banken und andere Teile des Kapitals. Allein in den USA haben diese ein Volumen von 23.700 Mrd. Dollar. Auch die deutsche Regierung hat 480 Mrd. Euro in Form staatlicher Bürgschaften für den heimischen Finanzsektor zur Verfügung gestellt.

Die zentrale Rolle der staatskapitalistischen Intervention für die Vermeidung des ökonomischen Zusammenruchs wird offensichtlich, wenn man sich die aktuellen Wirtschaftszahlen in den diversen Staaten ansieht. In den USA z.B. war es ausschließlich die Sparte „Regierungsausgaben“, die im 2. Quartal 2009 um +6.4% (im Jahresvergleich) zunahm, während alle anderen Sparten der BIP-Statistik (Privater Konsum, Private Investitionen, Exporte und Importe) einen Rückgang aufwiesen. (45) Ähnliches gilt für die Europäische Union. Auch in Japan spielte der Staat eine wichtige Rolle, allerdings sind hier die Exporte im letzten Quartal stärker angezogen.

Resultat dieser verstärkten staatskapitalistischen Intervention ist ein dramatischer Anstieg der öffentlichen Verschuldung. Innerhalb weniger Jahre (von 2007-11) wird sich die Verschuldung der imperialistischen Staaten im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistung im Falle der EU um über 1/3, der USA um 2/3 und in Japan um zumindest knapp 1/9 (ausgehend von einem bereits extrem hohen Niveau) erhöhen.

 

Tabelle 13: Verschuldung der imperialistischen Staaten 2007-11 (in % des BIP) (46)

                        USA                      Japan                        EU 15

2007                62.2%                   187.7%                      60.4%

2011              105.8%                   206.0%                      83.7%

 

Dies hat enorme Auswirkungen auf die staatliche Wirtschaftspolitik. In den USA wird z.B. das Budgetdefizit 2009 1.59 Billionen Dollar oder 11,2% des jährlichen BIP erreichen. Dies ist der höchste Stand seit 1945. (47)

Insgesamt sehen wir jetzt das höchste Niveau der staatskapitalistischen Intervention in das Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge seit 1945. Dieser Etatismus findet jedoch weniger in der direkten Form der Verstaatlichung statt, sondern in der indirekten Form von Steuern, staatlichen Aufträgen für das Militär usw. Dies hat folgenden zentralen Grund. Die breite Verstaatlichung in der Vergangenheit fand in der Regel vor dem Hintergrund von Kriegen bzw. den durch Kriegen verursachten massenhaften Vernichtungen von Kapital statt. Die beiden Weltkriege erforderten ein Höchstmaß an staatsmonopolkapitalistischer Zentralisierung. Nach dem 2. Weltkrieg war die Bourgeoisie enorm geschwächt und diskreditiert bzw. waren die Wiederaufbauprojekte angesichts der kriegsbedingten Zerstörung so groß, dass das private Kapital die notwendigen Investitionen nicht tätigen konnte bzw. wollte (angesichts unsicherer Profiterwartungen, hoher Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse etc.). Heute ist dies anders. Solange das Monopolkapital direkt und unmittelbar in den Abgrund seiner Vernichtung blickt – dies konnte kurzfristig durch die staatskapitalistischen Interventionen in den letzten 2 Jahren verhindert werden – solange wird der Staat sich auf indirekte Interventionen konzentrieren.

Die Ausweitung der Staatsverschuldung ist auch ein riesiges Programm zur Sicherung der Profite der Großbanken (diese handeln/vermitteln diese Schuldscheine). Damit profitieren sie von der Staatsintervention doppelt: zuerst werden sie gegen den Zusammenbruch geschützt, dann organisieren sie die Rückzahlung der Schuldendienste und streichen Vermittlungsdividenden ein. Das hat für die Banken außerdem den Effekt, dass sie nicht auf Ausweitung der Kredite für Unternehmen und Privatkunden setzen müssen, sondern auf spekulative Geschäfte mit Obligationen. Insgesamt hat das aber zusätzlich den Effekt, die Belebung im industriellen Sektor und des Massenkonsums weiter zu bremsen. Das verstärkt also die stagnativen Tendenzen, flacht den Aufschwung weiter ab, es kann auch zur Quelle einer zweiten Spekulationsblase und deren kurzfristigen Platzens werden.

Diese parasitäre Entwicklung wird besonders deutlich, wenn man sich anschaut, in welchen Sektoren die Profite am stärksten wachsen. Wie wir in Tabelle 7 gezeigt haben, hat in den imperialistischen Staaten im Jahre 2009 kaum eine Belebung der Wertproduktion stattgefunden; es wurde somit kaum ein Mehrwert geschaffen, der in Form von Investitionen zu einer Beschleunigung der Kapitalakkumulation hätte führen können. (Tabelle 9) Daher findet die Steigerung der Profite weniger im produktiven Sektor, sondern in erster Linie im spekulativen, parasitären Geldkapitalsektor statt. Dies wird klar, wenn man die Entwicklung der Profite in den USA in den verschiedenen Sektoren vergleicht. Während der Finanzsektor 2008 noch schwere Einbußen erlebte, gelang des dem Geldkapital früher als den anderen Teilen des Kapitals, die Lasten der Krise anderen aufzuhalsen. Dies gelang den Finanzkapitalisten einerseits durch die gewaltigen Summen an staatskapitalistischer Hilfe, die die Banken und Finanzinstitute jedoch in nur geringem Ausmaß weitergaben und stattdessen wieder spekulierten. Das Resultat ist, wie in Tabelle 14 zu sehen, dass der Finanzsektor im 3. Quartal seine Profite um 31% steigern konnte, während die Gewinne im Nicht-Finanzsektor um „nur“ 4.2% und jene aus dem Ausland ebenfalls um „nur“ 7.3% anstiegen. Dies unterstreicht einmal mehr die vorherrschende Stellung des Geldkapitalsektors innerhalb des Gesamtkapitals. (48)

 

Tabelle 14: Entwicklung der Profite in den USA Q4 2008 – Q3 2009 (49)

Steigerung bzw. Rückgang der Profite nach Sektoren (in % des BIP)

                                   2008 Q4     2009 Q1    2009 Q2      2009 Q3

Gesamter Sektor           – 22.8%     +5.3%         +3.7%        +10.8%

    heimische Wirtschaft – 25.2%      +9.6%         +6.7%        +11.9%

        Finanzsektor         – 57.9%     +95.0%      +12.0%        +31.1%

        Nicht-Finanzsektor -12.8%       -6.0%         +4.7%          +4.2%

    Profite aus Ausland  – 16.3%       -5.0%         –4.6%          +7.3%

 

Die Folgen der historisch hohen Staatsverschuldung sind vielfältig. Schwächere kapitalistische Staaten (v.a. halbkoloniale Länder im Süden aber auch in Osteuropa) könnten sich als unfähig erweisen, ihre Staatsschulden zu bedienen und offiziell Bankrott anmelden. Die Großmächte haben die Möglichkeit, Geld nachzudrucken. In jedem Fall jedoch werden die öffentlichen Haushalte aller kapitalistischen Staaten massiv von der Notwendigkeit geprägt sein, Zinsen zu zahlen. Dies wiederum hat enorme politische und ökonomische Konsequenzen: der kapitalistische Staat ist weitaus weniger als bisher in der Lage, mittels Subventionen und Steuererleichterungen den Kapitalisten unter die Arme zu greifen. Gleichzeitig wird der Staat unweigerlich die Massensteuern für die Arbeiterklasse zu erhöhen. Dies wiederum drückt auf die Möglichkeiten des privaten Konsums und schränkt somit die Konsumtionskraft der Gesellschaft ein. Andererseits wird dies den Staat stärker als bisher als Feind der Arbeiterklasse sichtbar machen und zu einer Politisierung des Klassenkampfes führen.

Im Unterschied zu vergangenen Konjunkturzyklen existiert heute keine imperialistische Führungsmacht, die ökonomisch stark genug wäre, die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft zu spielen, wie früher die USA. Doch die USA sind heute ökonomisch schwächer als je zuvor seit den 1930er Jahren. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die USA eine enorme Verschuldung aufgebürdet – der Staat, die Bundesstaaten und Kommunen, die privaten Haushalte und die Unternehmen. Diese Verschuldung hat sich durch die astronomischen Konjunktur- und Bankenhilfspakete noch einmal dramatisch um 9 Billionen Dollar erhöht. Damit verbunden ist das nach wie vor vorhandene Zahlungsbilanzdefizit, welches in den letzten Monaten nur deswegen geringer wurde, weil die USA die Importe noch stärker drosselten als die Exporte. Sicher ist der Dollar nach wie vor die wichtigste Währung weltweit.

Doch seine Dominanz wird von den konkurrierenden Mächten immer mehr in Frage gestellt. Dies unterstreichen auch die jüngsten Berichte über die Pläne zur Ablösung des US-Dollars als Zahlungsmittel im Rohölhandel. So hätten die Golfstaaten bereits geheime Gespräche mit Russland, China, Japan und Frankreich geführt. (50) Schon der marxistische Ökonom Evgenij Preobrazenskij wies darauf hin, dass die Stellung am Währungsmarkt Hand in Hand geht mit der ökonomischen Stellung in der Weltwirtschaft. So schrieb er 1926 angesichts der wachsenden Stärke des US-Imperialismus: „Die Diktatur am Valutamarkt ist nur die Spiegelung der allgemeinen wirtschaftlichen Herrschaft Amerikas über die anderen Länder.“ (51) In diesem Sinn ist es unausweichlich, dass der ökonomische Niedergang des US-Monopolkapitalismus sich früher oder später auch in einem Niedergang der Vorherrschaft des Dollars ausdrücken muss. Insgesamt ist es daher unwahrscheinlich, dass die USA ähnlich wie in den 1980er und 1990er Jahren die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft spielen und einen längeren globalen Aufschwung anführen.

Fassen wir zusammen: Der Tiefpunkt der schärfsten Rezession seit 1929 scheint überschritten zu sein und die imperialistischen Ökonomien befinden sich in der Phase der Stagnation bzw. des leichten Aufschwungs. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft wurde durch massive staatskapitalistische Interventionen verhindert. Doch die herrschende Klasse konnte kein einziges der grundlegenden Probleme der kapitalistischen Ordnung verringern geschweige denn lösen. Dies gilt sowohl für die ökonomischen Widersprüche (Überakkumulation des Kapitals und die Krise der Profirate) als auch für die politischen Gegensätze (wachsende Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten). Der Aufschwung der Weltwirtschaft wird daher schwach sein und könnte sogar aufgrund der niedrigen Investitionstätigkeit sowie der neuerlichen Spekulation in eine zweite Rezession 2010/11 münden.

In jedem Fall wird die Bourgeoisie alles daran setzen, die Kosten der Krise in den kommenden Jahren der Arbeiterklasse aufzubürden. Dies kann nur verhindert werden, wenn das Proletariat gemeinsam und entschlossen kämpft und letztlich den Kapitalismus durch die internationale sozialistische Revolution beseitigt. Dazu ist die Überwindung der Führungskrise und der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, der Fünften Internationale, notwendig.

Anmerkungen und Fußnoten

(*) Dieser Artikel wurde für „Fifth International“ (englisch-sprachiges theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale) geschrieben und im Herbst 2009 in der Ausgabe Vol 3, Nr. 3 veröffentlicht. Wir haben den Artikel für diese Ausgabe des RM aktualisiert und um je ein Kapitel zum Welthandel sowie zu einigen Besonderheiten des Konjunkturzyklus in der Epoche des Monopolkapitalismus erweitert.

(1) Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; in: MEW 19, S. 227

(2) Karl Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 372. Im 1. Band des Kapitals beschreibt Marx den Verlauf des Zyklus folgendermaßen: „Perioden mittlerer Lebendigkeit, Produktion unter Hochdruck, Krise und Stagnation“ (Karl Marx: Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 661).

(3) Karl Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 266

(4) Karl Marx: Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 259

(5) Karl Marx: Das Kapital, Band II, MEW 24, S. 185f.

(6) Karl Marx: Kapital Band I, MEW 23, S. 790f. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 673.

(7) W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (1916); in: LW 23, S. 102 (Hervorhebung im Original).

(8) Leo Trotzki: Die Kurve der kapitalistischen Entwicklung (1923); in: Die langen Wellen der Konjunktur. Beiträge zur Marxistischen Konjunktur- und Krisentheorie, Berlin 1972, S. 126

(9) Thesen zur Weltlage und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. Resolution des III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band II, Köln 1984, S.29

(10) Evgenij Preobrazenskij: The Decline of Capitalism (1931); Übersetzung von Richard Day (1983), S. 172 (eigene Übersetzung aus dem Englischen)

(11) Siehe dazu auch Michael Pröbsting: Die widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 37 (2007)

(12) W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (1916); in: LW 23, S. 104

(13) W. I. Lenin: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale; in: LW 22, S. 108

(14) W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (1916); in: LW 23, S. 102

(15) Karl Marx: Kapital Band I, MEW 23, S. 673 (Hervorhebung im Original)

(16) Evgenij Preobrazenskij: The Decline of Capitalism (1931); Übersetzung von Richard Day (1983), S. 75 (eigene Übersetzung aus dem Englischen)

(17) Eine ausführliche Analyse des Finanzkapitals findet sich in den Artikeln von Markus Lehner: Finanzmarktkrise und fallende Profitraten; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 39 (2008) sowie „Finanzmarktkrise – Rückblick und Ausblick“ in dieser Ausgabe des RM.

(18) Eine Analyse der Globalisierung findet sich u.a. in Michael Pröbsting: Imperialismus, Globalisierung und der Niedergang des Kapitalismus; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 39 (2008)

(19) Christian E. Weller and Amanda Logan: Investing for Widespread, Productive Growth, Center for American Progress, December 2008, S. 18

(20) Für 1971-2000 siehe World Bank: Global Economic Prospect 2002, S. 234; für 2001-2009 siehe United Nations: World Economic Situation and Prospects 2008, S. 1f. bzw. World Economic Situation and Prospects 2010, S. 4. Die Zahlenreihe zwischen 1971-2000 beruht auf Weltbank-Berechnungen des GDP zu konstanten Preisen und Wechselkursen von 1995. Die Zahlenreihe zwischen 2001-2009 beruht auf UN-Berechnungen des GDP zu konstanten Preisen und Wechselkursen von 2000. Die 2.36% ergeben sich aus dem arithmetischen Mittel der Angaben für die Jahre 2001-2009 (1.6%, 1.9%, 2.7%, 4.0%, 3.5%, 4.0%, 3.9%, 1.9% sowie -2.2%).

(21) Federal Reserve Bank St. Louis: International Economic Trends, August 2009, S. 1

(22) EUROPEAN COMMISSION: Statistical Annex of European Economy, Autumn 2009, S. 212; Die Angaben der EU für das Jahr 2010 ist natürlich nur eine Prognose.

(23) Christian E. Weller and Amanda Logan: Investing for Widespread, Productive Growth, Center for American Progress, December 2008, S. 11

(24) EUROPEAN COMMISSION: Statistical Annex of European Economy, Autumn 2009, S. 69.

(25) FEDERAL RESERVE statistical release: Industrial Production and Capacity Utilization, 15. Dezember 2009, S. 1

(26) FEDERAL RESERVE statistical release: Industrial Production and Capacity Utilization, 15. Dezember 2009, S. 5

(27) EUROPEAN COMMISSION: Statistical Annex of European Economy, Autumn 2009, S. 53. Da in der angeführten EU-Statistik keine Angaben für die EU-15 für die Jahresreihe 1961-70 und 1971-80 haben wir in diesen Fällen das arithmetische Mittel von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien verwendet.

(28) Jorgen Elmeskov (OECD): What is the economic outlook for OECD countries? An interim assessment, 3rd September 2009, S. 3

(29) Angaben für die USA aus: FEDERAL RESERVE statistical release: Industrial Production and Capacity Utilization, 15. Dezember 2009, S. 8; Angaben für die Euro-Zone aus: EZB Monthly Bulletin, September 2009, S. 149 sowie EZB Monthly Bulletin, Jänner 2010, S. 155; Angaben für Japan: Research and Statistics Department, Economic and Industrial Policy Bureau, Ministry of Economy, Trade and Industry: Indices of Industrial Production (Revised Report, 18.1.2010), November 2009, S. 6. Alle Angaben beziehen sich bei den Jahren und Quartalen auf die Vergleichsdaten im Vorjahr; bei den Monatsangaben im Vergleich zum Vormonat.

(30) Ted H. Chu (Lead Economist and Director of Global Industry Analysis, General Motors): Economic and Auto Industry Outlook, June 5, 2009, S. 8

(31) Siehe Megan Davies and Walden Siew: “Stephen Schwarzman says 45 per cent of global wealth written off by financial crisis”, Reuters, March 11, 2009,

http://www.theaustralian.news.com.au/story/0,25197,25170415-12377,00.html.

(32) Laut dem früheren US-Finanzminister Larry Summers wurde innerhalb von 18 Monaten sogar globaler Wohlstand in der Höhe von 50 Billionen US-Dollar vernichtet ($50 trillion in wealth destroyed – Summers‘ remarks on the economy, North Denver News, 13 March 2009, http://northdenvernews.com/content/view/1969/2/)

(33) Siehe Taro Saito: The Worst May be Over for Japan’s Economy- Short-term Economic Forecast (Fiscal 2009-2010), Economic Research Group of the Nippon Life Insurance Company, Juli 2009, S. 4

(34) Angaben für die USA aus: FEDERAL RESERVE statistical release: Industrial Production and Capacity Utilization, 16. September, 2009, S. 11. sowie 15. Dezember 2009, S. 12; Angaben für die Euro-Zone aus: EZB Monthly Bulletin, September 2009, S. 150 sowie Jänner 2010, S. 156; Angaben für Japan: Bank of Tokyo-Mitsubishi: The Outlook for the Japanese Economy, August 2009, S. 20 sowie November 2009, S. 23 (Die Angaben für Japan beziehen sich auf einen Index, bei dem das Jahr 2000 den Index 100 darstellt)

(35) Angaben für die Jahre 2006-2008 für alle Länder: IMF: World Economic Outlook, April 2009, S. 191; Angaben für die Quartale für alle Länder: Eurostat newsrelease euroindicators, 2 9. 2009, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/2-02092009-BP/EN/2-02092009-BP-EN.PDF sowie 8. Jänner 2010, http://www.courthousenews.com/2010/01/08/eu%20gdp.pdf. Alle Angaben beziehen sich bei den Jahren auf das Vorjahr und bei den Quartalen auf die Vergleichsdaten im Quartal davor.

(36) Angaben für die USA aus: BEA: Gross Domestic Product: Second Quarter 2009 (Second Estimate), Corporate Profits: Second Quarter 2009 (Preliminary Estimate), 27. August, 2009, S. 12 sowie BEA: GDP and the Economy. Third Estimates for the Third Quarter of 2009 (January 2010), S. 4; Veränderung im Vergleich zur vorhergehenden Periode. Angaben für Japan: Taro Saito: The Worst May be Over for Japan’s Economy- Short-term Economic Forecast (Fiscal 2009-2010), Economic Research Group of the Nippon Life Insurance Company, Juli 2009, S. 8. Die Angaben zwischen den Ländern sind nicht vergleichbar. Im Falle der USA handelt es sich um die Angaben für Corporate Profits. Die Jahresangaben beziehen sich auf das Jahr davor, die Quartalsangaben auf die Quartale davor. Bei den Statistiken für Japan wird die Kategorie „Ordinary Profits“ verwendet und die Quartalsangaben beziehen sich auf das jeweilige Quartal im Vorjahr.

(37) UniCredit – What is the eurozone growth potential, Juli 2009, S. 21

(38) Siehe The slump in world trade and its impact on the euro area; in: European Commission: Quarterly Report on the Euro Area III/2009, S. 29

(39) Richard Baldwin: The great trade collapse: What caused it and what does it mean?; in: The Great Trade Collapse: Causes, Consequences and Prospects; Centre for Economic Policy Research, November 2009, S. 2

(40) Eigene Berechnung des arithmetischen Mittels anhand der Jahresangaben in: WTO – International Trade Statistics 2009, S. 174. Man beachte, daß die Angaben für das 2000er Jahrzehnt noch nicht die Werte des Jahres 2009, dem Jahr der Depression, berücksichtigen.

(41) Siehe Congress Of The United States, Congressional Budget Office: The Budget and Economic Outlook: An Update, August 2009, S. 28

(42) OECD Employment Outlook 2009: Tackling the Jobs Crisis (Summary in English), S. 2

(43) Jorgen Elmeskov (OECD): What is the economic outlook for OECD countries? An interim assessment, 3rd September 2009, S. 19

(44) Jorgen Elmeskov (OECD): What is the economic outlook for OECD countries? An interim assessment, 3rd September 2009, S. 2

(45) Siehe BEA: Gross Domestic Product: Second Quarter 2009 (Second Estimate), Corporate Profits: Second Quarter 2009 (Preliminary Estimate), 27. August, 2009, S. 5

(46) EUROPEAN COMMISSION: Statistical Annex of European Economy, Autumn 2009, S. 181; Andere Angaben sprechen im Falle Japans von einer Verschuldung Japans im Jahr 2010 auf 227% des BIP. (Tomasz Konicz: Griechenland ist überall, Junge Welt, 15.01.2010)

(47) Siehe Congress Of The United States, Congressional Budget Office: The Budget and Economic Outlook: An Update, August 2009, S. 2

(48) Für unsere Analyse des Finanzkapitals siehe u.a. den Artikel von Markus Lehner: Finanzkapital, Imperialismus und die langfristigen Tendenzen der Kapitalakkumulation; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 39 (2008)

(49) BEA: GDP and the Economy. Third Estimates for the Third Quarter of 2009 (January 2010), S. 4. Die Angaben der prozentuellen Veränderungen in den Quartalen beziehen sich auf das jeweils vorhergehende Quartal.

(50) Siehe dazu den Bericht von Robert Fisk „The demise of the dollar“ in der britischen Tageszeitung The Independent vom 6 October 2009,

http://www.independent.co.uk/news/business/news/the-demise-of-the-dollar-1798175.html

(51) Evgenij Preobrazenskij: Die Neue Ökonomik (1926); Berlin 1971, S. 199




Das reformistische Schaf im autonomen Wolfspelz – Von der Arbeiterautonomie der 60er Jahre zum kleinbürgerlichen Radikalismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

I. Warum dieser Artikel?

Totgesagte leben länger. Dieser Satz ließe sich auch trefflich auf die autonome Bewegung in der BRD und in ganz Europa, ja weltweit anwenden. Ob bei den griechischen Aufständen 2008, an den Unis Italiens, dem Antifamilieu in Deutschland, bei Kämpfen in Frankreich oder in der Anti-G8-Mobilisierung in Heiligendamm 2007: Die Autonomen erscheinen gerade Jugendlichen – v.a. SchülerInnen und StudentInnen – als radikale Alternative zum Reformismus.

Dabei schien nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ und der kapitalistischen Wiedervereinigung auch die Stunde der Autonomen geschlagen zu haben. Wie für die gesamte Linke stand auch in diesem Spektrum die Frage nach der „Krise der eigenen Bewegung“. Der Autonomen-Kongress 1995 – er sollte für über 10 Jahre der letzte sein – stellte bezeichnenderweise die Frage „Was trennt uns, was verbindet uns?“ ins Zentrum seiner Tagung (1). Allein das zeigt, wie „verunsichert“ die Autonomen hinsichtlich ihre eigenen Existenzberechtigung waren.

Zugleich darf dabei aber nicht übersehen werden, dass in der „autonomen Bewegung“ die Frage, was eigentlich die „Autonomen“ oder „Autonomie“ sind, beständig auftaucht. Ja, es ist geradezu ein Markenzeichen dieser Bewegung, dass diese Frage seit dem Ende der 70er Jahre immer wiederkehrt. Das hat sicher damit zu tun, dass die Autonomen mehr einem Milieu, einer ideologisch in vieler Hinsicht heterogenen Strömung entsprechen und keiner auf einer bestimmten Weltanschauung basierenden politischen Bewegung wie z.B. der Marxismus.

Selbstverständlich sind auch „marxistische“ Organisationen heterogen, lässt sich doch unter diesem Logo alles finden: von konterrevolutionären stalinistischen oder sozialdemokratischen Gruppierungen über viele Facetten des Zentrismus bis hin zu revolutionären, kommunistischen Organisationen.

Trotz enormer Unterschiede haben alle diese Vereinigungen aber ein mehr oder weniger ausführlich dargelegtes Programm, eine Doktrin, politische Dokumente usw., die Außenstehenden eine Vorstellung der selbst proklamierten Ziele und Methoden zur Erreichung ebendieser Ziele ermöglichen. Sie erlauben auch, die Aktivität dieser Gruppierungen an den von ihnen selbst hergeleiteten Vorstellungen zu messen. Im Falle marxistischer Organisationen kommt außerdem hinzu, dass ihre programmatischen Vorstellungen immer auch einen wissenschaftlichen Anspruch erheben. All dies findet sich bei den Autonomen so gut wie nicht.

Dieser Unterschied der heutigen autonomen Gruppierungen zu anderen politischen Strömungen – am wenigsten vielleicht noch zu den AnarchistInnen – lässt die Autonomen politisch so schwer fassbar erscheinen – für andere, aber auch für sich selbst.

Hinzu kommt, dass die Autonomen heute – anders oder jedenfalls in stärkerem Ausmaß als in den 1980er Jahren – von unterschiedlichen, einander entgegengesetzten Strömungen regelrecht zerrissen werden: Anti-Deutsche versus Anti-Imps; „Schwarzer Block“ versus „Pink and Silver“; AnhängerInnen der revolutionären Machteroberung versus AnhängerInnen Holloways; (Post)-Operaisten versus Ablehner der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse usw. usf.

Gerade, weil tiefe Gegensätze die autonome Bewegung schon seit Jahrzehnten durchzogen, erhebt sich die Frage, was die Autonomen eigentlich eint? Können wir überhaupt von einer autonomen Bewegung und deren Kontinuität sprechen?

Natürlich bietet es sich an, in ihr einfach ein soziales, subkulturelles Milieu zu erblicken. Nun wird niemand bestreiten, dass die Autonomen auch ein solches sind. Doch in Wirklichkeit ist diese Antwort äußerst unbefriedigend, wenn es darum geht, die Reproduktion und die Veränderung des Phänomens „Autonome“ über Jahrzehnte zu erklären.

Was verbindet eigentlich die Hausbesetzerbewegung und die Anti-AKW-Bewegung der 80er Jahre mit der Anti-Olympia-Kampagne 1993 oder mit der autonomen Antifa oder autonomem Antirassismus? Sicher gibt es bei diesen Bewegungen personelle Kontinuitäten. Bestimmte Stadtteile, Läden, Zentren, selbstverwaltete Kneipen und Cafés, teilweise auch Uni-Strukturen firmierten jahrelang als Kristallisationspunkt und Infrastruktur. Aber das erklärt noch nicht, was die Autonomen zusammenhält, warum sie über Jahrzehnte sowohl von außen wie auch von innen als eine „Szene“ wahrgenommen werden, was hinter der Abfolge unterschiedlicher Bewegungen und Interventionen eigentlich das Spezifische der Autonomen bzw. der autonomen Politik ausmacht.

Es erklärt erst recht nicht, warum der Einfluss verschiedener autonomer oder ihnen naher Strömungen heute, inmitten der schwersten Krise des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg, auf AktivistInnen zunimmt.

Im Folgenden wollen wir herausarbeiten, was die Autonomen heute wieder attraktiv als scheinbar radikale Alternative zum Reformismus macht. Für uns als MarxistInnen geht es dabei natürlich nicht nur um eine Nachzeichnung dieser Entwicklung, sondern v.a. darum, warum die autonomen Antworten der Vergangenheit so wenig zum Erfolg führen konnten, wie es die heutigen können. Es geht also darum, zu zeigen, warum die „revolutionäre“ Alternative der Autonomie ein Weg in die Sackgasse ist.

Dazu müssen wir – ohne eine Geschichte der Autonomen zu schreiben oder auch nur schreiben zu wollen – auf ihre Entwicklung und auf die Entwicklung ihrer Ideologie eingehen. Wir werden dabei auch herausarbeiten, was unserer Meinung nach das Verbindende, Gemeinsame in der autonomen Bewegung über ihre Fraktionen hinaus ist.

Im nächsten Schritt „Autonomisms und Krise“ beschäftigen wir uns mit den politischen Antworten einiger autonomer Hauptrichtungen auf die gegenwärtige Krise, werden dabei verschiedene Richtungen untersuchen und einer Kritik unterwerfen.

Im vierten Abschnitt beschäftigten wir uns mit der Frage nach dem Klassencharakter der autonomen Bewegung – einer Strömung, die ja im Unterschied zu den linken wie rechten Reformisten, zu SPD und Linkspartei für sich in Anspruch nimmt, anti-kapitalistisch und revolutionär zu sein.

Abschließend gehen wir auf das Verhältnis von Marxismus und Autonomismus ein.

II. Ursprünge und Konzeption des Operaismus

Wer die heutige „Szene“ betrachtet, wird darin nur schwer die geschichtlichen Ursprünge der Autonomen erkennen. Wer denkt schließlich schon an theoretische Hefte und Journale, wer denkt gar an die industrielle Arbeiterklasse, wenn er oder sie die heutigen Autonomen betrachtet?

Der Operaismus (Arbeiterautonomie) ist zu einer minoritären Strömung unter den Autonomen geworden, ja zu einer, die in der Bewegung tw. überhaupt nicht mehr auszumachen ist. Und dennoch geht die autonome Bewegung auf eine politische und theoretische Kritik italienischer Linksintellektueller am Kurs der reformistischen Arbeiterbewegung, vor allem der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), aber auch der Sozialistischen Partei (PSI) und  der Gewerkschaften zurück, die schließlich zur Bildung der ersten autonomen Organisationen führte.

Die Volksfrontpolitik der PCI und ihre Folgen

Die Mitglieder der PCI hatten im Kampf gegen die Nazis und den italienischen Faschismus zweifellos die Hauptlast getragen und spielten eine führende Rolle in der Befreiungsbewegung. Doch ähnlich wie in ganz Europa – insbesondere auch in Frankreich – war die Sowjetunion unter Stalin strikt gegen jeden Kurs, der  den Kampf gegen Faschismus und Besatzung zu einem Kampf um die sozialistische Machtergreifung hätte weitertreiben können (2).

Dieser Kurs wurde von der PCI zwar befolgt, anfänglich jedoch nicht ohne Schwankungen nach links. Mit der Rückkehr Togliattis aus dem Moskauer Exil im März 1944 wurde die Partei stramm auf einen Kurs der Klassenzusammenarbeit mit den Alliierten, den bürgerlichen Parteien und der Regierung Marschall Badoglios ausgerichtet.

Die Regierung Badoglio, dem ehemaligen Generalsstabschef Mussolinis, war im Juli 1943 gebildet worden. Ihre Formierung erfolgte als Reaktion auf die alliierte Landung in Sizilien und das mächtige Anwachsen der anti-faschistischen Bewegung, da die italienische Großbourgeoisie, die Großgrundbesitzer, der Klerus und die Offizierskaste ihre Interessen durch die weitere Herrschaft Mussolinis gefährdet sahen. So hofften die Vertreter der herrschenden Klassen, die gestern noch dem Duce die Verteidigung ihrer Interessen anvertraut hatten, doch noch als Sieger aus dem Weltkrieg hervorzugehen und als – wenn auch spät gekommene – „Antifaschisten“ anerkannt zu werden. V.a. wollten sie so einer drohenden sozialistischen Revolution entgehen.

Dass die Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer diese Politik letztlich erfolgreich umsetzen konnten, verdankten sie freilich auch der tatkräftigen Mithilfe des Stalinismus.

Die Sowjetunion erkannte schon am 14. März 1944 die Regierung Badoglio an – als erstes Land überhaupt! Togliatti „erkämpfte“ die Umbildung der Regierung zur „Regierung der nationalen Einheit“, der die PCI am 22. April 1944 beitrat.

Die Ministerpräsidenten dieser Regierung der nationalen Einheit wechselten zwar mehrmals (Bonomi, Parri, De Gaspari). Die KP bliebt jedoch loyaler Teil dieser Regierung – einer Regierung, welche die Partisanenbewegung entwaffnete, den bürgerlichen Staatsapparat in seinen Grundstrukturen rekonstituierte, die Westanbindung Italiens herbeiführte und den Kapitalismus stabilisierte.

Die PCI hatte als größte Partei der Arbeiterklasse eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Lohnabhängigen in Stadt und Land zu demobilisieren und die revolutionären Möglichkeiten zu verraten.

Gedankt hat ihr das die italienische Bourgeoisie jedoch nicht. 1947 wurden Togliatti (Justizminister), Scoccimarro (Finanzen), Pesenti (Schatzminister) und Gullo (Landwirtschaftsminister) aus der Regierung entfernt. Die Christdemokraten brauchten sie als „Partner“ nicht mehr.

Das änderte aber nichts Grundlegendes an der Rolle, die die PCI im italienischen politischen System spielte. Auch als „Oppositionspartei“ war sie u.a. über ihre zahlreichen Posten in kommunalen Verwaltungen fest integriert.

Diese Politik führte u.a. dazu, dass die „offiziellen“ Organisationen der Arbeiterbewegung – neben der PCI auch die kleinere und politische schwächere PSI und die Gewerkschaftsführungen – den täglichen Ausbeutungs- und Arbeitsverhältnissen der Lohnabhängigen, aber auch veränderten Ausbeutungsmethoden, einer neuen Kapitalzusammensetzung und einer Neuformierung der Arbeiterklasse wenig bis keine Beachtung schenkten.

Dabei erlebte Italien in den 50er und frühen 60er Jahre einen enormen Industrialisierungsschub, der zu einem starken Anwachsen der Zahl der Lohnabhängigen v.a. im Norden und zur Massenmigration von ArbeiterInnen aus dem Süden führte. Für die Gewerkschaften und die Reformisten war dabei, wenn überhaupt, nur der sektorale Lohnkampf – eventuell noch die Frage der Arbeitszeit von Belang. Die betriebliche Organisation der Ausbeutung, das „Fabrikregime“ wurde als „gegeben“ betrachtet.

Die Quaderni Rossi

Dagegen entwickelte sich eine kritische intellektuelle Strömung um Autoren wie Panzieri, einem langjährigen oppositionellen Mitglied des ZK der PSI und Übersetzer des 2. Bandes des Kapitals, um die Zeitschrift „Quaderni Rossi“ (Rote Hefte, QR), die von 1961-65 erschienen. Diese können als theoretische Begründer des Operaismus, der „Arbeiterautonomie“ gelten.

In den „Quaderni Rossi“ entwickeln Panzieri u.a. eine Kritik an PCI und PSI sowie den von ihnen dominierten Gewerkschaften. Ein Kernpunkt dieser Kritik richtete sich gegen die „objektivistische Interpretation“ der technologischen Entwicklung, die sie bei den Reformisten feststellen.

„Man hegt nicht den leisesten Verdacht, daß der Kapitalismus die neue »technische Basis«, die der Übergang zum Stadium der fortgeschrittenen Mechanisierung (und der Automatisierung) ermöglicht hat, dazu ausnutzen könnte, um die autoritäre Struktur der Fabrikorganisation zu verewigen und zu konsolidieren; der ganze Industrialisierungsprozeß ist nämlich angeblich von der »technologischen« Zwangsläufigkeit beherrscht, die zur Befreiung »des Menschen von den Schranken führt, die ihm seine Umwelt und seine physischen Möglichkeiten auferlegen«. Die »Verwaltungsrationalisierung«, der gewaltige Ausbau von Funktionen der »Organisation nach außen hin« werden ebenso in einer »technischen«, »reinen« Form gesehen: die Beziehung zwischen diesen Entwicklungen und den Widersprüchen und Prozessen des Spätkapitalismus (der nach immer komplexeren Mitteln sucht, um seine Planung durchzusetzen), d.h. die konkrete historische Wirklichkeit, in der die Arbeiterbewegung lebt und kämpft, die heutige »kapitalistische Anwendung« der Maschinen und der Organisation – alles das wird zugunsten einer idyllischen technologischen Konzeption völlig übersehen.” (3)

Völlig zurecht kritisiert hier Panzieri die undialektische Sichtweise der technischen Entwicklung durch den italienischen Reformismus (wie der Sozialdemokratie und des Stalinismus überhaupt). Die Einheit des kapitalistischen Produktionsprozesses als Verwertungs- und Arbeitsprozess wird in der Art getrennt, dass der Arbeitsprozess nur als technisches Ordnungssystem aufgefasst wird. In dieser Sicht manifestieren sich im Arbeitsprozess bloß ein technologisches Arrangement und ein Fortschritt, auf dem eine Hierarchie der Fabrikorganisation aufbaut, die einfach dem Stand der Technik entspricht (was, nebenbei bemerkt, auch die Notwendigkeit der Beibehaltung eines bürokratischen betrieblichen Regimes in jeder zukünftigen Gesellschaftsformation und seine Rechtfertigung im „real existierenden Sozialismus“ impliziert).

Falsch an der reformistischen Herangehensweise ist, dass sich der Arbeitsprozess immer auch durch ein Ausbeutungsverhältnis, dass die „Despotie“ der Fabrik sich auch in der konkreten Arbeitsorganisation auf Basis einer bestimmten technologischen Stufe manifestiert.

Marx entwickelt diesen Gedanken sehr klar im ersten Band des „Kapitals“ bei der Diskussion des relativen Mehrwerts, wo er den „zwieschlächtigen Charakter“ der kapitalistischen Leitung im Produktionsprozess betont.

„Die Leitung des Kapitalisten ist nicht nur ihre aus der Natur des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses entspringende und ihm angehörige besondere Funktion, sie ist zugleich Funktion der Ausbeutung eins gesellschaftlichen Arbeitsprozesses und daher unbedingt durch den unvermeidlichen Antagonismus zwischen dem Ausbeuter und dem Rohmaterial seiner Ausbeutung.“ (4)

Und weiter:

„Wenn daher die kapitalistische Leitung dem Inhalt nach zwieschlächtig ist, wegen der Zwieschlächtigkeit des zu leitenden Produktionsprozesses selbst, welcher einerseits gesellschaftlicher Arbeitsprozess zur Herstellung eines Produkts, andererseits Verwertungsprozess des Kapitals, so ist sie der Form nach despotisch.“ (5)

Der frühe Operaisismus will daran anknüpfen und den Kampf der ArbeiterInnen gegen den „Despotismus“ des Fabrikregimes und der kapitalistischen Leitung zu seinem Recht verhelfen. Er tut dies jedoch, indem er den Kampf gegen diesen Despotismus zum eigentlichen Kern der Klassenauseinandersetzung macht.

“Die »neuen« Forderungen der Arbeiterklasse, die in den Arbeitskämpfen artikuliert werden, haben keinen unmittelbaren revolutionären politischen Inhalt und implizieren auch keine automatische Entwicklung in dieser Richtung. Dennoch kann ihre Bedeutung auch nicht auf die einer bloßen ‘Anpassung’ an die jüngsten technologischen und organisatorischen Entwicklungen in der modernen Fabrik zurückgeführt werden, die eine ‘Regelung’ der Arbeitsverhältnisse auf einem höheren Niveau ermöglichten. Sie liefern vielmehr Hinweise auf die zukünftige Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse allgemein und seiner politischen Bedeutung. Diese Hinweise ergeben sich jedoch nicht einfach aus der Kenntnisnahme und aus der ‘Summe’ jener Forderungen, so neu und ‘fortschrittlich’ sie sich auch im Vergleich zu den traditionellen Zielen ausnehmen mögen. Die Verhandlungen über Arbeitszeiten und -rhythmen, über die Höhe der Belegschaft, das Verhältnis von Lohn und Produktivität, usw., neigen natürlich dazu, das Kapital innerhalb des Akkumulationsmechanismus selbst und auf der Ebene seiner ‘Stabilisierungsfaktoren’ anzugreifen. Daß diese Forderungen durch die Kämpfe der Arbeiter in den Schlüssel- und Wachstumsindustrien vorangetrieben werden, ist eine Bestätigung ihres systemsprengenden Charakters. Der Versuch, sie für die engen Ziele eines allgemeinen Lohnkampfes auszunutzen, führte in der Praxis nicht zu einer neuen, umfassenderen Einheit der Klassenaktion, sondern zu ihrem geraden Gegenteil, nämlich zu dem Rückfall in betriebliche Abgeschlossenheit als notwendige Folge der Aushöhlung der potentiellen Elemente politischen Fortschritts.” (6)

In dieser Passage von 1961 sind schon Kernelemente des Operaismus enthalten. Panzieri gesteht zwar zu, dass „die neuen Forderungen“, der Arbeiterklasse „keinen unmittelbar revolutionären politischen Inhalt“ haben; anders als die Gewerkschaftsbürokraten und die reformistischen Parteiführungen richten die QR ihren Blick auf die neuen Arbeiterschichten, v.a. auf die MigrantInnen aus Süditalien, die von der expandierenden Industrie Norditaliens als billige Arbeitskräfte angeworben und von den Gewerkschaften praktisch ignoriert wurden.

Aber Panzieri macht in obiger Passage einen weiteren Schritt, der für die Analyse des Operaismus prägend werden sollte. Den „neuen“ ökonomischen Forderungen der Arbeiterklasse wird ein „systemsprengender Charakter“ unterschoben.

Er behauptet, dass der „Versuch, sie für die engen Ziele eines allgemeinen Lohnkampfes auszunutzen“ eigentlich keinen realen Boden auf Grundlage der spontanen Kämpfe hätte, sondern „von außen“ durch die Gewerkschaftsbürokratie oder andere, die ArbeiterInnen gängelnde Organisationen hineingetragen würden.

Nun werden ernsthafte KommunistInnen nicht abstreiten, dass es auch in ökonomischen Kämpfen Momente der Negation des Kapitalsverhältnisses gibt. So unterbricht natürlich jeder Streik die Produktion von Mehrwert und greift zeitweilig die Verfügung des Unternehmers (oder einer ganzen Unternehmergruppe) über ihren Betrieben an.

Natürlich können und werden solche Kämpfe immer wieder auch politische Frage aufwerfen, z.B. wenn die Unternehmer die Polizei zu Hilfe rufen, wenn der bürgerlicher Staat das Streikrecht einschränkt usw.

Das ist jedoch etwas anderes, als die Sichtweise der Operaisten, die dem ökonomischen Kampf selbst einen systemsprengenden Charakter unterstellen.

Hierin unterscheidet sich diese Sicht, wenn auch am Beginn in z.T. ambivalenter Form, grundlegend von jener des Marxismus.

In der Analyse des Arbeitslohns zeigt Marx, dass die Ausbeutung des Arbeiters im Lohnfetisch scheinbar verschwindet, dass das reale Ausbeutungsverhältnis mystifiziert wird. Warum? Weil es so erscheint, als würde der Kapitalist nicht den Wert der Ware Arbeitskraft, sondern die Arbeit bezahlen, als hätte der Arbeiter den Lohn für den „Wert der Arbeit“ erhalten.

„Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des Arbeiters als Preis der Arbeit,  eine bestimmtes bestimmtes Quantum Geld, das für ein bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird.“ (7)

Marx weiter: „Was dem Geldbesitzer am Warenmarkt direkt gegenübertritt, ist in der Tat nicht seine Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letzter verkauft ist seine Arbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr verkauft werden. Die Arbeit ist die Substanz der Werte, aber sie hat keinen Wert.“ (8)

Es scheint so, also würde der Kapitalist dem Arbeiter die gesamte Arbeit zahlen. Die Mehrarbeit, die Ausbeutung verschwindet im Bewusstsein beider, so dass auch im Alltagsbewusstsein unter Ausbeutung nur „zu geringe“ Bezahlung, Billiglohn usw. verstanden wird.

Doch damit nicht genug. Marx stellt auch die Frage, warum sich die „illusionäre“ Vorstellung vom „Wert der Arbeit“ so hartnäckig hält, warum diese nicht einfach durch die täglich erfahrene Ausbeutung, durch den gemeinsamen Kampf usw. durchbrochen werden kann?

„Im Ausdruck:‚Wert der Arbeit‘ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöst, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse.“ (9)

Marx weist nach, dass mit der Lohnform (und damit natürlich immer auch im Lohnkampf) spontan eine Verkehrung der realen gesellschaftlichen Verhältnisse im Alltagsbewusstsein der Gesellschaft und natürlich auch in jenem der Arbeiterklasse einhergehen muss. Daher ist das „spontane“ Lohnarbeiterbewusstsein, wie es täglich im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse unwillkürlich produziert und reproduziert wird, eine Form bürgerlichen Bewusstseins.

Die Forderung nach höherem Lohn, der Lohnkampf als solcher hat daher auch noch keine systemsprengende Qualität, so notwendig und unvermeidlich dieser tägliche Kleinkrieg mit dem Kapital auch ist, wenn die Arbeiterklasse überhaupt ihre Existenzbedingungen wahren will.

Für den Operaismus liegt die Sache aber anders. Die von ihm angeführten Forderungen – Verhandlungen über Arbeitszeiten und -rhythmen, über die Größe der Belegschaft, das Verhältnis von Lohn und Produktivität – sind eigentlich „klassische“ Gewerkschaftsforderungen, ökonomische Forderungen, die sich um die Verkaufs- und Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft drehen. Nun erhebt sie Panzieri zu „systemsprengenden Forderungen“, indem er behauptet, dass sie „das Kapital innerhalb des Akkumulationsmechanismus selbst und auf der Ebene seiner »Stabilisierungsfaktoren«“ angreifen. „Innerhalb des Akkumulationsmechanismus“ bewegt sich aber auch jeder Lohnkampf (ob in einem Betrieb, in einer Branche oder in einer Nationalökonomie). Es geht dabei immer um die Höhe des Mehrwerts, der den ArbeiterInnen abgepresst werden kann. Natürlich kann sich dieser Kampf zu einem politischen Klassenkampf zuspitzen – und MarxistInnen müssen in jedem Fall dafür kämpfen. Aber niemals passiert das „von selbst“. Eine unvermittelt „systemsprengende Qualität“ hat eine ökonomische Forderung für sich eben nicht, sondern immer nur im Rahmen eines Gesamtprogramms. Noch viel weniger trifft das auf die Lohnforderung selbst zu, die von den Operaisten zu einer, wenn nicht sogar zu der zentralen Forderung hochstilisiert wurde.

Hier geht der Operaismus direkt einen Schritt hinter den Marxismus zurück, der eben schon im 19. Jahrhundert forderte, die Fetischisierung des Lohnkampfes z.B. durch die britischen Gewerkschaften durch das revolutionäre Ziel „Abschaffung des Systems der Lohnarbeit“ zu ersetzen.

Es ist typisch für den Operaismus wie auch verschiedene Facetten des linken Syndikalismus, dass eine bestimmte Form des ökonomischen Kampfes – im Fall der Operaisten die Lohnforderung – als “eigentlicher” Klassenkampf hingestellt wird. Ihm wird eine systemsprengende oder jedenfalls qualitativ fortschrittlichere Seite zugesprochen als anderen Auseinandersetzungen (z.B. Kampf um bessere Arbeitsbedingungen). Dass in den letzten Jahren manche oppositionelle Gewerkschafter in Deutschland die operaistische These vom Primat des Lohnkampfes umgekehrt haben und sog. “qualitativen” Forderungen (Arbeitssicherheit, …) eine größere Wichtigkeit bemessen, heißt nur, den Fehler unter  anderem Vorzeichen zu wiederholen.

Akkumulations- und Lohnbewegung bei Marx und bei den Operaisten

Für den Marxismus ist der ökonomische Kampf v.a. eine Reaktion auf vorhergehende Zumutungen des Kapitals, um überhaupt die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeiterkraft zu ihrem Wert sicherzustellen. Im ersten Band des „Kapitals“ weist Marx nach, dass es einen bestimmten Zusammenhang von Akkumulationsbewegung und Lohnhöhe resp. Ausbeutungsrate gibt, dass die Akkumulationsbewegung der bestimmende Pol dieses Verhältnisses ist.

„Das Gesetz der kapitalistischen Produktion, das dem angeblichen ‚natürlichen Populationsgesetz‘ zugrunde liegt, kommt einfach auf dies heraus: Das Verhältnis zwischen Kapital, Akkumulation und Lohnrate ist nichts als das Verhältnis zwischen der unbezahlten, in Kapital verwandelten Arbeit und der zur Bewegung des Zusatzkapitals erforderlichen zuschüssigen Arbeit. Es ist also keineswegs ein Verhältnis zweier voneinander unabhängigen Größen, einerseits Größe des Kapitals, andrerseits der Zahl der Arbeiterbevölkerung. Wächst die Menge der von der Arbeiterklasse gelieferten und von der Kapitalistenklasse akkumulierten, unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch einen außergewöhnlichen Zuschuß bezahlter Arbeit sich in Kapital verwandeln zu können, so steigt der Lohn, und alles andre gleichgesetzt, nimmt die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab. Sobald aber diese Abnahme den Punkt berührt, wo die das Kapital ernährende Mehrarbeit nicht mehr in normaler Menge angeboten wird, so tritt eine Reaktion ein: ein geringerer Teil der Revenue wird kapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern.“ (10)

Marx fasst hier zusammen, was er im Kapital über „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ an anderer Stelle noch prägnanter zusammenfasst:

„Es sind diese absoluten Bewegungen des Kapitals, welche sich als relative Bewegungen in der Masse der exploitablen Arbeitskraft widerspiegeln und daher der eigenen Bewegung der letzteren geschuldet scheinen. Um mathematische Ausdrücke anzuwenden: die Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt.“ (11)

Marx verdeutlicht hier nicht nur kategorisch das Verhältnis von Akkumulations- und Lohnbewegung. Er verweist auch darauf, dass dieses Verhältnis an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft verkehrt erscheint. Ein beträchtlicher Teil der bürgerlichen Pseudo-Wirtschaftswissenschaft, der „Vulgärökonomie“ baut seine ganze „Weisheit“ auf dieser Erscheinung auf, dass die Lohnhöhe die Investitionen usw. bestimme – was in der platten neoliberalen Formel endet, dass doch die ArbeiterInnen „Zurückhaltung“ üben sollten, damit „die Wirtschaft“ auch in ihrem Interesse wachse.

Doch auch die Operaisten und Autonomisten sitzen diesem Schein auf! Auch sie drehen dieses Verhältnis regelrecht um. Diese Position geht im wesentlichen auf Mario Tronti, einen anderen Autor der QR zurück.

„Wir haben die Ware Arbeitskraft als eigentlich aktive Seite des Kapitals betrachtet,  als natürlichen Sitz jeder kapitalistischen Dynamik. Sie ist nicht nur Protagonist in der  erweiterten Reproduktion des Verwertungsprozesses, sondern auch in den ständigen revolutionären Veränderungen des Arbeitsprozesses. Selbst die technologischen Veränderungen werden diktiert und durchgesetzt durch die im Wert der Arbeitskraft eingetretenen Veränderungen. Kooperation, Manufaktur, große Industrie sind nur „besondere Methoden der relativen Mehrwertproduktion“, Formen, die von jener Ökonomie der Arbeit  verschieden sind, die ihrerseits die zunehmenden Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals hervorruft. Das Kapital wird immer abhängiger von der  Arbeitskraft; diese muß es deswegen immer umfassender besitzen, ebenso wie es die  natürlichen Kräfte ihrer Produktion besitzt; es muß die Arbeiterklasse selbst zur Naturkraft der Gesellschaft reduzieren. Je mehr die kapitalistische Entwicklung voranschreitet,  desto stärker ist der Gesamtkapitalist darauf angewiesen, die ganze Arbeit innerhalb des  Kapitals zu sehen, muß alle Bewegungen – innere und äußere – der Arbeitskraft kontrollieren, und ist gezwungen, das Verhältnis von Kapital und Arbeit langfristig zu planen,  als Stabilitätsindex für das Gesellschaftssystem. Sobald das Kapital alle Bereiche außerhalb der Produktion im engeren Sinne erobert hat, beginnt sein Prozeß der inneren Kolonisierung; so kann man erst, wenn sich endlich der Kreis der bürgerlichen Gesellschaft  schließt – Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion – recht eigentlich von  dem Beginn der kapitalistischen Entwicklung sprechen. An diesem Punkte gesellt sich  der Prozeß der objektiven Kapitalisierung der subjektiven Kräfte der Arbeit notwendig zu  dem Prozeß der materiellen Auflösung des Gesamtarbeiters und damit des Arbeiters  selbst, insofern er Arbeiter ist: er ist selbst auf eine Eigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise reduziert und damit eine Funktion des Kapitalisten. Es ist klar, daß die  Integration der Arbeiterklasse in das System zur Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus wird: die Ablehnung dieser Integration durch den Arbeiter hindert das System am  Funktionieren. Es wird nur eine Alternative möglich: dynamische Stabilisierung des Systems oder proletarische Revolution.“ (12)

Die Krise erscheint nicht als notwendige Folge der Akkumulationsbewegung, als notwendiges Resultat der Kapitalbewegung selbst, sondern als „Antwort“ auf die Aktionen der Arbeiterklasse.

Diese kann selbst die Krise herbeiführen oder gar verschärfen, indem sie den ökonomischen Kampf zuspitzt. Es ist daher auch klar, warum die Lohnforderung einen so zentralen Stellenwert beim Operaismus besitzt.

“Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muß das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf. Auf der Ebene des gesellschaftlich entwickelten Kapitals ist die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen untergeordnet, sie kommt nach ihnen, und der politische Mechanismus der eigenen Produktion muß ihnen entsprechen.” (13)

Der Klassenbegriff des Operaismus

Im obigen Zitat Panzieris klingt auch eine wesentlich (industrie-)soziologische Bestimmung des „revolutionären Subjekts“ an. Im Text sind das die „Arbeiter in den Schlüssel- und Wachstumsindustrien“.

In der operaistischen Theorie der 1960er und der frühen 70er Jahre ist es der „Massenarbeiter“, der aufgrund seiner besonderen Stellung im Produktionsprozess der Kern der revolutionären Umwälzung und das Zentrum und der Ausgangspunkt der politischen Organisierung sei.

In den 50er/60er Jahren sei es in Italien zu einer „Neuzusammensetzung“ der Arbeiterklasse gekommen (ein Prozess, der in anderen Ländern, z.B. den USA schon viel früher verortet wird). Diese „neue Zusammensetzung“ hat einen neuen „Typus“ von Arbeiter hervorgebracht, den „Massenarbeiter“. Darunter können wir uns, grob gesagt, den Fließbandarbeiter, den Proletarier in der Fabrik vorstellen, die gemäß „wissenschaftlicher Betriebsführung“ organisiert ist und den einzelnen ArbeiterInnen nur noch sinnentleerte, mechanische Tätigkeiten zuordnet.

“Im operaistischen Denken ist die materialistische Instanz ein entscheidendes Element der ganzen Theorie: man könnte auch sagen, daß gerade das materialistische Interpretationskriterium es erlaubte, historisch-logisch korrekt die Aufeinanderfolge der Arbeiterfiguren in der Geschichte des Kapitalverhältnisses zu rekonstruieren. Indem man als Festpunkt jeder Analyse die Beziehung der Körper zu den Arbeitsinstrumenten nahm, der Denk- und Handlungsweisen zu den Produktionsweisen, der  Subjektivität zur Objektivität, wurde klar, daß die politischen Verhaltensweisen, die Formen, die vom Klassenkampf ausgedrückten Bedürfnisse sich bestimmt haben und sich bestimmen auf der Basis der objektiven Beziehung der Arbeit zum Kapital, des Menschen gegenüber der Maschine. So daß der professionelle Arbeiter angesichts einer nur formalen Subsumption seiner Arbeit unters Kapital für die Wiederaneignung der Produktionsmittel kämpfte, für die Selbstverwaltung der Fabrik – und der Massenarbeiter direkt gegen das physische Bestehen des Kapitals, seine technische Seinsweise, Ausdruck einer nun auch realen Subsumption seiner Arbeit. Der revolutionäre Prozeß definierte und definiert sich also in bezug auf die Arbeiterfigur, die in der kapitalistischen Arbeitsorganisation dominiert oder zur Dominanz tendiert. Die technische Zusammensetzung der Klasse bestimmt genau den Ausschnitt der Klasse, auf den das Kapital den Akkumulationsprozeß zu stützen versucht; die politische Zusammensetzung der Klasse definiert den materiell bestimmten Charakter ihres Antagonismus.“ (14)

Dieses Zitat eines Vertreters der autonomen Richtung verdeutlicht den Unterschied zwischen Marxismus und Autonomismus schon beim Klassenbegriff. Im Marxismus ist der Klassenbegriff – anders als in der bürgerlichen Soziologie – immer einer des Verhältnisses. So scheint der autonome Autor auch zu beginnen, doch führt er das Verhältnis zwischen Arbeiter- und Kapitalistenklasse dann alsbald in die Fabrik, aus der dann schließlich eine historisch bestimmte „Arbeiterfigur“ hervortritt, auf die hin sich der „revolutionäre Prozeß definierte und definiert“.

Entscheidend ist hier: Die Arbeiterklasse wird nicht definiert im Verhältnis zur Kapitalistenklasse, also aufgrund ihrer Stellung in einem gesellschaftlichen Produktionsverhältnis, sondern aufgrund ihrer Stellung zu einem bestimmen Produktionsmittel, zum Arbeitsmittel.

Im Grunde sitzt hier der Operaismus – wieder einmal – der Fetischisierung durch das Kapitalverhältnis selbst auf. In der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen Klassen tatsächlich auf den ersten Blick als eine Gruppe von Menschen, die sich durch gemeinsame Eigenschaften auszeichnen, z.B. bestimmte Einkommensgruppen, bestimmte Verhaltensweisen (Habitus), gemeinsame Kenntnisse (Wissen, „intellektuelles“ Kapital) u.ä. Im Operaismus geht es methodisch ähnlich zu. Hier ist es nur eine gemeinsame Stellung zur Technologie, zu einem bestimmten Arrangement der Produktionsorganisation, die eine bestimmte „Arbeiterfigur“ hervorbringt.

Aus dem Verhältnis zum Arbeitsmittel erwächst dann auch das „Bewusstsein“. Der „professionelle Arbeiter“ – gemeint ist hier der Facharbeiter – hätte daher immer für die „Selbstverwaltung der Fabrik“ kämpfen wollen, während der „Massenarbeiter“ „gegen das physische Bestehen des Kapitals“ antrete.

Aus dieser Vorstellung folgt auch die Konzentration der frühen autonomen Bewegung nicht nur auf den Lohnkampf, der ja auch dem Kapital „immer mehr wegnimmt“, sondern auch die Begeisterung für Sabotage als Klassenkampfform oder überhaupt für den „Kampf gegen die Arbeit“.

Diesen Zusammenhang von Arbeitsorganisation und vorherrschender Technologie mit der Frage des revolutionären Bewusstseins verdeutlich der Autor noch einmal in seinem Beitrag.

“Die Klassenzusammensetzung des Massenarbeiters stellte das dar, was in der Statistik ein »Kollektiv« ist, also die Basiseinheit der wissenschaftlichen Beobachtung: ein Ensemble homogener Einheiten mit einem bestimmten »Merkmal«. In unserem Fall: ein Ausschnitt der Arbeitskraft, der materiell homogenisiert wird durch eine bestimmte Beziehung zur kapitalistischen Technologie (dem Fließband) und einem daraus folgenden politischen Verhalten: Forderung nach Lohn als Einkommen, Verweigerung der Arbeit, Sabotage.“ (15)

Hier tritt also ein Grundfehler des Operaismus noch einmal deutlich zutage, der weit reichende politische Konsequenzen hat. Für ihn erwächst Klassenbewusstsein aus einer bestimmten Stellung, aus dem „Sein“ des Massenarbeiters, aus dem Sein eines bestimmten „Arbeitertyps“.

Dieses muss nur „unbefleckt“ zum Vorschein kommen. Die Aufgabe der revolutionären Organisation besteht gewissermaßen darin, diesen Prozess anzuschieben und gegen jene anzukämpfen, die ihn zu behindern versuchen.

„Im gemeinsamem Kampf mit den Protagonisten des Kampfes der arbeitenden Klassen selbst die Ziele und die Formen (zu) suchen, mit denen der aktuell geführte Kampf selbst die Richtung auf die bewusste Verwirklichung eines sozialistischen Systems nehmen kann; die Umwandlung der objektiven Kräfte in subjektive, politisch bewusste Kräfte, in einer Perspektive der Überwindung des bestehenden Systems, die die partikularistischen Forderungen, Resultate der unterschiedlichen Ebenen (…) verbindet zu verallgemeinerten hypothetischen Synthesen, die sich der Lebensnerven des Systems bedienen und die aus dem Inneren der Bewegung des Klassenkampfes selbst die Orientierung seiner entwickeltsten Spitzen geben.“ (16)

Diese Formulierungen erinnern frappant an die Texte der Ökonomisten in der russischen Sozialdemokratie, die sich heftig gegen die Position Lenins und seiner Anhänger wandten. Dieser hatte darauf insistiert, dass revolutionäres Klassenbewusstsein nicht organisch aus dem ökonomischen/betrieblichen Kampf der ArbeiterInnen erwachsen könne, sondern von außen, durch eine organisierte revolutionären Kraft – die kommunistische Partei – in die Klasse getragen werden müsse. Die Ökonomisten hingegen erblicken im ökonomischen Kampf und dem sich daraus entwickelnden Bewusstsein schon „proletarisches Klassenbewusstsein“, während Lenin zu Recht darauf bestand, dass es sich dabei um „nur-gewerkschaftliches Bewusstsein“ handelt und handeln kann.

Die Operaisten der 60er Jahre begehen denselben Fehler, allerdings mit einer anderen Stoßrichtung. Während die russischen Ökonomisten den revolutionären Kampf abschwächen wollten, wollten die Operaisten diesen befördern. Den politischen Konsequenzen dieses Fehlers entgehen sie allerdings nicht, obwohl der „Operaismus“ gegen Ende der 60er Jahre einen enormen politischen Zulauf erhält und einen starken organisatorischen Aufschwung nimmt.

Operaismus und Klassenkämpfe der 1970er Jahre

Zunächst führten die konzeptionellen Vorstellung der Operaisten aber in den QR zu einer Differenz über der Frage, ob es sinnvoll sein, überhaupt noch in den bestehenden Organisationen der Arbeiterbewegung, also den reformistischen Parteien, aber auch in Gewerkschaften zu arbeiten oder nicht. 1962, nach Massenstreiks bei Fiat, wo erstmals der „Massenarbeiter“ in Aktion zu sehen war, wurde diese Frage immer wichtiger und führte 1963 zur Spaltung. Die Gruppe um Marco Tronti und Antonio Negri hielt eine Orientierung an den traditionellen Arbeiterorganisationen für immer weniger sinnvoll und gründete schließlich die politisch offensivere Zeitschrift „Classe Operaia“ (Arbeiterklasse, CO), deren erste Nummer 1964 erschien und die politischen Grundlagen des Operaismus weiter ausarbeitete.

Doch dies war erst der Beginn autonomer Organisationen. Ein Teil von Classe Operaia formierte sich ab 1969 als Potere Operaia (Arbeitermacht), die erste operaistische Organisation im eigentlichen Sinn, die rasch auf mehrere tausend Mitglieder anwuchs. Der Operaismus erhielt in dieser Phase Zulauf aus der Arbeiterradikalisierung und der Jugend.

Er beeinflusste auch zum Teil das Denken anderer Organisationen aus der radikalen Linken wie Lotta Continua, Il manifesto und Avanguardia Operaia.

Diese Gruppierungen waren selbst noch klar auf Kernschichten der Arbeiterklasse, den „Massenarbeiter“ orientiert. Dieser war für sie „das revolutionäre Subjekt.“ Sie vertraten überdies einen positiven Bezug zum „Leninismus“ (oder was sie darunter verstanden), zum Maoismus (besonders zur „proletarischen Kulturrevolution“) und zur Notwendigkeit einer „straffen revolutionären Organisation“. D.h. die Operaisten oder vom Operaismus mehr oder weniger stark beeinflusste Strömungen der späten 60er/frühen 70er Jahre verstanden sich also durchaus als Kaderorganisationen.

Ende der 60er Jahre schien ihnen die Entwicklung des Klassenkampfes in Italien Recht zu geben – und zwar im „Vorzeigebetrieb“ des italienischen imperialistischen Kapitalismus, bei FIAT.

Die Fabrik in Turin war mit 170.000 (!) Beschäftigten ein industrieller Gigant. Dabei hatten es die Konzernführung und das Management verstanden, in den 50er Jahren, die „linken“ Gewerkschaften (also die KP-nahe CGIL) massiv zu schwächen und durch offen gelbe Gewerkschaften, die SIDA (Sindicato Italiano dell‘ Automobile) zu ersetzen.

Trotzdem brachen dort 1962 massive Kämpfe aus. Darin spielten die „Massenarbeiter“, d.h. FließbandarbeiterInnen, die zum größten Teil aus Süditalien angeworben worden waren (auch um die linken Gewerkschaften zu schwächen), eine radikale Schlüsselrolle. Die Kämpfe führten in den 60er Jahren zu zwei Resultaten: einerseits konnte sich die CGIL re-etablieren, andererseits stieg auch der Einfluss des Operaismus, der „Arbeiterautonomie“ in der Fabrik. Diese organisierten sich bei FIAT wie in ganz Norditalien in den Basiskomitees CUB (Comitati Unitari di Base).

1968 beginnt die Wirtschaftskrise die italienische Ökonomie zu treffen. Es kommt zu ersten Streiks und Kämpfen gegen die Abwälzung der Krisenkosten bei FIAT, doch stehen diese noch unter Führung und Hegemonie der Gewerkschaftsapparate.

1969 kippt die Sache. Eine zweite Streikwelle beginnt im Frühjahr 1969, als die Beschäftigten von FIAT Turin in einen Solidaritätsstreik mit den von der Polizei belagerten ArbeiterInnen der süditalienischen Kleinstadt Battipaglia traten (bei der Belagerung waren Arbeiter von der Polizei erschossen worden). Die Unruhe der Arbeiter schwoll zu einer breiten Streikbewegung an: zum „roten“ oder „schleichenden Mai“ (maggio striciante).

Die Gewerkschaftsführungen sahen sich jetzt basisdemokratischen Entwicklungen gegenüber. Die ArbeiterInnen tauschten die gewerkschaftliche Streikleitung durch eigene, von Vollversammlungen gewählte, jederzeit abwählbare Delegierte aus. Teilweise wurden die Gewerkschaftsvertreter auf den Vollversammlungen ausgepfiffen oder gar ausgeschlossen. Vor den großen Fabriken fanden wöchentlich öffentliche Vollversammlungen statt, so dass ArbeiterInnen aus der gesamten Umgebung daran teilnehmen konnten.

Diese zweite Kampfeswelle gipfelte am 3. Juli in einem Generalstreik in Turin gegen die allgemeinen Mieterhöhungen in der Stadt.

Es kam zu einer Konvergenz von Studenten- und Arbeiterbewegung. Während Studierende sich als Streikposten betätigten, nahmen ArbeiterInnen an den Demos der StudentInnen teil. Im Rahmen eines Streiks im Juli 1969 beteiligten sich die Bewohner des Turiner Stadtviertels Mirafiori an Zusammenstößen mit der Polizei, was Ausdruck einer gesellschaftlichen Verbreiterung der Forderungen der autonomen ArbeiterInnen war.

Den Höhepunkt erreichten die Streikaktivitäten im Herbst 1969. Eine ganze Streikwelle durchzog Norditalien mit dem Zentrum Turin, genauer der Turiner FIAT-Werke. Dort erwiesen sich die CUBs – anders als noch 1968 – als Organisationsform und betriebliche politische Führung, die im Kampf die CGIL ablösen konnte. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass diese Organisationsform besser geeignet war, neu aktivierte Arbeiterschichten in Bewegung zu setzen, sie zum tätigen Subjekt ihrer Kämpfe werden zu lassen.

Trotz dieser Dynamik, Radikalisierung und Kräfteverschiebung in der Arbeiterklasse offenbarte der Operaismus schon 1969 seine politischen Schwächen in eklatanter Art und Weise:

1.   Die Analyse der Krise durch operaistische Organisationen wie Potere Operaio oder auch die 1969 gegründete Lotta Continua waren falsch und desorientierend. V.a. Potero Operaio interpretierte die Krise als Resultat der Arbeiterkämpfe und als „Antwort des Kapitals“ auf die Klasse!

2.   Auch die Radikalisierung der Arbeiterklasse wurde einseitig und falsch aufgefasst, als wurzle sie in erster Linie in spezifisch italienischen Bedingungen – der Migrationsbewegung aus dem Süden und der damit verbundenen Entstehung des „Massenarbeiters“ – und wäre nicht v.a. Teil und Ausdruck einer internationalen Entwicklung!

3.   Die Operaisten hatten überhaupt keine politische Antwort auf die Krise des italienischen Kapitalismus. Die Regierung war in sich zerstritten, was selbst einen politischen Konflikt in der herrschenden Klasse widerspiegelte, nämlich die Frage, ob es zur „Reform“ der Ökonomie und des Staates  notwendig wäre, die KPI in die Regierung zu integrieren.

4.   Gab es Zusammenstöße der Massenstreiks, der Studentenbewegung, der ArbeiterInnen und Jugendlichen mit dem Staatsapparat. Das bedeutete, dass die Herrschenden an einem toten Punkt angelangt waren, nicht mehr so konnten, wie sie wollten und nach einer Neuordnung des Kräfteverhältnisses und der sozialen Basis ihrer eigenen Regierung suchten. Zugleich waren sie mit einer Arbeiterklasse konfrontiert, die das Land durch eine Reihe von Massenstreiks erschütterte. Kurz gesagt: Italien befand sich in einer vor-revolutionären Situation. Worin bestand nun das Programm der Operaisten  diese vorrevolutionäre Situation zu einer revolutionären zu machen? Welches Programm hatten sie, der Arbeiterklasse einen Weg zur Macht zu weisen? Es existierte nicht!

5.   So erwiesen sich die Operaisten als unfähig und unwillig, 1968 bei den Massenstreiks für die Ausweitung der Streiks zu einem unbefristeten Generalstreik einzutreten! Sie verabsäumten das und erhoben diese Forderung nie! Im Gegenteil: einige von Operaisten fast schon fetischisierte Kampfformen, z.B. das Langsamarbeiten, das angeblich „das Kapital selbst“ angriff, erwiesen sich in dieser Periode zunehmend eher als Bremsklotz, denn als ein Mittel, die Massenbewegung zu bündeln und zu einer politischen Streikbewegung gegen die Regierung zu machen.

6.   Ebenso verabsäumten sie es, die Frage der Arbeiterkontrolle aufzuwerfen, obwohl sie über eine Massenbasis, z.B. FIAT, verfügten. Gerade diese Forderung hätte jedoch eine zentrale Bedeutung dabei gehabt, ausgehend von der spontanen Massenbewegung in den Betrieben und auf der Straße, Organe der proletarischen Doppelmacht aufzubauen und, gestützt auf die Großindustrie, über das ganze Land auszuweiten. So hätten die industriellen Bastionen zum Vorbild für die Bildung von Fabrikkomitees und Arbeiterräten im ganzen Land werden können – und damit zu Kampforganen gegen die Macht der Kapitalisten und des Staates und zu Keimzellen einer zukünftigen, proletarischen Macht.

7.   Ebenso lehnten einige der operaistischen Gruppen oder vom Operaismus beeinflusste Gruppierungen wie Lotta Continua die Forderung nach Vollversammlungen und Wahl von Delegierten ab, da diese die „Initiative der Basis“ behindern könnten. Dieses Pseudoargument zeigt, wie tief der Operaismus und die „radikale Linke“ schon damals „im Milieu“, in dem Fall dem des „Betriebs“ verstrickt war. Ohne gewählte und abwählbare Delegierte von Vollversammlungen hätte sich nie eine alternative, von den ArbeiterInnen kontrollierte Kampfführung landesweit bilden lassen. Die Losung des Generalstreiks hätte eng damit verbunden werden müssen. Mehr noch aber hätten RevolutionärInnen in Italien – gerade 1969 – für einen landesweiten Delegiertenkongress der ArbeiterInnen agitieren müssen.

8.   Ein solche Perspektive hätte die Frage nach dem Generalstreik und dem Kampf für ein Programm der Arbeiterklasse gegen die Krise auf die Tagesordnung gesetzt: ein Programm der politischen Machtergreifung der Klasse. Genau das war und ist dem Operaismus – wie all seinen autonomen Nachfolgern – völlig fremd. Er kennt kein Programm der politischen Machtergreifung und noch weniger kennt er Taktiken gegenüber anderen, in der Arbeiterklasse verankerten Organisationen, um deren Einfluss zu brechen.

9.   So hatten die Operaisten „natürlich“ überhaupt keine Forderungen und keine Taktik gegenüber der angeblich „erledigten“ KP. Sie hatten keine Forderungen an die Gewerkschaften, sie hatten keine Forderung für die ungelösten demokratischen Fragen Italiens oder für die sozialen Probleme der Bauernschaft und des Südens. Damit hatten sie aber auch kein Mittel, um die proletarische Massenbasis der PCI von ihrer Führung zu brechen. Das war zusätzlich fatal, weil die PCI trotz ihrer erzreformistischen Politik in den 70er Jahren weiter die größte und am besten verankerte Partei in der Arbeiterklasse war und – parallel zur rasch wachsenden radikalen Linken – ihren Einfluss ausbauen konnte. Daher wären Forderungen an die Reformisten wie jene nach einem Bruch mit ihrer Koalitionspolitik (z.B. kein Pakt mit der Regierung!) entscheidend gewesen, um deren proletarische Massenbasis für den Kampf und letztlich für die Revolution zu gewinnen.

10. Die Politik der Operaisten, die weder in der Lage waren, ein revolutionäres Programm zur Machtergreifung vorzulegen, noch einen Weg, die Massen von reformistischen/bürgerlichen Führungen zu brechen und für die Revolution zu gewinnen, musste letztlich scheitern – und sie ist gescheitert. Wir halten uns hier nur deshalb so lange an diesem Punkt auf, um zu zeigen, dass es kein vermeintlich glorreiches Zeitalter des „Arbeiterautonomismus“ gibt, dass er schon bei seiner ersten großen historischen Bewährungsprobe – in einer vorrevolutionären Krise – versagt hat.

11. Entscheidend für dieses Versagen war das grundlegend falsche Verständnis des Operaismus und des späteren Autonomismus vom Verhältnis revolutionärer Avantgarde/Partei/Organisation zu den Massen. Im Operaismus sollte der „Massenarbeiter“ die Massen einfach qua seiner Initiative, durch sein Tun „mitreißen“ und die Hindernisse zur deren Revolutionierung, deren passive Elemente und Bindungen an die bestehende Gesellschaft hinwegspülen. Im Marxismus ist das ganz anders. Die Aufgabe der Avantgarde erschöpft sich keineswegs darin, durch besondere Radikalität der eigenen Aktion, durch „Vorstürmen“, andere mitzureißen. Sie muss auch ein politische Strategie, eine Programm vorlegen, das eine Lösung für alle grundlegenden Probleme einer Gesellschaftsordnung beinhaltet – also nicht nur Schritte, Aktivitäten für die „Avantgarde“ oder die „Kämpfenden“, sondern z.B. auch für die Bauernschaft, für weniger klassenbewusste Schichten der Lohnabhängigen. Sie muss diese in einem Programm bündeln, das deutlich macht, dass nur die Arbeiterklasse in der Lage ist, ein solches Programm umzusetzen, also die gesamte Gesellschaft so zu reorganisieren, dass die Bedürfnisse aller Unterdrückten befriedigt werden können; sie muss verdeutlichen, dass sie zur Realisierung eines solchen Programms selbst die politische Macht übernehmen muss.

Vom Massenarbeiter zum „Gesamtarbeiter”

Der Heiße Herbst 1969 hatte wichtige Konsequenzen. Die italienische Regierung und die Unternehmer reagierten auf die Arbeitermilitanz mit einer Reihe von Zugeständnissen. Als Folge der Kämpfe und des Generalstreiks 1969 wurden vergleichsweise hohe Lohnerhöhungen erwirkt, das Lohnniveau näherte sich 1970 an die Nachbarländer Italiens an, weiter wurden die 40-Stunden-Woche und der Abbau von Lohngruppen durchgesetzt. Im Mai 1970 wurde im Parlament ein neues Arbeiterstatut verabschiedet, das einen weitgehenden Kündigungsschutz garantierte sowie gewerkschaftliche Handlungsfreiheit im Betrieb einführte. Die CUB wurden als Vertretungsorgane der ArbeiterInnen politisch anerkannt.

Zugleich fand in den Betrieben eine massive Umstrukturierung statt, die die Arbeitsabläufe so veränderte, dass die in den Kämpfen sichtbar gewordene und gestärkte Kollektivität und Klassenbindung geschwächt wurde. Dabei waren die Unternehmer einigermaßen erfolgreich. Zwar kam es 1973 zu einer neuen Welle von Arbeitermilitanz, aber es war auch klar, dass das Fabrikregime einen Wandel durchlief.

Ein Resultat war, dass die Unternehmer politisch gegen die Militanten in den Fabriken in die Offensive gingen und alles versuchten, deren Strukturen zu zerschlagen und ihre AktivistInnen zu feuern. Das gelang auch, insbesondere Mitte 70er Jahre verloren hunderte AktivistInnen in kleineren oder mittleren Betrieben – oft nach erbitterten Kämpfen – ihre Jobs.

Das ging damit einher, dass andere politische Bewegungen öffentlich viel stärker und dynamischer in Erscheinung traten: die Frauenbewegung, die StudentInnen an den Universitäten und die Hausbesetzerbewegung.

Dies führte dazu, dass sich das Konzept des „neuen Massenarbeiters“ als brüchig erwies und ein anderes „Subjekt“ anstelle der bisherigen „Arbeiterfigur“ zu treten schien – der „gesellschaftliche Arbeiter“.

Theoretisiert wurde diese Entwicklung durch einen Teil der Autonomisten unter Federführung von Toni Negri. Dieser ging davon aus, dass die Krise – wiewohl in wesentlichen Aspekten ungelöst – zu einer „Neuzusammensetzung“ der Arbeiterklasse geführt hätte. Das Kapital wäre gezwungen worden, der Arbeit einen „noch abstrakteren“ Charakter zu geben und seinen gesellschaftlichen Charakter auszuweiten. Der „Massenarbeiter“ hätte diese Tendenz schon angezeigt, aber dieser hätte nur einen bestimmten Teil der Klasse, die ArbeiterInnen in der Metallindustrie betroffen: die Avantgarde. Nunmehr aber hätte dieser Prozess die gesamte Gesellschaft ergriffen. Die neue, dem adäquate „Arbeiterfigur“ wäre der „operaio sociale“, der gesellschaftliche Arbeiter.

Mit der Krise hätten eine Veränderung in der Funktionsweise des Staates, ja aller gesellschaftlichen Bereiche im Bezug zur Arbeit stattgefunden, die diese Bereiche gewissermaßen „fabrikmäßig“ zu organisieren beginne. Alle Arbeit, alle Tätigkeit, ob in der Fabrik, im Büro, an der Uni würde unter das Kapital reell subsumiert. Damit aber hätte auch die Scheidung von produktiver zu unproduktiver Arbeit ihren Sinn verloren.

Mehr noch: Der gesellschaftliche Grundwiderspruch selbst verändert sich – der Widerspruch von Kapital und Arbeit wird zum Widerspruch von Proletarier und Staat.

Damit ändern sich auch die zentralen Forderungen und Kampfformen. Beim Massenarbeiter stand für den Operaismus der Lohnkampf im Vordergrund, als zentrale Form des Klassenkampfes. Das ist nun vorbei, schließlich sind „wir“, ja alle Teil des „gesellschaftlichen Arbeiters“, ob nun Fabrikarbeiter, Hausbesetzer, Feministin, StudentIn usw. usf. Anstelle der Forderung nach Lohn treten Forderungen wie die nach „Aneignung“ oder nach „garantiertem Lohn für alle“ – auch ohne Arbeit!

Dass solche Forderungen und Positionen Brüche mit den aus den Betrieben kommenden Arbeiterautonomen mit sich brachten, war klar. So berichtet Wright in „Den Himmel stürmen“ von einer Kontroverse in der Autonomia – einem heterogenen Verband von autonomen Gruppierungen ab 1973. Eine Gruppe von ArbeiterInnen von Alfa Romeo, kritisierte die Losung nach einem „garantierten Lohn für alle und jeden“ von einem proletarischen Standpunkt aus. Die Sache endete jedoch damit, dass die GenossInnen „isoliert blieben“ und ein „paar Monate später die Autonomia“ verließen. (17)

Das illustriert eine Entwicklung der autonomen Bewegung der 70er Jahre, die mit der Theorie des „gesellschaftlichen Arbeiters“ theoretisiert wurde. Anders als die Operaisten der 60er Jahre traten in den 70ern immer mehr nichtproletarische Schichten ins Zentrum der autonomen Bewegung, Organisierung und Aktion. Die Klassenbasis der Autonomen setzte sich „neu zusammen“ – weg vom Industriearbeiter, hin zum Studenten, zum Hausbesetzer. Revoltierende sub-proletarische oder proletarische Jugendliche oder Arbeitslose, deren Aktionen zur Illustrierung der Theorie vom „neuen Gesamtarbeiter dienten, spielten in der realen autonomen Bewegung demgegenüber eine untergeordnete, bis vernachlässigbare Rolle.

D.h. die soziale Basis der Autonomen verkleinbürgerlichte. Die Autonomen entwickelten ihr auch heute bekanntes Gepräge als Form des kleinbürgerlichen Radikalismus.

Diese Entwicklung ging einher vor dem Hintergrund des Niedergangs des radikalen, kämpferischen Flügels der italienischen Arbeiterklasse in den 70er Jahren. Schon vor der Niederlage 1977/79 hatten die Operaisten und Autonomisten viele ihre betrieblichen Positionen verloren, wurden zunehmend aus den Unternehmen gedrängt, isoliert, zuerst v.a. in den mittleren und kleineren Unternehmen – oft unter Mithilfe der reformistischen Gewerkschaften und Parteien.

Aber die Operaisten erwiesen sich auch politisch unfähig, eine politische Antwort auf das Erstarken der PCI Anfang/Mitte der 70er Jahre zu geben, die ironischerweise auch auf die Reformen oder Zugeständnisse zurückzuführen war, die der italienische Staat zeitweilig aufgrund der militanten Arbeiterkämpfe gewähren musste. In jedem Fall erwies sich, dass die operaistische Vorstellung falsch war, dass das „eigentliche“ Arbeiterbewusstsein spontan in eine militante oder kämpferische Richtung drängte, dass vielmehr bürgerliches und reformistisches Bewusstsein (und damit die darauf fußenden Organisationen) eine materielle Basis in der Klasse hat. Dieser Reformismus kann nur durch geduldigen und entschlossen Kampf gegen die reformistischen Organisationen gewonnen werden, der sich auch der Mittel der politischen Taktik (Einheitsfront etc.) bedient.

Die meisten Autonomen der 70er Jahre schlugen jedoch den umgekehrten Weg ein. Sie sahen die PCI und die Gewerkschaften einfach als nur bürgerliche und repressive Kräfte, die nicht nur mit den Unternehmern oder dem bürgerlichen Staat eng kooperierten, sondern mit ihnen im Grunde zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmolzen waren.

Diese Sicht wurde stellenweise auch noch pseudo-marxistisch zu untermauern versucht, z.B. mit Negris These, dass es in der Krise keine Reformen und ergo keinen Reformismus geben könne. Daraus wurde deduziert, dass „folgerichtig“ die PCI auch keine reformistische Partei sein könne.

Wiewohl solche Positionen sicher durch die reale Politik der PCI – ihre Denunziation von Militanten, die brutale Repression auch in den von ihr regierten Kommunen, v.a. ihre strategische Orientierung auf einen „historischen Kompromiss“ mit der Christ-Demokratie – auch genährt und scheinbar bestätigt wurden, so waren sie politisch auch ein Fallstrick für die Autonomie.

Das Anwachsen von Bewegungen, besetzten Häusern, Stützpunkten an den Unis, aber auch von neuen Kommunikationsmitteln wie z.B. Radiostationen verursachte mehr und mehr Aufruhr bei der herrschenden Klasse, bei der Regierung und der PCI. Eine scharfe Denunziationskampagne gegen die Autonomen, die des „Terrors“ bezichtigt wurden, setzte ein. Die PCI verglich deren Aktionsformen mit denen der Faschisten.

Die Militanz und Kampfkraft der neuen Autonomie, aber auch die Größe und Dynamik erreichten 1977 ihren Höhepunkt. Im Februar und März wurden fast alle Unis Italiens besetzt. Im Frühjahr gehen die Besetzungen weiter, oft von Massendemonstrationen 10.000er begleitet, bei denen es immer zu Zusammenstößen mit der Polizei kommt.

Teilweise werden die Konflikte besonders in KP-dominierten Städten wie Bologna angeheizt, wo es auch zu Kämpfen mit KP-Ordnern kommt. Am 17. März lässt dort die KP zusammen mit den bürgerlichen Parteien auch die „schweigende Mehrheit“ mit 200.000 TeilnehmerInnen aufmarschieren.

„Am 12. März kam es in Rom zu einer Demonstration von über 50.000 Menschen gegen die Verurteilung eines Anarchisten. Diese Demonstration eskalierte in eine der größten Straßenschlachten, die die italienische Hauptstadt jemals erlebt hatte. Dabei praktizierten Gruppen aus dem Strang der »Autonomia operaia organizzata« das von ihnen zuvor propagierte »neue Niveau der Auseinandersetzung«, die bewaffnete Aktion. Während der Demonstration wurden zwei Waffengeschäfte geplündert, unzählige Geschäfte, Cafés und Hotels verwüstet, hunderte von Autos und viele Busse umgestürzt und verbrannt. Büros und Zeitungen der regierenden Christdemokratischen Partei (DC) wurden mit Benzinbomben angegriffen. Der Ablauf dieser Demonstration markierte jedoch einen Wendepunkt in der weiteren Entwicklung der italienischen Autonomia. Viele DemonstrationsteilnehmerInnen fühlten sich durch die Dimension der Militanz überrumpelt und funktionalisiert, dies umso mehr, als der Großteil von ihnen dem militärischen Auftreten der Polizei und deren Racheaktionen nach Ende der Demonstration relativ unvorbereitet und hilflos gegenüberstand.

Die Entwicklung spitzte sich schließlich am 14. Mai bei einer Demonstration in Mailand zu. Gruppen von mit Knarren bewaffneten Jugendlichen griffen die Bullen an und töteten einen. Die Ereignisse führen zu einer verschärften Isolation der organisierten »Autonomia operaia« innerhalb der italienischen Linken. Mit einer zunehmenden Entsolidarisierung und einer massiven staatlichen Repression ging zugleich ein Zerfall des kreativen Strangs der Autonomia einher, der sich, durch staatliche Zugeständnisse begünstigt, in die Drogensubkultur der Großstädte, auf das Land oder in die Radikale Partei (in etwa vergleichbar mit den Grünen) zurückzog. Unter maßgeblicher Mithilfe der PCI, die in ihren Zeitungen die Namen von »Rädelsführern« der Autonomia abdruckte, wurden bis zum Sommer 1977 über 300 Autonome vom italienischen Staat in den Knast gesteckt, »Radio Alice« in Bologna wurde verboten und dessen Sendeeinrichtungen beschlagnahmt. Die staatliche Repression richtete sich gezielt gegen die Strukturen der Bewegung, wie z.B. Buchläden, Verlage, Zeitungsredaktionen usw. Vorwand aller Maßnahmen war die Konstruktion einer »subversiven Vereinigung«, die ein Komplott gegen den italienischen Staat vorbereitet haben sollte.

Weite Teile der Aktivisten aus dem Umfeld der »Autonomia operaia« versuchten, den Zerfall der Bewegung durch eine Steigerung der klandestinen Massengewalt (»Guerilla diffusa«) aufzuhalten und sahen nur noch in der militärischen Konfrontation mit dem Staatsapparat die Möglichkeit zur Entfaltung eines revolutionären Prozesses. »Ganze Vollversammlungen gehen in den Untergrund.« Diese Linie konnte jedoch die schwindende soziale Verankerung der politischen Bewegungen nicht mehr ersetzen. Am 7. April 1979 kam es schließlich zu hunderten von Verhaftungen (darunter auch Negri) gegen die »Autonomia operaia«. Von den 4.000 politischen Gefangenen des Jahres 1981 in Italien gehörten weit über 1.000 dieser Gruppierung an. Die Ereignisse vom 7. April 1979 wurden so zu einer strategischen Niederlage der italienischen »Autonomia operaia«, von der sie sich in den 80er Jahren nicht wieder erholt hat.“ (18)

Zusammenfassung: Was ist Autonomie?

Bevor wir zu den bundesdeutschen und heutigen Autonomen übergehen, wollen wir noch einmal unseren langen Abschnitt zum Operaismus und Autonomismus der 60er und 70er Jahre zusammenfassen und die entscheidenden Merkmale der „Autonomie“ kurz rekapitulieren.

„Die von mir gemeinte Autonomie ist die Klassenautonomie. (…) Autonomie in der doppelten Form: als Klassenbewegung, die Bewegung der Arbeitskraft gegen das Kapital, die Bewegung des Arbeiters als Subjekt der Produktion gegen seine gleichzeitige (Rolle) als Objekt der Verwertung. Aber auch und zugleich über den Fabrikbereich hinausgehend: als Tendenz oder Bewegung der abhängigen Massen gegen den Versuch des Kapitals, diese abhängigen Massen als Objekt der Umsetzung des Mehrwerts in Profit, als Konsumobjekte zu betrachten. In beiden Fällen bedeutet Autonomie den Versuch (…) der Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung sich selbständig von der Kapitalbewegung zu machen (…) Klassenautonomie bedeutet, (…) dass die Klassenbewegung als Emanzipationsbewegung, als Bewusstwerdungsprozess völlig unabhängig vom ökonomischen Zyklus verläuft. (…) Autonomie bedeutet nicht eine Absage an das Organisationsprinzip, wohl aber eine Absage an irgendeine Organisation, die eine eigenes Organisationsinteresse entwickelt, das nicht mehr das Klasseninteresse ist.“ (19

Aus dem Zitat wie auch den bisherigen Betrachtungen ergeben sich folgende Punkte, welche „die Autonomie“, die autonome Bewegung prägen:

1. Ablehnung der Vorstellung, dass der Klassenkampf, der Befreiungskampf des Proletariats an bestimmte objektive Bedingungen gebunden ist, die nicht willkürlich durchbrochen werden können. Wir haben diesen Fehler schon oben, z.B. bei Tronti und seiner These nachgewiesen, dass die Lohnbewegung die Akkumulationsbewegung bestimme. Agnoli gibt dem eine andere „Beimengung“, wenn er z.B. sagt, „dass die Klassenbewegung als Emanzipationsbewegung, als Bewusstwerdungsprozess völlig unabhängig vom ökonomischen Zyklus verläuft“.

2. Die Autonomisten/Autonomie gehen davon aus, dass es für die Arbeiterklasse möglich sei, sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft „selbstständig von der Kapitalbewegung“ zu machen. Das ist eine idealistische Flause, die letztlich den Klassencharakter der bürgerlichen Gesellschaft, die Tatsache, dass in dieser das Kapital über die Arbeit herrscht, ad absurdum führt, indem unterstellt wird, dass die Klasse von ihrer Stellung als ausgebeutete schon vor der sozialistischen Revolution (im Grunde sogar vor der Entwicklung einer revolutionären Krise oder Doppelmacht) sich „unabhängig“ von der Dominanz durch die herrschende Klasse machen könne!

3. Das ist jedoch keine „zufällige“ Abweichung oder Nebensache, sondern die Grundlage dafür, dass der Autonomismus die „stetige“ Ausweitung von „Freiräumen“, von „angeeigneten“ Zonen/Zentren, das zunehmend „militantere“ Tun, letztlich die Herbeiführung der Krise oder gar der Revolution als rein subjektiven Akt, als reine Folge von Einsicht und „konsequentem“ Handeln versteht.

4. Damit einher geht auch ein anderer Klassenbegriff als jener des Marxismus, wie wir schon beim „Massenarbeiter“ gesehen haben. Noch mehr trifft das auf den „gesellschaftlichen Arbeiter“ zu, der sich aus einem Sammelsurium von Schichten und Klassen zusammensetzt. Die revolutionäre Klasse ist dann auch nicht mehr durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, sondern zum Staat und durch ein Attribut seines Tuns geprägt. Wer gegen ihn kämpft, ist revolutionär. Wer nicht, nicht-revolutionär. Die subjektivistische Sicht der „Autonomie“, der Krise, der Revolution führt also auch zu einer rein subjektivistischen Sicht des „revolutionären Subjekts“.

5. Aus diesem Subjektivismus ergeben sich u.a. folgende wesentliche politische Konsequenzen hinsichtlich der Kampfformen, der Taktik usw., die ebenfalls subjektivistisch und moralistisch und nicht politisch-taktisch bestimmt sind:

a. Fetischisierung bestimmter Kampfziele und -formen bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber anderen;

b. Ablehnung revolutionärer Taktiken gegen Reformismus und Gewerkschaftsführungen;

c. Vernachlässigung bis Ablehnung des politischen Kampfes;

d. Bruch mit dem Leninismus und dem Konzept der leninistischen Partei.

Autonome in Deutschland

Wie wir oben gesehen haben, hat sich die italienische Bewegung hinsichtlich ihrer Klassenbasis von den 60er Jahren bis Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre grundlegend verschoben. Von einer Bewegung mit proletarischer Basis in der Industriearbeiterschaft wurde sie zu einer kleinbürgerlichen Erscheinung mit einer längerfristigen sozialen Stütze unter den Studierenden (z.T. SchülerInnen) und in der Intelligenz.

Um nicht missverstanden zu werden, wollen wir hier kurz vorausschicken, dass wir keineswegs alle StudentInnen, SchülerInnen oder Intellektuellen für „kleinbürgerlich“ halten. Vielmehr setzen sie sich aus Kindern und Jugendlichen aller Klassen zusammen.

Unter den Studierenden ist naturgemäß der Anteil des Bürgertums und des gehobenen Kleinbürgertums deutlich größer als an den Schulen, während umgekehrt die Arbeiterklasse (v.a. deren untere Schichten) sowie die Bauernschaft weit geringer vertreten sind.

V.a. die Klassenlage der Studierenden hat auch insofern einen Übergangscharakter, als die Klassenherkunft keineswegs mit der Klassenzukunft der Studierenden identisch sein muss, also sowohl ein sozialer Aufstieg möglich ist, aber auch (v.a. in den letzten Jahren) eine Tendenz zur Proletarisierung der Tätigkeit zukünftiger AbsolventInnen.

Hinzu kommt, dass unter „den Studierenden“ trotz ihrer Heterogenität ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein als besondere Schicht existiert, was in gewisser Weise auch auf die Intelligenz selbst zutrifft.

Schließlich impliziert der Übergangscharakter und die relativ lange (verglichen mit der Schule oder Berufsschule) relativ selbstständige Tätigkeit auch, dass Studierende oft sehr sensibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, in gewisser Weise ein „Seismograph“ für gesellschaftliche Probleme und kommende Umbrüche sind, aber von der Gesellschaft insgesamt noch ignoriert werden.

Wichtig ist für unseren Zusammenhang, dass die soziale Stellung dieser Schicht wichtige Ähnlichkeiten mit jener des Kleinbürgertums (oder der lohnabhängigen Mittelschichten) aufweist. Sie stehen zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft – Bourgeoisie und Proletariat – und oszillieren auch ideologisch um sie.

Hinzu kommt, dass diese Schicht – wie das Kleinbürgertum oder lohnabhängige Mittelschichten – insgesamt sehr unterschiedliche politische Formen annehmen kann. Die Grünen z.B. sind eine Partei des gesellschaftlichen Konservatismus gewordenen, gehobene MittelschichtlerInnen, die am liebsten eine Gesellschaft des „sozialen Ausgleiches“ beibehalten möchte, die den Armen ausreichend „Führsorge“ und „Unterstützung“ angedeihen lässt, von den Reichen und Superreichen „Solidarität“, also Mäßigung ihres Gewinnstrebens fordert und selbst ihre Position in der scheinbar aufgeklärten Mitte verewigen will.

Auch die Autonomen waren und sind eine kleinbürgerliche Kraft – aber eine des „rebellierenden“ Kleinbürgers.

Als sie sich in Deutschland in den 80er Jahren zur stärksten Kraft der „radikalen Linken“ entwickelten, zogen sie v.a. ein jugendliches und studentisches Milieu an. Sie waren oft Kinder aus Schichten des städtischen Kleinbürgertums, der lohnabhängigen Mittelschichten, aber auch von FacharbeiterInnen, die studieren konnten.

Ihr radikaler politischer Impetus speiste sich aus ähnlichen Quellen wie jener der StudentInnen der 60er Jahre – der tiefen Ungerechtigkeit des Systems, der Ignoranz gegenüber „neuen“ gesellschaftlichen Problemen, der Überausbeutung der „Dritten Welt“, aus Rassismus und Militarismus des Staates.

Ihre Attraktivität speiste sich aus der autoritären, repressiven Politik der imperialistischen Staaten und der engen Verschmelzung von Monopol und bürgerlicher Politik inklusive der reformistischen Parteien und Gewerkschaften.

Die Autonomen stellten eine führende Kraft dar in der Bewegung gegen den Ausbau der AKWs und der Wiederaufbreitungsanlagen, in der Ökologiebewegung der 80er Jahre ebenso wie in der Hausbesetzerbewegung, im Kampf gegen den schonungslosen Ausbau von Großprojekten (Flughafen Frankfurt), die ohne jede Rücksicht auf die AnwohnerInnen durchgezogen werden sollten.

Sie stellen auch einen aktiven, radikalen Teil in der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung und waren in der Lage, Massendemonstrationen mit bis zu 100.000 Teilnehmern und militante Massenaktionen z.B. in der Anti-IWF-Kampagne Ende der 80er Jahre zu organisieren.

In den 90er Jahren wurden sie zu einer zentralen Kraft im Kampf gegen den Faschismus. Andere leisteten über Jahre kontinuierliche Arbeit gegen Rassismus, insbesondere gegen die Abschiebung von Flüchtlingen. In den letzten Jahrzehnten spielten sie eine Schlüsselrolle in der internationalen Mobilisierung und bei Aktionen gegen „Gipfeltreffen“ imperialistischer und kapitalistische Größen aus Politik und Wirtschaft – bei Anti-IWF oder Anti-G8-Kampagnen bis zur Mobilisierung in Heiligendamm.

Die Attraktivität der Autonomen kommt dabei ohne Zweifel von ihrem Ruf, „radikal“ zu sein. Einerseits radikal in der Ablehnung „traditioneller“ Formen, in der radikalen „Proklamation“, v.a. aber in der Aktion.

Die Autonomen reden nicht nur wie die Reformisten oder viele „radikale“ Linke – sie tun, was sie sagen. Sie sind militant, sie greifen an. Sie kritisieren den Kapitalismus nicht nur, sie greifen ihn an – indem sie seine Symbole abfackeln oder Banken „angreifen“ und entglasen. Diese Attraktivität wird ständig genährt, weil sie geradezu spiegelbildlich ist zur beamtenmäßigen Routine der „Aktionen“ deutscher Gewerkschaften und deren politischer Anpassung an das Kapital.

In dieser Hinsicht hat der Autonomismus eine ähnliche Rolle, wie die Anarchisten gegenüber Reformismus und Revisionismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie sind gewissermaßen eine Strafe für den Opportunismus der offiziellen Arbeiterbewegung.

Allerdings lässt sich ein grundlegender Wandel der Autonomen von den 80er Jahren bis heute feststellen.

a) In den 80er Jahren waren die Autonomen als Kraft mehr oder weniger gebündelt in bundesweiten, tw. internationalen Kampagnen oder Bewegungen, die im Zentrum gesellschaftlicher Konflikte standen. Die letzte Kampagne – einschließlich entsprechender Organisierungsprojekte – war wohl die Antifa der 90er Jahre. Der dahinter stehende Organisierungsversuch scheiterte mit der Auflösung der AAO-BO.

b) Doch trotz des oft großen Einflusses in Massenbewegungen als deren „militanter“, radikaler Flügel praktizieren die Autonomen in den 80er Jahren immer wieder dasselbe politische Muster. Sie stellen viele der entschlossensten AktivistInnen, aber ihr politischer Einfluss auf die Führung der Gesamtbewegung blieb gering.

Wo sie begannen, taktisch zu agieren (und das war in diesen Massenbewegungen unvermeidlich), führte das nicht zu einer Schwächung von Reformisten oder kleinbürgerlichen Kräften wie den entstehenden Grünen, sondern zu einer inneren Differenzierung bei den Autonomen, die selbst kein gemeinsames Maß für die Bestimmung einer „richtigen“ Bündnisarbeit hatten und qua Selbstverständnis auch nicht erarbeiten konnten.

So leisteten die Autonomen trotz ihres Radikalismus Mobilisierungshilfe für andere oder Vorfeldpolitisierung z.B. für die entstehende Grüne Partei, statt umgekehrt über die jeweilige Kampagne hinaus als handlungsfähige politische Kraft auf den Plan zu treten.

Dieses Muster wiederholt sich bis heute, wenn auch auf geringerem Niveau (z.B. in der Nutzung der Antifa als Vorfeldstruktur für die Grünen, später für die PDS/LINKE).

c) Die autonome Szene zersplitterte seit Beginn der 90er Jahre, also nach der kapitalistischen Wiedervereinigung – als Folge ihrer bis heute bestehenden Unfähigkeit, deren Ursachen, Charakter und Konsequenzen zu begreifen.

d) Die neoliberalen Reformen haben auch eine Rückwirkung auf das autonome Milieu gehabt. In den 80er Jahren konnte sich dieses nicht zuletzt aufgrund vergleichsweise großer „Freiräume“ an den Unis, Geld über Asten etc. zu besorgen, aber auch durch die noch relativ gesicherte soziale Lage von Studierenden und des geringeren Druckes im Ausbildungssystem sozial vergleichsweise leicht reproduzieren.

Doch mit den Angriffen auf soziale Sicherungssysteme und der kapitalistischen Bildungsreform sind auch die Einkommen der Autonomen prekärer und die zeitlichen Ressourcen neben dem Studium geringer geworden.

e) All das hat zu einer größeren Zersplitterung der autonomen Szene geführt, die als Milieu sich befehdender Szenen erscheint, die nur an bestimmten Knotenpunkten der Mobilisierung gemeinsam handeln (z.B. Anti-G8-Mobilisierung).

f) Ein zusätzlicher, gern übersehener Grund für die Krise der Autonomen ist, dass ihnen das gemeinsame Ziel abhanden gekommen ist. Die Autonomen der 70er Jahre oder auch jene der 80er sahen die Revolution als reales, erkämpfbares Ziel. Ihr, wenn auch oft opportunistischer Bezug auf kleinbürgerliche Befreiungsbewegungen war von revolutionärem Optimismus getragen und dem Bewusstsein, mit ihnen in einer Front gegen den Imperialismus zu stehen. Daraus folgte ja auch die politische Sympathie für den bewaffneten Kampf; daraus folge auch ein, verglichen mit heute, politischerer Charakter der Solidaritätsarbeit. Heute glaubt kaum noch ein Autonomer an die „soziale Revolution“ oder die Erreichbarkeit „des Kommunismus“. Sie sind, wenn nicht überhaupt verteufelt, zu „Phrasen“, zu moralischen Größen geworden.

g) Dies alles führt dazu, dass sich die Autonomen weiter zersplittern, weiter in ihrer Heterogenität bleiben werden. Das drückt sich auch darin aus, dass es überhaupt nicht „die Antwort“ der Autonomen auf die Krise gibt. Von Agnolis emphatischem „autonomen Klassensubjekt“, das sich selbstständig von der Kapitalbewegung macht, dessen „Klassenbewegung als Emanzipationsbewegung, als Bewusstwerdungsprozess völlig abhängig vom ökonomischen Zyklus“ daherkommt, ist bei den realen Autonomen nichts zu beobachten. Im Gegenteil, die „Szene“ blickt auf die Krise wie auf ein Naturereignis.

III. Autonomismus und Krise

Ihre Theoretiker, Ideologen oder Strömungen produzieren allerdings „Antworten“, die tw. so weit voneinander entfernt sind, dass sie überhaupt keine Gemeinsamkeit zu haben scheinen.

Wohl aber lassen sich bestimmte inhaltlich-theoretische Stränge herausarbeiten, die von den „Zusammenhängen“ des autonomen Milieus oder ihm nahe stehenden Netzwerken und Gruppierungen mehr oder weniger beliebig mit anderen Ansätzen (Neo-Gramscianismus, marxistische oder keynesianische Versatzstücke usw.) kombiniert werden.

So haben sich in den letzten Jahren eine Reihe Strömungen (in Deutschland vor allem die „Interventionistische Linke“) gebildet, die autonome Elemente mit reformistischen und rechts-zentristischen Theoremen eklektisch verbinden.

Wir lassen hier alle „anti-deutschen“ oder „anti-nationalen“ Analysen außen vor, weil ihnen jeder emanzipatorische Anspruch abhanden gekommen ist, weil sie – selbst dort, wo sie im Gewand einer „kritischen“ Theorie von Kapital, Staat und Gesellschaft daherkommen – jeden Anspruch auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft aufgegeben haben. Bei aller Differenz des Marxismus zum Autonomismus ist nämlich dem Kommunismus mit so unterschiedlichen autonomen und post- bzw. neo-operaistischen Theoretikern wie Negri oder Halloway bzw. K.H. Roth gemeinsam, dass in der Krise auch ein revolutionäres Potential zur Überwindung  des Kapitalismus gesehen wird.

Wir beschäftigen uns daher mit größeren theoretischen Strängen der autonomen Bewegung, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismus auch mit dem Anspruch analysieren, die politische Perspektive eines sich formierenden revolutionären Subjekts (wie unterschiedlich dies auch sein mag) zu formulieren, das eine Massenkraft ist. Es ist dies einerseits die Schule von Negri/Hardt, andererseits die des Neo-Operaismus, für den stellvertretend wir uns mit K.H. Roth beschäftigten werden, wobei Holloway hier eine gewisse Zwischenstellung einnimmt, die ihn scheinbar radikaler und „anschlussfähiger“ für Teile des militanten Autonomenflügels macht.

Negri, das „Empire“ und die „globalen Rechte“

Mitten in die Krisen- und Zerfallsphase der Autonomen in den 1990er Jahren trat eine neue politische Bewegung auf den Plan: Die Zapatisten. Diese Guerillabewegung, die sich auf die indigene Bauernschaft im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, einem der ärmsten und entrechtetsten des Landes, stützt und in dieser bis heute sozial verankert ist, unterschied sich in einem zentralen Punkt von allen bisherigen Guerillabewegungen. Auch wenn sie im Grunde eine bewaffnete Bauernmiliz darstellt, proklamiert sie, dass es nicht ihr Ziel sei, die politische Macht zu erobern.

Die Zapatisten spielten eine Schlüsselrolle bei der Formierung der anti-kapitalistischen Bewegung um die Jahrhundertwende; sie waren ein zentraler Bestandteil von „Peoples Global Action“ (20), dem libertär-anarchistisch-autonomen Flügel dieser Bewegung.

Auf sie gehen Losungen zurück, die den Geist dieser Bewegung auf den Punkt bringen: „Eine andere Welt ist möglich“ oder „Fragend suchen wir den Weg“.

Am prägnantesten drückt diese Doktrin vielleicht ihre mediale Gallionsfigur, Subcommandente Marcos, aus: „Wir müssen die Welt nicht erobern. Es reicht, sie neu zu schaffen. Heute. Durch uns!“.

Peoples Global Action (PGA) und die Zapatisten erschienen damals als Speerspitze eines neu entstehenden Widerstandes gegen die kapitalistische Globalisierung und den Neoliberalismus. Sie gehörten zu den ersten, die internationale Vernetzungen aufbauten und so zur Formierung von Widerstand beitrugen.

Sie kooperierten außerdem mit anderen Widerstandsbewegungen, die nach den Niederlagen der frühen 90er Jahre wieder offensiv wurden und in den Augen von PGA und den Zapatisten – wenn auch nicht unbedingt in denen deutscher Autonomer – Teil einer globalen Bewegung gegen einen gemeinsamen Gegner waren. In dieser Periode beginnt auch die 2. Intifada. Es formierte sich die bolivarische Bewegung Boliviens mit einer erfolgreichen Kampagne gegen die Wasserprivatisierung; zugleich wuchs auch die MAS. Massengewerkschaften der indischen Bauern oder die indonesische Gewerkschaftsbewegung waren von Beginn an integrale Bestandteile von PGA.

Auffällig an PGA war jedoch – neben der libertären Doktrin und ihrer Verbindung zur autonom-anarchistisch-antikapitalistischen Bewegung in den Metropolen (inkl. der Mobilisierungen gegen die imperialen Gipfel), dass sie eine kleinbürgerliche Massenbasis, v.a. in der Bauernschaft, hat. Politisch-programmatisch gipfelte das neben einer nebulösen Phrasenhaftigkeit vor allem darin, die Schaffung von genossenschaftlicher oder kleiner Warenproduktion als Alternative zum Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium anzupreisen.

Kurz, trotz aller „antikapitalistischen“ Radikalität war die gesellschaftliche Perspektive von PGA und den Zapatisten utopisch und reaktionär.

Für unsere weitere Betrachtungen von größerer Bedeutung ist jedoch eine Frage, die sich die autonome Bewegung oder deren Theoretiker in den 90er Jahren stellten: Wie kann die „neue Entwicklung“, die Entstehung dieser Bewegungen verstanden werden?

Empire

Pünktlich zur Jahrhundertwende versuchten die Autoren Hardt und Negri mit dem Buch „Empire“ eine Erklärung abzugeben. Danach hätte die Gesellschaft in der Globalisierung einen grundlegenden, fundmentalen Wandel durchgemacht. An die Stelle des bisherigen imperialistischen Weltsystems sei das „Empire“ getreten (21). Es geht uns vielmehr darum, den Begriff und die politischen „Lösungen“ Negris und Hardts kurz nachzuzeichnen, weil ihre Schlüsselforderungen auch zu Gemeinplätzen großer Teile der autonomen Bewegung der letzten 10 Jahre geworden sind.

„Den Begriff des Empire charakterisiert maßgeblich das Fehlen von Grenzziehungen: Die Herrschaft des Empire kennt keine Schranken. Zuallererst setzt der Begriff des Empire ein Regime voraus, das den Raum in seiner Totalität vollständig umfasst, oder anders, das wirklich über die gesamte ‚zivilisierte‘ Welt herrscht. Keine territorialen Grenzziehungen beschränken seine Herrschaft. Zum zweiten stellt sich im Empire kein historisches Regime dar, das aus Eroberungen hervorgegangen ist, sondern vielmehr eine Ordnung, die Geschichte vollständig suspendiert und dadurch die bestehende Lage der Dinge für die Ewigkeit fortschreibt. Aus der Perspektive des Empire ist alles so, wie es immer sein wird und wie es immer schon sein sollte. Das Empire stellt, mit anderen Worten, seine Herrschaft nicht als vergängliches Moment im Verlauf der Geschichte dar, sondern als Regime ohne zeitliche Begrenzung und in diesem Sinn außerhalb und am Ende der Geschichte. Zum dritten bearbeitet die Herrschaft des Empire alle Register der sozialen Ordnung, es dringt ein in die Tiefen der gesellschaftlichen Welt. Das Empire organisiert nicht nur Territorium und Bevölkerung, sondern schafft genau die Welt, in der es lebt. Es lenkt nicht nur die menschliche Interaktion, sondern versucht außerdem indirekt über die menschliche Natur zu herrschen. Das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit wird zum Gegenstand der Herrschaft. Das Empire stellt so  die paradigmatische Form von Biomacht dar. Und schließlich bleibt das Empire immer mit Frieden verknüpft – einen ewigen und allumfassenden Frieden außerhalb der Geschichte.“ (22)

Wir wollen uns eine lange Polemik zu offenkundig komisch wirkenden Formulierungen wie z.B., dass „das Empire“ auch nach fast einem Jahrzehnt des „Krieges gegen den Terror“ „immer mit Frieden verknüpft“ sei, sparen. Auch die unterstellten „Besonderheiten“ des „Empire“ gegenüber früheren globalen Regimen – z.B., dass es sich „verewigen“ und „außerhalb der Geschichte“ stellen möchte – ist keine solche „Besonderheit“, wie Hardt und Negri behaupten. Vom Standpunkt einer herrschenden Klasse erscheint oft eine Gesellschaftsformation als „die letzte“ oder als „Ende der Geschichte“. In bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, v.a. solange eine Gesellschaftsformation einen historisch progressiven Charakter hat, kennzeichnet diese Vorstellung in der Regel auch das Bewusstsein aller Klassen.

Wichtiger ist vielmehr, dass Hardt/Negri davon ausgehen, dass das Empire nicht nur ein neues, post-imperialistisches Stadium des Kapitalismus darstelle, sondern gar eine neue Produktionsweise. Diese fuße auf einer grundlegenden Veränderung von Produktion und Distribution im globalen Maßstab einer „bio-politischen“ Produktion. Diesen, von Foucault entlehnten, Begriff weiten Hardt/Negri aus, indem sie sich auf „die positiven Dimensionen von Biomacht konzentrieren“ (23) wollen.

Für Hardt/Negri wird die „Produktion des Lebens“ selbst zur ersten Produktivkraft. Die Trennung von produktiver und unproduktiver Arbeit wäre, wie Negri schon in der Analyse des „gesellschaftlichen Arbeiters“ behauptet, obsolet. Auch der Begriff des Mehrwerts, wie überhaupt die „traditionelle“ Kritik der politischen Ökonomie wäre von der realen Entwicklung überholt.

„Das Verhältnis zwischen Produktion und Leben hat sich somit dahingehend verändert, dass es sich im Verständnis der politischen Ökonomie vollständig umgekehrt hat. Leben wird nicht mehr in Reproduktionszyklen produziert, die dem Arbeitstag untergeordnet sind; nun wird es im Gegenteil das Leben, das jegliche Produktion bestimmt. In der Tat liegt die Bestimmung des Werts von Arbeit und Produktion tief im Inneren des Lebens. Die Industrie produziert nur das an Mehrwert, was durch gesellschaftliche Tätigkeit erzeugt wird – und genau aus diesem Grund liegt der Wert, begraben unter einer Unmenge von Leben, jenseits allen Maßes.“ (24)

Und weiter:

„Wenn menschliche Macht unmittelbar als eine autonome, kooperative kollektive Kraft auftritt, ist die kapitalistische Vorgeschichte zu Ende. Anders ausgedrückt: Die kapitalistische Vorgeschichte ist dann zu Ende, wenn soziale und subjektive Kooperation nicht mehr Produkt, sondern Voraussetzung ist, wenn das nackte Leben in den Rang einer Produktivkraft erhoben oder genauer: wenn es als Reichtum der Virtualität erscheint.“ (25)

Wir sind also lt. Hardt/Negri bereits in eine neue Gesellschaftsformation eingetreten, die sich dadurch auszeichnet, dass sich das Empire parasitär die in der Menge (Multitude) konzentrierte Produktivkraft der Gesellschaft aneignet.

Hardt/Negri können zu dieser Schlussfolgerung freilich nur kommen, weil sie von verschiedenen Momenten des kapitalistischen Produktionsprozesses ebenso abstrahieren wie von dessen Unterscheidung gegenüber allen, dem Kapitalverhältnis letztlich untergeordneten, Produktionsweisen (z.B. Formen der kleinen Warenproduktion oder der Subsistenzproduktion). Alles verkommt unterschiedslos im Einheitsbrei einer „Produktion des Lebens“, die – anders als von Hardt/Negri unterstellt – überhaupt nicht spezifisch für eine bestimmte Gesellschaftsformation ist, sondern ganz allgemein in jeder Gesellschaft vorkommt. Sie ist aber für Hardt/Negri deshalb überaus nützlich, weil sie so von verschiedenen Formen von Arbeit/Tätigkeit, von Klassenverhältnissen usw. bequem absehen können, weil alles – einschließlich aller Unterschiede unter den unterdrückten Klassen – in der „Menge“ aufgeht.

Es ist überhaupt nur die „Menge“, welche Dynamik in diese gesellschaftliche Beziehung bringt (analog zur operaistischen Sicht von Kapitalbewegung und ökonomischem Kampf der Arbeiterklasse):

„Wenn das Handeln des Empire dennoch Wirkung zeigt, so hat es diese nicht seiner eigenen Stärke zu verdanken, sondern der Tatsache, dass es auf den Widerstand der Menge gegen die imperiale Macht stößt und vom Rückprall dieses Zusammenstoßes vorangetrieben wird. (…)Mit anderen Worten: Die Wirksamkeit der regulierenden und repressiven Vorgehensweise des Empire hängt letztlich vom virtuellen, konstitutiven Handeln der Menge ab. (…)

Imperiale Macht ist das negative Residuum, das Zurückweichen vor dem Handeln der Menge; sie ist ein Parasit, der von der Fähigkeit der Menge lebt, immer wieder neue Energie- und Wertquellen zu schaffen.“ (26)

Das begriffliche Wirrwarr führt zu einer überraschenden politischen Wendung des gealterten „Revolutionärs“ Negri: Die Menge konstituiere nämlich nicht nur alle Produktivkräfte in ihren Händen. Der Kapitalismus ist auch schon deshalb vorbei, weil die Menge auch gleich eine neue Produktionswiese vorstellt:

„Wie bei allen Erneuerungsprozessen wird auch hier die neu entstehende Produktionsweise den Umständen, von denen es sie zu befreien gilt, entgegengesetzt. Die Produktionsweise der Menge wird der Ausbeutung die Arbeit entgegenstellen, dem Eigentum die Kooperation und Korruption die Freiheit. Sie sorgt dafür, dass sich Körper und Arbeit selbst verwerten, sie eignet sich die produktive Intelligenz mittels Kooperation wieder an und verwandelt Dasein in Freiheit.“ (27)

Hier wird ein grundsätzlicher Bruch mit dem revolutionären Marxismus deutlich. Für diesen besteht gerade eine Spezifik der proletarischen im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution darin, dass die Arbeiterklasse keine ihre gemäße Produktionsweise im Kapitalismus schaffen kann, sondern dass sie zur Schaffung einer sozialistischen Produktionsweise zuerst die Staatsmacht erobern, die Eigentümer der Produktionsmittel enteignen und die Produktion unter seiner Klassenherrschaft reorganisieren muss. Erst nach eine Periode des Übergangs – von Marx „Diktatur des Proletariats“ genannt – ist der Sieg einer neuen, sozialistischen und später kommunistischen Produktionsweise und darauf aufbauenden Gesellschaftsformation möglich.

Anders bei Hardt/Negri. Für sie entsteht die „neue Produktionsweise“ bereits, sie ist „in der Menge“ schon da. Sie muss nur noch die Hülle des „Empire“ abstreifen!

„Die Produktionsweise der Menge eignet sich den Reichtum des Kapitals wieder an und schafft darüber hinaus neuen Reichtum, der sich zusammen mit den Mächten der Wissenschaft und des sozialen Wissens zur Kooperation artikuliert. In der Moderne war Privateigentum oftmals durch Arbeit legitimiert, aber diese Gleichung wird, wenn sie denn überhaupt jemals stimmte, heute völlig annulliert. Privateigentum an Produktionsmitteln ist heute, im Zeitalter der Hegemonie kooperative und immaterieller Arbeit, nur eine längst verfaulte und tyrannische Sache von gestern. Die Produktionswerkzeuge werden in kollektiver Subjektivität sowie in der kollektiven Intelligenz und im kollektiven Affekt der Arbeiter neu zusammengesetzt; Unternehmertum organisiert sich über die Kooperation von Subjekten und über den ‚General Intellect‘. Damit tritt die Organisation der Menge als politisches Subjekt, als posse die Weltbühne. Die Menge, das ist die biopolitische Selbstorganisation.“ (28)

Damit ist der Weg vom „Linksradikalismus“ zum Neo-Reformismus oder Populismus geebnet. Um der Menge ihren Weg zu weisen, haben die beiden dann auch „Schlüsselforderungen“, die in der autonomen Bewegung – ob nun in Kenntnis dieser theoretischen Rechtfertigung oder nicht – zu Allgemeinplätzen geworden sind.

Zum ersten geht es um die „Forderung nach Weltbürgerschaft“ (29). Dahinter steckt die demokratische und unterstützenswerte Forderung nach Bewegungsfreiheit, nach offenen Grenzen, der Abschaffung von Einreisekontrollen und Beschränkungen für MigrantInnen.

Diese Forderungen richten sich an die bestehenden bürgerlichen Staaten und müssen diesen, so weit möglich, abgerungen werden. Im Empire-Jargon kommt diese Forderung jedoch nicht zufällig als „Forderung nach Weltbürgerschaft“ daher, weil für Hardt/Negri den proletarischen, kleinbürgerlichen und anderen MigrantInnen ja keine imperialistischen Staaten, sondern ein „Empire“ gegenübersteht, im bestehenden System also so etwas wie „Weltbürgerschaft“ von der Menge etabliert werden könnte.

Im Gegensatz zu Hardt/Negri sind sich MarxistInnen nämlich der Grenzen der Forderung nach „offenen Grenzen“ oder „Abschaffung aller Einreisebeschränkungen“ bewusst. Sie dienen als Kampfmittel für demokratische Rechte und gegen imperialistische und bürgerliche Grenzregime.

Wir lehnen aber die utopische Vorstellung ab, dass im Rahmen einer imperialistischen Weltordnung ein staatliches System ohne repressive Grenzregimes verallgemeinert werden und auf Dauer bestehen könnte. Vielmehr müssen RevolutionärInnen den Kampf gegen alle Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen für MigrantInnen dazu nutzen, der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten deutlich zu machen, dass diese rassistischen Kontrollen und Grenzregime letztlich nur beseitig werden können, wenn sie mit dem Kampf zum Sturz des Imperialismus verbunden werden. Ein Regime ohne Grenzen wird erst im Sozialismus möglich, also mit Beginn einer Epoche, wo die Staaten selbst verschwinden.

Während  die demokratische Forderung nach Bewegungsfreiheit progressiven Charakter hat, so ist die zweite politische Hauptlosung von Hardt/Negri überhaupt nicht fortschrittlich! Es ist die nach einem „sozialen Lohn und nach einem garantierten Einkommen für alle!“.

Hardt/Negri garnieren die Argumentation, die auch zahlreiche Verfechter des „bedingungslosen Grundeinkommens“ auftischen, mit einer zusätzlichen Schrulle. Da die „Produktion“ jetzt die des „Lebens“ selbst wäre, würden Arbeit und Arbeitszeit auch jede „Fixiertheit“, jedes Maß, jede Messbarkeit verlieren.

„Die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Produktion und Reproduktion im biopolitischen Kontext zeigt zudem noch einmal in aller Deutlichkeit die Unermesslichkeit von Zeit und Wert. Im Maße, in dem die Arbeit das Fabrikgebäude verlässt, wird es immer schwieriger, an der Fiktion irgendeines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten und somit die Produktionszeit von der Reproduktionszeit bzw. die Arbeitszeit von der Freizeit zu trennen.“ (30)

Dumm nur, dass die Kapitalisten – bornierte, aber durchaus praktisch veranlagte Menschen – diese Passagen nicht kennen, so dass ihnen diese vermeintlichen Probleme der Arbeitszeitmessung unbekannt sind. Tja, wo das Kapital tausend Wege kennt, unbezahlte Arbeit gerade in den letzten Jahren massiv auszudehnen, da mag es der Arbeiterklasse zwar ein Rätsel sein, wo die Bezahlung geleisteter zusätzlicher Arbeitsstunden bleibt – von der Messbarkeit der Arbeitszeit, von der Scheidung von Arbeits- und Freizeit weiß sie nur zu gut, dass es sich dabei um keine Fiktion handelt!

Negri setzt seine Verwirrung fort:

„Die Forderung nach einem sozialen Lohn erweitert die Forderung, dass jede für die Kapitalproduktion nötige Tätigkeit durch gleich Kompensation nötige Tätigkeit durch die gleiche Kompensation Anerkennung findet, auf die gesamte Bevölkerung, so dass eine sozialer Lohn letztlich garantiertes Einkommen darstellt.“ (31)

Erstens ist es natürlich Unsinn, dass – wie hier unterstellt – jede Tätigkeit irgendeines Gesellschaftsmitglieds für die Kapitalproduktion gleich nötig wäre. Ansonsten käme man zur offenkundig absurden These, dass die Tätigkeit des beschäftigten Lohnarbeiters gleich viel zur Kapitalbildung beitragen würde wie jene des Arbeitslosen. Wäre dem so, wäre es völlig unbegreiflich, warum die Kapitalisten überhaupt Lohnarbeit beschäftigen und ihre Lohnkosten nicht gleich auf Null reduzieren?!

Zweitens ist These Hardt/Negris wie die aller Grundeinkommens-VerfechterInnen überhaupt nicht so „arbeitslosenfreundlich“, wie sie sich gern präsentiert. Denn: Wovon hängt denn die Nachfrage nach Arbeitskraft durch das gesellschaftliche Gesamtkapital ab? Vom Stand der Akkumulation, von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals. Dieses Kapital beschäftigt dann, sagen wir eine Million ArbeiterInnen bei einer Arbeitswoche von 35 Stunden, um in dieser – angeblich nicht mehr messbaren – Zeit Mehrwert für das Kapital zu schaffen, und zwar dort, wo der Kapitalist es vorschreibt: in der Fabrik und nicht irgendwo „im Leben“.

Sagen wir es gibt 200.000 weitere ArbeiterInnen, die bei bestehendem Geschäftsgang des Kapitals keine Anstellung finden, weil sie nicht gebraucht werden. Die produzieren in ihrer angeblich immer weniger unterscheidbaren „Nicht-Arbeitszeit“ natürlich nicht nur keinen Mehrwert, sie dienen auch als industrielle Reservearmee, indem sie auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten drücken. Zugleich empfinden sie ihre Arbeitslosigkeit als Form der „Nutzlosigkeit“, als „Ausgrenzung aus der Gesellschaft“. Sie sind sicher weit davon entfernt von der Flause, ihre „Lebenstätigkeit“ als gleiche Arbeit wie jene in der Fabrik zu empfinden.

Lt. Hardt/Negri wäre das im Grunde nur ein falsches Bewusstsein dieser Arbeitslosen. Ja, mehr noch, sollten die Kapitalisten von der Million Beschäftigter 200.000 wegen schlechten Geschäftsgangs entlassen und so die Arbeitslosenzahl auf 400.000 vermehren, so empfehlen sie nur: sozialer Lohn für alle!

Stillschweigend akzeptieren sie damit, dass das Kapital bestimmt, wie viele ArbeiterInnen in Lohn und Brot stehen. Dieser Umstand, hinter dem sich die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit verbirgt, wird schöngeredet durch den Unfug, dass „jede Tätigkeit“ der Kapitalproduktion gleich sei! Massenarbeitslosigkeit, prekäre Arbeit, Unterbeschäftigung werden damit ebenso schöngeredet wie jeder Unterschied zwischen der Tätigkeit von LohnarbeiterInnen und kleinen Warenproduzenten, also auch ein Klassenunterschied, verwischt wird.

Schließlich kommt aber noch das vollständige Unverständnis darüber hinzu, was überhaupt Lohnarbeit ist, nämlich die Preisform des Werts der Ware Arbeitskraft. Dieses Unverständnis wird auch dadurch genährt, dass die Arbeitszeit für „unmessbar“ erklärt wird.

Dass die LohnarbeiterInnen überhaupt in der Lage sind, für ihre Ware Arbeitskraft einen Preis zu erzielen, der den Reproduktionskosten ebendieser Ware entspricht, hängt wesentlich von der Kampfkraft der Klasse, ihre Organisiertheit und Geschlossenheit ab. Hohe Arbeitslosigkeit, Aufsplitterung der Arbeitsverhältnisse usw. schwächen die Kampfkraft. Daher darf die Arbeiterklasse niemals eine gleichgültige Haltung zu diesen Fragen haben, sondern muss für Mindeststandards der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft (z.B. Mindestlohn), für Beschäftigung der gesamten Klasse, für Aufteilung der Arbeit auf alle Arbeitsfähigen eintreten!

Bevor wir zum letzten „Heilmittel“ von Hardt/Negri übergehen, müssen wir noch darauf hinweisen, dass – anders als beide unterstellen – eben nicht jede Arbeit, die in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft verrichtet wird, gleichermaßen gesellschaftliche Arbeit ist. Ein Beispiel dafür ist die Subsistenzproduktion, also Produktion nicht für den Bedarf anderer, sondern zur eigenen Reproduktion.

Ein anderes Beispiel ist die private, eben nicht vergesellschaftete Hausarbeit. Diese geht natürlich in die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft mit ein. Unsere Losung ist aber keinesfalls die nach einem „Lohn für Hausarbeit“, „Bürgerinnengeld“ o.ä. Das würde vielmehr zu einer Verfestigung der privaten Hausarbeit führen, zu einer Verfestigung der geschlechtlichen Arbeitsteilung von Mann und Frau. Die fortschrittliche Parole der revolutionären Arbeiterbewegung ist vielmehr, den Kampf um gleiche Arbeitsbedingungen und Beschäftigung für proletarische Frauen mit dem Kampf um die Vergesellschaftung der Hausarbeit zu verbinden.

Kommen wir aber zum letzten Heilmittel von Hardt/Negri, zum „Recht auf Wiederaneignung“. Das erinnert auf den ersten Blick an die Losung der Enteignung, der Verstaatlichung, ja an die Machtergreifung. Doch Vorsicht! Was in den autonomen Pamphleten, Kampagnen usw. zu einer Mantra geworden ist, ist etwas anderes, viel Nebulöseres: „das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion.“ (32) Klar, wozu soll sie auch unbedingt etwas in Besitz nehmen, wenn ihr lt. Hardt/Negri ohnedies schon die Produktionsmittel gehören, nicht nur ihre Arbeitskraft, da „die Menge nicht nur Maschinen benutzt, sondern auch selbst zunehmend zu einer Art Maschine wird, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind.“ (33)

Der Marxismus versteht unter Aneignung der Produktionsmittel, dass den Kapitalisten ihr Monopol an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln entrissen wird. Die Forderung meint nichts anderes als die Enteignung der herrschenden Klasse durch das Proletariat.

Die Formulierung von Hardt/Negri bricht damit. „Aneignung“ kann zwar auch noch die Enteignung eines Kapitalisten bedeuten. Sie kann aber ebensogut die „Wiederaneingnung“ des Produktionsmittels „Körper“ oder der Wohnung (z.B. durch Hausbesetzung) bedeuten.

Diese Veränderung des Inhalts der „Aneignung“ hat im autonomen Milieu den Siegeszug dieser Losung nicht gebremst, sondern begünstig, weil es einem kleinbürgerlichen Milieu erlaubt, seinen eigenen Anstrengungen zur „Aneignung“ des eigenen Kopfes/Körpers die höheren Weihen des Kampfes um eine „Aneignung“ der gesellschaftlichen Produktionsmittel zu verleihen, den Unterschied zwischen dem proletarischen Klassenkampf und „Aneigungs“-Aktionen autonomer Kleinbürger verwischt.

Hardt/Negri und die Krise: Nichts Neues

Das oben Gesagte macht auch verständlich, warum Negri und Co. wenig Erhellendes zur aktuellen Weltwirtschaftskrise sagen oder sagen können. Für Hardt/Negri ergibt sich die Krise im Empire nämlich folgendermaßen:

„Ausbeutung heißt nun, dass die Kooperation enteignet wird und die Bedeutungen sprachlicher Produktion für ungültig erklärt werden. Als Konsequenz daraus kommt es innerhalb des Empire fortwährend zu Widerstand gegen die Ausbeutung, so dass es an allen Knotenpunkten zu Krisen kommt. Mit der postmodernen Totalität kapitalistischer Produktion weitet sich auch die Krise aus; sie sozusagen der Kontrolle inhärent.“ (34)

Die Krise ist nicht nur permanent, sie ist vor allem Resultat des Agierens der „Menge“. In dieser Hinsicht behält das „Empire“ das subjektivistische Krisenverständnis des Operaismus/Autonomismus der 60er Jahre bei.

Wenig originell erblickt Negri in der aktuellen Krise die Tatsache, dass der „Kapitalismus in seiner neo-liberalen Form an Ende sei.“ (35)

Darüber hinaus interpretiert er die Krise ganz aus der Sicht von „Empire“. Auf die Frage „Kann so die vom unproduktiven, spekulierenden Finanzkapital ausgelöste Krise überwunden werden?” antwortet er:

“Das Finanzkapital ist keineswegs unproduktiv, im Gegenteil, sehr produktiv. Das Problem ist, dass es unfähig ist, die gesellschaftliche Produktivität zu verstehen. Der industrielle Kapitalismus hat diese noch sehr gut verstanden. Er wusste, wie die Arbeitszeit einzuteilen, wie die Arbeiterkasse auszubeuten ist. Er hatte ein genaues Maß vom Anteil notwendiger Arbeit und Ausbeutung der Arbeit. Das Finanzkapital hat die Verbindung zum Ort der Arbeit verloren und damit das Maß von gesellschaftlicher Arbeit. Das hat den Finanzkapitalismus in Schwierigkeiten gebracht. Es müssen politische Formen der Vermittlung zwischen Finanzkapital sowie gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichem Reichtum gefunden werden.” (36)

Und weiter: „Wir sind mit einer zunehmenden immateriellen, kognitiven und kooperativen Arbeit konfrontiert, einer selbstständigen und selbstverwertenden. Anders als die klassische materielle Arbeit, die auf Arbeits- und Produktionsmittel angewiesen war, die das Kapital zur Verfügung stellte, ist die heutige immaterielle und kognitive Arbeit unmittelbar produktiv, befreit vom Unterordnungsverhältnis, das die materielle Arbeit kennzeichnete, damit zugleich aber auch von Sicherheiten, die noch der Fabrikarbeiter kannte. Eine breite Schicht ist heute gezwungen, in völlig anderen räumlichen und zeitlichen Kontexten unter enorm prekären Bedingungen zu arbeiten. Dieses produktive Subjekt eignet sich selbst die Arbeitsmittel an, ist variables und zugleich fixes Kapital. Über die Finanzialisierung wird versucht, diese fixen Kapitale zusammenzuhalten.

Das Maß des gesellschaftlichen Reichtums hängt heute nicht mehr vom klassischen Wertgesetz ab. Und über diese Tatsache sind die Kapitalisten ebenso erstaunt und irritiert wie die Linke.“ (37)

Er führt den oben dargelegten Gedanken aus, indem er einen grundlegenden Wandel der unterstellt, einen Wandel, der dazu führt, dass die Krise gar nichts mit Überakkumulation von Kapital, Profitratenentwicklung usw. zu tun hat. Statt dessen liege das Problem vielmehr darin, dass Kapitalisten und Linke die Überholtheit des „klassischen Wertgesetzes“ nicht erkannt hätten. Eine solche „Analyse“ trägt mehr zur Verdunkelung realer Zusammenhänge, denn zur ihrer Erhellung bei.

Doch was sagt uns Negri über den Widerstand und die politische Perspektive?

„Dazu gehört die Verweigerung der Arbeit oder Widerstand gegen die Arbeit, die in der kapitalistischen Organisation der Produktion stets Sklaverei ist. Der Kapitalismus ist verletzlicher geworden. Eine rebellierende Peripherie greift schon das Zentrum der Macht an. Und das Empire hat die Peripherien multipliziert, sie befinden sich nun auch in den Metropolen. Eine Rebellion wie in den Banlieues von Paris trifft ins Herz des Empire.“

„Und wie soll das der Multitude gelingen?“, fragt der Journalist vom Neuen Deutschland.

„Wo es Masse gibt, gibt es Energie. Schauen wir auf die globalisierungskritische Bewegung, die Sozialforen: Die hier engagierten jungen Leute sind nicht weniger revolutionär als die Bolschewiki. Sie reißen Mauern und Grenzen ein, die der Kapitalismus aufgerichtet hat. Das ist heute der Klassenkampf. Oder schauen wir nach Lateinamerika, wo sich soziale Bewegungen mit den Regierenden verbinden und neuartige Transformationen wagen. Man muss den Bruch organisieren, ähnlich wie einst die Sowjets, aber in einer andersartigen, pluraleren und differenzierteren Welt. Insubordination, Rebellion, Insurrektion sind legitim. Das Recht auf Widerstand ist ein Grundrecht.“ (38)

Hier kommt Negri wenig darüber hinaus, als dass sich die Multitude zusammentun und kämpfen muss. Er gibt sich dabei „militant“, gehen doch die Rezepte bis zur Insurrektion, zum Aufstand. Auch an den von Negri gern verwendeten Übertreibungen fehlt es nicht. So richtig die Unterstützung der Rebellion in den Banlieues von Paris war, so falsch ist die Annahme, dass diese „ins Herz des Empire“ trafen. Vielmehr wäre die spannende Frage die, wie solch spontane Rebellionen von (sub)proletarischen Schichten mit dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse insgesamt verbunden werden können, wie der Chauvinismus der französischen Arbeiterbewegung hätte durchbrochen werden können usw., um wirklich einen Stoß ins „Herz des Empire zur führen?!

Auch bei folgender Frage kommt Negri über die Rezepte aus „Empire“ keinen Millimeter hinaus: „Was sind die Interessen der Multitude? Globale Bürgerrechte, bedingungsloses Einkommen, Wiederaneignung des Gemeinsamen, des Gemeinwesens und Demokratisierung der Weltgemeinschaft.“ (39)

Statt der „revolutionären Perspektive“ tischt Negri ein reformistisches Allerwelts-programm auf. Der Autonome endet als neo-reformistischer Quacksalber.

John Holloway: Keine Macht für niemand reloaded

John Holloway ist in den letzten Jahren zu einem der Haupttheoretiker der Autonomen und des Post-Operaisismus geworden. Auch hierzulande bekannt geworden ist er durch sein Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“, ein geradezu programmatischer Titel für einen großen Teil der weltweiten autonomen Bewegung, besonders in den anglo-amerikanischen Ländern, aber auch in Lateinamerika.

Holloway sieht sich in der autonomen Theorietradition, deren Kraft er darin erblickt, dass „sie ausdrücklich vom Subjekt, von der Arbeiterklasse ausgeht. Sie nimmt für sich in Anspruch eine Theorie des Kampfes zu sein, nicht aber eine Theorie der Rahmenbedingungen von Kämpfen, worauf die Hauptströmung des Marxismus hinausläuft. Als treibende Kraft der sozialen Entwicklung sieht sie den Kampf der Arbeiterklasse.“ (40)

In dieser Schrift wirft er Negri und seinem Buch „Empire“ vor, einer politischen Versuchung erlegen zu sein, die ihn vom „Autonomismus“ entfernt habe und in die Nähe des „orthodoxen“ Marxismus getrieben hätte. Wie kommt er zu diesem eigenartigen Vorwurf?

Hardt und Negri würden sich das Subjekt der Befreiung (die Multitude) wie auch den „Klassenkampf“ insgesamt als etwas „Positives“ vorstellen. Das hätte er mit der „Hauptströmung des Marxismus“ (also allen außer dem Autonomismus in Holloways Verständnis) gemein. Was meint Holloway damit?

„In der Vergangenheit war es üblich, sich den Klassenkampf als Kampf zwischen Kapital und Arbeit vorzustellen, wobei Arbeit als Lohnarbeit, abstrakte Arbeit, verstanden wurde und die Arbeiterklasse oftmals als Klasse der Lohnarbeitenden definiert wurde. Aber diese Auffassung ist falsch. Lohnarbeit und Kapital ergänzen sich gegenseitig, Lohnarbeit ist ein Moment des Kapitals. Es gibt in der Tat einen Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital, aber es ist ein relativ oberflächlicher Konflikt. Es ist ein Konflikt über die Höhe der Löhne, die Länge des Arbeitstages, die Arbeitsbedingungen: Alle diese Konflikte sind wichtig, aber sie setzen die Existenz des Kapitals voraus. Die wirkliche Bedrohung für das Kapital kommt nicht von der abstrakten Arbeit, sondern von der nützlichen Arbeit oder dem kreativen Tun, denn es ist das kreative Tun, das in radikalem Gegensatz zum Kapital, d.h. zu seiner eigenen Abstraktion, steht. Es ist das kreative Tun, das sagt, „nein, wir werden nicht tun, was das Kapital befiehlt, wir werden tun, was wir für notwendig oder wünschenswert erachten“. (41)

Lt. Holloway wäre der gesamte „Hauptstrom des Marxismus“ eine „Bewegung der abstrakten Arbeit“:

„Seit der Frühzeit des Kapitalismus hat die abstrakte Arbeit ihren Kampf gegen das Kapital, ihren Kampf um bessere Bedingungen für die Lohnarbeit organisiert. Im Zentrum dieser Bewegung befindet sich die Gewerkschaftsbewegung mit ihrem Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. In der klassischen Literatur des orthodoxen Marxismus wird dies als ökonomischer Kampf betrachtet, der durch den politischen Kampf ergänzt werden muss. Der politische Kampf wird durch Parteien organisiert, die die Erlangung der Staatsmacht zum Ziel haben – sei es durch parlamentarische Mittel oder bewaffneten Kampf. Die klassische revolutionäre Partei beabsichtigt selbstverständlich, die Gewerkschaftsperspektive zu überwinden und eine Revolution anzuführen, die die abstrakte Arbeit, die Lohnarbeit abschaffen wird. Aber in Wirklichkeit ist (oder war) sie innerhalb der Welt der abstrakten Arbeit gefangen. Die Welt der abstrakten Arbeit ist eine Welt des Fetischismus, eine Welt, in der gesellschaftliche Verhältnisse als Dinge existieren. Es ist eine Welt, die von Geld, Kapital, dem Staat, den Parteien und Institutionen bevölkert ist, eine Welt voller falscher Stabilitäten, eine Welt der Identitäten. Es ist eine Welt der Trennung, in der das Politische vom Ökonomischen, das Öffentliche vom Privaten, die Zukunft von der Gegenwart, das Subjekt vom Objekt getrennt ist, eine Welt, in der das revolutionäre Subjekt ein sie (die Arbeiterklasse, die Bauernschaft) ist, nicht ein wir. Der Fetischismus ist die Welt der Bewegung, die auf dem Kampf der Lohnarbeit, der abstrakten Arbeit aufbaut und von diesem Fetischismus gibt es kein Entrinnen: Es ist eine Welt, die unterdrückerisch und frustrierend und furchtbar, furchtbar langweilig ist. Es ist auch eine Welt, in der der Klassenkampf symmetrisch ist. Dass sich abstrakte Arbeit und Kapital gegenseitig ergänzen, spiegelt sich in der grundlegenden Symmetrie zwischen dem Kampf der abstrakten Arbeit und dem Kampf des Kapitals wider. Beide drehen sich um den Staat und den Kampf um Macht über andere; beide sind hierarchisch, beide streben nach Legitimität in ihrem Handeln an Stelle anderer.“ (42)

Wir wollen hier einige Zeit bei diesen Passagen verweilen, weil sei durchaus bezeichnend für bestimmte „kritische“ anti-marxistische und autonome Argumentationsmuster sind.

Holloway beginnt mit einer großen Generalabrechnung mit dem „orthodoxen Marxismus“. In der Vergangenheit wäre es „üblich“ gewesen, sich den Klassenkampf „falsch“ oder „relativ oberflächlich“, als Kampf zwischen Klassen vorzustellen. Schuld darin sind die „orthodoxen Marxisten“ wie aber auch die gesamte bisherige Arbeiterbewegung aller Couleur, die den ersten Satz des „Kommunistischen Manifests“, dass alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei, wohl gründlich missverstanden haben müssen.

Auch hätten sie „die Arbeit“ als „Lohnarbeit“ verstanden und die Arbeiterklasse als Klasse von Lohnarbeitern definiert. Die Frage, ob die Geschichte des Kapitalismus nicht tatsächlich vom Kampf dieser beiden Hauptklassen der Gesellschaft geprägt ist oder nicht, kümmert Holloway erst gar nicht. Ebenso wenig macht sich Holloway Gedanken darum, dass die Arbeit der ausgebeuteten Klasse im Kapitalismus, des Proletariats, Lohnarbeit ist und sein muss. Er tut einfach so, als würde die Tatsache, dass die „orthodoxen“ und sonstigen MarxistInnen und noch eine ganze Menge anderer Menschen diese Tatsache als Realität zur Kenntnis nehmen, gegen den Marxismus sprechen.

Er glaubt dann allen Ernstes, noch ein weiteres Geschütz gegen die Marxisten auffahren zu können: dass sämtliche Konflikte zwischen Lohnarbeit und Kapital „die Existenz des Kapitals“ voraussetzen!

Weil aber Kapital und Arbeit einander bedingen, weil die beiden Hauptklassen der Gesellschaft einander antagonistisch gegenüberstehen und „sogar“ wechselseitig durchdringen, meint Holloway, eine Widerlegung der „falschen Sicht“ des Klassenkampfes gefunden zu haben.

Dabei liegt die Stärke von Marx und Engels genau darin, dass sie die Triebfeder für die Entwicklung des Klassenkampfes nicht außerhalb vom, sondern im Kapitalverhältnis selbst gefunden haben – und damit auch die Notwendigkeit der krisenhaften Zuspitzung und revolutionären Lösung dieses Kampfes, der Machtergreifung der Arbeiterklasse.

Es ist bezeichnend für die Methode Holloways, dass er im ersten Zitat „den orthodoxen Marxisten“ unterschiebt, den Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital im wesentlichen ökonomisch gefasst zu haben, also ob die Arbeiterbewegung nicht schon sehr früh auch begonnen hätte, sich als politische Bewegung zu formieren.

Im zweiten Zitat gibt Holloway auf seine Weise zwar zu, dass es verschiedene Flügel der Arbeiterbewegung gab, dass einige nur den gewerkschaftlichen Kampf, anderen wiederum als politische Parteien den Kampf um die politische Macht führen wollten, ein Teil davon sogar auf revolutionäre Weise und mit dem Ziel, das System der Lohnarbeit abzuschaffen.

Doch, was soll’s?! Was bedeuten schon solche Unterschiede, wenn alle in „der Welt der abstrakten Arbeit“ gefangen sind? Den ganze Geschichte der Arbeiterbewegung, alle grundlegenden Differenzen, ja die Verfolgung unterschiedlicher Klassenziele durch Reformismus und revolutionären Kommunismus wird zur Nebensache, seit Herr Holloway endlich die Ursache alles Übels der bisherigen Bewegungen, einen einzigen – unterstellten – „Denkfehler“ entdeckt hat.

Doch er begeht einen für idealistische Denker typischen Fehler. Er betrachtet die „Welt des Fetischismus“ nicht als eine Welt, in der z.B. Politik und Wirtschaft als getrennt erscheinen müssen. Würde er so vorgehen, also die materiellen Grundlagen dieser Trennung zur Kenntnis nehmen, wäre sofort klar, dass es überhaupt nichts nützt, diese Trennung einfach nicht mehr zu denken. Sie würde natürlich weiter bestehen. Die Trennung von wirtschaftlichem und ökonomischem Kampf kann nicht willkürlich überwunden werden, sondern es bedarf dazu eines bewussten taktischen und strategischen Agierens der Klasse – und damit auch einer politischen Führung.

Holloway fällt in seiner „Kritik“ des „orthodoxen Marxismus“ weit hinter Hegel und Marx zurück. In der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (43) übernimmt Marx den Hegelschen Gedanken, dass in der bürgerlichen Gesellschaft (anders als in der Feudalgesellschaft) Staat/Politik und Privates/Wirtschaft/Familie als getrennte Sphären auseinander fallen und als einander entgegengesetzte Sphären erscheinen müssen – allerdings mit der wichtigen, wirklich kritischen Wendung, dass (anders als in Hegels Vorstellung) nicht der Staat das treibende Moment dieser Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft ist, sondern die Ökonomie.

Wichtiger noch als diese Herleitung ist, dass Marx und Engels aus der „Trennung“ von Ökonomie und Politik, von wirtschaftlichem und politischem Kampf keineswegs folgern, dass bloß abstrakt deren „Überwindung“ angesagt ist.

Die Trennung von Ökonomie und Politik bedeutet, dass die Arbeiterklasse auch den ökonomischen Kampf systematisch verfolgen muss – und zwar nicht, weil sie in „der abstrakten Arbeit“ gefangen ist, sondern weil ihr dieser Kampf aufgezwungen ist, wenn sie überhaupt ihre Existenz sichern will.

Zum anderen insistieren Marx und Engels in der Polemik mit den Anarchisten, aus deren Mottenkiste Holloway einen Teil seiner Argumente abgeschrieben haben dürfte, darauf, dass die Arbeiterklasse weit davon entfernt, die politische Kampfmittel bloß als „Fetisch“ oder „identitär“ zu sehen, den Kampf um die Ausweitung demokratische Recht führen muss, aktiv an Wahlkämpfen teilnehmen soll usw.

Schließlich zeigen Marx und Engels auch, dass die Trennung von Ökonomie und Politik in letzter Konsequenz auch nur eine scheinbare ist, dass sich hinter den ökonomischen Kämpfen deren polischer Charakter verbirgt und dass es Aufgabe von RevolutionärInnen ist, diesen politischen Charakter auch bewusst zu machen. Im „Kapital“ schreibt Marx zu diesem Aspekt seitenlang in der Diskussion des Kampfes um den 10-Stunden-Tag, den er als einen Sieg der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse charakterisiert. Folgten wir Herrn Holloway, der gern so tut, als hätten die Gedanken, die er nicht näher bestimmten  „orthodoxen Marxisten“ unterschiebt, mit Marx nichts zu tun, so müssten wir zum Schluss kommen, dass der alte Marx grob irrte, hätten wir es doch nur mit einem „relativ oberflächlichen“ Konflikt zu tun.

Holloways „Alternative“

Die wirkliche Bedrohung für das Kapital kommt nicht von der abstrakten Arbeit, sondern von der nützlichen Arbeit oder dem kreativen Tun, denn es ist das kreative Tun, das in radikalem Gegensatz zum Kapital, d.h. zu seiner eigenen Abstraktion, steht.“ (44)

Und weiter zum „anti-kapitalistischen“ Kampf Holloways:

„Dies ist ein Kampf, der mit der Symmetrie bricht, die den Kampf der abstrakten Arbeit charakterisiert hat, ein Kampf der sich grundlegend asymmetrisch zum Kampf des Kapitals verhält und der sich an dieser Asymmetrie erfreut: Sachen auf eine andere Art und Weise zu machen, andere gesellschaftliche Verhältnisse aufzubauen, ist ein Leitprinzip.

In dieser Neuzusammensetzung des Klassenkampfes sind wir das revolutionäre Subjekt. Wir? Wer sind wir? Wir sind eine Frage, ein Experiment, ein Schrei, eine Herausforderung. Wir brauchen keine Definition, wir weisen alle Definitionen zurück, denn wir sind die anti-identitäre Kraft des kreativen Tuns und setzen uns über jede Definition hinweg. Nenne uns Multitude wenn Du magst, oder, besser noch, nenne uns Arbeiterklasse, aber jeder Versuch einer Definition ist nur insofern sinnvoll als wir mit dieser Definition brechen. Wir sind heterogen, wir sind dissonant, wir sind unsere eigene Bestätigung, die Verweigerung fremder Bestimmung über unsere Leben. Wir sind daher die Kritik der Repräsentation, die Kritik der Vertikalität und jeder Form von Organisation, die uns Verantwortung für unsere Leben nimmt. Hört die Stimmen der ZapatistInnen, der argentinischen Piqueteros, der Indigenen in Bolivien, der Menschen der sozialen Zentren in Italien: das Subjekt, das sie allzeit in ihren Äußerungen benennen, ist „wir“ und es ist eine Kategorie, die über wirkliche Kraft verfügt.“ (45)

In dieser Passage lassen sich vier Kernelemente der Doktrin Holloways und einer ganzen libertären Strömung der Autonomen festmachen:

a) Das revolutionäre Subjekt sind „wir“, sind diejenigen, die sich darin zusammenfassen. Ob Bauern/Bäuerinnen, ArbeiterInnen oder StudentInnen – die Klassenlage des Subjekts spielt letztlich keine Rolle.

b) Was an diesen unterschiedlichen Kämpfen revolutionär sein soll, ist, dass sie „asymetrisch“ wären zu den „Fetischen“, zur „abstrakten Arbeit“, zum Kapital, zum Staat. Als „revolutionär“ gilt hier also, was vom Großteil der Menschheit gerade nicht als revolutionär verstanden wird. Gemeinhin versteht man unter einer Revolution den gewaltsamen Übergang der politischen Macht, der Herrschaft von einer gesellschaftlichen Klasse zu einer anderen. Nicht so bei Holloway, seine Revolution ist „asymetrisch“, sie stürzt die bestehende Herrschaft nicht, ja das Ziel allein schon gilt ihr als Teufelswerk, als „orthodoxe“, autoritäre Bewegung. In Wirklichkeit ist das eine Phrase eines zu spät gekommenen Anarchisten, deren eigentlicher Inhalt darin besteht, dass die Revolution gar keine ist.

„Unsere Revolution kann folglich nicht als Vorbereitung für ein großes Ereignis in der Zukunft verstanden werden, sondern nur hier und jetzt als Erschaffung von Rissen, Fissuren oder Brüchen im Gewebe der Herrschaft, von Räumen oder Momenten in denen wir deutlich sagen, „nein, wir werden nicht hinnehmen, dass das Kapital unsere Leben gestaltet, wir werden tun, was wir für notwendig oder wünschenswert erachten“. Wenn wir uns umsehen, können wir sehen, dass diese Räume oder Momente der Weigerung und Erschaffung überall existieren, vom lakandonischen Urwald bis zur vorübergehenden Weigerung und Erschaffung eines Ereignisses wie diesem. Revolution, unsere Revolution, kann nur als Ausweitung und Multiplikation dieser Risse, dieser Blitze der Weigerung und Erschaffung, dieser vulkanischen Ausbrüche des Tuns gegen die Arbeit verstanden werden.“ (46)

Holloway beschreitet hier also einen ähnlichen Weg wie Negri (trotz all seiner Polemik gegen „das Positive“ der Multitude). Die neue Gesellschaft existiert für Holloway nämlich ähnlich wie Negris Multitude schon – in den „Rissen“, überall, wo wir Momente der „Weiterung und Erschaffung“ ins Werk setzen.

Das zentrale „Kampfmittel“, das Holloway vorschlägt, ist die Verweigerung und das vom Kapitalverhältnis nicht inkorporierte, erschaffende „Tun“. Dieser Vorschlag ist weder neu, noch originell, sondern anarchistischen Vorstellungen entlehnt. Auch im Anarchismus und seine Ablehnung der „Politik“ steht letztlich eine politische Strategie, die darauf basiert, dass die „Verweigerung“ eines gesellschaftlichen Zwangsverhältnisses dieses Zwangsverhältnis außer Kraft setzen würde.

So haben die Bakunisten u.a. anarchistische Strömungen des 19. Jahrhunderts die Teilnahme an Wahlen u.a. politischen Auseinandersetzungen in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Argument abgelehnt, dass eine Beteiligung an der bürgerlichen Demokratie der „Anerkennung des Staates“ gleichkommen würde.

Marx und Engels machen sich über diese Schrulle lustig, indem sie einfach darauf verwiesen, dass der Staat als Zwangsinstrument eine reale Macht darstellt, dass das politische Terrain der Auseinandersetzung existiert und zwar unabhängig davon, ob ich es „anerkenne“ oder nicht.

Auch auf das Argument der AnarchistInnen, dass die Arbeiterklasse durch die Beteiligung an Wahlen und die Ausnutzung der bürgerlichen Demokratie für ihre Agitation und ihre Forderungen doch nur Kampfmittel aus der bestehenden Gesellschaft entlehne, diese also damit „anerkenne“, antwortet Engels trocken, dass die AnarchistInnen doch einmal darlegen sollten, aus welcher Gesellschaft, wenn nicht aus der bestehenden die Arbeiterklasse ihre Kampfmittel nehmen solle? Er fordert die Anarchisten auf, zu erklären, warum die Arbeiterklasse freiwillig auf Kampfmittel verzichten solle, die in dieser Gesellschaft existieren, warum sie z.B. die Beteiligung an Wahlen nicht als Agitationsmittel gegen die Bourgeoisie verwenden soll.

So wie der Anarchismus gegenüber den politischen Kampfmitteln der bürgerlichen Gesellschaft verfährt Holloway gegenüber dem ökonomischen Kampf und überhaupt gegenüber dem Klassenkampf von Lohnarbeit und Kapital.

Die Arbeiterklasse solle von diesem Kampf Abstand nehmen, zugunsten des „Nein“. In Wirklichkeit läuft dieser Vorschlag also darauf hinaus, dass die Arbeiterklasse freiwillig auf Kampfmittel und Ziele – z.B. Massenstreiks für Lohnerhöhungen, im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen usw. – verzichten oder diese zumindest geringer schätzen soll als die „Ausweitung und Multiplikation von Blitzen“, also „Freiräumen“ außerhalb des Lohnarbeit-Kapital-Verhältnisses!

Das ist der Rat eines bürgerlichen Scharlatans, keines „Kämpfers“! Die Ratschläge und die ganze Doktrin eines Holloway sind direkt den Interessen der Arbeiterklasse entgegengesetzt, sie sind direkt anti-revolutionär.

c) Zustimmen können wir Holloway eigentlich nur darin, dass seine „Revolution (…) folglich nicht als Vorbereitung für ein großes Ereignis in der Zukunft verstanden werden“ kann.

Ein „großes Ereignis“ wird mit dieser Strategie sicher nie zustande kommen. Vielmehr werden hier vorübergehende „Nischen“ (selbstverwaltete Betriebe, bäuerliche Subsistenzwirtschaft, Tauschbörsen, besetzte Häuser) schöngeredet. Es wird unterstellt, dass solche Projekte nur stetig verteidigt, ausgeweitet und schließlich verallgemeinert werden müssten und „das Neue“ würde so entstehen.

Holloway spult den Film des Revisionismus noch einmal ab, indem er unterstellt, dass sich im Monopolkapitalismus immer mehr „Nischen“ der Kleinproduktion bilden und diese zu einer neuen Gesellschaft führen würden.

d) Um „das Neue“ in Gang zu setzen, schlägt Holloway der Arbeiterklasse und den Unterdrückten auch eine bestimmte „Organisation“ ihres Kampfes vor:

„Wir sind daher die Kritik der Repräsentation, die Kritik der Vertikalität und jeder Form von Organisation, die uns Verantwortung für unsere Leben nimmt.“

Also, Proletarier, weg mit jeder Form der „Repräsentation“, weg mit der „Vertikalität“!

Was bedeutet das real? Es bedeutet, dass die Arbeiterklasse, die Bauern, die städtische Armut auf wirklich jede Form der Massenorganisation zu verzichten hätte!

Er bricht damit auch mit den früheren Operaisten oder Autonomen, die die Notwendigkeit einer straffen revolutionären Organisierung durchaus anerkannten.

Diese „Medizin“ des Herrn Holloway, die er gegen die „abstrakte Arbeitsbewegung“ empfiehlt, ist Gift für die Unterdrückten und Ausgebeuteten.

Keine unterdrückte Klasse der kapitalistischen Gesellschaft kann auch nur ihre Existenzbedingungen verteidigen, wenn sich nicht organisiert auftritt, ihre Masse, ihre große Zahl als Machtmittel wirksam werden lässt.

Das trifft natürlich noch vielmehr auf jede Aktion zu, die die Machtfrage aufwirft, z.B. einen unbefristeten Generalstreik oder einen Aufstand. Hier werden Millionen in Bewegung gesetzt, um bestimmte politische Ziele zu erreichen.

Sie können ihren Kampf aber nur aufrechterhalten und zum Sieg führen, wenn sie organisiert sind. Ein Generalstreik braucht Verbindung zwischen den einzelnen Betrieben, städtischen Zentren etc. Er braucht Koordination. Er braucht Verbindung und politische Führung z.B. zur Abwehr von Streikbrechern, faschistischen Stoßtrupps, Polizeiübergriffen etc.

All das heißt, dass die einzelnen Belegschaften „Repräsentationen“ brauchen, dass es Delegierte, „Vertikalität“ braucht. Ansonsten fällt die ganze Aktion rasch in sich zusammen. Ja es braucht, nebenbei bemerkt, auch „Formen der Organisation, die uns Verantwortung für unser Leben nimmt“ , also eine Arbeitsteilung innerhalb der Kampfbewegung, so dass nicht jede(r) alles tun muss. Selbst die von Holloway hoch gelobten Beispiele wie besetzte Betriebe in Arbeiterselbstverwaltung oder die Zapatisten wären in Wirklichkeit schon längst am Ende, wenn sie die ihnen unterschobene Holloway-Doktrin befolgen würden.

Wir sehen also, dass die gesamte Arbeiterbewegung aus gutem Grund die kleinbürgerlich-reaktionäre Organisationsfeindlichkeit und die damit verbunden „Prinzipien“ ablehnt.

Dabei wurde von RevolutionärInnen nie bestritten, dass sich jede Form der (Massen)organisationen „verselbstständigen“, sich von ihren ursprünglichen Zwecken entfernen, verbürokratisieren oder verbürgerlichen kann. Das Mittel dagegen ist aber nicht eine abstrakte Entwicklung angeblicher „Prinzipien“, die das verhindern könnten, sondern der Kampf für Arbeiterdemokratie und eine revolutionäre Politik in diesen Organisationen.

So treten wir eben nicht für die Fiktion einer „Nicht-Repräsenanz“ oder „Nicht-Vertikalität“ ein, sondern für die direkte Kontrolle der RepräsentantInnen durch die Basis, deren Rechenschaftspflicht, deren Wähl- und Abwählbarkeit.

Der Verzicht auf „Repräsentation“ und „Vertikalität“ an und für sich läuft darauf hinaus, der Arbeiterklasse den Verzicht auf jede Form wirksamer Klassenorganisation oder Widerstand zu predigen. Er läuft darauf hinaus, die Arbeiterklasse im Zustand permanenter individueller Atomisierung zu halten, also darauf, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu verewigen!

Hier kommt auch Holloways programmatischer Buchtitel, „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ zu sich selbst. Er läuft darauf hinaus, dass sich die Welt nicht verändert, sondern bleibt, wie sie ist, dass die Macht in den Händen derer bleibt, die sie haben – in den Händen der herrschenden Klasse.

Exkurs: Die „Zeit der Forderungen ist vorbei“ und die Aufstände der Jugend

Die gegenwärtige autonome Bewegung in ihrer Gesamtheit ist sicher weit davon entfernt, einfach der Doktrin Negri oder Holloway zu folgen, auch wenn viele einen mehr oder weniger eklektischen Mischmasch aus diesen Theorien/Konzeptionen zur Untermauerung ihre Ansichten verwenden oder von diesen o.ä. Gedanken beeinflusst sind. So kommt kaum eine autonome Diskussion ohne den Negrischen Dreiklang von „Recht auf Bewegungsfreiheit“, „Recht auf Grundeinkommen“ und „Recht auf Aneinigung“ aus.

Andere autonome Mobilisierungen meinen, ihren „subversiven“ Charakter durch das Kokettieren mit der eigenen Harmlosigkeit noch herausstreichen zu müssen, so z.B. der Berliner May Day 2009, wo es auf die Frage, wie „Wie weiter!“ heißt:

“Naja – nach dem 1. Mai kommt dann erstmal der 2. Mai. Hallo Alltag. Und dann kommt ja noch die Krise, mit ihre Lügen und Konjunkturpaketen usw. – wie auch immer – unser Mayday Experiment ist ein Baustein in unserem Ringen um eine andere Gesellschaft, um eine andere Politik und eine solidarische Kultur. Mit aller Entschlossenheit voranstolpern! Gegen den Alltag der uns auffrisst, zusammen für eine solidarische Gesellschaft streiten. Das machen wir nicht erst seit Gestern – mal mit Spaß tanzend und mal zäh ringend. Wo Solidarität praktisch werden kann, wo lustvoll die Macht prekarisiert wird, wo wir widerstehen und wo wir Lust am Kollektiven bekommen – dort sind wir! Und jetzt schon freuen wir uns auf den Tag, an dem wir sagen können: Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus!” (47)

Es gibt jedoch auch einen anderen Flügel, der sich „militant“, „radikal“, „anti-kapitalistisch“ und „revolutionär“ gibt, z.B. verschiedene Antifa-Gruppen.

Deren politische Sympathie liegt vor allem bei den Kämpfen, die unmittelbar militanten Charakter haben. Teilweise sind das bewaffnete, nationale Befreiungskämpfe wie in Kurdistan oder im Baskenland (weniger in Palästina, weil sie dort schon nicht mehr in der Lage sind, zwischen dem gerechtfertigten und unterstützenswerten Charakter eines nationalen Befreiungskampfes und dem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Charakter der aktuellen Führung dieses Kampfes zu unterscheiden).

Zum anderen und vor allem geht es um Aufstände oder Emeuten der Jugend, wie z.B. in Griechenland Ende 2008 oder in den französischen Banlieues.

Zweifellos ist es ein positives Zeichen dieser Gruppierungen, dass sie den unterstützenswerten und berechtigten Charakter dieser Aufstände der Jugend und insbesondere der migrantischen Jugend erkennen und mit ihnen solidarisch sind. Richtig an der Beschäftigung mit diesen Aktionen und Kämpfen ist auch, dass sie in der kommenden Krisenperiode häufiger auftreten werden und daher auch mehr Beachtung durch revolutionäre Organisationen erfordern. Das unterscheidet diese Autonomen durchaus wohltuend von den reformistischen, tw. auch rechts-zentristischen Gruppierungen, die diesen Emeuten ablehnend und ignorant gegenüberstehen und stillschweigend hoffen, dass der jüngste Krawall im Banlieue oder in einem beliebigen Vorort auch der letzte sein möge.

Aber diese autonome Richtung geht weiter, indem sie diesen Emeuten und Aufständen eine bestimmte Interpretation gibt, die – wie wir sehen werden – von der Holloways oder Negris weniger weit entfernt ist, als sie selbst denken.

Im Sammelband „Die Zeit der Forderungen ist vorbei“ (48), der eine Reihe interessanter Analysen der staatlichen und rassistischen Zurichtung der Banlieues, der Hintergründe und des Verlaufs der Aufstände enthält, kommt eine Autorin zu folgenden Schluss:

„So symbolisieren die Emeutes sowohl die strikte Weigerung, sich am politischen Spiel zu beteiligen, als auch das Fehlen einer sozialen Utopie, die den tiefen Graben zwischen linken Gruppierungen verschiedenster Provenienz aus den Ghettos überbrücken könnte. Und doch sind die Emeutes alles andere als sprachlos. Sie formulieren ein klares Nein gegen die herrschenden Verhältnisse.“ (49)

Deutlicher formuliert Marius von der Lubbe im selben Band, was er für das Zukunftsweisende der Emeuten hält:

„Die Modernität der Aufstände lag darin, den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen zu haben und sie nicht nachzuahmen, kein bloß mythisches Kräfteverhältnis angerufen, sondern ein reelles geschaffen zu haben, dieses Kräfteverhältnis selbst zu sein. Es stimmt natürlich, dass der Staat kaum ins Wanken geriet, auch wenn die Angst zeitweise die Seite wechselt.“ (50)

In ihrem Aufsatz warnt Ingrid Artus an anderer Stelle zwar vor einem kritiklosen „Abfeiern“ der Emeuten. Sie fasst aber ihre politische Botschaft so zusammen, dass sie ein „klares Nein gegen die herrschenden Verhältnisse“ seien. Nun kann darunter viel verstanden werden. Wenn ein „Nein“ zum Rassismus der Regierung, zu den sozialen Zuständen usw. gemeint ist, so ist das sicher zutreffend. Unter „herrschenden Verhältnissen“ kann freilich auch mehr verstanden werden. Marius von der Lubbe tut dies auch und geht einen deutlichen Schritt weiter, wenn er den aufständischen Jugendlichen unterstellt, dass die „den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen hätten“. Hier schwindelt sich nur der Autor etwas vor, weil er die Frustration über und die Ausgrenzung aus dem bestehenden politischen Betrieb und die daraus folgende Ablehnung desselben mit einem „Begreifen“, also einem Bewusstsein seiner Ursachen und Mechanismen verwechselt.

Ebenso falsch, aber für Autonome bezeichnend, ist die Auslassung von der Lubbes über das „Kräfteverhältnis“. Erstens ist ein Kräfteverhältnis schon begrifflich eine Relation zwischen zwei Kräften. Eine soziale Kraft/Gruppe/Aufständische kann daher zwar eine Kraft, niemals aber selbst ein Verhältnis sein. Dieser begriffliche Irrtum kommt aber nicht von ungefähr.

Wenn von der Lubbe nämlich wirklich das Kräfteverhältnis betrachten würde, in dem die Jugendlichen in den Banlieues oder in Griechenland agierten, so müsste er feststellen, dass die Aufstände eine Reaktion auf eine bewusste rassistische Provokation der französischen Regierung unter Sarkozy bzw. der Polizeirepression in Griechenland (Ermordung eines 16jährigen Jugendlichen) waren. Sie waren also Reaktionen auf vorhergehende Angriffe.

Der Widerstand hat dieses Kräfteverhältnis verschoben; er hat gezeigt, dass sich die Jugendlichen wehren wollen und können und die Unterdrückung zu einer politischen Frage für die gesamte Gesellschaft machen können.

Dass die Jugendlichen in den Banlieues keine „soziale Utopie“, keine Forderungen, keine Ziele, keine Organisation hatten, dass es keine revolutionäre, proletarische Kraft gab, die sie führen konnte, erwies sich jedoch in den Kämpfen als eine grundlegende Schwäche, als eine Ursache dafür, dass „der Staat kaum ins Wanken geriet“.

Der Gedanke von der Lubbes wird nicht dadurch besser, dass ihn andere Autonome abschreiben und mit eigenen Fehlern „ergänzen“:

„Während der Revolten verzichteten sie auf Formen politischer Repräsentation, stellten keine ‚konstruktiven‘ Forderungen sondern artikulierten ihren Unmut über ihre Lebenssituation indem sie sich ein paar ‚Freudenfeuer‘ genehmigten. Die Botschaft war eindeutig: ‚Es geht uns beschissen, wir haben die Schnauze voll!‘ Die Kraft der Aufstände lag darin, den Schwindel repräsentativer Politikformen begriffen zu haben und sie nicht nachzuahmen. An kein mythisches Kräfteverhältnis appelliert, sondern auf der Straße ein reelles geschaffen zu haben, es selbst zu sein. In den Angriffen auf Polizeistationen, Schulen, Öffentlichen Nahverkehr und Privatautos gaben sie ihrer Wut Ausdruck. Zwar fehlte ihnen eine revolutionäre politische Perspektive, jedoch haben sie begriffen, dass sie sich auf niemand anders verlassen können, als auf ihre eigene Stärke und die ihrer Klasse. Und die Revolten in Frankreich und Griechenland waren nur die Vorboten kommender Aufstände. (…)

Während die jeweiligen Bündnisse meist klassische Forderungen nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, bessere Lernbedingungen und mehr Geld aufstellten, manifestierte sich auf den Straßen und in den bestreikten Schulen die Lust auf konkrete Akte der Verweigerung. In einigen Städten kam es zu Besetzungen öffentlicher Gebäude, Sachbeschädigungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Lektionen, die uns die französischen und griechischen Jugendlichen erteilt haben, sollten wir für den kommenden Schulstreik beherzigen: Nicht mehr so sehr auf seriöse politische Forderungen zu setzen und sich Medien und Politik als ‚konstruktiver‘ Gesprächspartner anzudienen, sondern auf den unvereinnehmbaren, subjektiven und wilden Widerstand. Denn ihr Interesse an unseren Schulstreiks und Forderungen ist geheuchelt. In ihrem System gibt es für uns und unsere Bedürfnisse keinen Platz. Alles was zählt ist unsere Wut.“ (51)

Dieser „Verzicht auf Formen politischer Repräsentation“, mit der auch ein Holloway gut leben könnte, soll nun auch in Berlin nachgeahmt werden. Eine „revolutionäre politische Perspektive“ fehlt zwar, doch was macht das schon, wenn man sich ein paar Freudenfeuer genehmigt und ansonsten begriffen hat, dass man sich nur auf die eigene Stärke, auf die „eigene Klasse“ verlassen kann.

Wer „die eigene Klasse“ der StudentInnen Griechenland sei, lässt das Flugblatt lieber im Dunkeln. Klar, denn sonst würde sich herausstellen, dass in Griechenland und auf der ganzen Welt die entscheidende soziale Kraft eben nicht „die Jugend“, sondern die Arbeiterklasse ist, dass es in Wirklichkeit ein politischer Betrug an ebendieser revoltierenden Jugend ist, sie in der Illusion zu lassen, dass nur „ihre Stärke und die ihrer Klasse“ die Gesellschaft aus den Angeln heben könnte. Die aufständische Jugend kann sich eben nicht „nur auf sich“ verlassen, sie muss sich mit der Arbeiterklasse verbünden und sich in den Befreiungskampf der Arbeiterklasse einreihen. Nur so kann sie ihre Interessen, ihre Forderungen gegen die herrschende Klasse durchsetzen.

Dazu müssen diese Forderungen auch formuliert werden – sowohl gegenüber den Herrschenden, denen sie abgerungen werden müssen, wie auch für die Teile der Gesellschaft, die den Kampf der Jugend, sei es in Griechenland, sei es in den Banlieues, sei es im Bildungsstreik unterstützen sollen. Warum sollen z.B. ArbeiterInnen den Bildungsstreik unterstützen, wenn die Forderungen nicht einmal klar benannt werden? Oder sollen die Proleten auf’s Geratewohl Aktionen ganz unabhängig von ihren eigenen unterstützen? Wer das ernsthaft von der Arbeiterklasse verlangt, zeigt vor allem, dass es in seinem politischen Denken, für die Arbeiterklasse keinen Platz gibt!

Überhaupt ist es natürlich Unsinn, das Aufstellen von Forderungen davon abhängig zu machen, was die Herrschenden zu einem bestimmten Zeitpunkt „ernst nehmen“. Das ist schließlich keine Frage einer über den Klassen stehenden „Vernunft“, sondern eine des Kräfteverhältnisses, der Stärke der Bewegung. Und auch diese wird in der Regel nur stark sein können, wenn sie klare Forderungen hat, um die herum sie die SchülerInnen und Studierenden mobilisieren kann.

Doch das ist den Autonomen zu unsicher. Das könnte ja „vereinnahmt“ werden oder in reformistisches Fahrwasser geraten, womöglich von „Formen politischer Repräsentanz“ (worunter alles – vom Streikrat über den Rätekongress bis zum bürgerlichen Parlament – fällt) geraten. Statt dessen setzt das Flugblatt auf den angeblich  „unvereinnehmbaren, subjektiven und wilden Widerstand“.

Hier kommt eine alte autonome und anarchistische Schrulle zum Vorschein, der wir im Artikel schon mehrmals, darunter auch bei Holloways „Negativität“ begegnet sind. Es geht darum, dass bestimmte Formen der Organisation, der Aktion, der Aktivität, des Kampfes gesucht werden, die aus sich heraus vom System nicht vereinnehmbar wären.

Im Anarchosyndikalismus waren das „die Gewerkschaft“ und der „ Generalstreik“, die eine freie Föderation von Kommunen herbeiführen sollten. Diese Instrumente galten als „an sich“ revolutionär und „unvereinnahmbar“. Dieselbe Qualität dichten nun die Autonomen der rebellierenden Jugend an.

Anders der Marxismus. Für ihn gibt es keine Kampfform, keine Organisation, keine Forderung, die „an sich“ revolutionär ist, die nicht missbraucht, pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt werden könnte. Im Gegenteil: dem Marxismus ist die Suche nach solchen „Prinzipien“ fremd, weil auch die beste Organisationsform, die beste Parole usw. sich immer im Klassenkampf, d.h. in einer konkreten politischen Auseinandersetzung bewähren muss, weil ihre „Unvereinnahmbarkeit“ nur durch den Kampf und die richtige Strategie und Taktik, durch eine revolutionäre Kampfführung behauptet werden kann.

Gerade, wenn wir unseren Blick auf die griechischen Aufstände werfen, zeigt sich, dass die ganze Sicht der Autonomen überhaupt nicht zu den von ihnen gewünschten Resultaten führt. Im Flugblatt wird die große Errungenschaft der griechischen Bewegung so dargestellt, als wäre das Wichtigste der Bruch mit der „Repräsentanzvorstellung“.

In Wirklichkeit war das Wichtigste an den Aufständen der Jugend, dass sie Massencharakter hatten, mit Massenstreiks von ArbeiterInnen, v.a. im Öffentlichen Dienst und im Transportsektor einhergingen und eine vorrevolutionäre Periode einläuteten.

Die Hauptfrage war also, wie die Arbeiterklasse zum Kampf um die Macht, für die sozialistische Revolution mobilisiert und gewonnen werden kann. Diese Frage taucht bei den Autonomen bezeichnenderweise erst gar nicht auf. Ihre Hauptsorge gilt der „Unabhängigkeit“ und „Unvereinnahmbarkeit“ der StudentInnen und SchülerInnen!!!

Die Sorge dieser „Revolutionäre“ geht nicht nur am Hauptproblem gänzlich vorbei, sie ist auch politisch falsch. Die StudentInnen, die Jugendlichen können letztlich keine unabhängige Rolle von einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft spielen, sie müssen vielmehr von einer dieser beiden Klassen, gewollt oder ungewollt, „vereinnahmt“ werden. Die Jugend, die „nur auf ihre Kraft“ vertraut, ist eine Fiktion, eine Fiktion, die letztlich nur der Bourgeoisie dient. Und diese Fiktion der „Unvereinnahmbarkeit“, der „Nichtrepräsentanz“ war leider nicht nur ein Problem eines Flugblattes Berliner Autonomer. Es war ein reales Problem der Dominanz des Anarchismus unter der griechischen Jugend, die zu einer Desorganisation des Kampfes führte und ein Hindernis war für die Gewinnung der Jugend für ein revolutionäre, proletarische Perspektive.

Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

Unter diesem Titel formulierte ein anderer Autor der autonomen, post-operaistischen Linken, K.H. Roth, seine Perspektiven (52). Im Folgenden werden wir uns näher mit seinen 2008 verfassten Thesen, die Mitte 2010 als umfangreicheres Buch erscheinen sollen, beschäftigten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens versucht Roth, eine Gesamtsicht und Analyse der Krise wie auch der durch sie eröffneten politischen Möglichkeiten zu geben. Roths Text ist trotz der zahlreichen Differenzen, die wir im folgenden ausführen werden, an etlichen Stellen interessant, anregend und fordert zur weiteren Diskussion heraus.

Hinzu kommt, dass sein Text in weiten Teilen der autonomen, operaistischen oder mit ihr verbundenen Linken diskutiert wird – also bei der Antifa, bei Wildcat oder in der Interventionistischen Linken.

Schließlich präsentiert K.H. Roth im Unterschied zu den bisher diskutierten Autoren ein Anti-Krisen-Programm, das er als „Übergangsprogramm“ zu einer anderen Gesellschaft verstanden wissen will.

Ursachen der Krise

In den ersten Abschnitten skizziert Roth den Verlauf der Krise und vergleicht sie mit bisherigen Krisen- und Entwicklungsperioden des Weltkapitalismus. Im Abschnitt „Wesentliche Eigenschaft der Krise“ stellt er korrekt fest, des es sich „erstens um eine Krise der weltweiten Überakkumulation des Kapitals in allen seinen Erscheinungsformen und Metamorphosen“ handelt. „Diese Überakkumulation geht zweitens mit einer massiven globalen Unterkonsumtion einher. (…)Dennoch wurde (…) drittens in den entwickelten Zentren des Weltsystems das Wechselspiel von Überkapazitäten und Unterkonsumtion zeitweilig durch die Finanzpolitik des billigen Gelds und der billigen Kredite kompensiert, aber dies vermochte den Ausbruch der Krise nur um ein paar Jahre hinauszuzögern.“ (53)

Während diese allgemeine Vorstellung in vielen Punkten korrekt ist, so wollen wir hier auch wesentliche Unterschiede zur Analyse Roths kurz darstellen.

1. Er konstatiert zwar in seinen einleitenden Bemerkungen richtig, dass eine weltweite Überakkumulation des Kapitals den eigentlichen Grund der Krise ausmacht, aber er konterkariert diese Darstellung im zweiten Abschnitt über die „vorhergegangenen Zyklen“ (und deren eigenwillige Einteilung):

„Ein weiterer entscheidender endogener Faktor war die Potenzierung der technologischen Herrschaft des Kapitals. Der »Kondratieff« des Zyklus 1973-2006 verhalf dem Kapital durch massive technische Innovationen zur Steigerung der Profitraten, indem er – bei fortschreitend sinkenden relativen Lohnraten – die organische Zusammensetzung des Kapitals in strategischen Bereichen verringerte: Umwälzung und Standardisierung der Transportketten durch den Container, Umwandlung der Kommunikationsstrukturen durch Informatik und Informationstechnologie, Mikrominiaturisierung und Roboterisierung der Produktionsanlagen und Umstellung der Maschinenparks auf numerisch gesteuerte Aggregate. Bis jetzt liegen keine gesicherten Daten über die im vergangenen Zyklus erreichte Steigerung der Ausbeutungsraten durch die weitere Verdichtung der Arbeitsprozesse, die Einführung der neuen technologischen Instrumente der reellen Subsumtion, die Indienstnahme und Verwertung der subjektiven Kreativität der Ausgebeuteten sowie die arbeitsorganisatorische Totalisierung betrieblicher Herrschaft (»total productive management« usw,) vor. Wir können aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich die dem Umverteilungsprozess entzogene Produktivkraft des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters im vergangenen Zyklus mit jährlichen Steigerungsraten zwischen 2,5 und 3,0 Prozent mindestens verdoppelt hat.“ (54)

Hier geht Roth also davon aus, dass es zu einer Verringerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und damit einhergehend zu einer Steigerung der Profitraten im Zyklus 1973 – 2006 gekommen wäre, den er auch als „Kondratieff“-Zyklus charakterisiert. Wir haben diese falsche, anti-marxistische Theorie in einer früheren Ausgabe des RM ausführlich kritisiert.

Auffällig ist nicht nur der Eklektizismus von Roth, sondern auch die Tatsache, dass er ohne empirische Belege, die Verringerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals einfach annimmt. Er selbst gibt das zu, wenn er darauf verweist, dass es keine gesicherten Daten auf diesem Gebiet gäbe.

Mitnichten! Wir haben in einer Reihe von Artikeln (55) nachgewiesen, dass es sehr wohl eine Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals in dieser Periode gab – trotz „neuer Technologien“ und erhöhter Ausbeutungsraten. Und nicht nur wir, auch Robert Brenner hat z.B. in seinem Buch „Boom and Bubble“ (56) die These von Roth eindrucksvoll widerlegt.

2. Roth stellt fest, dass mit der Globalisierung eine Expansion des Weltmarktes und auch die Schaffung globaler Produktionsketten einherging.

„Der Aufbau globaler Netzwerkunternehmen, deren Wertschöpfungsketten von zumeist in den Metropolen gelegenen Entwicklungs-, Design- und Marketingzentren gesteuert werden, war möglich geworden: Die segmentierten Arbeitsprozesse konnten über die Weltregionen mit den niedrigsten Ausbeutungsraten verteilt und miteinander verknüpft werden.“ (57)

So weit so gut. Roth macht jedoch den Fehler, dass er daraus zu sehr auf eine Vereinheitlichung der Arbeiterklasse in den imperialistischen Zentren und in der Peripherie schließt, was auch damit zu tun hat, dass er keinen klaren Imperialismus- und Monopolbegriff kennt.

3. Roth legt zwar zurecht große Aufmerksamkeit auf den Aufstieg Chinas als kapitalistische Macht und das Verhältnis China-USA. Er erwähnt aber überhaupt nicht die Formierung eines imperialistischen EU-Blocks unter deutsch-französischer Führung. So kommt die Einführung des Euro als wichtige Weltwährung, die sich anschickt, dem Dollar Konkurrenz zu machen, gar nicht vor, wie überhaupt die Verschärfung der innerimperialistischen Konkurrenz bei ihm keine große Bedeutung hat.

Hier liegt ein – für operaistische Traditionen – nicht untpyischer, aber grundlegender Fehler vor: nämlich nicht das aktuelle Entwicklungsstadium des imperialistischen Weltsystems, also eine politische und ökonomische Totalität zum Ausgangspunkt zu machen, sondern sich auf eine iw. ökonomische Krisenanalyse zu beschränken.

Soweit die Hauptpunkte unserer Kritik an seiner Analyse der Krise. Roth selbst beschließt folgendermaßen:

„Die große Krise wurde erst durch das seit 1938 in Europa beginnende und ab 1940 auch die USA erfassende internationale Wettrüsten und die Rüstungswirtschaften des zweiten Weltkriegs überwunden. Dieser katastrophale Ausgang der Krise war keineswegs ‚gesetzmäßig‘ vorgezeichnet. Deshalb sollte er uns in der Auseinandersetzung mit der sich jetzt ausbreitenden Weltkrise klar machen, dass unsere Aufgabe darin besteht, Wege zur Krisenüberwindung vorzuschlagen und mit durchzusetzen, die den Weg in einen neuen Weltwirtschaftskrieg verbauen und zugleich als Hebel zur sozialistischen Transformation des Weltsystems genutzt werden können.“ (58)

In dieser Intention liegt zweifellos eine Stärke von Roths Text, verglichen mit Negri und erst recht mit der politischen Bettelsuppe eines Holloway oder der „radikalen“ Autonomen, deren Programm vor allem darin besteht, nichts zu fordern.

Roth will hier bewusst einen anderen Weg gehen und sowohl das Subjekt einer „sozialistischen Transformation“ ausmachen wie auch – und das unterscheidet ihn positiv von den anderen autonomen/post-operaistischen Autoren – ein Programm entwickeln.

Globale Proletarisierung

Folgerichtig ist der nächste große Abschnitt seines Textes der „globalen Proletarisierung“ gewidmet. „Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sollten wir uns darüber verständigen, wer in der Lage sein könnte, einen Weg der Krisenüberwindung durchzusetzen, der nicht erneut in die kapitalistische Barbarei führt, sondern eine sozialistische Transformationsperspektive freimacht. Dies können nur diejenigen Klassern und Schichten sein, die der kapitalistischen Akkumulations- und Regulationsmaschinerie ihr Arbeitsvermögen feilhalten oder entäußern müssen, um leben zu können: Die Eigentumslosen der Welt, aus denen das sich ständig wandelnde Multiversum der Weltarbeiterklasse hervorgeht.“ (59)

Wer aber ist dieses Multiversum?

„Die Weltarbeiterklasse wird nicht durch die doppelt freie Lohnarbeit dominiert, sondern stellt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein vielschichtiges Multiversum dar, innerhalb dessen die großindustrielle Lohnarbeit eine wichtige und zeitweilig auch politisch hegemoniale Rolle spielte, aber nie die Aussicht hatte, die übrigen Segmente des Proletariats zu absorbieren und / oder in eine reine industrielle Reservearmee verwandelt zu sehen. Die globale Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter konstituiert sich bis heute in einem Fünfeck von Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit, kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft, von selbständiger Arbeit (Kleinbauern, Kleinhandwerker und Kleinhändler, scheinselbständige Wissensarbeiter), industrieller Lohnarbeit und unfreien Arbeitsverhältnissen aller Schattierungen (Sklaverei, Schuldknechtschaft, Kuli- bzw. Kontraktarbeit, militarisierte und internierte Zwangsarbeit bis hin zu den ihrer Freizügigkeit beraubten Arbeitsarmen der Metropolen, etwa den Hartz IV-Empfängern).“ (60)

Kurz, das „Multiversum der Weltarbeiterklasse“ umfasst verschiedene Klassen!

Es geht hier keinesfalls darum, die Bedeutung nicht-proletarischer Klassen wie z.B. der subsistenzbäuerlichen Familien, deren Größe Roth auf 2,8 Milliarden Menschen (davon allein 700 Millionen in China) veranschlagt, oder der städtischen Armut (lt. Roth ca. eine Milliarde) gering zu schätzen. Nur ein Narr könnte sagen, dass die Arbeiterklasse den Nöten der Mehrheit der Menschheit nicht größte Aufmerksamkeit zu widmen hätte, zumal gerade die Subsistenzbauern und die städtische Armut von der Krise besonders hart getroffen werden.

Aber Roths grundlegender Fehler und Bruch mit dem Marxismus besteht darin, dass er die unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bauernschaft im „Multiversum“ verwischt. Roth konstatiert richtig die Entwicklung von Widerstand und Kampfbereitschaft:

„Nicht erst seit dem Übergang zur Krise beobachten wir eine deutliche Zunahme von Kämpfen und Revolten, in denen die Akteurinnen und Akteure solidarisch für einander eintreten, egalitäre Verhaltensweisen entwickeln und sich zunehmend weigern, die sozialen Kosten der Krise auf sich zu nehmen.“ (61)

Und weiter unten:

„In allen diesen Eruptionen schärft sich ein wachsendes Krisenbewusstsein, das sich mit der Parole ‚Wir bezahlen Eure Krise nicht‘ zu homogenisieren beginnt. (…)

Alles in allem ist aufgrund der Krise ein weiterer globaler Proletarisierungsschub zu erwarten, der von der heraufziehenden neuen Welle der Massenerwerbslosigkeit in den bisherigen Krisenzentren USA, Europa und Ostasien ausgeht. Erneut werden Millionen von Menschen sozial abstürzen. Wie werden sie reagieren? Die proletarischen Familien, die sie umgebenden sozialen Gruppen und die vielschichtigen Segmente des proletarischen Multiversums haben unterschiedliche Optionen, sobald sie nichts mehr zu verlieren haben: Sie können revoltieren, um sich ihr Existenzrecht zu sichern und eine egalitäre Gesellschaft zu erkämpfen; sie können aber auch den Prozess der individuellen, familiären und sozialen Selbstzerstörung beschreiten, indem sie etwa die patriarchale Gewalttätigkeit restaurieren oder ethnische Konflikte aufladen, um ihr Überleben auf Kosten anderer proletarischer Gruppen zu sichern.“ (62)

Schon hier deutet sich an, was wir auch bei der Betrachtung seines Forderungsprogramms sehen werden. Roth stellt sich gar nicht die Frage, was eigentlich das Klassenprogramm des Proletariats gegen die Krise ist, wie es die Bewegung vereinheitlichen kann, wie es die Bauern und Armen um sich scharen kann.

Roth bleibt vielmehr auf der Ebene, die Forderungen des „Multiversums“ zu sammeln und darzustellen. Daher kann er keine Perspektive und kein strategisches Kampfziel bestimmen, sondern einfach nur verschiedene – progressive wie regressive – „Optionen“ anbieten.

Für KommunistInnen ist die Frage, welche „Option“ der Entwicklung der Unterdrückten – Widerstand/Revoltieren/Revolution oder Regression – sich durchsetzt, abhängig davon, welche politischen Programme und Strategien sich unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten durchsetzen, ob es gelingt, die Führungskrise des Proletariats zu lösen und eine revolutionäre Klassenführung zu schaffen.

Bei Roth hängt das hingegen von Prozessen ab, die außerhalb des bewussten Eingreifens von RevolutionärInnen liegen, und davon, ob sich die Tendenzen zur „Vereinheitlichung des Multiversums“ und dessen Homogenisierung durchsetzen oder nicht.

Doch das ist – vom Standpunkt des Marxismus – keineswegs die entscheidende Frage. Die globale Krise kennt sowohl vereinheitlichende wie auch spaltende und zersetzende Tendenzen für die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse. Entscheidend ist nicht, ob die Krise mehr in diese oder jene Richtung drängt (klar ist aber, dass sie die zersetzenden Tendenzen in der Arbeiterklasse z.B. durch Anstieg der Massenarbeitslosigkeit verschärft), sondern ob es einer revolutionären Avantgardepartei gelingt, die Klasse im Widerstand gegen die Angriffe zu vereinen und zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Das ist auch der eigentliche Sinn eines Übergangsprogramms, wie es von der frühen Kommunistischen Internationale oder von Trotzki entwickelt wurde:

„Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. (…)

Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. Die Lösung dieser strategischen Aufgabe ist jedoch undenkbar ohne die sorgfältigste Aufmerksamkeit gegenüber allen Fragen der Taktik, selbst den geringfügigen und partiellen.

Alle Teile des Proletariats, alle seine Schichten, Berufe und Gruppen müssen in die revolutionäre Bewegung hineingezogen werden. Was die Besonderheit der gegenwärtigen Epoche ausmacht, ist nicht, daß sie die revolutionäre Partei von der prosaischen Arbeit des Alltags befreit, sondern daß sie erlaubt, diesen alltäglichen Kampf in unauflösbarer Verbindung mit den Aufgaben der Revolution zu führen.“ (63)

Für Trotzki ist also das Übergangsprogramm ein Programm zur proletarischen Machtergreifung, das zu seiner Umsetzung eine bewusste, zur Partei und Internationale geformte Avantgarde der Klasse braucht.

Für Roth ist das anders. Das Programm ist bei ihm kein Mittel, kein Weg zur Machtergreifung, sondern eine „Vision“.

„Aus allen diesen Gründen benötigt die emanzipatorische Perspektive eine analytisch ausgewiesene Vision der Gesellschaftstransformation, die mit unmittelbar greifenden Aktionsprogrammen verknüpft ist. Damit die Krise weder in eine Reformperspektive zur »Erneuerung des Kapitalismus“ noch in die drei möglichen Varianten der Barbarei führt – innere Selbstzerstörung, Bürgerkrieg und kapitalistischer Weltwirtschaftskrieg als Vorstufe neuer Großkriege -, sollte die Perspektive der proletarischen Selbstemanzipation auf zwei Handlungsebenen verteilt werden, damit diese ineinander greifend wirksam werden: Erstens in einen Handlungsrahmen zur radikalen Zuspitzung der anlaufenden antizyklischen Reformprogramme, und zweitens davon ausgehend in eine Programmatik zur Initiierung eines Projekts der revolutionären Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsformation.“ (64)

Das zeigt sich auch noch einmal im Inhalt seines Programms. Roth fordert die Zuspitzung der Parole „Die Kapitalvermögensbesitzer sollen für die Krise bezahlen“. Das ist für sich genommen richtig, es ist aber typisch für Roth und die Autonomen, wie er die „Zuspitzung“ formuliert:

„Diese massive Umverteilung des Reichtums von oben nach unten strebt keineswegs eine systemimmanente Stabilisierung des Krisenzyklus an, aber sie macht sich das Bestreben der keynesianischen Reformökonomen zunutze, die Schere zwischen Überakkumulation und Unterkonsumtion durch die Steigerung der Masseneinkommen zu schließen und dadurch den Krisenzyklus zu überwinden. Denn zwischen den Lebens- und Konsumtionsbedürfnissen der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter und der volkswirtschaftlichen Größe der „Massenkaufkraft“ besteht ein unüberwindlicher qualitativer Unterschied, der den Eigentumslosen im Prozess ihrer Homogenisierung die Chance eröffnet, die antizyklische Krisenpolitik der jetzt an die wirtschaftspolitischen Schalthebel gelangenden Machtgruppen über sich hinauszutreiben. Dafür sind weltweit koordinierte Massenaktionen, aber auch eine weltweit vernetzte Informationskampagne erforderlich, die jegliche institutionelle Anbindung an die Projekte und Parteien einer systemimmanent bleibenden antizyklischen Politik der Krisenüberwindung vermeidet.“ (65)

Auffällig und typisch ist der allgemeine, vage Charakter der Formulierungen. Den ArbeiterInnen biete sich die Chance, „die antizyklische Krisenpolitik der jetzt an die wirtschaftspolitischen Schalthebel gelangenden Machtgruppen über sich hinauszutreiben“. Doch wie? Mit welchen Forderungen? Wie sollen sie das sicherstellen? Hier bleibt Roth vage. Er spricht von „koordinierten Massenaktionen“ oder von der Vermeidung „institutioneller Anbindung“. Er gibt nur allgemeine Ratschläge, kein Programm, auf dessen Grundlage die ArbeiterInnen handeln könnten. So fehlen hier grundlegende Übergangsforderungen wie jene nach Offenlegung der Finanzströme, Kontrolle von Produktion und Verteilung durch die Arbeiterorganisationen usw. usf.

Seine zweite „Radikalisierung“ lässt jedoch noch viel mehr zu Wünschen übrig. Sie lautet: „Neue Weltwährung und Wiedereinführung fester Wechselkurse“. Während er sich oben noch gegen das „Herumdockern“ am System verwahrt hat, schlägt er jetzt selbst eine neue Weltwährung vor, ein reformistisches Megaprojekt!

Solche Forderungen zeigen, wie wenig Roths Programm mit einem revolutionären Übergangsprogramm zu tun hat, welches das Proletariat zum Kampf um die Macht vorbereiten und führen soll. Statt dessen kommt ein komplett utopischer Vorschlag, nämlich die Durchsetzung einer „neuen Weltwährung“ – in einer Periode, da gerade die ökonomischen Grundlagen für die das bestehen einer unumstrittenen Weltwährung mit den Niedergang der US-Hegemonie und verschärfter innerimperialistischer Rivalität verschwinden.

Roth fährt fort mit seinem dritten großen Block zur „Zuspitzung“ des Anti-Krisenprogramms: „Demokratisierung der wirtschaftlichen Restrukturierungsprogramme“. Dadurch sollen „basisdemokratisch gewählte Repräsentationen der Arbeiterinnen und Arbeiter in die anlaufenden Redimensionierungs- und Restrukturierungsprozesse der großen Wirtschaftszweige eingeschaltet werden“ und „Lernprozesse in Gang kommen, die von Anfang an global vernetzt sind und als Vorbereitung auf die kollektive Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Lebens- und Reproduktionsprozesse“. (66)

Auch hier kommt der reformistische Grundton dieser „Zuspitzung“ klar zum Ausdruck. Es wird gleich gar kein Anti-Krisenprogramm der Arbeiterklasse formuliert. Forderungen wie die nach Verstaatlichung der Banken und Konzerne, die selbst in einem reformistischen Programm vorkommen können, fehlen gänzlich, ebenso wie alle Forderungen nach Programmen gesellschaftlich nützlicher Arbeiten. Auch die Losung der Arbeiterkontrolle fehlt oder ist „bestenfalls“ unklar formuliert, kann doch das „Einschalten“ von RepräsentantInnen der ArbeiterInnen alles Mögliche bedeuten von der Mitbestimmung bis zu Kontrolle.

Doch wer sich vom „Sofortprogramm“ Roths enttäuscht sieht, der wird mit seinem „Transformationsteil“ auch nicht glücklich werden.

„Durch die Forcierung und Zuspitzung der antizyklischen Reformprogramme soll der Weg für einen revolutionären Transformationsprozess freigemacht werden: Sie ermöglicht kollektive Lernprozesse, die das Massenbedürfnis nach einem Umbruch in Richtung Selbstemanzipation und gesellschaftlicher Autonomie hervorbringen. Denn der Übergang zum Sozialismus hat nur dann eine Chance, wenn er weltweit zu einem dominierenden Massenbedürfnis herangewachsen ist. Dieser Prozess benötigt Zeit – sicher mehrere Jahre. Aber auch der Transformationsprozess selbst wird sich über Jahrzehnte hinziehen, bevor der point of no return erreicht ist, an dem die Selbstverwaltung der unmittelbaren Produzenten über die von ihnen angeeigneten Produktions- und Reproduktionsgrundlagen egalitäre und basisdemokratische Strukturen erzeugt hat, die eine Restauration von Klassenherrschaft unmöglich machen.“ (67)

Was hier als „revolutionärer Transformationsprozess“ ausgegeben wird, ist ein Etikettenschwindel. Es ist eine Perspektive der längerfristigen Reform. Das wird noch deutlicher, wenn man Roths drei „Vorbedingungen“ der Transformation betrachtet:

1. „Umstellung der Gewerkschaften auf das Vertrauensleutekörpermodell, Entbürokratisierung und Abbau der Co-Manager-Gehälter ihrer Leitungsgremien; basisdemokratische Umgestaltung der Kommunalparlamente und -verwaltungen als erste Schritte einer allgemeinen und von unten nach oben fortschreitenden Entstaatlichung.“

2. „die Steuereinkommen schwerpunktmäßig auf die kommunalen Strukturen umzuleiten (Modell Schweiz, wo 60 Prozent der Gesamtsteuern in die Kommunen gehen)“

3. „radikale Senkung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Anhebung und Homogenisierung der Arbeitseinkommen“ (68)

So, legt Roth allen Ernstes dar, käme es zu einer „Entstaatlichung“!

„Auf diesen elementaren Grundlagen der aufeinander aufbauenden kommunalen und regionalen Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Lebensprozesse werden schließlich Strukturen der gesellschaftlichen Autonomie entstehen, die nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Manager-Eliten verabschieden, sondern auch das Aufkommen einer neuen Experten- und Bürokratenkaste verhindern. Parallel dazu werden sich die kommunalen Sozialisierungsprozesse auf regionaler, subkontinentaler und kontinentaler Ebene miteinander verbinden.“ (69)

Und weiter: „Die transnationalen Gewerkschaften sollten sich beim Übergang zu Selbstverwaltungsföderationen auf alle diejenigen Wirtschaftsbranchen konzentrieren, die weltweit operieren und über die regionalen Produktions- und Reproduktionssysteme hinausreichen, die regionalen Rätedemokratien beliefern und die Gegenmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Schlüsselsektoren des Weltsystems etablieren.“ (70)

Das gipfelt schließlich in der „Gründung einer Weltföderation der Autonomien“ nach einem langwierigen „Transformationsprozess“, ohne dass das Proletariat die politische Macht ergreifen oder den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen müsste!

Der bürgerliche Staat kommt nämlich in den Ausführungen von Roth erst gar nicht vor. Wozu auch? Schließlich müssen die Kapitalisten ja nicht enteignet und mit Gewalt von ihren Positionen vertrieben werden. Bei Roth werden sie einfach irgendwann „verabschiedet“, während Gewerkschaften und Selbstverwaltungsföderationen (assoziierte Kommunen) anfangen, ganze Wirtschaftsbranchen neu zu regeln.

Der autonome Tiger endet hier als reformistischer Bettvorleger. Um das zu unterstreichen, legt Roth auch noch seine Vorstellung einer revolutionären Organisation, der „globalen Assoziation für Autonomie“ vor:

„Nach langem Zögern habe ich mich dazu durchgerungen, eine organisatorische Vorwegnahme dieses Konzepts durch eine weltweit vernetzte Assoziation vorzuschlagen, die auf allen drei Ebenen gleichzeitig aktiv wird. Es soll sich dabei nicht um eine Kaderorganisation mit Avantgardeanspruch handeln, sondern um einen freien und basisdemokratisch verfassten Zusammenschluss von Menschen, die das hier vorgelegte Konzept kritisiert, korrigiert, überarbeitet, erweitert und sich sodann zu eigen gemacht haben, um seine Nützlichkeit im Dialog mit dem proletarischen Multiversum zu testen. Die sich dabei ergebenden Erfahrungs- und Lernprozesse werden zu einer fortlaufenden Korrektur des Modells führen. Sobald das proletarische Multiversum den Übergang zur globalen Autonomie unumkehrbar zu machen beginnt, wird sich diese Assoziation wieder auflösen.“ (71)

In Roths Programm wie in seiner Organisationsvorstellung tritt der Unterschied zum Marxismus deutlich hervor:

a) Revolutionäre Möglichkeiten ergeben sich nicht am Reißbrett, wie bei Roth, nach einem langen „Transformationsprozess“. Sie ergeben sich durch die krisenhafte Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus. Sie müssen daher in diesen Perioden oder Situationen ergriffen und gelöst werden. Wird das versäumt, gibt es keinen „langen Transformationsprozess“, sondern einen Sieg der bürgerlichen Konterrevolution.

b) Die revolutionäre Umwälzung ergibt sich nicht als Abschluss langwieriger, schrittweiser Transformationsprozesse, sondern beginnt mit der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt im Interesse der Ausgebeuteten reorganisiert werden kann.

c) Die Aufgabe der revolutionären Partei erschöpft sich nicht im Dialog und Zusammenschluss, wie jene der „Assoziation“, sondern besteht darin, die Klasse zur Revolution zu führen. Anders als Roths „Assoziation“ löst sich diese nicht auf, nachdem ein „Übergang zur globalen Autonomie“ unumkehrbar geworden sei (obwohl die politisch-militärischen Apparate der Bourgeoisie weiter bestehen!!). Die Notwendigkeit der revolutionären Partei hört erst dann auf, wenn die Periode des Übergangs zum Sozialismus, der Herrschaft der Arbeiterklasse beendet ist, also mit dem endgültigen Sieg der proletarischen Weltrevolution.

IV. Leninismus und Autonomismus

Wenn wir die autonomen Autoren zur Krise betrachten, so zeigt sich, dass ihre Analysen, Perspektiven, Vorschläge weder besonders originell, noch wegweisend sind. Programmatisch haben sie entweder nichts (Holloway), einige Zauberformeln (Negri) oder eine maues reformistisches Programm zu bieten (Roth).

Dennoch sind die Autonomen in den letzten Jahren eher stärker denn schwächer geworden. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht bei den Autonomen selbst, sondern vielmehr in der Krise und Verrottetheit des Reformismus – sei es der einer sozialdemokratischen oder einer ehemals „kommunistischen“ Partei oder jener der Gewerkschaftsbürokratie.

Es gibt er auch eine zweite, mit der aktuellen Krisenperiode eng verbundene Ursache – die soziale Deklassierung und Perspektivlosigkeit, die der Kapitalismus v.a. der Jugend bietet. Das verleiht dem „unintegrierbaren“ Gestus und der zur Schau getragenen Militanz der Autonomen nicht nur Attraktivität, sondern z.T. auch Plausibilität.

Doch die Alternative ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit ist der autonome Weg nicht minder ein Weg in Sackgasse und Niederlage wie jener des Reformismus – und zwar v.a. in Situationen, in denen sich der Klassenkampf verschärft und revolutionär zuspitzt.

Die Tatsache, dass autonome Kräfte teilweise eine wichtige Rolle bei Mobilisierungen spielen und eine Zusammenarbeit mit ihnen notwendig ist, ändert nichts daran, dass RevolutionärInnen den Autonomismus einer schonungslosen Kritik unterziehen müssen. Nur so ist es möglich, die besten und kämpferischsten Jugendlichen und ArbeiterInnen, die in ihm eine Alternative zum Reformismus erblicken, für ein wirklich revolutionäres Programm zu gewinnen.

Wie wir gesehen haben, stützt sich die heutige autonome Bewegung v.a. auf dem Kleinbürgertum ähnliche Schichten, v.a. auf Studierende. Aber auch politisch hat ihre ganze Doktrin über alle Schattierungen hindurch einen kleinbürgerlichen Charakter, sie ist eine Spielart des kleinbürgerlichen Radikalismus.

Das zeigt sich an der Weigerung vieler Gruppierungen, systematisch in der Arbeiterbewegung zu arbeiten, und darin, allgemein Forderungen, Strukturen und Organisation abzulehnen. Politik verkommt dabei zu einem im Grunde moralischen Gestus, zu „revolutionärer Gesinnung“. Zugleich wird der schwankende Charakter der Autonomen, der ihnen wie jeder kleinbürgerlichen Politik eigen ist, aber auch dort deutlich, wo sie sich an Taktik, Forderungen und „Programme“ heranwagen. Dann endet der revolutionäre Anspruch nur allzu leicht im ungewollten Wiederkäuen reformistischer Konzepte.

Zwischen Marxismus und Autonomismus gibt es daher keinen bloß graduellen Unterschied, sondern einen grundlegenden Gegensatz – wie eben zwischen proletarischer und kleinbürgerlicher Politik allgemein.

a) Verständnis des Kapitalismus und seiner Gesetzmäßigkeiten

Für MarxistInnen ist der Kapitalismus eine Gesellschaftsformation, die vom Klassengegensatz von Kapital und Arbeit geprägt ist. Es sind die inneren Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise, die  Krisen hervorbringen, den Klassenkampf verschärfen und schließlich zum Sturz dieser Gesellschaftsformation durch die proletarische Revolution treiben.

Für die Autonomen und Operaisten hingegen ist es genau umgekehrt, es ist die unterdrückte Klasse/Schicht/Gruppe, die – unabhängig von Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation und der politischen und wirtschaftlichen Lage – durch ihre eigene Aktion die Verhältnisse zuspitzt.

b) Klassenbegriff und Subjektbegriff

Der Klassenbegriff der Autonomen/Operaisten ist daher erstens immer nicht-dialektisch. Die Arbeiterklasse wird nicht wie beim Marxismus im Verhältnis zu anderen Klassen, nicht hinsichtlich ihrer Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess bestimmt, sondern als soziologische Entität. Es variiert nur der Name der Entität – Massenarbeiter, gesellschaftlicher Arbeiter, Volk (bei den Anti-Imps der 80er), Multitude, Multiversum …

Zweitens ist der autonome Klassenbegriff subjektivistisch. Revolutionäres Subjekt ist, wer revolutionär handelt und zwar möglichst „unvereinnahmbar“. Daher können – je nach autonomer Schule – auch nicht-proletarische Klassen oder Schichten ebenso revolutionär sein wie das Proletariat.

Für den Marxismus hingegen ergibt sich der revolutionäre Charakter der Arbeiterklasse aus ihrer Stellung im Produktionsprozess. Zugleich erkennt der Marxismus, dass die Stellung der Arbeiterklasse als Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen auch eine systematische Verkehrung des Bewusstseins hervorbringt. Das spontane Arbeiterbewusstsein ist ein bürgerliches und dieser Fetisch kann nur durch die Vereinigung von wissenschaftlichem Sozialismus mit der Avantgarde der Klasse durchbrochen werden. Damit die Klasse von einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ werden kann, bedarf es der Formierung einer revolutionären Partei.

c) Revolutionsverständnis

Für die Autonomen kann die Revolution jederzeit (oder nie) passieren, sie ist letztlich ein bloßer Willensakt des autonom konstituierten revolutionären Subjekts. Das revolutionäre Subjekt ist daher letztlich nichts als eine Ansammlung autonomer, bürgerlicher Individuen, die sich eben entschließen, die Revolution zu machen. Es gibt daher auch keine bestimmte Revolutionsvorstellung, keine Notwendigkeit einer Übergangsperiode und natürlich auch nicht einer revolutionären Avantgarde und Partei.

Für den Marxismus hingegen setzt die Revolution eine gesellschaftliche Krise voraus, die – in Lenins Worten – impliziert, dass sowohl die herrschende Klasse nicht mehr wie bisher herrschen kann, als auch die unterdrückte Klasse nicht mehr bereit ist, so zu leben wie bisher. Die Revolution ist also an objektive, vom bloßen Willen der Unterdrückten unabhängige Bedingungen gebunden.

Zugleich jedoch geht der Marxismus davon aus, dass das Klassenbewusstsein in der proletarischen Revolution im Unterschied zur bürgerlichen Revolution eine qualitativ größere Rolle spielt, weil die Arbeiterklasse im Kapitalismus eben nicht schon Strukturen einer sozialistischen, der kapitalistischen Produktionsweise überlegenen, Ökonomie entwickeln kann. Nur, wenn die Arbeiterklasse die politische Macht ergreift und in ihren Händen die Produktionsmittel hat, kann sie diese Umwälzung bewusst durchführen.

Um aber eine solche bewusste Umwälzung der Gesellschaft herbeiführen zu können, müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zu einer Kampfpartei formieren. Nur unter ihrer Führung können, die weniger bewussten Teile der Arbeiterklasse und andere, nicht-ausbeutende Klassen zu einer siegreichen Revolution geführt werden.

Für den Autonomismus spielt all das keine Rolle. Bei Roth wird man allmählich eine „Assoziation“ schaffen, bei Holloway „Risse“ und bei Negri hat die neue Produktionsweise, die der Menge, eigentlich schon gesiegt …

Bei den subjektivistischen Autonomen spielt das revolutionäre Bewusstsein, die Entwicklung der Arbeiterklasse zum bewussten revolutionären Subjekt eine viel geringere, bloß zufällige und eigentlich vernachlässigbare Rolle. Für den Marxismus hingegen ist das revolutionäre Bewusstsein, die bewusste Klassenführung eine unterlässliche, eine notwendige Bedingung der sozialistischen Revolution und des Übergangs zum Sozialismus.

d) Sozialismus als „Option“ oder als Notwendigkeit?

Für die Autonomen ist der Sozialismus eine „Option“, eine bloße Möglichkeit. Sie bewegen sich damit auf demselben Terrain wie ein großer Teil der bürgerlichen Sozialwissenschaft, die durchaus zugesteht, dass die Menschheit auch eine sozialistische Richtung „wählen“ könnte, ebenso gut aber bis in alle Ewigkeit für Kapitalismus, soziale Marktwirtschaft und bürgerliche Demokratie votieren könne.

Für den Marxismus ist der Sozialismus hingegen eine Notwendigkeit, auf dessen Errichtung die inneren Widersprüche des Kapitalismus selbst drängen. Darauf baut die kommunistische Bewegung letztlich ihr revolutionäres Programm, ein Programm, das eigentlich nur einen Weg weist, wie die Menschheit die von ihr geschaffenen produktiven Möglichkeiten realisieren kann, die der Kapitalismus längst nicht mehr weiterentwickelt und zunehmend unterminiert.

Weil die Autonomen kein Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und der Mittel zu ihrer Lösung haben, sind ihre Sozialismusvorstellungen, ihre „Programme“ usw. auch immer wirr und beliebig. Daher auch das Schwanken der autonomen Bewegung von euphorischer Revolutionsstimmung zur tiefen Depression, ja nach politischer Konjunktur.

Der revolutionäre Kommunismus hingegen schöpft seinen geschichtlichen Optimismus nicht aus kurzfristigen Stimmungen oder aus dem unvermeidlichen Auf und Ab von Bewegungen. Sein Optimismus fußt auf der Gewissheit, dass sein Programm nichts mit willkürlicher Weltverbesserung zu tun hat, sondern nur dem zum bewussten Durchbruch verhilft, wohin die gesellschaftliche Entwicklung selbst strebt: zum Kommunismus.

 

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Geronimo, Glut und Asche, Reflexionen zur Politik der Autonomen Bewegung, Münster 1997, S. 147

(2) Zur konterrevolutionären Rolle des Stalinismus bei der Herstellung der Nachkriegsordnung vergleiche auch die Analyse von Workers Power, unserer britischen Schwesterorganisation, aus den 1980er Jahren. Workers Power, Die Expansion des Stalinismus nach 1945, in: Aufstieg und Fall der Stalinismus, Broschüre der Gruppe Arbeitermacht, Berlin, Oktober 2009, Seite 13-24.

Zur Politik des Stalinismus in Italien: Fernando Claudin, Die Krise der Kommunistischen Bewegung, Bd 2. (Von der Komintern zur Kominform), S. 47 – 75, Berlin 1978

(3) Panzieri, Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus, QR, Nr. 1, 1961

(4) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 350

(5) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 351

(6) Panzieri, Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus, QR, 1, 1961

(7) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 557

(8) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 559

(9) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW, 23, S. 559

(10) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 469

(11) Marx, Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 468

(12) Mario Tronti, Fabrik und Gesellschaft, in: Quaderni Rossi , Nr. 2, 1962   (dtsch. in Mario Tronti, Arbeiter und Kapital, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1974, S. 17-40

(13) Mario Tronti, Lenin in England, in: Classe Operaia , Nr. 1, 1964   (dtsch. in: Primo Moroni/Nanni Balestrini: Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien, Berlin: Assoziation A, 2002, S. 86-93

(14) Roberto Battaggia, Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter – einige Bemerkungen

(15) Ebenda

(16) Alquati, Documenti sulla lotta die classe alle FIAT, zitiert nach Birkner/Flotin, (Post-)Operaismus, Juni 2006, S. 18/19

(17) Steve Wright, Den Himmel stürmen, Eine Theoriegeschichte des Operaismus, 2005, S. 173

(18) Geronimo, Feuer und Flamme, Zur Geschichte der Autonomen

(19) Agnoli, Langer Marsch, Februar 76

(20) Zu einer ausführlichen Darstellung von „Peoples Global Action“ und unserer Kritik siehe: LRKI (Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, Vorläufer der Liga für die Fünfte Internationale), Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg. Ursprünge und Perspektiven einer Bewegung, Berlin, 2001, S. 34-39

(21) An dieser Stelle wollen wir uns eine grundlegende Kritik dieser Konzeption sparen, da wir diese schon in einem früheren Artikel dargelegt haben. Siehe dazu: Rodney Edvinsson/Keith Harvey, Empire: Jenseits des Imperialismus?, in Revolutionärer Marxismus 33, S. 5-56

(22) Hardt/Negri, Empire, Frankfurt/Main 2002, S. 12/13

(23) Ebenda, S. 41

(24) Ebenda, S. 373

(25) Ebenda, S. 374

(26) Ebenda, S. 368/369

(27) Ebenda, S. 415

(28) Ebenda, S. 417

(29) Ebenda, S. 403-7

(30) Ebenda, S. 409

(31) Ebenda, S. 410

(32) Ebenda, S. 413

(33) Ebenda, S. 413

(34) Ebenda, S. 392

(35) Negri, Interview im Neuen Deutschland, 12.12.09

(36) Ebenda

(37) Ebenda

(38) Ebenda

(39) Ebenda

(40) Holloway, Schritt in die falsche Richtung oder Mephisto statt Franz von Assisi, veröffentlicht auf: http://www.wildcat-www.de/material/rhe8holl.htm

(41) Holloway, Wir sind die Krise der abstrakten Arbeit, http://www.grundrisse.net/grundrisse18/john_holloway.htm

(42) Ebenda

(43) Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 201-336

(44) Holloway, Wir sind die Krise der abstrakten Arbeit

(45) Ebenda

(46) Ebenda

(47) May Day 2009, http://maydayberlin.blogsport.de/propaganda/

(48) Kollektiv Rage, Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Hamburg 2009

(49) Ingrid Artus, die Novemberrevolte, in: Kollektiv Rage, Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Hamburg 2009, Seite 47

(50) Marius von der Lubbe, Ihr könnt uns nicht mehr umbringen – wie sind schon tot, in: Kollektiv Rage, Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Hamburg 2009, Seite 178

(51) Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Flugblatt zum Bildungsstreik, November 2009, Unterstützer des Aufrufs: Antifaschistische Jugendaktion Kreuzberg [AJAK], Antifaschistische Initiative Reinickendorf [AIR], Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin [arab], Antifaschistische Linke Berlin [ALB]

(52) Karl Heinz Roth, Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

Zusammenfassung der ersten Ergebnisse – Stand: 21.12.08, http://www.wildcat-www.de/aktuell/a068_khroth_krise.htm

(53) Ebenda

(54) Ebenda

(55) L5I, Revolutionärer Marxismus Nr. 39, Finanzmarktkrise und fallende Profitraten. Beiträge zur Marxistischen Imperialismus- und  Krisentheorie, Berlin/Wien, August 2008

(56) Robert Brenner, Boom & Bubble, Hamburg 2003

(57) Karl Heinz Roth, Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

(58) Ebenda

(59) Ebenda

(60) Ebenda

(61) Ebenda

(62) Ebenda

(63) Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (Übergangsprogramm), in: Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 86/87

(64) Karl Heinz Roth, Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

(65) Ebenda

(66) Ebenda

(67) Ebenda

(68) Ebenda

(69) Ebenda

(70) Ebenda

(71) Ebenda




Mindestlohn, Mindesteinkommen oder bedingungsloses Grundeinkommen?

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung kennzeichnen die Lage der Lohnabhängigen weltweit. Schon vor der Weltwirtschaftskrise waren Millionen und Abermillionen dauerhaft erwerbslos oder gezwungen, in Teilzeitverhältnissen zu arbeiten, also in Beschäftigungsverhältnissen, welche die Lebenskosten nicht decken.

Diese strukturelle Massenarbeitslosigkeit hat gleichzeitig zu einem massiven Absenken des Lohnniveaus für große Teile des Proletariats geführt, für ein Riesenheer sog. Working poor (arbeitender Armer) geschaffen, die trotz Job (teilweise sogar mehrerer Jobs) ihre eigenen Lebenshaltungskosten und die ihrer Familien kaum bestreiten können.

Zudem wurde die Lage durch drakonische Reformen wie die Hartz-Gesetze massiv verschlechtert. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und für die Existenzsicherung dieser Schichten sind daher zu Schlüsselfragen für jedes Programm geworden, das eine fortschrittliche Antwort auf die Krise geben will.

Im Folgenden wollen wir uns daher sowohl mit der Antwort der revolutionären Arbeiterbewegung und den Positionen, die wir dazu entwickelt haben, beschäftigen und zugleich (auch unter Arbeitslosen) populäre falsche Antworten wie die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen einer grundlegenden Kritik unterziehen.

Übergangsforderungen gegen Arbeitslosigkeit und Entlassungen

Die trotzkistische Tradition kämpft für: „Gleitende Skala der Arbeitszeit! Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich! Aufteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe! Für ein Beschäftigungsprogramm gesellschaftlich nützlicher Arbeit unter Arbeiterkontrolle bei vollen Tarifbezügen!“ Formulierungen in diesem Sinne finden wir sowohl in „Trotzkistischen Manifest“ (1) wie in „Vom Widerstand zur Revolution“ (2).

Für die BRD haben wir das in unserem Aktionsprogramm (AP) „Der Kampf für Arbeitermacht“, März 2009) konkretisiert: „30-Stunden-Woche in Ost und West bei vollem Lohnausgleich! Angleichung aller Löhne und der Arbeitszeit im Osten auf Westniveau! Aufteilung der Arbeit auf Alle unter ArbeiterInnenkontrolle! Europaweit koordinierter Kampf zur Verkürzung der Arbeitszeit! Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, unter Kontrolle der Beschäftigten, Gewerkschaften und von Komitees der örtlichen Bevölkerung!“ (3)

Wir halten solche Forderungen für zentral; v.a. deshalb, weil sie die Einheit der Arbeiterklasse – der Beschäftigten wie der Arbeitslosen – erleichtert. Im Gegensatz zu anderen Teilforderungen zielen sie in Richtung Aufteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe, stellen also eine Übergangslosung dar, die auf den Sozialismus zielt und mit der Herrschafts- und Verwertungslogik des Kapitalismus bricht.

Der Produktivitätsfortschritt soll den Lohnabhängigen zu Gute kommen. Ihnen ist schon aus Gründen der eigenen Kampfkraft daran gelegen, die Arbeitslosigkeit und damit eine wichtige Spaltung der Klasse zu beseitigen. In diesem Sinn muss der Kampf gegen Entlassungen und für Wiedereingliederung Entlassener mit dem Ringen um ausreichende Bezahlung für Arbeitslose verbunden werden.

Die notwendige gesellschaftliche Arbeit soll gleichmäßig auf alle arbeitsfähigen Gesellschaftsglieder verteilt werden – einschließlich der ehemaligen Ausbeuter, die in einem Arbeiterstaat erstmals mit der Arbeitspflicht für sich selbst in Berührung kommen.

Um zu bestimmen, was notwendige Arbeit ist, muss das Kapital enteignet werden, das Proletariat zum kollektiven „Unternehmer“ einer Planwirtschaft werden und direkt, über Räte, im Staat herrschen. Eine praktische Schule und notwendige Voraussetzung für den Beginn der Umsetzung der Übergangsforderungen unter kapitalistischem einem Regime ist die Arbeiterkontrolle. Viel wichtiger als die Höhe der Arbeitslosenunterstützung ist der Aufbau von Kontrollorganen, die die Bedürftigkeit festlegen – statt das dem kapitalistischen Staat und seinen Institutionen (ARGE, Sozialamt) zu überlassen – und die Firmen zu Neueinstellungen zwingen können. Dazu muss die Arbeiterklasse in Staat und Betrieb eigene Machtorgane errichten (Fabrikkomitees, Räte usw.).

Eine solche Programmatik zielt auch darauf, den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in einen Kampf um Arbeiterkontrolle zu überführen. Sie zielt bewusst auf die Schaffung einer Doppelmachtsituation und darauf, sie durch die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln zu lösen. Erst diese Perspektive der Machtergreifung krönt das System von Übergangsforderungen gegen die Massenarbeitslosigkeit und verleiht ihm revolutionäre Sprengkraft.

Das kapitalistische Reproduktionsminimum

Bevor wir uns der Wichtigkeit der Forderung nach einem Mindestlohn und Mindesteinkommen zuwenden, ist es notwendig, einige grundlegende Betrachtungen über das „kapitalistische Reproduktionsminimum“ vorauszuschicken.

Produktive Arbeit ist für das Kapital nur jene, die – außer ihren eigenen Tauschwert zu produzieren und den Wert der Produktionsmittel zu erhalten – ihm auch einen Mehrwert zusetzt. Das einzelne wie das gesellschaftliche Gesamtkapital, welches als Nationalökonomie bzw. Volkswirtschaft an der Oberfläche erscheint, interessiert darum auch nur der kapitalistische Produktionsprozess, in sich dem ausschließlich seine Verwertung, seine Reproduktion vollzieht. Der Reproduktionsprozess der Arbeitskraft als Gebrauchs- und Tauschwert (Hausarbeit, Freizeit) interessiert es dagegen genauso wenig wie die Bewahrung des Gebrauchswertes der Natur.

Die Reproduktion des Tauschwertes der Arbeitskraft erfolgt für das Kapital auch nur im Produktionsprozess und auch nur, insoweit die lebendige Arbeitskraft in diesem den durch sie geschaffenen Neuwert vorschießt. Zusätzlich unterliegt der Tauschwert der Arbeitskraft danach auch noch allen weiteren Unberechenbarkeiten, die dem Kapitalismus inhärent sind. Die reale Kaufkraft des Arbeitsvermögens wird ständig beeinflusst durch Inflation, Gesetzgebung, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt allgemein sowie durch die Kampfkraft des Proletariats (Tarifverträge), welche bei letzterem die elastischen – Marx nennt sie „historische Komponenten“ – Grenzen ausmachen. Die Reproduktion der TrägerInnen des lebendigen Lohnarbeitsvermögens ist aber noch nicht dann gesichert, wenn ihre Arbeitskraft einen Käufer gefunden hat, weil diese auch den Bocksprüngen des Marktes ausgeliefert sind. Wir können dieses Gesetz beschreiben mit dem Satz: „Die Akkumulation des Kapitals ist die Determinante des Reproduktionsprozesses der Arbeitskraft. Letzterer ist seine abhängige Variable.“

Die Reproduktion der Arbeitskraft als Gebrauchswert ist dem Kapital noch gleichgültiger. Sie muss deshalb notwendig außerhalb des Verwertungsprozesses stattfinden.

Das leisten in hohem Maße die proletarischen Frauen in Haushalt und Familie. Die „Subsistenzproduktion und -reproduktion“ kümmert den Kapitalisten ihn fast noch weniger als den Sklavenhalter das Wohl seiner Sklaven. Das gilt für die Natur, die Subsistenzreproduktion der Frauen und nachwachsenden Generationen der ausgebeuteten Klasse, aber auch für ganze Völker und Kontinente. Die aus ihren Subsistenzverhältnissen Herausgedrängten erscheinen dann als billige Immigrationsarbeitskräfte in den imperialistischen Metropolen. Das dortige Kapital kann sie jederzeit abschieben und stets prekär halten. Ihre „in schwarzer Haut gebrandmarkte“ Arbeitskraft wird daheim wie im „Exil“ ihrer „historisch-moralischen“ Komponente beraubt, weil das Kapital lediglich den Lohn für individuelle Selbstreproduktion bezahlt – ohne die Bedürfnisse der nächsten Arbeitergeneration oder das Verrichten von Hausarbeit im engeren Sinne zu berücksichtigen. Das gilt für Familienzuzug wie für Anrechte auf Anteile auf in den Metropolen erkämpfte indirekte Lohnbestandteile („Sozialversicherung“).

Die Verteidigung seiner Reproduktion ist eine notwendige Voraussetzung, bevor das Proletariat die Produktion unter eigenem Planwirtschaftsregime allein der lebendigen Arbeit zugute kommen lassen kann. Dann gilt nicht mehr: Produktion um der Produktion willen, sondern umgekehrt, die aufgehäufte, tote Arbeit vergangener Generationen in Form der gegenständlichen, materiellen Produktivkräfte dient dazu, das Leben der Gesellschaft zu verbessern. Das ist der einzige Weg, auf dem das Proletariat vorankommen kann, als erste Kraft – nicht Klasse – in der Geschichte nach der Urgesellschaft, die Reproduktion und das Schicksal der ProduzentInnen in den Mittelpunkt zu stellen und als Zweck der Produktion zu setzen.

Der Lohn enthält (außer im Fall von Wander- und Immigrantenarbeit) eine „Familien“komponente. Marx umschreibt diese Gratisproduktivkraft fürs Kapital lapidar als „Gattungstrieb“ der LohnarbeiterInnen. Für das Kapital ist der stetige Nachschub an ausbeutbaren Arbeitskräften wichtig. Die Unwägbarkeiten der Kapitalakkumulation führen aber nicht nur zur Absorption außerhalb seines Verwertungsprozesses hergestellter Produktivkraft in Gestalt des lebendigen Arbeitsvermögens, sondern auch zu dessen wiederholter Repellation, zu ihrem periodischen Ausscheiden aus dem kapitalistischen Arbeitsprozess (Arbeitslosigkeit).

Da der kapitalistische Besitz an Produktionsmitteln auf der stundenweisen Anmietung freier Lohnarbeit beruht und nicht auf dem persönlichen Besitz an der Arbeitsperson wie in der Sklaverei, droht damit der Nachschub an Arbeitskräften zu versiegen, da er sich nur aktiv erhalten kann, wenn er seinen Tauschwert und darüber hinaus Mehrwert produziert. Zusätzlich sucht das Kapital die Schranken des Arbeitstages bis zum Maximum auszudehnen, die Arbeitsbevölkerung auch auf Kinder und Frauen ohne Rücksicht auf deren Reproduktionsmöglichkeiten zu erweitern. Das dem Einzelkapital in der Konkurrenz auferlegte Gebot des Maximalprofits unterminiert so die langfristige Akkumulationsperspektive des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Seine Klassenherrschaft kann sich schon aus Prinzip – aufgrund der Konkurrenz – nur verstetigen in einer Institution, die außerhalb der Konkurrenz steht, darum eine eigene Gestalt außer- und oberhalb der Gesellschaft annehmen muss, als unpersönliche, sachliche Herrschaft: der bürgerliche Staat!

So wie dieser für die Gleichheit der Konkurrenzbedingungen sorgt, muss er auch bei Strafe des Untergangs der Produktionsweise, auf der er beruht, gebieterisch die permanente Akkumulation des realen Gesamtkapitalisten, der Nationalökonomie, sicherstellen. Dies geht manchmal nicht ohne Eingriffe in die Reproduktionsbedingungen der Einzelkapitale ab. Davon zeugen Arbeitsschutzgesetze wie Arbeitstagsbeschränkungen, Verbote von Kinderarbeit und Mutterschutzrichtlinien, Hygieneauflagen usw., usf.

Dass solche Gesetze, Richtlinien und Verordnungen oft genug auf Begehr der Lohnarbeiterschaft zustande gekommen sind, bezeugt nicht nur, welche Klasse die weitergehende Menschheitserhaltungsperspektive vertritt, sondern ist auch kein Gegenbeweis für den bürgerlichen Klassencharakter des Staates. Er ist eben der ideelle und ideale Gesamtkapitalist. Und dem „modernen“ Proletariat kann man nicht vorwerfen, dass es ihn auszunutzen, in seinem Rahmen Einfluss zu erlangen versucht. Dieses Bestreben ist vielmehr eine Schule der Gesamtklasse der Lohnarbeitenden für ihren eigenen Zukunftsstaat – allerdings nur, wenn sie das Ziel der Überwindung des Kapitalismus nicht aus den Augen verliert, um den Übergang zum staatsfreien, klassenlosen Kommunismus einzuleiten!

Alle „Infrastrukturmaßnahmen“ des bürgerlichen Staates mögen also einen Kompromiss mit der Klasse der LohnarbeiterInnen inkorporieren, seinen Klassencharakter verletzen sie dadurch nicht. Zu Beginn der modernen Arbeiterbewegung, ja schon in den Anfängen der ursprünglichen Akkumulation, oblag dem Staat die Aufgabe der Produktion von Lohnsklaven aus Vagabunden, Vogelfreien und sonstigen Plebejern. Dies nahm die Form von Zwangsarbeit in Waisen- und Armenhäusern an. Ähnliches widerfuhr dann zu Zeiten der Großen Industrie den aus dem kapitalistischen Arbeitsprozess aussortierten Arbeitslosen, in vorübergehender oder permanenter Form und – v.a. im Falle letzterer – ihren Familien (Lazarusschichten, Pauperismus).

Der bürgerliche Staat sorgte für die unmittelbare Reproduktion der untersten Arbeiterschichten, indem er deren Existenzminimum „garantierte“ und damit auch ihre mögliche zukünftige Verwertbarkeit als LohnarbeiterInnen. Er tat dies unter zwei Bedingungen: der Beschäftigung von Arbeitsfähigen in Staatswerkstätten bzw. Arbeitshäusern zu Staatslöhnen, die auf keinen Fall das Minimallohnniveau der aktiven Arbeiterklasse überschreiten durften; Unterstützungszahlungen für Arbeitsunfähigen(Sieche, Versehrte, Invaliden …) zur Vermeidung von Revolten und Reproduktions„garantie“ für deren Familien„anhang“, insbesondere die nachwachsende Arbeitergeneration. Für deren Höhe gilt das gleiche.

Alle Klassengesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die Produktion nicht ausschließlich der Reproduktion der unmittelbaren ProduzentInnen dient. Die vorkapitalistischen Klassengesellschaften der asiatischen, antiken und feudalen Produktionsweise beruhten auf außerökonomischem Zwang. Die Abschöpfung des Mehrproduktes fand ihre Schranken im begrenzten Umfang der persönlichen Genüsse der herrschenden Klassen. Erst der Kapitalismus erscheint als unpersönliches, sachliches Verhältnis rein ökonomischen Zwanges für die doppelt freien LohnarbeiterInnen, die über keine Produktionsmittel, sondern nur über ihr lebendiges Arbeitsvermögen verfügen, das sie ans Kapital verkaufen zu müssen. Mittelpunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses ist die Akkumulation. Der immanente Zwang, den Mehrwert zu steigern, erfordert sowohl die Steigerung der Produktivität (Methoden des relativen Mehrwerts) wie ständige Angriffe auf das Reproduktionsniveau der ProletarierInnen (Methoden des absoluten Mehrwerts).

Akkumulation heißt Ökonomie der Surplusarbeitszeit, nicht der Arbeitszeit überhaupt, heißt „Produktion um ihrer selbst willen“. Die lebendige Arbeit dient einzig und allein der Verwertung des Kapitals, der aufgehäuften, immer umfangreicher werdenden toten Arbeit, nicht umgekehrt. Der Gegensatz zwischen Produktion und Reproduktion ist gleichsam auf die Spitze des Irrsinns getrieben. Die Regeneration der Arbeitskraft schert das Kapital ebenso wenig wie die der Natur. Die ökologische Katastrophe ist zwangsläufiger Ausdruck dessen. Auf die Spitze getrieben sind allerdings auch Formen gesellschaftlicher Unterdrückung wie die der Frauen oder der Rassismus.

Die zum Zweck der Ausbeutung als Lohnarbeiterinnen notwendige kapitalistische Vergesellschaftung von Teilen der Hausarbeit und Kinderbetreuung stößt daher besonders in Krisenzeiten schnell an ihre Grenzen. An der systematischen Diskriminierung der überwiegend von proletarischen Frauen verrichteten Herstellung von Gebrauchswerten (individuelle Subsistenzproduktion) ändert sie erst recht nichts, erzeugt sie doch keine Tauschwerte. Diese Brandmarkung schlägt sich zudem negativ im Preis der weiblichen Arbeitskraft nieder. Die Lohndifferenzen zwischen männlichen und weiblichen Proletariern sind systematischer Bestandteil dieser Ausbeutungsweise. Das Proletariat muss alle Elemente seiner Reproduktion zum Thema des Klassenkampfes erheben, auch die Haus- und Erziehungsarbeit seiner weiblichen Angehörigen!

So wie es dafür sorgen muss, die sachlichen Produktivkräfte in den Dienst der Reproduktion der kollektiven GesamtarbeiterInnen zu stellen, muss es den Subsistenzbereich vergesellschaften. Erst auf dieser materiellen Grundlage ist es möglich, die besondere Unterdrückung der weiblichen lebendigen Arbeit aufzuheben, indem es sie dadurch gesellschaftlich sichtbar und wichtig macht, ihr endlich die seit den Zeiten der urgesellschaftlichen Epoche verloren gegangene Bedeutung auf höherer Stufenleiter „zurück“ verschafft. Ohne dies ist seine Emanzipation und Aufhebung in der freien Assoziation der direkten ProduzentInnen unmöglich.

Das kommunistische Minimalprogramm in der Frage von Mindestlohn und –einkommen

Das Erstarken der Arbeiterbewegung und insbesondere die Entstehung von Arbeiterparteien schuf die Möglichkeit, mittels Streiks und Einflussnahme auf die parlamentarische Gesetzgebung zu verhindern, dass die bürgerlichen Armengesetze den Lohnkämpfen der aktiv Beschäftigten in den Rücken fallen. Im Deutschen Reich vor dem 1. Weltkrieg wurden durchgesetzt: Arbeitsunfall-, Kranken- und Rentenversicherung. Nach der Novemberrevolution kam die Arbeitslosenversicherung hinzu.

Die SPD und die freien Gewerkschaften unter ihrer Führung (ADGB) folgten dabei dem Prinzip, ein staatlich garantiertes Minimum zu fixieren, damit der aktiven Lohnarbeiterklasse in ihren Kämpfen um Lohnerhöhungen eine Schranke nach unten zu setzen, die Konkurrenz innerhalb der beschäftigten Klasse zu mindern. Das war richtig, erfolgte aber in Form eines verhängnisvollen Klassenkompromisses.

Die sozialdemokratischen Funktionäre gaben ihre selbstverwalteten Kassen auf zugunsten einer „Mitwirkung“ an Bismarcks staatlichem System. Auch wenn die selbstverwalteten Arbeiterkassen nur einer arbeiteraristokratischen, berufsständischen Minderheit der Klasse offen standen und der neue Sozialversicherungszwang für alle abhängig Erwerbstätigen ein Fortschritt war, so beschleunigte die Zustimmung durch Gewerkschaften und SPD zu ihrer Verstaatlichung die Integration der Arbeiterbewegung in das imperialistische System des Deutschen Reichs.

Das verklärte die Unternehmer zu wohlwollenden Gönnern, indem es deren drittelparitätische Lohnanteilszahlungen ins System der Sozialversicherung als „Arbeitgeberzuschüsse“ ausgab. Damit bereitete es die Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 vor, die Verschmelzung der Arbeiterführung mit dem wilhelminischen, imperialistischen Obrigkeitsstaat.

Damit wurde auch der Ideologie vom „Sozialstaat“ nach dem 2. Weltkrieg Tür und Tor geöffnet. Die Erhöhung der „Arbeitgeber“anteile auf die Hälfte des so erkämpften indirekten oder Kollektivlohns nach der Währungsreform von 1948 führte erstmals zu deren hälftiger Beteiligung an den Aufsichtsgremien der Sozialversicherungsanstalten. Jetzt konnte sich der BRD-Staat als vermeintlich neutraler Schiedsrichter auch direkt in die Hoheit über die Kassen einmischen, die ursprünglich ein direkter Arbeiterversicherungsfonds waren.

Das tat er auch, um Pläne des Kapitals aus den Sozialversicherungskassen zu alimentieren, die einen wesentlichen Teil an der Reproduktion der Ware Arbeitskraft ausmachen und schon in ihrer Form verschleiern, dass es sich um den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsfonds der Ware Arbeitskraft handelt (Aufbau Ost, Lastenausgleich…). Das Sozialversicherungswesen wird im Gegenzug nur zu einem geringen Teil vom Staat, aus Steuergeldern finanziert, überwiegend aber aus Beiträgen. Und wer finanziert den Staat, zahlt den Löwenanteil der Steuern? Wo der Staat „allein“ agiert, das ist in seiner alten Rolle als Armengesetzgeber für die pauperisierten Schichten, die bereits aus der Arbeitslosenversicherung herausgefallen sind (ALG II und ihre Vorläufer Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe). Der Umfang dieser Schichten hat sich bedeutend ausgeweitet durch die kürzere Bezugsdauer von ALG I. Gleichzeitig hat sich ihr Lebensstandard drastisch verschlechtert (Hartz IV-Gesetze), was den Niedriglohnsektor erst recht gefördert hat.

Das kommunistische Minimalprogramm für Mindestlohn und Mindesteinkommen innerhalb des Kapitalismus geht von allgemeinen Prinzipien aus: „…Arbeitslosengeld wird nötig zur Sicherung ihres und ihrer Angehörigen Lebensunterhalts. Die Höhe des Arbeitslosengeldes wird demokratisch von der Arbeiterbewegung beschlossen.“ (4) „In jedem Land kämpfen wir für einen gesetzlich garantierten Mindestlohn in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung und nicht von den Herrschenden bestimmt wird (…) Wenn die Kapitalisten keine Arbeit zur Verfügung stellen, fordern wir staatliche Arbeitslosenunterstützung in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung festgelegt werden soll.“ (5) Konkretisiert für Deutschland heißt das: Mindesteinkommen von 1.600 Euro bzw. 1.000 Euro plus Warmmiete für eine Bedarfsgemeinschaft. Diese Forderungen sind im Prinzip von der Erwerbslosenbewegung auf dem Höhepunkt der Mobilisierung gegen Hartz IV 2003/2004 und damit von den fortgeschrittensten Teilen der deutschen Arbeiterbewegung aufgestellt worden – damals bis zu 1.500 Euro.

Die Mindestlohnforderung darf natürlich nicht niedriger ausfallen, sollte aber auch nicht auf höherem Niveau angesiedelt sein. Ein sozusagen proletarisches Lohnabstandsprinzip verwerfen wir ausdrücklich. Der gesetzliche Mindestlohn dient als untere Reproduktionsbasis und mindert die Lohnkonkurrenz in der Arbeiterschaft. Damit liegt er im Interesse der gesamten Klasse, verkörpert ein politisches Ziel. Damit gelingt es den starken, gewerkschaftlich gut organisierten Bereichen, die schwach organisierten Sektoren ins Boot zu holen und sich den Rücken besser frei zu halten, um für Löhne oberhalb des festgezurrten Minimums kämpfen zu können. Umgerechnet auf eine 35-Stundenwoche ergibt das einen Stundenlohn von 11 Euro netto (13,50 brutto bei ca. 20% „Arbeitnehmer“anteil). Die Forderung muss klar zwischen netto und brutto unterscheiden. Außerdem muss das Bruttomindesteinkommen steuerfrei sein, damit das Mindesteinkommen nicht höher als der Nettomindestlohn ausfällt.

Unterschiede zwischen Mindestlohn und Mindesteinkommen

Das Mindesteinkommen soll ab jenem Alter gelten, wenn Menschen in Beschäftigung eintreten können. Das kann in manchen Ländern auch schon im Kindesalter sein, wenn diese in Lohnarbeit gezwungen werden. Für die BRD fordern wir ein Mindesteinkommen ab dem Alter, in dem Jugendliche arbeiten oder als Auszubildende eingestellt werden können, also ab 16.

Wenn SchülerInnen und in Berufsausbildung stehende junge Menschen ein Mindesteinkommen bzw. eine Mindestauszubildendenvergütung in gleicher Höhe bekommen sollen, erkennen wir damit ausdrücklich an, dass individuell im Rahmen der Kleinfamilie erbrachte Leistungen, die der Reproduktion der Ware Arbeitskraft dienen und die der Kapitalismus niemals adäquat indirekt, über den Markt vergesellschaften kann, wenigstens ans Licht der bürgerlichen Öffentlichkeit gezerrt gehören, um auf diesen „Schattensektor“ aufmerksam zu machen. Damit rückt aber auch die Frage der direkten Sozialisierung dieser Reproduktionsarbeiten in den Mittelpunkt (Lernen in selbstbestimmten und voll finanzierten Wohn-, Lebens- und Lerngemeinschaften von Jugendlichen und Lehrenden).

Mit der Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ eines Teils der Feministinnen aus den 1970er Jahren hat unser Herangehen methodisch nichts gemein. Erstens ist Hausarbeit keine Lohnarbeit, sondern schafft Gebrauchswerte für die Reproduktion der Haushaltsmitglieder. Zweitens wollen wir ihren privaten und ineffizienten Charakter gerade abschaffen, sie sozialisieren, um auch mehr frei disponible Zeit gerade für die proletarischen Hausfrauen schaffen, insbesondere aber Frauen, die gleichzeitig Lohnarbeit leisten, entlasten und hier v.a. die Mütter.

Die Sozialisierung der Reproduktionstätigkeit, die der Kapitalismus versteckt (und diskriminiert) wird durch die Forderung nach Mindesteinkommen erleichtert. Ganz allgemein wird die Diktatur des Proletariats, die Übergangsgesellschaft zum Sozialismus, eine Menge an Gütern und Dienstleistungen, die vom gesellschaftlichen Arbeitsaufwand und Gebrauchswert her betrachtet, den Forderungen nach Minimaleinkünften innerhalb des Kapitalismus entspricht, als erstes allen Angehörigen des Arbeiterstaates unentgeltlich zur Verfügung stellen. Damit wird die Grundversorgung der einfachen, durchschnittlichen Gesamtarbeitskraft dekommodifiziert, ihres Warencharakters entkleidet. Genau hier startet die Überwindung des Lohnsystems.

Wenn wir also von einem Mindesteinkommen sprechen, so sprechen wir von einem Mindesteinkommen für all jene, die arbeitslos sind, noch in Ausbildung stehen (z.B. StudentInnen), wegen Krankheit nicht mehr arbeitsfähig sind oder das Rentenalter erreicht haben. Der Terminus „Mindesteinkommen“ steht also für eine Mindesthöhe eines Stipendiums (für SchülerInnen und Studierende), eines Arbeitslosengeldes oder einer Rente (Invaliden- oder Altersrente). Ein solches Konzept unterscheidet sich grundlegend vom „bedingungslosen Grundeinkommen“.

Bürgergeld, Existenzgeld und bedingungsloses Grundeinkommen

Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle ohne Arbeitszwang und Bedürftigkeitsprüfung (BGE) findet zunehmendes Interesse sowohl in den Medien wie in den sozialen Bewegungen. Götz Werner, Inhaber der Drogeriekette dm, und Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Leiter des von der IHK Hamburg mitfinanzierten Hamburger Weltwirtschaftsinstituts HWWI, dürfen sich ausführlich über ihr Projekt auslassen.

Modelle der Rechten …

Thüringens ehemaliger Ministerpräsident Althaus (CDU) und die FDP setzen sich für das Bürgergeld ein. Das „solidarische Bürgergeld“ vertritt Althaus mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. 800 bzw. 400 Euro monatlich soll es betragen und über eine Einkommenssteuer von 50 bzw. 25% finanziert werden, die mit dem Bürgergeld verrechnet wird. Zusätzlich fiele eine Lohnsummensteuer an. Jede/r muss dann allerdings zusehen, wie er/sie für Alter und Krankheit vorsorgt. Die Arbeit„geber“ zahlen keine Sozialversicherungsanteile mehr. Die CDU rechnet allein mit einer „Gesundheitsprämie“ von 200 Euro als Krankenkassenmonatsbeitrag.

Götz Werners Grundeinkommen soll ebenfalls alle Sozialleistungen abdecken und von anfangs 900 auf 1.500 Euro ansteigen – für jede/n! Bezahlt werden soll es allerdings über eine Anhebung der Mehrwertsteuer auf 48%; alle anderen Steuern sollen abgeschafft werden mit dem „Vorteil“ für die Unternehmen, überhaupt keine Steuern mehr bezahlen zu müssen und somit konkurrenzfähiger gegenüber dem Auslandskapital zu werden. Der Wegfall der sog. Lohnnebenkosten trägt ein Übriges dazu bei.

Praktisch alle bürgerlichen VerfechterInnen des BGE oder „Bürgergelds“ (CDU, GRÜNE, Werner) beschränken die Zahlungen auf „deutsche Staatsbürger“. Den hier lebenden Nicht-Deutschen ginge es dann noch dreckiger als heute schon, weil alle Sozialtransfers entfielen.

…und der Linken

Ein Großteil der heutigen Linken favorisiert dagegen das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ohne Bedürftigkeitsprüfung für ausnahmslos alle Menschen im Staatsgebiet. Auch dessen Höhe in seiner linken Variante scheint mit der unseren auf Augenhöhe.

Triumphierend verweisen diese Linken gleich auch noch darauf, mit dem Wegfall der Bedarfsprüfung erledige sich gleich die ganze „Sozialstaats“bürokratie mit. Ein unfreiwilliger, aber artiger Diener vorm Profitstreben des Kapitals, das gerne an den Kosten des „Sozialstaats“ spart! Außerdem stellt die Höhe des BGE bereits im Vorfeld eine Bedarfsprüfung dar – und zwar pauschal für Alle!

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen forderte im Mai 1998 ein dynamisiertes, unpfändbares Existenzgeld von monatlich 1.500 DM plus tatsächliche Wohnkosten bis zu durchschnittlich 500 DM monatlich für eine Einzelperson. (6)

BildungsbürgerInnen wie Sascha Liebermann und die Gruppe ‚Freiheit statt Vollbeschäftigung‘ locken das Kapital mit Versprechen, dass das BGE seine Beschäftigten ansporne, hoch motiviert und freiwillig dessen Rendite zu steigern. Katja Kipping (DIE LINKE) favorisiert einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,60 Euro/Stunde in Verbindung mit einem Grundeinkommen. VertreterInnen des „Runden Tischs der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen“ bzw. des „Netzwerk Grundeinkommen“ konnten die Forderung im Aufruf zur bundesweiten Demonstration am 3.6.2006 in Berlin teilweise unterbringen. Dieser verlangt quasi als Übergangsforderung zum BGE für alle im ersten Schritt die Erhöhung des ALG II für alle Erwerbslosen auf 500 Euro plus volle Kosten der Unterkunft. Der Arbeitskreis von ATTAC „Genug für alle“ unterstützt die Forderung nach einem BGE; sein Mitglied Werner Rätz sitzt auch im „Netzwerk Grundeinkommen“.

Zwischen Realpolitik und Utopie

Diese Linken verknüpfen die Existenzgeldforderung aber auch mit dem Anspruch einer Überwindung klassischer Sozialpolitik:

„An vier Punkten unterscheidet sich der utopische Charakter des Existenzgeldes von herkömmlichen sozialpolitischen Mindestsicherungskonzepten:

– in der Anspruchshöhe des Existenzgeldes (wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, statt Teilhabe am Existenzminimum),

– in der Entkoppelung des Existenzgeldes vom Zwang zur Lohnarbeit

– in der Infragestellung der herrschenden Arbeitsbegrifflichkeit und

– in der Kritik an der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung.“ (7)

Auch wenn es in der Linken Vorbehalte gegen die Finanzierung des BGE über die Mehrwertsteuer gibt, so grassieren doch unter ihren BefürworterInnen des Modells die ärgsten Flausen: das BGE beseitige jede Arbeitspflicht. Schließlich finanziere der Staat es aus Steuern. Wer aber finanziert den Staat und erzeugt das Steueraufkommen? In kleinbürgerlichen Nischen abseits jeden Gedankens an Produktion kann man auf solche Flausen kommen, nicht aber als MarxistIn!

Die Frauengruppe „Glanz der Metropole“ kritisierte die Existenzgeldforderung durchaus richtig: „Sie wirkt auf der einen Seite wie eine realpolitische Forderung, die alte Modelle nach einer Umverteilung von Reichtum, nach gleichem Lohn für alle usw. gar nicht mehr berücksichtigt. Auf der anderen Seite verbreitet sie einen Hauch von Utopie, der in der Vorstellung von Lohnarbeitsverweigerung liegt. Dieser quasi sozialrevolutionären Seite wollen wir zuerst nachgehen.

Die Idee, es könnte mit einem halbwegs sicheren finanziellen Hintergrund auch ein anderes Leben entstehen, erinnert einige von uns an die 80er Jahre, als die Kritik am Lohnarbeitsmodell politische Kultur einer deutschen (autonomen) Linken war. Die Verweigerung von Lohnarbeit schien das Versprechen eines gemeinschaftlich organisierten, mit Sozi und Arbeitslosenhilfe finanzierten, selbstbestimmten Lebens und politischen Agierens mit sich zu bringen.“ (8)

Man muss Wildcats Strategie des kollektiven Kampfs gegen die Arbeit nicht teilen, wohl aber die Kritik dieser ursprünglichen Autonomen (Operaisten) an ihren Politzöglingen. Sie haut in die gleiche Kerbe:

„Mit dem Scheitern der proletarischen Kämpfe in den 70er Jahren war die Strategie des kollektiven Kampfs gegen die Arbeit durch das individuelle Verhalten und die Lebensweise der Verweigerung der Arbeit ersetzt worden (…) Die Ablehnung regelmäßiger Lohnarbeit wurde zu einem verbreiteten Lebensgefühl in diesen Bewegungen, aber es gab keine Verbindungslinien mehr zum Kampf gegen die Arbeit in der Produktion, „Autonom“ wurde zu einem Ausdruck der Abtrennung von den Konflikten in der Ausbeutung.“ (9)

Wie steht es um die Entkoppelung vom Lohnarbeitszwang, wie um die Kritik an der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung?

„Was die Arbeit zu Hause angeht, gibt es für die meisten ArbeiterInnen gar keine Koppelung von Arbeit und Lohn und hat es sie auch noch nie gegeben (…) es ginge darum, „unsichtbare“ Arbeit sichtbar zu machen, anstatt sie als Nicht-Arbeit (…) zu interpretieren (…) mit dem Abbau sozialstaatlicher Mechanismen wird heute sogar von einer zusätzlichen Reprivatisierung der Hausarbeit durch Abbau von Kindergärten und Pflegediensten gesprochen (…) weisen wir darauf hin, dass es eine patriarchale Modernisierung in Bezug auf Hausarbeit gibt. Ein zunehmender Teil der Hausarbeit wird unterbezahlt von Hausangestellten (…) geleistet.“ (10)

Was ist vom Ausstieg aus der Lohnarbeit in eine selbstbestimmte Subsistenz-lebensweise zu halten?

„Wenn heute auf „informelle Ökonomie“ und „Subsistenzproduktion“ als Ansatz für emanzipative Gesellschaftsveränderung gesetzt wird, muss berücksichtigt werden, dass diese Formen im Zuge der kapitalistischen Restrukturierung derzeit ohnehin massiv durchgesetzt werden (…) die internationalen Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Lohnabhängigengruppen werden härter und die Spaltung zwischen (…) Normalarbeit und den entformalisierten Bereichen prekärer und „deregulierter“ Beschäftigung wächst.“ (11)

Abschaffung des Arbeitszwangs?

Auch die Abschaffung jeden Arbeitszwangs ist eine kleinbürgerliche, reaktionäre Utopie. Selbst die kommunistische Gesellschaft wird ihren Stoffwechsel mit der Natur nur unter Verausgabung von Arbeit verrichten können. Auf diesen Stoffwechsel kann keine menschliche Gesellschaft bei Strafe ihres Untergangs verzichten. Der kommunistische Zukunftsmensch wird vielleicht diesen Rest an Arbeitspflicht zum Zwecke des Überlebens der Gattung als (immer weiter abnehmenden) Zwang empfinden. Gleichzeitig wächst die freie Zeit jenseits des Kampfs ums unmittelbare Leben für Alle, die Beschäftigung mit sich selbst, mit der Entfaltung der menschlichen Kreativität etc. Diese Arbeit wird dann zum ersten Bedürfnis.

Nur in Klassengesellschaften ist der Arbeitszwang aufgehoben – für die Herrschenden! Darum wird endlich erstmals nach der Epoche der Urgesellschaft im Arbeiter- (und Bauern-)staat der Arbeitszwang auf alle Gesellschaftsglieder ausgedehnt – einschließlich der ehemaligen Ausbeuter!

Im Kapitalismus existiert ein Zwang zur Lohnarbeit für alle, die über kein Kapital oder Produktionsmittel verfügen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – in der BRD sind das über 90%! Dieser Zwang wirkt indirekt, ist doch der Lohnsklave frei, seine Arbeitskraft stundenweise zu vermieten – er steht (im Gegensatz zu antiken Sklaven und Fronbauern) in keinem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Ausbeuter. Weil er allerdings doppelt frei ist – nämlich auch von Eigentum an Produktionsmitteln – ist diese spezifische Freiheit nicht nur mit Arbeitszwang vereinbar, sondern geradezu prägend für dessen Ausübung.

Dass Erwerbslose – und Beschäftigte – sich gegen staatlichen Zwang wehren (Ein-Euro-Jobs, untertarifliche Bezahlung, unterqualifizierte Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, Eingliederungsvereinbarungen, sinnlose Bewerbungen, Vorstellungs-gespräche und Trainingsmaßnahmen), ist zunächst absolut berechtigt.

Den AnhängerInnen des BGE geht es jedoch um die Beseitigung jeder Arbeitspflicht. Mit Verweis auf den Staat scheint denn auch das Thema, wer den Unterhalt für die Fordernden übernimmt, abgehakt. Die Gelder für die Erwerbslosen sind aber nur zum geringen Teil Staatsausgaben, sondern v.a. Lohnbestandteile, die in Form von Lohn-. Verbrauchssteuern und Sozialversicherungsbeiträgen aufgebracht werden. Die Gesamtkosten der Arbeitslosigkeit gehören zu den Gesamtreproduktionskosten der Ware Arbeitskraft; darum schlagen sie beim Kapital, dem eigentlichen Verursacher der Erwerbslosigkeit, auch als „Lohnneben- bzw. Arbeitskosten“ zu Buche. Das nicht zu erkennen, bedeutet auf das ideologische Geschwätz vom „Sozialstaat“ hereinzufallen.

Dabei hat der bürgerliche Staat „nur“ den solidarischen Erwerbstätigen die Verwendung ihrer Lohnbestandteile aus der Hand genommen, sie also enteignet. Dies steigert die Dank der Form des Arbeitslohnes eh schon vorhandenen Illusionen der Lohnsklaven; nicht nur, dass der Arbeitslohn als Äquivalent für die geleistete Arbeit erscheint, die Lohnnebenkosten erscheinen als Geschenk vom Unternehmer, der damit zum Sozialpartner mutiert. Und der bürgerliche Klassenstaat kann sich als neutrale Instanz in dieser heiligen Dreifaltigkeit darstellen sowie als Sozialstaat, der ab und an mit einem Obolus die Defizite der Sozialversicherungen deckt – sich allerdings auch aus diesem Füllhorn gelegentlich nimmt, um seine Defizite zu decken bzw. kapitalistische Unternehmen zu subventionieren. Von den Werktätigen eine bedingungslose Verpflichtung zu verlangen, seine Schulden zu finanzieren, weil er so sozial sei, erleichtert nicht die notwendige Kampfeinheit des Proletariats, sondern erschwert sie!

Des weiteren müssen „zwei gängige Vorstellungen“ kritisiert werden: „Sozialleistungen seien arbeitsfreies Einkommen und dies sei möglich, weil der Sozialstaat von der Arbeiterbewegung „erkämpft“ worden sei. Historisch betrachtet war der Sozialstaat“ zuallererst ein Bollwerk gegen die revolutionäre Drohung. Mit dem Ausdruck „soziale Frage“ wurde der Klassenantagonismus begrifflich entschärft und seine prinzipielle Lösbarkeit durch Sozialreform unterstellt. Ein staatlicher Schutz sollte garantieren, dass die ProletarierInnen ihre Arbeitskraft dauerhaft zur Verfügung stellen – ohne zu revoltieren (…) Zunächst hatten die ProletarierInnen tatsächlich kein „Vaterland“ – mit dem Anspruch auf soziale Leistungen „ihres“ Staates (…) Mit der Herausbildung des „Sozialstaats“ war es wichtig, zwei verschiedene Prinzipien gegenüberzustellen: Versicherung und Fürsorge. Damit wurde eine scharfe Trennlinie zwischen „Paupern“ und „Arbeitern“ gezogen. Die Konstruktion der Sozialversicherung war von Vollbeschäftigung und nur konjunkturellen Beschäftigungskrisen ausgegangen; die extrem diskriminierend gestaltete Sozialhilfe war nicht für die massenhafte Absicherung bei Arbeitslosigkeit vorgesehen.“ (12)

Die Kombilohnfalle

Die idealistische Herangehensweise der GrundeinkommensanhängerInnen setzt sich fort, wenn die Gefahr ignoriert wird, dass das BGE zu einer erheblichen Ausweitung von Kombilöhnen führen wird und damit zu einer drastischen Lohnsenkung. Schon der frühere Präsident des DIHT, Stihl, bezeichnete bereits 1997 den Kombilohn als „trojanisches Pferd, das wir bei den Gewerkschaften und den Sozialpolitikern aufstellen (…) Wir können nicht auf einen Schlag das gesamte Sozialniveau absenken, ohne dass die Sozialpolitiker (…) aufschreien“. (13)

Natürlich wirkt die Staatszahlung BGE wie eine Lohnsubvention und führt damit zu drastischen Lohnsenkungen. Das ist ja auch der Grund, warum die Werners und Straubhaars dafür eintreten! Die „linken“ BGE-Idealisten nehmen das aber offensichtlich in Kauf, weil sie u.a. der Einbildung verfallen, das Geld falle wie im Märchen von den Sterntalern vom Himmel an den irdischen Staat und von dort aus an sie. Dass damit auch die Finanzierungsbasis des BGE untergraben wird und ihre Illusionen von Einkommen, die von Lohnarbeit entkoppelt sind, auf sie zurückfallen werden, weil damit auch das BGE immer geringer ausfallen muss, ist eine weitere Lektion des Kapitals für KleinbürgerInnen.

Das BGE stärkt also nicht die Position der Erwerbstätigen, wie seine „linken“ BefürworterInnen behaupten, sondern schwächt sie. Es schwächt die noch vorhandene Kollektivmacht der Gewerkschaften und führt auch zur Senkung der Lohnbestandteile, die für die nächste Arbeitergeneration vorgesehen sind, durch „Staatsknete“ für Kinder und Jugendliche sowie zum Wegfall jeglicher Lohnnebenkosten (Rente, Gesundheits-, Arbeitslosenversicherungen).

Außerdem ist schon die Behauptung falsch, dass es auf jede Bedürftigkeitsprüfung verzichte. Die findet natürlich allein dadurch statt, wie viel Prozent des Arbeitseinkommens zur Finanzierung des BGE herangezogen werden kann und durch die Festlegung seiner Höhe. Einige AnhängerInnen fordern weitere Bedürftigkeitsprüfungen indirekt, indem sie von „angemessener“ Warmmiete oder BGE erst ab 18 Jahren sprechen.

Richtigerweise merkt der Revolutionär Sozialistischer Bund (RSB) kritisch zu dieser Position an: „Von Seiten der Rechten zielt das BGE ganz eindeutig auf die flächendeckende Einführung des Kombilohns und die Zerschlagung der Sozialsysteme. Götz Werner spricht offen aus, welche Zukunft er dann für die Gewerkschaften sähe: Sie wären dann „überflüssig, denn keiner müsse ja mehr seine Arbeitskraft verkaufen.“ (14)

Menschenrecht BGE?

Was die Arbeiterklasse braucht, ist Solidarität zwischen Beschäftigten, Arbeitslosen und Gewerkschaften. Das BGE schwächt aber die Kollektivmacht der Gewerkschaften. Stärken tut es den Glauben an höhere Mächte, an Chimären wie die Sozialstaatsideologie, an das individuelle „Menschenrecht“ auf arbeitsfreies Einkommen. MarxistInnen wissen: das Recht kann nie höher stehen als der wirtschaftliche Gesellschaftsunterbau! Die Menschenrechte enthalten keine Sozialparagrafen. Sie verkörpern kein zeitloses, über den Klassen stehendes Universalrecht, sondern den von jeder persönlichen Abhängigkeit von der mittelalterlicher Autokratie befreiten durchschnittlichen Besitzbürger. Die waren 1776 in der US-amerikanischen Verfassung sehr wohl mit der „Negersklaverei“, in der Großen Französischen Revolution mit der Aberkennung der Rechte der Besitzlosen wie in Britannien mit der Verweigerung des Wahlrechts für das Proletariat vereinbar. Demokratische und soziale Errungenschaften musste sich die Arbeiterbewegung selbst erkämpfen. Gleichzeitig mit der bürgerlichen Menschenrechtsideologie entstand nicht zufällig auch die des Rassismus, wo unveränderliche anatomische Merkmale zur Aberkennung der Menschenrechte herangezogen wurden – eben weil Kolonialvölker nicht als Menschen galten.

Das Vertrauen auf höhere Wesen, auf Menschenrechte für die Armen wird in den Liedzeilen der „Internationale“ bereits als leere Worte denunziert. Im Kapitalismus kann das „Menschen“recht“ auf Arbeit wie auf ein Einkommen ohne Arbeitszwang außer für eine winzige, privilegierte Minderheit nur heißen: die „Freiheit“ und das „Recht“, seine Arbeitskraft verkaufen zu dürfen!

Mittels der scheinbar universellen Menschenrechte begründen Rätz u.a. die Zahlung des BGE an alle Menschen – einschließlich der VertreterInnen des Kapitals, der Merkels wie der Hundts. „Es geht (…) zuallererst um einen solidarischen Umgang miteinander“. (15) Bedingungslose, uneingeschränkte deutsche IdealistInnen wie Rätz & Co. verkennen den Klassencharakter der bürgerlichen Menschenrechte völlig.

Was wir brauchen, ist Solidarität unter beschäftigten wie arbeitslosen Lohnabhängigen, keine „neue“, menschenrechtliche Verklärung der Sozialpartner-schaft mit dem Unternehmertum. Rätz argumentiert ähnlich den Gewerkschaftsvor-ständen, wenn die den Sozialabbau zuerst mit dem Argument ablehnen, weil damit die Binnennachfrage und der Kapitalprofit sinken würden.

BGE: Hoffnung für Arbeitslose?

Im ganzen Land haben Arbeitslosenvereine, Organisationen oder Gliederungen der Gewerkschaften Forderungen nach dem Grundeinkommen übernommen – ob nun Existenzgeld, Bürgergeld oder BGE genannt. Dies ist Ausdruck der sozialen und finanziellen Verhältnisse der Arbeitslosen, die staatlich verordnete Armut durch die Hartz-Gesetze hat politische Spuren hinterlassen. Die Ausweglosigkeit von Ein-Euro-Arbeitszwang, Bedürftigkeitsprüfung und Zwangsumzügen nähren Illusionen und Hoffnungen in eine andere soziale Absicherung der Arbeitslosen. Alle Forderungen, die ein „Mehr“ an Mitteln und Rechten versprechen, werden daher von den Betroffenen dankend angenommen.

Besonders die Langzeitarbeitslosen haben die Hoffnung auf eine Lohnarbeit verloren, Jahre von „Qualifizierung“ und Bewerbungszwang mit gleichzeitigem sozialen Abstieg haben das politische Bewusstsein der Armen und Arbeitslosen geprägt. Rätz und Co. nutzen die Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung auf jede nur irgend mögliche Verbesserung, so dass etliche Arbeitslose diesen Versprechungen auf den Leim gehen. Mit der Übernahme dieser Forderungen können die Arbeitslosen aber nicht den politischen Kampf für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse führen, mit diesen Forderungen verschärfen sie nur die vorhandene Spaltung von Beschäftigten und Arbeitslosen.

Die ökonomischen Forderungen der Arbeitslosen können nur gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Beschäftigten durchgesetzt werden – denn beide haben objektiv gleiche Interessen gegenüber dem Kapital.

Illusionen in ein BGE vertiefen nur die Spaltung innerhalb der Lohnabhängigen. Forderungen nach einer besseren Ausstattung der Arbeitslosen müssen mit Forderungen nach Mindesteinkommen verbunden werden.

Arbeitslose und Arme können keiner neuen „Verteilungsgerechtigkeit“ hinterherlaufen, der bürgerliche Staat kann und will nicht mehr verteilen, dass haben die Hartz-Gesetze gezeigt. Arbeitslose müssen gemeinsam mit den Beschäftigten gegen die kapitalistische Ordnung der Produktionsverhältnisse kämpfen, nur antikapitalistische, kommunistische Produktionsverhältnisse können ein „Recht“ auf Arbeit und Einkommen verwirklichen, dies muss die Forderung der Arbeitslosen sein – Illusionen in den bürgerlichen Staat müssen endgültig begraben werden!

Mit Hilfe von Geld sollen Freiheit vom Arbeitszwang der Lohnarbeit, von Armut und Existenzangst, die Autonomie der Menschenwürde sowie Solidarität und Gerechtigkeit etc. erreicht werden. Geld aber setzt Warenproduktion, Lohnarbeit, Kapitalverwertung und Arbeitszwang voraus. Ein schöner archimedischer Hebel, um die Welt von Kapital und Lohnarbeit irgendwie „alternativ“ aus den Angeln zu heben!

Überwindung der Arbeitsgesellschaft?

Einen vermeintlich schlauen Versuch, die „Arbeitsgesellschaft“ zu überwinden, stellt André Gorz‘ „Auswege aus der Misere“ dar (16). Er unterscheidet fremdbestimmt-abhängige „Lohnarbeit“, „Eigenarbeit“ als Produktion lebensnotwendiger Gebrauchsgüter und Dienstleistungen (Subsistenzarbeit) und „autonome Tätigkeiten“ (der Bereich freier Entfaltung). Gorz will die vom Industriekapitalismus systematisch ausgelöschte Eigenarbeit reaktivieren und so das Ausmaß autonomer Tätigkeit erweitern. Lohnarbeit soll weiter bestehen bleiben, allerdings mit drastisch reduzierter Arbeitszeit. Die gewonnene Freizeit und ein garantiertes Grundeinkommen bilden die Basis für eine „alternative nichtkapitalistische Wirtschaft der Bevölkerung“. Das BGE fungiert hier über die materielle Existenzsicherung hinaus quasi als Kapital für die technisch-materielle Ausgestaltung des „autonomen“ Sektors.

Gorz‘ Strategie basiert auf der grundfalschen Annahme, die Ablösung der „fordistischen Industriegesellschaft“ gehe mit einer Aufhebung der Lohnarbeit schwanger. Bildung und Wissen seien die einzige, „neue“ Form von Kapital. Dieses Humankapital verdränge Lohnarbeit und konstantes Kapital aus der Wertschöpfung. Die Arbeitszeit habe aufgehört, Maß des Tauschwertes zu sein. Zudem verfüge der postfordistische Arbeiter in Person über sein unveräußerliches Humankapital. Folglich spielt sich in seinem Kopf die Überwindung der Arbeitsgesellschaft ganz lautlos ab, weil sie selbst auf dem absteigenden Ast sei und im Postfordismus objektiv auf ihre eigene Aufhebung zusteuere.

Welch „linker“ Irrtum! Konträr zu seinen Grundannahmen weitet sich gerade im „Postfordismus“ weltweit die Lohnarbeit aus, während die Subsistenzproduktion (Kleinbauernschaft, Handwerk) dramatisch unterminiert und das „Humankapital“ aus Bildung und Wissen weniger autonom denn je immer direkter als Lohnarbeit dem immer gewaltiger akkumulierten Fixkapitalmassen subsummiert wird. Gorz‘ Morgenluft witternder Bildungskleinbürger stellt eine Fata Morgana in der Oase Proudhonscher Sozialromantik dar. Die Prognosekraft des Marxismus konnte und muss dieser sowohl im 19. und erst recht im 21. Jahrhundert den gerechtfertigten Garaus machen.

Selbst der windelweiche Linksreformist Joachim Hirsch, der sich mit dem Für und Wider des BGE schwertut, kommt nicht umhin, den Finger in diese Wunde zu legen.

„Das Gorzsche Konzept hat einen eigentümlichen Zwittercharakter. Einerseits lässt er das kapitalistische Produktionsverhältnis bestehen, auf der anderen Seite möchte er einen ökonomischen Sektor schaffen, der nicht nach kapitalistischen Prinzipien funktioniert. Selbst wenn man davon ausgeht, dass auf diese Weise eine schrittweise Überwindung des Kapitalismus innerhalb desselben möglich ist – wogegen einige ernst zu nehmende Argumente sprechen, die schon Marx in seiner Proudhon-Kritik formuliert hat -, setzt dies langwierige und schwierige soziale Auseinandersetzungen und Kämpfe voraus.“ (17)

Der „eigentümliche Zwittercharakter“ liegt denn auch in der Gorzschen Zugehörigkeit zur deklassierten Intelligenz, die – vermeintlich über der Klassengesellschaft stehend – als selbst ernannte „Vordenker“ allerlei abgestandenen Wein in neuen Schläuchen als Zukunftsvisionen unters staunende Volk zu verschütten sich bisweilen bemüßigt fühlt.

BGE als alternatives Gesellschaftsmodell?

Aber: es ist doch genug Geld zum Umverteilen nach unten da, sagen alle BefürworterInnen des BGE. Trotzdem ist die ganze Entwicklung seit Jahrzehnten mit zunehmender Tendenz in die andere Umverteilungsrichtung gegangen.

Wieder diese pfäffische „Kapitalkritik“! Geld steckt nicht im Sparstrumpf, sondern muss sich in der Hand der Reichen, der Banken, Versicherungen und Konzerne vermehren. Erst dann verwertet es sich als Kapital. Dies tut es um so schwerer, je reicher es schon ist (Tendenz zum Fall der Durchschnittsprofitrate). Akkumulation und Verelendung sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig. Wer sich um Produktion nicht kümmert, muss natürlich die Verteilung(sgesetze) für das Bestimmende statt das Untergeordnete, Abgeleitete halten. Schon sprießen soziale Flickschuster„konzepte“ von Nehmen und Geben hervor, dass es einem warm ums Herz wird, weil der Kapitalismus als solcher ja friedlich verschont bleibt.

Ja, wenn nur seine Verwertungsgesetze nicht wären! Natürlich konzentriert sich immer mehr Reichtum in immer weniger Händen. Wie auch sonst? Im Gegensatz zu unseren Sozialromantikern, die kopfschüttelnd über die immer weiter klaffende Gerechtigkeitslücke jammern, erkennen MarxistInnen, dass das viele Geld eben nicht als Zahlungs- und Zirkulationsmittel fungiert, sondern als Anlage suchendes Kapital. Deshalb ist es kein Bruch in der ansonsten harmlosen kapitalistischen Logik, sondern seine Essenz, dass Kleinunternehmen zunehmend pleite gehen, dass das Monopolkapital immer dreistere Angriffe auf mühsam erkämpfte proletarische Errungenschaften startet, ja starten muss, um die sinkende Rendite (tendenzieller Fall der Profitrate) aufzufangen, insbesondere für das überschüssige Kapital in Finanzanlagen. Nicht trotzdem, sondern gerade wegen der zunehmende Zwang zur Umverteilung von unten nach oben!

Unsere sozialen „Visionäre“ meinen wirklich, mittels des BGE den Arbeitszwang aus dem Kapitalverhältnis heraus operieren zu können wie eine Geschwulst. Kreativität und Motivation würden gesteigert, das Kapital stünde profitabler als ohne Arbeitszwang da – und es brauche sich bei Rationalisierungen keine Sorgen mehr um entlassene Mitarbeiter zu machen, könne also richtig damit loslegen. Ein Bündnis mit den SachwalterInnen des Kapitals gegen Arbeitszwang ist genauso illusionär wie das für Arbeit. BGE-BefürworterInnen und Gewerkschaftsspitzen sind zwei Seiten der falschen Medaille. Der Abschaffung des Arbeitszwangs stehen nicht in erster Linie die auf Lohnarbeit fixierten Stumpfsinnigen im Weg, die keinen andern Sinn und Inhalt in ihrem Leben finden, wie der „aufgeklärte akademische Sozialtüftler“ meint, sondern das Kapitalverhältnis.

Sätze wie folgende entlarven den Intellektuellendünkel ihres Verfassers:

„Diese Frage dürfte eigentlich nur von denjenigen gestellt werden, für die Arbeit eine widrige Nötigung ist und die deshalb nicht einsehen, warum andere sich ihr entziehen dürfen, wenn sie sich selbst ihr unterwerfen müssen. Diejenigen, für die eine Arbeit Wert hat, die sie als Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung ansehen und nutzen können, müssten die Meinung vertreten, dass Lust und Freude am Arbeiten mit Arbeitszwang unvereinbar sind“ (18)

Hier bekommt die Arbeit ohne Tauschwert erst wirklichen Wert „beigemessen“. Die höheren Weihen der „Entsagung“ des Lohnarbeitszwanges geraten im Munde dieses „linken“ Schwätzers zu einem Schlag ins Gesicht für die gesamte lohnabhängige, überwältigende Mehrheit der Bevölkerung.

Sozialer Kapitalismus?

Auch wenn linke VertreterInnen des BGE im Unterschied zur Mehrheit das BGE durch höhere direkte Steuern – allerdings einschließlich der Lohnsteuer – und nur durch eine leicht erhöhte indirekte Umsatzsteuer finanzieren wollen, geht ihnen vor lauter Sorge um die Menschenrechte verloren, dass die steigende Arbeitslosigkeit vom Kapital selbst verursacht wird und schon deshalb nicht „von allen Menschen“ finanziert werden darf.

Das BGE-Modell setzt den „Entwurf“ eines sozialen Kapitals an die Stelle des wirklichen. Die Sphäre der Produktion, in der der Mehrwert erst entsteht, tritt ganz hinter die Verteilung zurück. Es reiht sich ein in die Riege von Bischöfen, Gewerkschaftsführern und Linkspartei-VorständlerInnen, die dem Kapital schon lange klarmachen möchten, dass es sich soziale Wohltaten zu seinem eigenen langfristigen Nutzen auch leisten möge – und könne. Es missbraucht die Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne Armut und Arbeitszwang, weil es sie auf dem Boden der Kapitalverwertung befriedigen will.

Kapitalismus? Gewiss, aber ohne seine Folgen! Die Vorstellungen hinter dem Konzept BGE haben bei allen graduellen Unterschieden einen gemeinsamen Charakter: wie das BGE keine selbstständige wirtschaftliche Basis hat, so auch immer weniger die kleinbürgerlichen, nichtausbeuterischen WarenproduzentInnen. Die Bedingungslosigkeit der Zahlung soll nicht nur vor Lohnarbeit, sondern auch vor den untragbaren Risiken des Verkaufs von Waren und Dienstleistungen schützen. Der Arbeitsbegriff wird auf Nischen, Randbereiche und Privatleben ausgedehnt. Zufrieden, wenigstens an dem im Wesentlichen in riesigen Konzernen erwirtschafteten Reichtum teilzuhaben, ohne den sie gar nicht existieren könnten – denn auf diese Beteiligung reduziert sich das „andere Gesellschaftsmodell“ schließlich – konzedieren sie die Möglichkeit sozialer, gerechter Kapitalverwertung und eines Sozialstaats.

Allen diesen „linken“ Illusionen liegt der Glaube an soziale Gerechtigkeit, an eine im Grunde vernünftige Produktionsweise zugrunde, deren Ursachen und Triebfedern man nicht in Frage stellen möchte, aber deren Konsequenzen einem doch zuweilen Angst und Schrecken einjagen. Die Arbeiterbewegung ist gut beraten, auf den Klassenkampf zu setzen statt auf eine weitere „höhere“ Form von Sozialromantik, eine „neue“ menschenrechtliche Verklärung der Sozialpartnerschaft. Die einigende Form all dieser Forderungen ist schließlich nichts weiter als ein einziger Appell an „Einsicht und Vernunft“ derer da oben zu einem höheren Zweck: der Erhaltung des sozialen Friedens zwischen den Klassen. Das ist die ultima Ratio der kleinbürgerlichen Mittelposition zwischen Kapital und Lohnarbeit, die scheinbar über und neben dem Ausbeutungsverhältnis schwebt.

Ein besonders perfides Beispiel für die „innovativen“ Gedankengänge der BGE-BefürworterInnen ist die Idee des postfordistischen Sozialpakts:

„Die Neudefinition eines neuen postfordistischen Sozialpakts (…) Das Bürgereinkommen ist also die modernste Form, die mit dem aktuellen flexiblen Akkumulationsregime kompatibel ist, möglich durch einen Eingriff in die Wiederverteilung der Einnahmen aus der immateriellen Produktivität, die heute in offiziellen Statistiken verschwinden, aber jenen Reichtum produzieren, der etwa für die internationale Finanzspekulation benutzt wird und Ursprung der modernsten Formen gesellschaftlichen Ausschlusses ist (…) ein Beispiel für radikalen Reformismus, weil er sich der Logik widersetzt, die der Einkommenspolitik innewohnt wie auch der gewerkschaftlichen Konzertierung und der Flexibilisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes und die kompatibel ist mit den Notwendigkeiten der kurzzeitigen Profitabilität von Unternehmen (…) Das Bürgereinkommen ist Gegenmacht zur Versklavung durch die Arbeit (…) Denen, die sich den Produktionshierarchien nicht unterwerfen, Geld zukommen zu lassen – und damit Kaufkraft – bedeutet, monetäre Formen von Gegenmacht zu entwickeln.“ (19)

Die „immaterielle Produktivität“ dieser Erklärung ist gleich Null, kurz: (post)autonomer geistiger Tiefflug! Ließ Gorz den Kapitalismus am versiegenden Mehrwert verrecken und ein neues „immaterielles Kapital“ in „Bildung und Wissen“ des Bildungskleinbürgers seinen Platz einnehmen, so legt Fumagalli eine „kreative“ Neuschöpfung des Wertgesetzes vor: den offiziellen Statistiken entzogene immaterielle Produktivität, die aber als der Finanzspekulation dienlicher Reichtum leibhaftige Wiederauferstehung feiert. Das ist fast biblisch, Herr Wirtschaftsexperte und Sozialpaktingenieur!

„Die meisten linken VertreterInnen des BGE sind nicht nur auf einen individuellen Ausweg aus der Lohnarbeit aus. Sie lehnen es rundweg ab, die Teilung der Gesellschaft in antagonistische Klassen als Ausgangspunkt aller Überlegungen zu machen. Wer die Klassengesellschaft zu einem sekundären Merkmal macht und statt dessen die „Arbeitsgesellschaft“ als den Kern des Übels betrachtet, der wird naturwüchsig keinen Zugang zu den Erwerbstätigen finden, die sich in dieser Gesellschaft abrackern müssen (…) Da das Kapital kein Interesse an der Ausschaltung der Konkurrenz unter den Lohnabhängigen hat, ist es vollkommen undenkbar, dass es eine gesellschaftliche Lösung akzeptieren würde, nach der allen Menschen eine ausreichende Grundsicherung zuteil wird, die es ihnen erlaubt, ohne Arbeit am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (…) Den Reichtum beim Kapital zu holen, also mindestens die Profite anzugreifen, steht ausdrücklich nicht auf dem Programm der Verfechter des BGE, auch nicht bei den Linken. Schließlich wollen sie mit ihren Modellrechnungen nachweisen, dass das BGE ‚finanzierbar ist‘ und sie wollen auch das Kapital davon überzeugen, dass dies eine gute Lösung sei.“ (20)

Diese Sätze des RSB sprechen für sich. Dass die BGE-VerfechterInnen sich wohl keinen Zugang zu den Erwerbstätigen verschaffen werden ist deshalb nur gut!

Eine richtige Kritik am BGE

Unsere Kritik am BGE kann sich in vielen Punkten auf eine Broschüre von Rainer Roth stützen, die das Thema ausführlich beleuchtet (21). Roth unterstützt als Alternative zum BGE u.a. die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, 10 Euro Mindeststundenlohn und ein ausreichendes garantiertes Mindesteinkommen für alle Erwerbslosen ohne Bedürftigkeitsprüfung fordert. Er entdeckt allerdings einen Widerspruch zwischen der Mindestlohnforderung und der nach ausreichendem garantierten Mindesteinkommen. Letztere mache zuviel Zugeständnisse an das BGE wegen des Verzichts auf die Bedürfnisprüfung (s.o.). Mit ähnlicher Logik wehrt er sich gegen Forderungen wie nach 1.000 Euro garantierter Mindestunterstützung. Das „Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne“ hält demgegenüber 500 Euro ALG II plus Warmmiete gemäß Mietspiegel wenn schon nicht für ausreichend, so doch für logisch wegen des einzuhaltenden Abstandsgebotes zum Mindestlohn. Es müsse einen Anreiz zur Arbeitsaufnahme geben, außerdem hätten Erwerbstätige höhere Werbungskosten. Da widerspricht es sich ein bisschen selbst:

„In diesem Sinne kennt das Arbeitslosengeld I ebenfalls keine Bedürftigkeitsprüfung. Ein solches Arbeitslosengeld müsste allen Erwerbslosen für die gesamte Dauer der Arbeitslosigkeit gezahlt werden“ (22)

Eben! Warum soll z.B. das ALG I einer Anästhesiekrankenpflegefachkraft nicht höher sein als der monatliche Mindestlohn? Warum soll dieser höher als ALG II sein? Das Lohnabstandsgebot ist auch Schlachtruf der Aktionäre. Warum? Weil sie durch Kürzungen bei Sozialbezügen leichter das Lohnniveau senken können! Nichts spricht außerdem gegen tarifliche Mindestlöhne, die über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen – neben anderen Gründen auch ein Anreiz, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Übergangsforderungen

Als zweiter Kritikpunkt an Roth müssen wir die Unterbewertung des Potenzials der 30-Stundenwoche anbringen. Er unterstützt sie mit dem richtigen Argument, dass sie die Einheit der Arbeiterklasse erleichtere, also unter Beschäftigten wie Erwerbslosen. Aber sie ist im Gegensatz zu o.a. Teilforderungen auch eine Losung, die auf eine Umverteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit verweist, in Richtung der Übergangslosung nach Aufteilung der Arbeit auf Alle, die die Logik im Sozialismus vorwegnimmt: der Produktivitätsfortschritt soll der lebendigen Arbeit zu Gute kommen. Der arbeitenden Klasse ist daran gelegen, schon aus Gründen der Kampfkraft die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, in diesem Sinn nimmt sie gleich den Kampf gegen Entlassungen auf, um sich in zweiter Linie um ausreichende Bezahlung für das trotz dessen existierende Arbeitslosenheer einzusetzen. Die notwendige gesellschaftliche Arbeit soll gleichmäßig auf alle arbeitsfähigen Gesellschaftsglieder verteilt werden einschließlich der ehemaligen Ausbeuter, die erstmals mit der Arbeitspflicht für sich selbst in Berührung kommen sollen.

Um zu bestimmen, was notwendige Arbeit ist, muss das Kapital enteignet werden, das Proletariat zum kollektiven Unternehmer der Planwirtschaft werden und im Staat herrschen. Die praktische Schule wie auch notwendige Voraussetzung für den Beginn der Umsetzung der Übergangsforderungen unter kapitalistischem Regime ist die Arbeiterkontrolle. Viel wichtiger als die Höhe der Arbeitslosenunterstützung ist der Aufbau von Kontrollorganen, die die Bedürftigkeit festlegen – nicht der kapitalistische Staat – und die Firmen überhaupt zu Neueinstellungen zwingen können. Damit greifen sie aber in das ureigenste Recht der Besitzer ein. Diese Logik führt dazu, unweigerlich eine Doppelmacht in Staat und Betrieb errichten müssen, bevor sie an die Entmachtung der Kapitalisten und die Zerschlagung ihres Staatsapparates gehen können. Diese Perspektive der Machtergreifung fehlt allerdings bei Roth; die Übergangsforderung ist bei ihm syndikalistisch verkürzt.

Dieses strategische Moment der Arbeiterkontrolle fehlt auch im Kapitel „Unsere Forderungen: 12/30/1.500!“ (23) ebenso wie die Verknüpfung mit der Machteroberung der lohnarbeitenden Klasse. Somit verkommt es zu einem Programm von Teil- und nicht von Übergangsforderungen. Selbst die Parole „Für die sofortige Einführung der 30-h-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!“ (24)

Was soll ferner die Formulierung nach „Verbot von Massenentlassungen. Dabei appellieren wir nicht an den ‚Gesetzgeber‘, sondern wollen dazu beitragen, dass ein großer öffentlicher Druck entsteht, der weitere Entlassungen verhindert“. (25)

Wenn man eine Verbotslosung aufstellt, warum soll sie sich dann nicht an den Gesetzgeber richten? An wen sonst? An die Massenbewegung? Verstehe, wer will!

Bankrotte Betriebe, die gesellschaftlich nützliche Güter oder Leistungen herstellen, will der RSB nicht entschädigungslos verstaatlichen und unter Arbeiterkontrolle weiterführen, sondern ohne Kapitalisten und gegebenenfalls mit staatlichen Zuschüssen. Der Unterschied der Verstaatlichung zum Betriebsteilhabermodell liegt in der Möglichkeit der Ausschaltung der Konkurrenz im ersteren Fall, der besseren Übergangsmöglichkeit zur Planwirtschaft. Zahlreiche übernommene Betriebsinseln sind im Meer der kapitalistischen Marktwirtschaft zwangsläufig zum Untergang verdammt.

Im Unterschied zu den BGB-AnhängerInnen, aber auch zu den Schwächen ihrer KritikerInnen haben wir unsere Antwort eingebettet in ein revolutionäres Aktionsprogramm, wenn wir fordern:

“30-Stunden-Woche und 4-Tage-Woche in Ost und West bei vollem Lohnausgleich! Angleichung aller Löhne und der Arbeitszeit im Osten ans Westniveau! Aufteilung der Arbeit auf Alle unter Arbeiterkontrolle! Europaweit koordinierter Kampf zur Verkürzung der Arbeitszeit! Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, unter Kontrolle der Beschäftigten, Gewerkschaften und von Komitees der örtlichen Bevölkerung!“ (26)

In diesem Sinne gilt es, innerhalb der Gewerkschaften und der Arbeitslosenverbände für einen gemeinsamen Kampf und eine gemeinsame Strategie der innerhalb und außerhalb des Lohnarbeitsprozesses befindlichen Teile der Arbeiterklasse einzutreten.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRKI), Das Trotzkistische Manifest, Wien 1989, S. 30

(2) Liga für die Fünfte Internationale (L5I), Vom Widerstand zur Revolution, Berlin 2003, S. 38

(3) Der Kampf für Arbeitermacht, Programm der Gruppe Arbeitermacht, Berlin 2009, S. 13

(4) L5I, Vom Widerstand zur Revolution, S. 38

(5) LRKI, Das Trotzkistische Manifest, S. 29/30

(6) BAG-SHI: Thesen zum Existenzgeld, in: Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hrsg.), Existenzgeld – Kontroversen und Positionen, Münster, 2000, S. 137

(7) BAG-Erwerbslose: Wir fordern ein Existenzgeld für alle Menschen, a.a.O., S. 123

(8) Frauengruppe Glanz der Metropole: Strategie der Arbeitsverweigerung – Existenzgeldforderung klammert Rolle der Hausarbeit aus, a.a.O., S. 101

(9) Wildcat: Die Perspektiven des Klassenkampfs liegen jenseits einer Reform des Sozialstaats, a.a.O., S. 106 f.

(10) Frauengruppe Glanz der Metropole, a.a.O., S. 103 ff.

(11) Joachim Hirsch: Zukunft der Arbeitsgesellschaft, a.a.O., S. 158

(12) Wildcat, a.a.O., S. 107 ff.

(13) WIRTSCHAFTSWOCHE 2.10.1997, S. 30

(14) Revolutionär Sozialistischer Bund/IV. Internationale: Solidarität statt Spaltung – Unsere Kritik am „Bedingungslosen Grundeinkommen“, Mannheim, 2008, S. 12

(15) Rätz u.a.: Grundeinkommen bedingungslos, Attac Basis Texte 17, Hamburg 2005, S. 54

(16) André Gorz, Auswege aus der Misere, in: Krebs/Rein, Existenzgeld, a.a.O., S. 170 ff.

(17) Joachim Hirsch, a.a.O., S. 168

(18) André Gorz, a.a.O., S. 178

(19) Andrea Fumagalli: Die Grundsicherungsdebatte in Italien, in: Krebs/Rein, a.a.O., S. 243 f.

(20) RSB, a.a.O., S. 12

(21) Rainer Roth, Zur Kritik des BGE, Frankfurt/M., 2006

(22) a.a.O., S. 9

(23) RSB, Solidarität statt Spaltung, a.a.O., S. 18 f.

(24) RSB, a.a.O., S. 19

(25) ebd.., S. 16

(26) Gruppe Arbeitermacht, Der Kampf für Arbeitermacht, S. 13




Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa! – Europäisches Aktionsprogramm gegen die Krise

Liga für die Fünfte Internationale, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Im Folgenden veröffentlichen wir ein Aktionsprogramm gegen die Krise, das die Liga für die Fünfte Internationale (L5I) im Juli 2009 publiziert hat. Wir schrieben dieses Aktionsprogramm angesichts der Tatsache, dass die etablierten Führungen der Arbeiterbewegung trotz der dramatischen Folgen der Wirtschaftskrise keine ernsthaften Schritte zur Organisierung des Abwehrkampfes unternahmen und dies bis heute nicht tun. Der Arbeiterbewegung fehlen daher die politischen Antworten und die notwendigen Strategien und Taktiken, um die Offensive der herrschenden Klasse stoppen und umkehren zu können. Um die Arbeiterbewegung mit einer solchen politischen Perspektive auszustatten, hat die LFI das folgende Aktionsprogramm ausgearbeitet. Aufgrund der fortgesetzten Offensive der Kapitalisten und der nach wie vor bestehenden Führungskrise in der Arbeiterbewegung hat das Programm nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt.

Die Redaktion, Februar 2010

Eine tödliche Plage breitet sich in ganz Europa aus – diese Plage heißt Massenarbeitslosigkeit. Sie bringt die fürchterliche Angst mit sich, den Lebensunterhalt, das Zuhause oder die Rente zu verlieren. Wie kann das gestoppt werden? Wie können die ArbeiterInnen zurückschlagen?

Laut offiziellen Angaben gibt es bereits 14 Millionen Arbeitslose in den 27 EU-Mitgliedsstaaten (Quelle: Eurostat). Schätzungen zufolge liegt die Dunkelziffer sogar bei 20,8 Millionen. Und die Zahlen steigen in halsbrecherischem Tempo.

In der EU stieg die Arbeitslosigkeit von 6,8% im Januar 2009 auf 8,6% im April. In der Euro-Zone stieg sie sogar von 7,3% im Vorjahr auf 9,2%. In Spanien, dem bisher am stärksten betroffenen Land, sind erschütternde 18,1% arbeitslos: fast ein Fünftel!

Besonders stark sind Jugendliche betroffen. Sogar vor der Rezession waren die unter 25jährigen in unsicheren Jobs mit niedrigem Lohn und sehr schlechten Arbeitsbedingungen konzentriert. Nun verlieren täglich Tausende von ihnen den Arbeitsplatz. Tausende andere schaffen es nicht einmal, eine erste Beschäftigung zu bekommen, wenn sie die Schule verlassen. Offiziell sind 18,5% der unter 25jährigen arbeitslos.

Die Kapitalisten und die Regierungen, die sie unterstützen, fordern nun von den ArbeiterInnen, dass sie freiwillig kündigen, Kurzarbeit für niedrigere Löhne leisten, monatelang unbezahlten Urlaub nehmen, Lohnkürzungen akzeptieren oder in den extremsten Fällen umsonst arbeiten! Warum verlangen sie diese Opfer? Sie beteuern, es würde „unsere“ Konzerne, „unsere“ Industrien und „unsere“ nationale Wirtschaft retten. So wird von den ArbeiterInnen verlangt, für eine Wirtschaftskrise zu zahlen, die wir nicht verursacht haben.

Die Unternehmer versprechen uns, dass diese Opfer voll zurückgezahlt werden, wenn die Rezession vorbei ist. Sie lügen! Wenn der Aufschwung da ist, werden sie behaupten, dass die Konkurrenz anderer Kapitalisten, z.B. aus Asien, es ihnen unmöglich machen würde, zu den alten Löhnen und Personalbeständen zurückzukehren. Die Millionen durch die Krise verlorenen Jobs sind für immer verloren sein, sie werden bleibenden Schaden an Kommunen und Haushalten auf der ganzen Welt anrichten.

Schwache Führung

In jedem europäischen Land kapituliert die etablierte Führung der Arbeiterklasse vor den Forderungen des Kapitals. Indem sie dessen Argument, wonach „wir alle“ für die Krise bezahlen müssten, akzeptieren, bereiten sich die GewerkschaftsführerInnen und die sozialdemokratischen Parteien darauf vor, die von den ArbeiterInnen hart erkämpften Rechte aufzugeben. Sie handeln Verträge aus, die Arbeitsplätze und Konzerne, die kurz vorm Bankrott stehen, retten sollen und auf „freiwilligen“ Kündigungen, Lohnkürzungen, reduzierten Pensionen, flexiblen Arbeitszeiten, schlechteren Arbeitsbedingungen, Urlaubskürzungen und der Ersetzung von permanenten und regulierten Arbeitsplätzen durch unsichere Teilzeit- und Leiharbeitsverhältnisse basieren.

In vielen Ländern betraf die erste Angriffswelle hauptsächlich den privaten Sektor; zuerst den Finanzsektor 2008, dann 2009 den Einzelhandel (Karstadt, Woolworth) und die verarbeitende Industrie (Vauxhall, Continental).

In anderen Ländern, wie Deutschland, in denen der Kern der ArbeiterInnenklasse immer noch in der verarbeitenden Industrie beschäftigt ist, konnten die schlimmsten Entlassungen durch Kurzarbeit und durch das staatliche Aufkommen für einen Teil der Löhne vermieden werden.

Aber auch das ist nur eine Gnadenfrist; wenn sie endet, wird das zu einer weiteren Kündigungs- und Schließungswelle führen. Zur selben Zeit diskutiert die Politik über eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben, da sie durch ihre Banken- und Konzernrettungsaktionen nun historisch hohe Budgetdefizite verzeichnen. Eine der nächsten Angriffswellen wird also die Beschäftigten im öffentlichen Sektor betreffen.

Politiker und Massenmedien werden mit dem Finger auf LehrerInnen, KrankenpflegerInnen, Staatsbedienstete, SozialarbeiterInnen und bei den öffentlichen Verkehrsmitteln Beschäftigte zeigen und verlangen, dass „die genauso“ ihr Opfer zu bringen hätten. „Seht euch die Zugeständnisse, die eure Kollegen im privaten Sektor machen an“, werden sie sagen, „wo ist eure Solidarität?“

Wir müssen die Bosse zwingen, den Preis ihrer Krise selbst zu bezahlen!

Die ArbeiterInnenbewegung muss diese zynischen Aufrufe zur „Solidarität“ entschieden ablehnen. Natürlich brauchen wir Solidarität, aber das bedeutet, uns gemeinsam gegen die Angriffe zu wehren – nicht deren Folgen „gerecht“ unter uns aufzuteilen. Wir brauchen eine Solidarität des Widerstands.

In den großen europäischen Streiks und Demonstrationen des letzten Jahres, v.a. in Frankreich und Griechenland, erhoben ArbeiterInnen und Jugendliche eine Forderung: „Wir zahlen nicht für eure Krise“. Solche Streiks, Demonstrationen, Besetzungen und Blockaden können die Kapitalisten und ihre Regierungen zwingen, ihre Angriffe zu stoppen und rückgängig zu machen.

Doch wer soll nun für die Krise bezahlen? Wir sagen: die Kapitalisten selbst! Um eine Bewegung zu bilden, die fähig ist, sie dazu zu zwingen, müssen wir unsere Massenaktionen in ganz Europa vereinen.

Wir müssen Anti-Krisen-Komitees in Städten, Dörfern und Bezirken in allen Ländern Europas gründen, um den Widerstand gegen die Folgen der Krise koordinieren zu können. Sie sollten Delegierte von allen Organisationen, die gegen die Krise kämpfen, anziehen: VertreterInnen der Gewerkschaften, lokaler SchülerInnen- und StudentInnenkampagnen, Arbeitsloser, aller organisierten und aller bisher unorganisierten Schichten.

Angesichts der rapiden Zunahme der Arbeitslosigkeit brauchen wir eine Massenbewegung der Arbeitslosen – die von demokratisch gewählten RepräsentantInnen der Arbeitslosen selbst geführt wird. Die Gewerkschaften sollten die Arbeitslosenbewegung finanziell unterstützen.

Wie schon in früheren Wirtschaftskrisen werden die Arbeitslosen in großer Zahl auf die Straße gehen müssen, um die soziale Misere der Arbeitslosigkeit für alle sichtbar und hörbar zu machen. Sie müssen Arbeit oder volle finanzielle Entschädigung, Weiterbildung, bezahlten Urlaub und kostenlose Krankenversicherung fordern. Wer soll das finanzieren – die Unternehmen und die Superreichen!

Die üppigen Ausgaben der parasitären Millionäre, die Unsummen für Waffen und Kriege verschwenden, sind perfekte Ziele für Protestaktionen der Arbeitslosen. So können wir die Irrationalität und Grausamkeit des kapitalistischen Systems vor Millionen Menschen bloßstellen. Massenbewegungen der Arbeitslosen müssen sich mit den Arbeitskämpfen der ArbeiterInnen solidarisieren, um so zu zeigen, dass sie sich nicht als Streikbrecher benutzen lassen: Sie müssen im Gegenteil Schulter an Schulter mit den Beschäftigten kämpfen, denn nichts und niemand kann die vereinte ArbeiterInnenklasse besiegen.

• Nein zu allen Kündigungen und Arbeitsplatzkürzungen!

• Für Besetzungen, Streiks und Demonstrationen, um Arbeitsplätze und Lebensgrundlagen zu sichern!

Die Welle von Betriebsbesetzungen in Frankreich, Großbritannien und Irland, richteten sich gegen die Schließung der Fabriken. Sie zeigen den richtigen Weg. Betriebsbesetzungen können den Verkauf des Unternehmens verhindern, die Unternehmensführung zwingen, alle Geschäftsbücher offenzulegen und anderen ArbeiterInnen als gutes Beispiel dienen.

Immer wenn ArbeiterInnen Besetzungsaktionen durchführen, muss auch die gesamte lokale Arbeiterbewegung, die Jugend und die Arbeitslosenbewegung mobilisiert werden, um sich an den Besetzungen und Blockaden zu beteiligen. Sonst können Unternehmensführung und Polizei den Betrieb leichter wieder zurückerobern. Besetzte Betriebe sollten zu Festungen des Widerstands und zur Inspiration für die gesamte arbeitende Klasse werden.

Einzelne Besetzungen können zu großen Besetzungswellen anwachsen, wie das in Frankreich und Italien 1968/69 geschah. Wie wir damals gesehen haben, können solche Aktionen größere Zugeständnisse von den Bossen und dem Staat erzwingen, als es normale „friedliche“ Verhandlungen oder auf einzelne Berufssparten beschränkte Streiks je könnten.

Aber eine Massenbewegung, die Besetzungen durchführt, eröffnet noch weitere Perspektiven. Sie wirft die Frage auf: Wer soll die Industrie kontrollieren, die Unternehmer oder die ArbeiterInnen? Sie eröffnet die Perspektive eines Kampfes für die Macht der ArbeiterInnen über die ganze Gesellschaft, für eine geplante Wirtschaft, die dazu da ist, die Bedürfnisse der Menschheit und nicht die Gier Einzelner zu befriedigen. Mit anderen Worten, es geht um die Beendigung des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit seinen Krisen, seiner Arbeitslosigkeit und Ausbeutung.

Die Aufstände der Jugendlichen in Griechenland im Dezember 2008 und die Generalstreiks in Frankreich 2009 haben den Kampfwillen der Massen bewiesen. Aber was hat diese ersten Wellen des Widerstands davon abgehalten, noch weiter zu gehen? Es waren die Führungen der Gewerkschaften und der traditionellen reformistischen Parteien, welche die Ausweitung des Klassenkampfes verhindert haben.

Deswegen brauchen wir Anti-Krisen-Komitees, die den Kampf von unten organisieren können – mit der etablierten Führung wo möglich, ohne sie, wo nötig. Wir müssen der Führung der Gewerkschaft innerhalb der Gewerkschaft den Kampf ansagen. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Gewerkschaften ihren Kurs ändern und Organisationen wirklichen Widerstands, Instrumente zur Mobilisierung von Millionen gegen die Offensive der herrschenden Klasse werden!

Die Gewerkschaftsführer und ihre Verbündeten, die reformistischen, sozialdemokratischen Parteien und die offiziellen „kommunistischen“ Parteien werden alles in ihrer Macht stehende tun, um das zu verhindern. Die einzige Möglichkeit, sie zu stoppen, ist ein kombinierter Aufruf: die offizielle Führung zum Kampf aufzufordern und zugleich an ihre Millionen von Basismitgliedern zu appellieren, den Kampf wenn nötig auch ohne die Unterstützung der Führung aufzunehmen.

Eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Gewerkschaften und Betrieben kann sicherstellen, dass die GewerkschaftsführerInnen nicht mehr als den durchschnittlichen Lohn ihrer Basismitglieder verdienen und jederzeit abwählbar sind. Sie kann dafür eintreten, passive FunktionärInnen durch KämpferInnen zu ersetzen. Sie kann sich mit anderen Gewerkschaften verbinden, um Aktionen zu setzen und sich zu solidarisieren.

Gegen Arbeitslosigkeit

l • Für Massenstreiks – bis zum Generalstreik – um zu verhindern, dass Unternehmer und Regierung uns für die Krise bezahlen lassen, indem sie uns entlassen!

l • Gegen die Prekarisierung von Vollzeit-Arbeitsplätzen! Keine Teilzeitjobs für niedrigere Entlohnung!

l • Für ein massives Beschäftigungsprogramm, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, gesellschaftlich nützliche öffentliche Dienste anzubieten, die ökonomische und soziale Infrastruktur zu entwickeln und die Umwelt zu entlasten. Arbeitergemeinden, die akuten Mangel an Wohnräumen, Krippen, Kindergärten, Arztpraxen und Krankenhäusern oder nur baufällige Wohnungen oder Schulen zu Verfügung haben, sollten eine Überprüfung der sozialen Bedürfnisse vornehmen!

• Diese öffentlichen Arbeiten sollten im Rahmen einer demokratisch geplanten Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle stattfinden. Die Pläne sollten von den ArbeiterInnen der jeweiligen Branche entworfen werden, gemeinsam mit den im Baugewerbe, der Werkstofftechnik und dem Transport tätigen ArbeiterInnen. Demokratisch gewählte GewerkschaftvertreterInnen sollten die Verantwortung dafür übernehmen, Arbeitslose oder SchulabgängerInnen zu integrieren und einen kollektiven Lohn festzusetzen. Dieses Programm muss durch massiv erhöhte Steuern für die Reichen finanziert werden (auf ihre Einkommen und auf ihren angesammelten Reichtum).

• In Betrieben, in denen Kurzarbeit geleistet wird oder die Bosse versuchen, Teile der Belegschaft zu entlassen, fordern wir eine gleitende Skala der Arbeitsstunden: Die Arbeit soll auf alle Arbeitsfähigen ohne Lohnkürzungen aufgeteilt werden, so dass Arbeitslose wieder eine Arbeit bekommen.

Die Unternehmer benutzen die Krise, um Reallöhne zu kürzen und vermehrt prekäre Arbeitsverhältnisse zu schaffen.

Um die Arbeit“geber“ davon abzuhalten, Millionen Menschen in Armut und Unsicherheit zu stürzen, und um unsere kollektive Kraft zu stärken, fordern wir:

• Für einen Minimallohn, der hoch genug ist, um die ArbeiterInnen vor Armut zu schützen und von der jeweiligen nationalen Arbeiterbewegung festgesetzt wird!

• Für eine gleitende Lohnskala, um die Löhne vor Inflation zu schützen! Für proletarische Preisüberwachungskommitees, um die Preiserhöhungen großer Super-marktketten aufzudecken und zu bekämpfen!

• Die Gewerkschaften müssen einen Kampf um Lohnerhöhungen über Landesgrenzen hinweg ins Leben rufen, um das Lohnniveau der ärmeren Länder an das der reicheren anzupassen. Das ist die Antwort der ArbeiterInnenklasse im Sinne internationaler Solidarität! Nein zur imperialistischen Politik der „Angleichung nach unten“, der Abschiebung von „ausländischen“ ArbeiterInnen oder der Bevorzugung von StaatsbürgerInnen gegenüber MigrantInnen!

• Für eine Arbeitszeit von höchstens 35 Stunden in der Woche bei 5 Arbeitstagen ohne Lohnverluste in ganz Europa!

• Gegen alle Modelle der Zwangsarbeit für Arbeitslose, um soziale Hilfe zu bekommen, oder Modelle mit geringerer Bezahlung und rechtlichen Schutz! Echte Jobs für die Arbeitslosen!

• Unbefristete Arbeitsverträge mit voller gewerkschaftlicher Vertretung für alle prekär Beschäftigten!

• Für eine Verstaatlichung der Betriebe, die bankrott gehen, statt staatlich regulierter Rettungsaktionen für die Bosse! Statt Billionen Euro für ihre Rettung auszugeben, sollten all jene Banken und Konzerne, die Entlassungen ankündigen, ohne jegliche Entschädigung, unter Arbeiterkontrolle verstaatlicht werden!

Der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit und das Scheitern der Bewegung, dagegen anzukämpfen, führen zu vermehrtem Rassismus und Faschismus

Gegen das Anwachsen der rechtsradikalen und faschistischen Szene kämpfen wir für:

• Aufhebung aller Beschränkungen für ArbeiterInnen, sich in ganz Europa niederzulassen und dort zu arbeiten! Aufhebung aller Immigrationskontrollen! Nieder mit dem Schengener Abkommen! Volle Rechte für MigrantInnen, einschließlich gleicher Arbeitsrechte, Aufenthaltsbewilligungen, Sozialleistungen, Krankenversiche-rung, Bildung, volle politische Rechte, einschließlich dem Recht zu wählen! Für offene Grenzen! Für das uneingeschränkte Recht auf politisches Asyl!

• Massenaktionen gegen die Verbreitung faschistischer Propaganda und gewalttätige Übergriffe auf MigrantInnen und Angehörige ethnischer Minderheiten! Die Arbeiterbewegung sollte Gemeinschaften, die sich selbst gegen Pogrome und rassistische Übergriffe schützen, unterstützen und selbst eine antifaschistische Abwehrfront organisieren! Obwohl die faschistische Szene heutzutage v.a. versucht, sich als „respektable“ demokratische Partei zu profilieren, wird sie letztlich wieder auf Aufmärsche und gewalttätige Provokationen gegen MigrantInnen, Roma, Muslime, nationale Minderheiten, Farbige und Juden/Jüdinnen zurückgreifen. Sie werden sogar noch weiter gehen und ihren historischen Feind, die organisierte Arbeiterklasse, angreifen, indem sie den Bossen ihre Dienste als Streikbrecher und Einschüchterer anbieten, wie die Schwarzhemden und Nazis in den 20er und 30er Jahren. Das höchste Ziel der Faschisten ist die Zerstörung der ArbeiterInnenbewegung. Wir müssen jetzt für eine Massenaktion der vereinten ArbeiterInnen auftreten, um faschistische Organisationen zu zerschlagen!

• Gleichzeitig erklären wir den Massen: Entlassene ArbeiterInnen, arbeitslose Jugendliche – führt den den Kampf nicht gegen irgendwelche Sündenböcke, sondern gegen den tatsächlichen Grund der Krise, die Kapitalisten! Wir beantworten die konterrevolutionäre Verzweiflung des Faschismus mit der revolutionären Hoffnung des Kampfes für den Sozialismus!

• Für Gleichberechtigung der Sprachen! Für das Recht von MigrantInnen, ihre Muttersprache zu benutzen! Unterricht in Schulen und Universitäten und öffentliche Dienstleistungen sollten in den meistgesprochenen Sprachen des Ortes angeboten werden! Für eine massive Neueinstellung von LehrerInnen und von im Öffentlichen Dienst Beschäftigten mit migrantischem Hintergrund und entsprechenden Sprachkenntnissen! Gleichzeitig sind wir für Investitionen in Fortbildungsprogramme, die MigrantInnen dabei unterstützen, die traditionelle Sprache des Landes in dem sie wohnen, zu lernen!

• Für die auf gleichen Rechten basierende Integration migrantischer ArbeiterInnen und ihrer Familien in die ArbeiterInnenbewegung – in Gewerkschaften wie in politischen Parteien! Für die Schaffung einer allgemeinen Kultur des Kampfes, der sich auf Internantionalismus, Unabhängigkeit der arbeitenden Klasse und Solidarität stützt!

Frauen dürfen nicht für die Krise bezahlen!

Millionen Frauen in Europa wird die Möglichkeit verweigert, außerhalb des Haushalts zu arbeiten. Millionen Frauen sind gezwungen, in sehr schlecht bezahlten Berufen tätig zu sein oder bekommen aufgrund fehlender Regelungen für die gleiche Arbeit weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen. In jeder größeren Wirtschaftskrise, in der die Arbeitslosigkeit Massenausmaße erreicht, propagieren reaktionäre Kräfte verstärkt, dass der Platz einer Frau hinter dem Herd sei.

Ebenso versuchen reaktionäre Kräfte v.a. in Zeiten der Krise, das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch zu verweigern. In einigen EU-Staaten, wie z.B. Irland oder Polen, wo die Kirche immer noch enormen Einfluss auf Bildung und Gesundheitswesen hat, ist es für die Mehrheit der Frauen noch immer praktisch unmöglich, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Die Trennung dieser grundlegenden Dienste von der Kirche ist eine wesentliche demokratische Forderung.

• Wir müssen das Recht der Frauen auf Arbeit verteidigen!

• Verteidigung unserer sozialen Leistungen gegen alle Angriffe!

• Gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Männer und Frauen!

• Für das Recht auf kostenlose Verhütungsmittel und das Recht auf Abtreibung in jedem europäischen Land!

Die Regierungen, die mit riesigen Ausgaben für die Banken konfrontiert sind, planen massive Einsparungen bei den Sozialleistungen. Sie lassen uns alle, v.a. aber die Frauen, für die Krise bezahlen. In den Bereichen Bildung, Kindererziehung und Pflege arbeiten v.a. Frauen. Ihnen droht durch solche Sparmaßnahmen der Verlust des Arbeitsplatzes, was die Kindererziehung und Pflege kranker und alter Menschen auf unbezahlte Frauen im isolierten Familienkreis zurückwirft.

Die sich vertiefende soziale Krise, die Armut und der Stress, die durch die Massenarbeitslosigkeit hervorgerufen werden, schlägt sich auch in der physischen und mentalen Verfassung der Menschen wieder – die Aggressionen steigen, Frauen werden immer öfter geschlagen oder vergewaltigt.

• Verteidigt die Sozialleistungen! Nein zu einer Rückkehr zur Isolation im Haushalt, für Massenmobilisierungen unter dem Slogan: Die Frauen werden nicht für eure Krise zahlen!

Gewerkschaftliche und demokratische Rechte

Die Ausrufung des „Krieges gegen den Terror“ nach dem 9.11.2001 wurde benutzt, um demokratischen Rechte einzuschränken. Z.B. wurden die Haftstrafen verlängert oder vermehrt Verdächtige verhört, ohne dass sie einen Anwalt bekommen hätten. Die polizeiliche Überwachung der Bevölkerung wurde unter dem Vorwand der Sicherheit enorm erhöht, alle Kommunikationsmittel wurden zur Überwachung freigegeben. Das Versammlungs- und Demonstrationsrecht wurde geschmälert, die Polizei benutzt diese neuen Gesetze, um protestierende ArbeiterInnen (insbesondere MigrantInnen) zu schikanieren.

• Weg mit allen „Anti-Terror-Gesetzen“, die es der Polizei ermöglichen, legale Aktivi-täten der Bevölkerung auszuspionieren! Freilassung aller ohne Verfahren Inhaftieren!

In den meisten Ländern sind die Gewerkschaften wie schwere Eisenketten, die den Widerstand der ArbeiterInnen in Krisenzeiten behindern. Ihre komplizierten Abstimmungsmethoden, Bedenkfristen und verpflichtende Sachverständigen-Verfahren verzögern die Antwort auf Betriebsschließungen oder Massenentlassun-gen, wohingegen die Unternehmer in ihren Aktionen nur selten eingeschränkt sind. Politische Streiks – d.h. Streiks gegen die Angriffe der Regierung auf unsere Rechte – sind in den meisten Ländern verboten. In Frankreich und Italien wird sogar diskutiert, Streiks in „wichtigen Sektoren“, wie z.B. bei den öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbieten.

• Für die Abschaffung aller Gesetze, die das Recht zu streiken und sich zu organisieren einschränken! Für das Recht jeder Arbeiterin und jedes Arbeiters, einer Gewerkschaft beizutreten, einschließlich Wiedereinstellung und Entschädigung aller ArbeiterInnen, die entlassen worden sind, weil sie von diesem Recht Gebrauch machen wollten!

Nein zu einem imperialistischen Superstaat! Rückzug aller europäischen Truppen aus Afghanistan! Auflösung der NATO!

Die Tatsache, dass die USA ihre wirtschaftliche Vorherrschaft nach und nach verlieren, und dass die bisher unangefochtene Stellung des Dollars als Weltwährung immer öfter in Frage gestellt wird, verweist auf die wachsende Rivalität zwischen den USA und der EU, aber auch neuen Mächten, v.a. China. Die ArbeiterInnen in Europa, die gegen die Invasion und Besatzung der USA im Irak oder ihre Drohungen gegen den Iran sind, dürfen nicht in eine Art europäischen Patriotismus verfallen und das Projekt des Aufbaus eines geeinten imperialistischen Staates mit eigener Armee und Einflussgebieten um den ganzen Erdball, unterstützen.

Die Propaganda der EU versichert, dass diese neue europäische Supermacht eine friedliche oder gar „soziale“ Weltmacht werden würde. Das ist eine Lüge, die auch von den sozialdemokratischen und offiziellen „kommunistischen“ Parteien verbreitet wird.

Ein europäischer Superstaat wäre eine imperialistische Macht, die die Pläne der europäischen Kapitalisten für die Neuaufteilung der Märkte und Ressourcen verfolgen würde. Eine solche Neuaufteilung kann als verschärfter Wettbewerb im Handel und mit „Protektionismus“ beginnen. Das 20. Jahrhundert hat uns bereits gezeigt, wie so etwas endet: in immens zerstörerischen Kriegen. Wir müssen unseren Widerstand gegen diese fürchterliche Perspektive jetzt beginnen – indem wir uns der Gründung einer europäischen Militärmacht widersetzen, auch wenn sie sich jetzt erst in einem Anfangsstadium befindet. Realer sind die von der NATO nach Afghanistan geschickten Truppen und die diversen „humanitären Truppen“, die nach Afrika geschickt worden sind. Die ArbeiterInnenbewegung muss sie alle ablehnen. Wir müssen auch den Ausbau „unserer“ nationalen Truppen ablehnen und Kampagnen gegen die Rekrutierung Arbeitsloser führen. Wir müssen den sofortigen Rückzug aller in Übersee stationierten Truppen und die Einstellung aller Zahlungen an imperialistische Militärmächte fordern: Keinen Cent, keinen Menschen für die Verteidigung des kapitalistischen Systems!

Umwandlung der Wirtschaft

Die von den Millionären angehäuften Schuldenberge dürfen nicht aus den Steuern der ArbeiterInnen bezahlt werden. Die Betriebe, die sich mit Produktion, Transport oder sinnvollen Dienstleistungen beschäftigen und von ihren Besitzern in den Bankrott geführt wurden, müssen „gerettet“ werden, indem sie ohne Entschädigung für die Besitzer verstaatlicht werden! Ihre Buchführungen müssen veröffentlicht und die Verschwörung des Geschäftsgeheimnisses gegen ArbeiterInnen und KonsumentInnen aufgedeckt werden!

• Nein zu den Bankenrettungsaktionen! Nein zur Rettung industrieller Monopole, die auf Rationalisierungen und Schließungen basieren! Übernahme aller Banken ohne Entschädigung und ihre Vereinigung zu einer einzigen Staatsbank! Statt Subventionen für KapitalistInnen fordern wir die entschädigungslose Enteignung aller großen Industrien, Kommunikationsmittel und Medien, großen Farmen und Einzelhandelsketten! Die Ersparnisse, Einlagen und Rentenfonds von Kleinsparern oder ArbeiterInnen sollten durch eine Staatsbürgschaft oder durch sichere, ausreichende staatliche Pensionen gesichert werden.

• Für einen europaweiten Produktionsplan, der auf einem System basiert, in das nationale, regionale und lokale Pläne integriert sind. Alles sollte demokratisch entworfen und von ArbeiterInnen und KonsumentInnen entschieden werden! Produktion und Verteilung unter ArbeiterInnenkontrolle!

• Schluss mit dem Geschäftsgeheimnis und bürokratischer Geheimniskrämerei! Die Banken haben ihre finsteren Machenschaften vor uns geheimgehalten und dadurch viele Kunden und Kleinsparer ruiniert. Nun sollen wir den Preis für ihre Rettung zahlen. Öffnung der Daten der Banken und Konzerne, des Staates und der EU-Bürokratie für eine Inspektion der ArbeiterInnen und der Öffentlichkeit!

Eine Planwirtschaft würde systematisch Ungleichheiten in Europa ausgleichen, indem sie Resourcen und Reichtum verteilt, um den Standard der östlichen Länder, die über Jahrzehnte unterdrückt wurden, an das der westlichen anzupassen und somit Nationalismus und Reaktion den Nährboden zu entziehen.

Nein zur kapitalistischen EU!  Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!

Die arbeitende Klasse hat kein Vaterland – sie existiert international, daher muss auch ihre Klassenpolitik internationalistisch sein. Die ArbeiterInnenbewegung muss die EU als eine Institution ablehnen, die versucht, einen neuen imperialistischen Superstaat aufzubauen, um den deutschen und französischen Imperialismus und ihre Fähigkeit, die Welt auszubeuten, zu stärken.

Zugleich müssen wir die Argumente all jener bekämpfen, die die EU aus fremdenfeindlichen oder nationalistischen Gründen ablehnen. Diese Kräfte und ihre sozial-chauvinistische Politik, die auf Unterstützung in den sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften stößt, sind eine Sackgasse für die ArbeiterInnenklasse und alle Unterdrückten. Sie versuchen, unsere Bewegung entlang nationaler und rassistischer Linien zu spalten und uns „unseren“ nationalen Bossen unterzuordnen. Obwohl wir dafür kämpfen, die wenigen fortschrittlichen Veränderungen, die mit dem EU-Prozess eingetreten sind, zu verteidigen (z.B. die Abschaffung der Grenzkontrollen in der EU), sind wir restlos gegen die EU-Strukturen und ihre Wirtschaftspläne.

Wir unterstützen den Widerstand der Völker in der ganzen Welt gegen europäische Besatzungsmächte (z.B. in Afghanistan oder im Tschad). Der Sieg über die EU-Truppen in diesen Ländern wäre ein Sieg für die gesamte arbeitende Klasse, ein Schlag gegen den Imperialismus. Für den sofortigen Rückzug aller EU-Truppen und die Schließung all ihrer Militärbasen in Übersee!

• Nieder mit dem EU-Parlament, der EU-Kommission und dem europäischen Gerichtshof! Reißt die Strukturen des europäischen Superstaats nieder!

• Nein zu Viking-Laval, der Lissabon-Agenda, dem Bologna-Prozess und dem Neoliberalismus der EU!

• Für die Wahl einer souveränen europäischen konstituierenden Versammlung aller permanent in der EU wohnhaften über 16 und Bewohner anderer Länder, falls sie daran teilzunehmen wünschen!

Die politische und ökonomische Krise, die über Europa und die Welt hinwegfegt, wird weithin als eine Krise des Kapitalismus verstanden – der Banken, Finanzinstitutionen und Aktiengesellschaften, die unser Leben besitzen und kontrollieren. Aber was ist die Alternative?

Um ArbeiterInnen davor zu schützen, Opfer aufeinander folgender Wirtschaftskrisen zu sein, um zu verhindern, dass Arbeitslose und ruinierte KleinbürgerInnen in eine solche Verzweiflung stürzen, dass sie zu Werkzeugen der faschistischen und rassistischen Demagogen werden, ist es notwendig, Millionen Menschen für die einzige Alternative zum Kapitalismus zu gewinnen – den Sozialismus. Das ist eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft demokratisch geplant wird, in welcher es kein Privateigentum an Produktionsmitteln gibt, wo die Produktion nicht für Profite, sondern für Bedürfnisse da ist, in welcher Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Zyklen und Rezessionen der Vergangenheit angehören, in welcher die Teilung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete Klasse überwunden ist.

Es ist nicht genug, gegen den „Neoliberalismus“ zu sein – der kapitalistischen Politik der letzten zwei Jahrzehnte, die auf Profitmaximierung durch Privatisierungen und Deregulierung beruht. Heute sind die Kapitalisten durch die Finanzkrise gezwungen, der ganzen Gesellschaft – insbesondere der arbeitenden Klasse – ihre Verluste aufzubürden. Sie haben das durch die Umkehrung ihrer „neoliberalen“ Politik gemacht, indem sie staatliche Interventionen benutzten, um ihr System zu retten. Durch ihre Versuche, ihre Verluste auf andere Staaten abzuladen, schüren sie Nationalismus und Hass auf die rivalisierenden Staaten. Es ist notwendig, nicht nur den Neoliberalismus, sondern den Kapitalismus an sich abzulehnen. Um heutzutage konsequente(r) AntikapitalistIn zu sein, muss man für die einzige Alternative zum Kapitalismus kämpfen: den Sozialismus!

Ist ein sozialistisches Europa möglich? Europa ist weder ein einzelner Staat, noch hat es eine geeinte Wirtschaft. Es hat keine vereinte europaweite Arbeiterbewegung. Aber es ist bereits viel mehr als einige zusammengewürfelte Staaten und Wirtschaften. Es gibt große Uneinheitlichkeit, aber auch Verbundenheit – es gibt Konzerne mit Produktionsketten, die aus Zweigen in verschiedenen Ländern bestehen, wie z.B. GM Europe, Siemens oder Fiat. Die Staaten, die den Euro benutzen, haben der europäischen Zentralbank bereits viel Kontrolle über ihre Wirtschaft abgetreten.

Natürlich wollen wir nicht zu isolierten Staaten und Wirtschaften zurückkehren – das würde den Handel und die Produktivkräfte nur noch mehr zum Einsturz bringen und zu einer noch größeren Not als die, unter der wir jetzt leiden, führen. Die Antwort lautet: Vorwärts in Richtung einer vergesellschafteten, geplanten, europäischen Wirtschaft! Das bedeutet, den KapitalistInnen und ihren PolitikerInnen die Macht aus den Händen zu reißen, und die Revolution, die zweifellos in einem Land beginnen wird, auf dem ganzen Kontinent zu verbreiten.

Es geht darum, den Widerstand gegen die Krise mit dem Kampf der ArbeiterInnen, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen, zu verbinden. Die Organisationen, die wir heute gründen müssen, um effektiv Widerstand gegen die Massenarbeitslosigkeit zu leisten, können morgen schon die Instrumente unserer Herrschaft werden. Die Aktionskommitees gegen die Krise und die sektorübergreifenden Koordinationen von ArbeiterInnen und Jugendlichen, die wir in jeder Stadt und jedem Ort gründen müssen, können zu großen Räten der Delegierten der ArbeiterInnen werden, mit der Fähigkeit, die Gesellschaft zu regieren, wie es die Sowjets im revolutionären Russland 1917 gemacht haben. Die organisierte Selbstverteidigung, die die ArbeiterInnen und Jugendlichen brauchen, um sich gegen Polizeirepression zu verteidigen, können zum Instrument für die Zerschlagung des kapitalistischen Staates werden. Eine auf die ArbeiterInnenorganisationen aufbauende ArbeiterInnenregierung kann die Macht der KapitalistInnen durchbrechen, systematisch ihr Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum überführen und eine sozialistische Planwirtschaft aufbauen.

Neue antikapitalistische Arbeiterparteien

Um sicherzugehen, dass dies geschieht, müssen wir die fortschrittlichsten und entschlossensten Teile der ArbeiterInnen – die Avantgarde der arbeitenden Klasse – darauf vorbereiten und sie auf einem europäischen Niveau für den revolutionären Kampf vereinen. Die Solidarität mit anderen Ländern, die gerade führend im Klassenkampf stehen, steigert auch immer die Kampfbereitschaft der anderen ArbeiterInnen. Wir brauchen neue antikapitalistische ArbeiterInnenparteien in jedem Land, die sich zu einer 5. Internationale vereinen.

Diese Parteien müssen Parteien des Klassenkampfs und nicht des Klassenkompromisses sein. Sie dürfen niemals Teil einer kapitalistischen Regierung werden und versuchen, den kapitalistischen Staat zu regieren, so wie es Rifundazione Comunista in Italien, die deutsche Linkspartei u.a. getan haben.

Wenn die neuen antikapitalistischen ArbeiterInnenparteien Wahlkampf betreiben, dann dürfen sie das nie mit der Absicht tun, die arbeitende Klasse mit reformistischen Wundermitteln hinters Licht zu führen oder die Mittelschicht mit einer pro-kapitalistischen Politik für sich zu gewinnen, sondern um Millionen von Menschen für ein revolutionär-sozialistisches Programm zu gewinnen. Revolutionäre ArbeiterkandidatInnen, die nur das Durchschnittsgehalt eines Facharbeiters verdienen und der Partei rechenschaftspflichtig sind, würden dafür kämpfen, Millionen von Menschen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen um die Macht der Kapitalisten zu sprengen.

Es wird in den ersten Stadien der sozialistischen Umwälzung notwendig sein, diese damit zu verbinden, die Macht der europäischen Banken und Handelsgesellschaften in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu brechen. Eine ArbeiterInnenregierung in Europa würde die Massen der „3. Welt“ dazu auffordern, die lokalen Operationen der europäischen multinationalen Konzerne in die eigene Hand zu nehmen. Sie würde die Schulden der halbkolonialen Länder bei europäischen Banken und Regierungen streichen. Gemeinsam mit den Organisationen der ArbeiterInnenklasse, der Bauernschaft und der indigenen Völker dieser Kontinente würden wir ein globales Programm für nachhaltige Entwicklung entwerfen, das nicht nur die Umwelt schützen, sondern auch den Schaden, der in zwei Jahrhunderten blinder kapitalistischer Ausbeutung angerichtet wurde, reparieren und eine harmonische Zukunft für die ganze Menschheit sichern würde.

Ein sozialistisches Europa wäre ein Bollwerk der Solidarität und Unterstützung für die halbkolonialen Länder; es wäre ein aktiver Gegner jeglicher imperialistischer Abenteuer.

Kann das oben angeführte Programm im Rahmen des Kapitalismus umgesetzt werden? Nein! Sicher kann die eine oder andere Forderung den Kapitalisten als „Nebenprodukt“ des Klassenkampfs abgerungen werden. Doch Kapitalisten und Regierung werden mit allen Mitteln versuchen, ihre Profite und ihre Macht zu verteidigen. Das ist der Grund, warum die Bourgeoisie versucht, alle von der arbeitenden Klasse nach dem 2. Weltkrieg erkämpften Errungenschaften wieder rückgängig zu machen. Das ist der Grund, warum wir die Kapitalisten enteignen, ihre Staatsmacht zerbrechen, ihnen ihren Besitz und ihre Kontrolle entziehen, ihren Widerstand unterdrücken müssen. In Jahrzehnten systematischer Planwirtschaft können wir dann endlich die Trennung zwischen den Klassen aufheben, so dass eine Rückkehr zum Kapitalismus weder angestrebt noch möglich ist.

Da die Plage der kapitalistischen Krise Europa wieder einmal mit Schatten der Vergangenheit quält – mit dem Alptraum von Massenarbeitslosigkeit, Rassismus und Krieg – muss auch die Alternative wieder zum bewussten Ziel der Massen werden: Die Vereinten Sozialistischen Staaten von Europa als Teil einer sozialistischen Welt.




Bildungsstreiks: Bilanz, Perspektive und Programm

Roman Birke, Theo Tiger, Georg Sax, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Ursachen der Protestwelle

Für gut zwei Monate hielt die Besetzungsbewegung europäischer StudentInnen die Regierungen und ihre BildungsministerInnen in Atem. Die an die Eroberung der „Akademie der Bildenden Künste“ anschließende Besetzung des größten Hörsaals der Universität Wien (Audimax) war dabei der Auslöser für eine europaweite bzw. zum Teil auch über die Grenzen Europas hinausgehende Bewegung. Zu ihrem Höhepunkt waren über 80 Universitäten besetzt. Dabei liegt die Besonderheit der Proteste weniger in ihrer Militanz oder auch in den von ihnen erkämpften Forderungen begründet, sondern ist vielmehr in der Spontaneität ihrer Entstehung und ihrer raschen Internationalisierung zu sehen. Besonders bemerkenswert werden diese Punkte vor dem Hintergrund der oftmals durch Abwesenheit glänzenden offiziellen Studierendenvertretungen.

Trotz ihrer ohne Zweifel bestehenden Besonderheiten darf die Besetzungsbewegung jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr reiht sie sich in eine ganze Reihe von Bildungsprotesten ein, die ein Resultat der kontinuierlichen Angriffe auf den öffentlichen Bildungsbereich sind. Auch haben sich die Proteste in der Vergangenheit keineswegs auf den universitären Bereich beschränkt, sondern gingen oftmals auch von SchülerInnen aus, zum Teil ohne eine Übertragung auf die Universitäten. So war der Bildungsstreik in Deutschland Ende 2008 noch vor allem von SchülerInnen dominiert, im Juni 2009 gelang es dann jedoch mit insgesamt 265.000 TeilnehmerInnen auch Teile der Studierenden zu mobilisieren. In Österreich gingen im Frühjahr 2009 zehntausende SchülerInnen auf die Straße, um gegen die Angriffe auf LehrerInnen und die Kürzung freier Tage zu demonstrieren – ohne sichtbare studentische Beteiligung.

Wenngleich es natürlich in den vergangenen Protestbewegungen durchaus unterschiedliche Motive gab, die sowohl im Zusammenhang mit dem jeweils betroffenen Bildungssektor als auch im Rahmen nationalstaatlicher Besonderheiten zu lokalisieren sind, kann man sehr wohl auch Gemeinsamkeiten feststellen. Im universitären Bereich sind dies vor allem die permanente Stutzung der öffentlichen Finanzierung des Hochschulwesens und die daraus folgende Verlagerung auf private Finanzquellen, nicht zuletzt mittels Studiengebühren.

Diese Tendenz zum (mit zynischen Worten beschriebenen) „Cost-Sharing“ hat sich in den letzten Jahren deutlich beschleunigt. Während in 18 untersuchten OECD-Ländern der Anteil öffentlicher Finanzierung 1995 noch bei 78% gelegen hat, sank dieser Wert während der darauffolgenden zehn Jahre auf 72% ab. (1) Dabei sind große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern – auch jenen der EU – zu erkennen. Während Großbritannien den Bildungssektor zur Zeit lediglich mit einem Anteil von 64,8% aus öffentlichen Mitteln speist, weist z.B. Finnland einen Anteil von 95,5% aus. In Deutschland und Österreich werden noch 85,0 bzw. 84,5% der Ausgaben öffentlich bestritten – in allen Ländern ist jedoch eine fallende Tendenz zu erkennen. (2)

Um den Forschungs- und Lehrbetrieb, trotz sinkender Budgetierung in den staatlichen Haushalten relativ zum BIP, aufrechterhalten zu können, werden oftmals private Investoren in Form von großen Konzernen an Bord geholt, die für sie nützliche, d.h. verwertbare, Forschungsarbeiten in Auftrag geben. Während Wissenschaft und Forschung immer schon auch für militärische Zwecke betrieben wurden, gehen die Herrschenden nun auch dazu über, öffentlich finanzierte Unis als militärische Forschungseinrichtungen zu betrachten. Erst in diesem Jahr ist erneut die Diskussion um das „Karlsruhe Institute of Technology“ entbrannt, das militärische Forschung im Interesse der NATO-Truppen und der EU-Battle-Groups betreibt. Auch die NATO selbst betreibt ein Forschungsprogramm, für das unter anderem auch ein Professor der Universität Salzburg gewonnen werden konnte. Die Bundeswehr ist mittlerweile einer der größten „Arbeitgeber“ für SozialwissenschaftlerInnen, der auch eigene Forschungsinstitute unterhält.

Grundlage für diese privaten Investitionen bilden oftmals Gesetze, die eine höhere (finanzielle) Autonomie der Universitäten festschreiben und damit einhergehend den Einsatz eines höheren Niveaus an „managerial-skills“ fordern. Nicht umsonst wird das in Österreich beschlossene Universitätsgesetz 2002 von den EU-Bildungsministern über den grünen Klee gelobt. Immerhin hat die Regierung (damals ÖVP/FPÖ) mit dem UG 2002 einen „Universitätsrat“ geschaffen, in dem 4 der 9 Mitglieder in feudaler Weise direkt vom Wissenschaftsministerium beschickt werden und zum Teil direkt aus den Geschäftsführungen (z.B. AiCuris, Pharmakonzern) (3) oder Generaldirektionen (z.B. Casinos Austria, Glücksspielunternehmen) (4) großer Unternehmen kommen.

Solche Gesetze waren dabei auch schon Dreh- und Angelpunkt von Protestbewegungen. So haben französische Studierende auf das 2007 beschlossene „Gesetz über die Autonomie der Universitäten“ mit Protestmaßnahmen reagiert. Neben Erlösen aus privaten Mitteln von Unternehmen sind es jedoch auch die Studierenden selbst, die durch Gebühren zur Kasse gebeten werden. Vom gesamten privaten Finanzierungsanteil von 15,5% im Jahr 2006 wurde in Österreich 5,4% von privaten Haushalten, d.h. StudentInnen oder ihrer Eltern, getragen. Auch hier ist Großbritannien wiederum ein Negativbeispiel: 26,6% der insgesamt 35,2% an privater Finanzierung werden durch Haushalte geleistet. (5)

Die private Finanzierung wird meistens über Studiengebühren abgewickelt, die je nach Land in ihrer Höhe variieren. Während sie in Österreich im Jahr 2000/2001 eingeführt und später wieder abgeschafft worden sind, variiert Höhe und Form der Gebühr in Deutschland je nach Bestimmungen der Länder. Zum Teil ist es wie in Hessen auch gelungen, durch Protestmaßnahmen ihre Rücknahme zu erreichen.

Bologna-Prozess

Nicht zufällig haben alle europäischen Protestbewegungen auf den Bologna-Prozess als Ursache vieler Probleme an den Hochschulen hingewiesen. Mit der Erklärung von Bologna aus dem Jahr 1999 hat sich die europäische Bourgeoisie in der Tat einen Fahrplan zurecht gelegt, mit dessen Hilfe grundlegende Veränderungen im Hochschulsektor forciert werden sollten. Die zentralen in der Öffentlichkeit kommunizierten Schlagwörter wie Förderung der Mobilität oder Minderung der sozialen Selektion waren dabei nur gut klingende Feigenblätter. Während Organisationen wie ESU (European Students Union) sich damit haben einkaufen lassen, hat das europäische Kapital mit Bologna in Wirklichkeit zum Generalangriff geblasen.

Vorangetrieben von Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland, die 1998 mit der Erklärung an der Sorbonne zentrale Vorarbeit geleistet haben, trafen sich ein Jahr darauf 29 europäische BildungsministerInnen, um die Bologna-Erklärung anzunehmen. Neben dem Versuch, die Hochschulen zur Schaffung einer europäisch-homogenisierten Kultur zu verpflichten und die Förderung eines „Gefühls der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen sozialen und kulturellen Raum“ (6) als ihre Aufgabe zu verstehen, finden sich immer wieder Verweise auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Während man diesen Terminus in der Bologna-Erklärung nur auf die Hochschulen angewandt hat, war zwei Jahre später beim Treffen in Prag klar, worum es wirklich ging. Im gemeinsamen Kommuniqué hielt man fest, „dass die Qualität der Hochschulausbildung und -forschung eine wichtige Determinante der internationalen Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit Europas sein sollte.“ (7)

Dieser permanente Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit zeigt, dass die Hochschulen im Kapitalismus nie einzig und allein einem akademischen Interesse dienen können. Gerade in Verbindung mit dem Lissabon-Prozess und dem erklärten Ziel, Europa bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ (8) zu machen, wird hier ein weiterer Schritt in Richtung kapitalistischer Verwertbarkeit gemacht.

Dabei wäre es jedoch illusionär und in Wirklichkeit zutiefst ahistorisch anzunehmen, dass „früher alles besser“ gewesen wäre. Es liegt auf der Hand, dass sich mit einer permanent vollzogenen Wandlung der Wirtschaft auch die dafür notwendigen Anforderungen an den Ausbildungsbereich ändern. Die wirtschaftliche Wandlung der europäischen Länder wurde dabei durch den Versuch einer supranationalen Zusammenfassung der europäischen Bourgeoisie beschleunigt. Durch eine strategische Orientierung auf den Hochtechnologiesektor und die permanente Auslagerung des Billiglohnsektors in verarmte Halbkolonien ist zurzeit ein klarer Anstieg der Qualifikationsprofile für Jobs in der EU zu erkennen, auf den mittels des Bologna-Prozesses versucht wird zu reagieren.

Eine an die Schulen anschließende, rigide und straff aufgebaute zusätzliche Möglichkeit zum Qualifikationserwerb soll dabei durch das mit Bologna eingeführte Bachelor / Master / PhD -System gewährleistet werden. Der Prozess ist für die herrschende Klasse der EU jedoch nicht vollkommen widerspruchsfrei. Während man mit Bologna versucht hat, ein angelsächsisches Hochschulmodell auch auf Kontinental-europa zu übertragen, sieht man gerade in Ländern wie Deutschland oder Österreich strategische Probleme in der Umsetzung. Durch eine nach wie vor sehr spezialisiert organisierte Sekundarbildung (HAK, HTL in Österreich) oder durch inhaltlich sehr anspruchsvolle Berufsausbildungsgänge, in Deutschland praktisch ausschließlich von AbiturentInnen und RealschülerInnen besucht, werden Qualifikationsprofile auch außerhalb der Universität geschaffen, die im Bologna-Modell eigentlich für die Bachelor-Abschlüsse der (Fach-)Hochschulen reserviert sind. Man sieht sich somit zunehmend mit einer Situation konfrontiert, in der das Bakkalaureat zu einer in der wirtschaftlichen Anwendung nutzlosen Qualifikation wird. Wieso Studienab-solventInnen anstellen, wenn man für weniger Geld auch AbsolventInnen technischer Schulen oder hoch qualifizierte FacharbeiterInnen beschäftigen kann?

Während die bereits implementierten Änderungen durch den Bologna-Prozess wohl nicht grundlegend rückgängig gemacht werden, kann eine „Reform“ v.a. der Lehrpläne durchaus erwartet werden.

Gleichzeitig hat die herrschende Klasse auch das Problem, dass eine ihre Grundannahmen nur noch eingeschränkt zutrifft. 2010 zum „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ aufzusteigen, hat offensichtlich nicht funktioniert. Im Gegenteil, das deutsche und französische Kapital sehen sich einer extrem verschärften Konkurrenzsituation gegenüber, in der Personalabbau und Verlagerung von Produktion, nicht Neueinstellungen anstehen.

In dieser Situation wird auch die „beste“ Bildungsreform an die Grenzen der Verwertungsprobleme des Kapitals stoßen. Für die einzelnen Kapitale erscheinen Bildungsausgaben immer als „überschüssige“ Kosten, die den Profit des Kapitals schmälern. Daher müssen die Kosten „reduziert“, muss gespart, privatisiert usw. werden – kurz ein größerer Teil der Kosten für das Bildungssystem auf die Gesellschaft in Form des proletarischen Steuerzahlers oder direkt auf die Jugendlichen und deren Eltern abgewälzt werden.

Zum anderen soll die „Reform“ einen direkten Zugriff auf die Inhalte der Ausbildung sichern oder Renditemöglichkeiten für Anlage suchendes Kapitals schaffen (z.B. Gebäudeprivatisierung inkl. darauf folgenden langfristigen Leasings durch Unis oder Schulen, Auslagerung von Reinigungsdiensten, Mensen/Schul-küchen,  Pförtnern, Teilen der Verwaltung).

Die staatliche bzw. suprastaatliche Bildungsplanung stößt prinzipiell an die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise. Einerseits sollen nämlich möglichst genau und kostengünstig am Ende ihre Ausbildung die nötigen Arbeitskräfte hervorgebracht worden sein. Andererseits ist dieser zukünftige Bedarf des Gesamtkapitals aufgrund des anarchischen Charakters der kapitalistischen Marktwirtschaft nie vorausbestimmbar, weil er sich mit dem Gang der Konkurrenz stetig ändern muss. So gibt es regelmäßig „zu viele“ oder „zu wenige“ AbsolventInnen für bestimmte Sparten. Dieser innere Widerspruch bürgerlicher Bildungspolitik verschärft sich in Krisenperioden enorm, so dass eine „Bildungsreform“ die andere jagt, ohne dass dabei eine Lösung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Probleme selbst heraus kommt (oder auch nur heraus kommen könnte). Wir müssen also in jedem Fall mit einer fortgesetzten Krise im Bildungssystem rechnen.

Machtfrage

Inmitten einer solchen Konstellation der Kräfteverhältnisse, bei der Studierende die Rücknahme bzw. Reformierung von Bologna fordern und die Herrschenden gleichzeitig keine reale Strategie für die Beseitigung auch ihrer Probleme an den Hochschulen haben, gilt es einen klaren Klassenstandpunkt zu wahren. Nur weil einige Zugeständnisse gemacht wurden oder auch in Zukunft gemacht werden können, darf der allgemeine Protest an den Hochschulen nicht zum Erliegen kommen.

Klar waren Teile der Bewegungen durchaus konsequent im Kampf für ihre Forderungen. Die Proteste haben aber auch gezeigt, dass sowohl RektorInnen als auch der Regierung oder den Ministerien zum Teil naives Vertrauen entgegengebracht wurde.

So wichtig ein Protest gegen die unmittelbaren Auswirkungen von Bologna auch ist: in letzter Instanz dürfen sich die Proteste nicht einzig und allein um den europäischen Bologna-Prozess drehen. Auch außereuropäische Länder sahen Protestbewe-gungen gegen Studiengebühren. So bestreikten mexikanische StudentInnen in den Jahren 1999-2000 die Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) für ganze 292 Tage, um gegen die neoliberalen Umbaumaßnahmen (Erhöhung der Studiengebühr auf $ 150 pro Semester) der Regierung zu protestieren.

Beispiele wie die Proteste in Mexiko zeigen, dass eine Reduzierung der Probleme auf den von europäischen Staaten vorangetriebenen Bologna-Prozess nicht ausreicht. Die Hochschulpolitik der herrschenden Klasse muss dabei vielmehr in einen größeren gesellschaftlichen Kontext gestellt werden. Schule und Universität stellen dabei einen für die kapitalistische Gesellschaft enorm wichtigen Bereich dar. Nicht nur, dass in diesen Institutionen Ideologie produziert und reproduziert wird, sind sie auch zentrale Bereiche zur Vermittlung von im kapitalistischen Wirtschaftskreislauf zu realisierender Qualifikation.

Dass eine solche Qualifikationsvermittlung unmittelbar mit den Anforderungen der großen Konzerne korrespondiert ist nicht nur eine Frage der Finanzierung. Es ist auch eine Frage der direkteren Kontrolle der Bildungseinrichtungen. Nicht zufällig hat man in Österreich mit dem UG 2002 systematisch (und erfolgreich) versucht, Studierende aus den Entscheidungsgremien zu drängen und stattdessen ManagerInnen in hohe Positionen gehievt. Auch der Rektor der Universität Wien, Georg Winckler, hat dabei einen bezeichnenden „Nebenjob“ als Vizeaufsichtsratsvorsitzender sowohl bei der Erste Bank Group (9) als auch bei der Versicherungsgesellschaft Uniqa (10).

Politisch wäre es somit blauäugig, würde man keine zusätzlichen Perspektiven als den Protest gegen Bologna haben. Was notwendig ist, ist ein Kampf um die Veränderung der Machtverhältnisse in Universität und Gesellschaft, d.h. die Kontrolle der Forschungs-, Lehr- und Lernbedingungen durch Studierende und Lehrende selbst. Gerade wegen der Zentralität des Bildungsbereichs für das kapitalistische System kann dies jedoch nur durch eine gesamtgesellschaftliche Klassenkampfperspektive erreicht werden; ein universitärer Protest alleine reicht hier nicht aus. Die Verbindung der Studierendenproteste mit den Anti-Krisen-Mobilisierungen, gewerkschaftlichen Kämpfen und dem nichtwissenschaftlichen Personal an der Universität müssen dabei erste Schritte sein, um das gesellschaftliche Kräfteverhältnis soweit zu beeinflussen, dass die Erzwingung von Forderungen  möglich wird.

Die Versäumnisse dieser politischen Perspektive wurden spätestens während des stärker werdenden Niedergangs der Bewegung offensichtlich. Die Grundlage für eine mangelnde politische Perspektive ist dabei jedoch nicht nur in fehlender Erfahrung der Protestbewegung zu suchen, sondern v.a. in der bewussten Ablehnung einer Einordnung der Studentenproteste in eine gesamtgesellschaftliche, auf die Arbeiter-klasse orientierte Strategie von Seiten postmoderner Strömungen, die bald eine ideologische Dominanz über die Bewegung erlangten. Gleichzeitig mit der Diskrepanz zwischen der Spontaneität der Bewegung und der nur schleppenden Reaktion der offiziellen Studierendenvertretungen wurde die Führungskrise auf der Uni deutlich sichtbar.

Die Führungskrise der Bildungsbewegung

Obwohl die Bildungsbewegung im Jahr 2009 Hunderttausende auf die Straßen brachte, gelang es den SchülerInnen und StudentInnen in der Mehrzahl der Fälle nicht, ihre zentralen Forderungen umzusetzen, teilweise fehlte es auch an gemeinsamen Forderungen. Ebenfalls misslang der Aufbau kampffähiger und effizienter Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene, es blieb bei losen Koordinierungen und unverbindlichen Konferenzen. Diese Entwicklung war von den vorherrschenden politischen Akteuren in der Bildungsbewegung gewollt. Im Folgenden wollen wir diese Kräfte und Strömungen genauer betrachten.

Die Klassenlage

Sobald wir über die politischen Strömungen und Kräfteverhältnisse in der Bildungsbewegung sprechen, müssen wir zunächst versuchen, eine marxistische Klassenanalyse vorzunehmen. Besonders die StudentInnen sind eine heterogene Gruppe, die sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat. Der Anteil von StudentInnen mit proletarischem Hintergrund ist massiv gesunken. Lag dieser Anteil Mitte der 70iger Jahre in Deutschland noch bei über 30%, so liegt er heute bei weniger als 15%. In Österreich hat sich der Anteil von 26% im Jahr 1998 auf 18% im Jahr 2009 verschlechtert. Die Studierendenschaft stammt mehrheitlich aus den lohnabhängigen Mittelschichten und dem gehobenen Kleinbürgertum. Ebenso gibt es natürlich einen großbürgerlichen Anteil.

Innerhalb der Studierenden gab es in den letzten zwei Jahrzehnten eine abnehmende Politisierung. Erst die Änderung des HRG (Hochschulrahmengesetz) 1999 und die Einführung der Studiengebühren 2003 in Deutschland führten wieder zu vermehrtem Widerstand auf dem Campus. Damals demonstrierten in vielen Bundesländern die StudentInnen gegen allgemeine und Langzeitstudiengebühren – dieser Angriff führte jedoch auch zu einer weiteren Selektion. Die Studiengebühren vertrieben wiederum viele StudentInnen mit proletarischem Hintergrund von den Universitäten.

Dementsprechend geprägt ist heute die politische Landschaft am Campus. Während die radikalisierten kleinbürgerlichen StudentInnen in verschiedenen anarchistischen, autonomen und libertären Kleinstprojekten ihre Politik weit entfernt von der Mehrheit der StudentInnen betreiben, ist die übergroße Masse der StudentInnen von reformistischen, bildungsbürgerlichen und offen bürgerlichen Einflüssen bestimmt. Ihr Protest gegen BA/MA ist stark von ihrer Klassenherkunft geprägt – ihre Berufsperspektiven stehen im Vordergrund, sie sehen sich im Konkurrenznach-teil durch die BA-Reformen.

Hinter dieser verschärften Konkurrenz der Studierenden untereinander und dem erhöhten Selektions- und Leistungsdruck zeigt sich aber auch, dass sich die soziale Zukunft vieler HochschülerInnen verschoben hat. In immer größeren Maß ist ihre Perspektive eine als Lohnabhängige. Ein größerer Teil der Studierenden sieht einer Zukunft als Teil der (wenn auch gehobenen, besser qualifizierten und bezahlten) Arbeiterklasse entgegen.

Das drückt sich jedoch nur vermittelt im Bewusstsein aus, teilweise sogar in verschärfter Konkurrenz untereinander im Kampf für weniger werdende Jobs.

Für MarxistInnen liegt die grundlegende Bedeutung dieser Entwicklung jedoch in der Tendenz zu einer fortschreitenden Proletarisierung von Teilen der Uni-AbsolventInnen (v.a. des BA) und damit der Zuspitzung sozialer Fragen für diese Schicht der Studierenden, die nach gewerkschaftlichen und sozialistischen Antworten drängt. Zum anderen zeichnet sich in den Bologna-Reformen auch eine klarere Trennung zwischen der Herausbildung zukünftiger LohnarbeiterInnen (BA) und höheren Klassen (Master, Doktor, …) in Form der Abschlüsse selbst ab.

Mehr noch als an den Unis ist das Schulwesen von einer klaren Selektion geprägt, die sogar von den bekannten „Pisa-Studien“ benannt wird. Kinder mit proletarischem und migrantischem Hintergrund werden systematisch benachteiligt. Ihre Chancen auf das Abitur sind sehr viel geringer als die von Kindern mit bürgerlichem Hintergrund. Besonders das dreigliedrige Schulsystem im deutschen Schulwesen, mit Haupt-, Realschule und Gymnasium zementiert die soziale Selektion. SchülerInnen der Hauptschule haben miserable Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Hier wird in der Abschlussklasse schon mal das Ausfüllen des Hartz IV-Antrags geübt – entweder sie landen beim „Amt“ oder im Niedriglohnbereich. In der Bildungsbewegung waren meist die GymnasiastInnen stärker beteiligt. Gerade sie hatten am Ende ihrer Schullaufbahn genügend Frust angesammelt. Turbo-Abitur und verstärkter Leistungsdruck in den Gymnasien sowie die Aussicht auf ein BA/MA -Studium mobilisierten viele AktivistInnen. An den Haupt- und Realschulen gab es auch verstärkte Repressionsandrohungen,. Die SchülerInnen wurden stark behindert in der Ausübung ihrer politischen Rechte,. Ebenso gibt es wenige arbeitsfähige SchülerInnenstrukturen an diesen Schulen.

Die Bildungsbewegung hat in vielen Bereichen ihren Ursprung im radikalisierten kleinbürgerlichen Milieu an Universität und Schule.

Umso wichtiger ist daher eine antikapitalistische Intervention in die Bewegung.  Diese muss nicht nur den verbleibenden proletarischen Teilen der Studierenden- und Schülerschaft eine politische Perspektive geben. Sie muss auch offen die organisierten kleinbürgerlichen und reformistischen Strömungen angreifen und überwinden.

Die offiziellen Vertretungen

Bei den meisten Protesten und Mobilisierungen standen die offiziellen Vertretungsorgane von SchülerInnen und StudentInnen eher im Abseits. Nur selten waren sie aktive Kräfte, die den Protest unterstützten, geschweige denn anführten. An den Unis sind die ASTA oder die ÖH meist in den Händen von reformistischen oder libertären Kräften (Ausnahmen bilden offen bürgerliche ASTA, in Deutschland RCDS), die sich in der Gremienarbeit aufhalten, ihren eigenen Projekten frönen, die spätere Politikkarriere vorbereiten und oft zum Protest getragen werden mussten. Vielerorts nutzen die Vertretungen die Proteste, um AktivistInnen für ihre Uni-Arbeit einzubinden. Dies sind dann meist Evaluationsprojekte in Fachbereichen, Unterschriftensammlungen und Petitionen – aktive Unterstützung kam selten zustande. In manchen Fällen durften die AktivistInnen noch nicht mal die Räumlichkeiten der studentischen Selbstverwaltung benutzen. Nicht anders sieht es in den SchülerInnenvertretungen aus, in SVen oder LSVen. Diese sind zumeist von reformistischen NachwuchspolitikerInnen besetzt, die zwar gerne in den Medien mal etwas zum Protest erzählen, aber selten aktiv in den Bildungsbündnissen oder Streikkomitees mitarbeiten.

So waren die AktivistInnen meist erstmal damit beschäftigt, sich eigene Strukturen aufzubauen, eigene Räumlichkeiten zu organisieren, um somit für die Bildungsproteste werben zu können. Im Verlauf der Proteste kristallisierten sich verschiedene politische Akteure heraus, die allermeisten nicht dazu geeignet, der Bewegung eine kämpferische Perspektive zu weisen. Im Folgenden wollen wir auf die beiden Hauptströmungen eingehen.

Basisdemokratisch, libertär und konsensorientiert

Mit diesen Begriffen lässt sich eine Hauptströmung der Bildungsbewegung skizzieren, besonders in Deutschland und Österreich waren diese Kräfte vorherrschend. Diese Strömung setzt sich zum einen aus „organisierten“ anarchistischen und autonomen Kräften zusammen, welche an den Unis in ASTA oder den Gremien der ÖH aktiv sind, wie auch aus unorganisierten kleinbürgerlichen AktivistInnen. Obwohl es innerhalb dieser Strömung auch grundlegende politische Unterschiede gibt, werden wir erstmal die Gemeinsamkeiten beleuchten. Da ist zum einem die postmodernistische Methode und das Organisationskonzept für die Bewegung. Auf fast allen studentischen Konferenzen wurde das Mehrheitsprinzip abgelehnt. Statt dessen sollte nach dem Konsensprinzip gehandelt werden.

Dies wurde meist mit Begriffen wie „basisdemokratisch“ und „Hierarchiefreiheit“ begründet. Nach dieser Konzeption ist allein die Tatsache, dass es eine Mehrheit oder Minderheit geben könnte, ein Ausdruck systemischer Hierarchiereproduktion, welche AktivistInnen ausschließen würde. Gleichzeitig würde durch die Herstellung von Mehrheit und Minderheit die Bewegung blockiert werden. Ein offener Diskurs, welcher alle Meinungen und Ansichten integrieren würde, wäre durch Abstimmungen nicht möglich. Dadurch soll ein „freier“ Diskurs ermöglicht werden. Diesem Ziel werden auch alle politischen Erfordernisse untergeordnet – die Konferenzen dürfen nichts beschließen, nur Empfehlungen aussprechen. Die Bewegung wird abstrakt als Einheit angesehen und nicht als eine heterogene politische Gruppe mit verschiedenen Analysen und Taktiken. Der Diskurs und die Konsensfindung gelten an sich schon als politische Praxis und Wirkung. Es wird behauptet, dass diese Methode der Bewegung in die Gesellschaft hinein wirkt und dadurch Veränderungen erreicht werden können, wobei unklar bleibt, welche dadurch erreicht wurden.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Dezentralität ihrer Methode – alle verbindlichen Strukturen werden abgelehnt. So soll festgehalten werden, dass jede Subjektivität der AktivistInnen sich gleichberechtigt beteiligen kann. In der Realität führt genau die Dezentralität der Bildungsbewegung zu großen Problemen. Es gibt keine gemeinsamen Diskussionen über die Ziele der Bewegung. Die minimalen Forderungen stehen für Alle und jedes Bündnis kann sich quasi aussuchen, ob es an einer Mobilisierung teilnimmt oder nicht. Gleichzeitig befördern die dezentralen Strukturen keinen demokratischen Prozess. Nichts wird überprüft oder gewählt.

Augenfällig ist das Demokratiedefizit dieser Strömung – nicht nur, dass Abstimmun-gen verboten werden. Durch so genannte ModeratorInnen wird sogar der Diskurs unter den Versammelten beschränkt. So wurden bei einer Bildungskonferenz im Workshop drei Stunden lang Methoden zur Diskursvermeidung vom Moderator angewendet. Allein das flehentliche Bitten nach einer offenen Diskussion über die Perspektive der Bildungsproteste gab den TeinehmerInnen schlussendlich 30 Minuten Zeit zur Diskussion. In den Plena agieren die ModeratorInnen nicht neutral, sondern brechen jede entstehende Diskussion ab mit Hinweis auf andere Methoden der Beteiligung, fragen nach dem Konsens sowie möglichen Einsprüchen gegen diesen. Als letztes Beispiel dieses Demokratieverständnisses soll erwähnt werden, dass teilweise sogar den TeilnehmerInnen vorgeschrieben wird, welche „Killerphrasen“ sie zu unterlassen haben bzw. welche auch allzu deutliche Meinungsäußerungen schwierig wären für den gemeinsamen Diskurs und den angestrebten Konsens.

In der Praxis ist somit der kleinste gemeinsame Nenner das vorherrschende Ergebnis dieser Versammlungen. Damit ist diese Strömung auch immer wieder anschlussfähig an die rechten und reformistischen Kräfte in der Bewegung.

Die Unterschiede innerhalb dieser Strömung werden zum einen durch verbalradikale AktivistInnen (Kapitalismus abschaffen als Phrase, ohne Analyse und Programm) und zum anderen durch rein bildungsorientierte AktivistInnen (für freie Bildung ohne Systemzwänge) verkörpert. Ihr gemeinsamer Nenner, die postmoderne Methode, ist dann auch die Grundlage für die Kooperation mit reformistischen Organisationen.

Die linken, reformistischen Organisationen

Natürlich waren auch zahlreiche, sich selbst als sozialistisch bezeichnende Gruppen und Organisationen beteiligt (in Deutschland SDS, Jusos; in Österreich VSStÖ bzw. SJ). Ihr Einfluss auf die Bewegung, theoretisch und praktisch, war unterschiedlich groß. Gemeinsam war ihnen jedoch das Bemühen, die Proteste nicht auf eine höhere Stufe zu heben, sondern sie vielmehr auslaufen zu lassen und zu verhindern, dass es zum Aufbau von demokratischen Delegiertenstrukturen kommt. Denn die Radikalisierung und die demokratische Organisierung der Bewegung hätten den Einfluss und die Position dieser reformistischen Organisationen unter der Studierendenschaft und deren Institutionen gefährden können. Eine solche Entwicklung wäre zu einer direkten Herausforderung der bürokratischen Strukturen und dem traditionellen reformistischen Politikverständnis von SDS/solid/VSStÖ/SJ geworden. Die reformistischen Organisationen traten jedoch oft nicht offen in der Bewegung mit ihren Konzepten auf.

Zum einen unterstützten die (links)-reformistischen Organisationen überall die Methoden der libertären Konsensströmung, traten nicht mit eigenem Programm auf und verzichteten bei vielen Besetzungen und Aktionen darauf, als Organisation aufzutreten. Gleichzeitig schaffte es der SDS z.B., informelle Strukturen wie Presse und Öffentlichkeitsarbeit zu besetzen. In Deutschland gab es erst am Ende des Jahres 2009 ein offizielles Papier der wohl größten politischen studentischen Organisation zur Perspektive des Bildungsstreiks (Streikagenda 2010 von Friederike Benda, Steffi Graf, Oskar Stolz und Ben Stotz).

In diesem Papier wird zum einen kritisiert, dass bestimmte Akteure den Bildungsstreik als „antikapitalistisch“ einengen wollen. Damit würden sie die Be-wegung in die „strategische Isolation“ führen. Dies spiegelt wider, wie sich der „Sozialistische Demokratische Studierendenverband“ die politische Ausrichtung der Bildungsbewegung vorstellt. Damit fällt der SDS, zusammen mit der Jugendorgani-sation solid, hinter die Entwicklung der SchülerInnenbewegung 2008 in Deutschland zurück. Dort gab es politische Mehrheiten für eine antikapitalistische Ausrichtung der Proteste, dort gab es auch gewählte Strukturen und Vertretungen der Bewegung. Dies alles wird nun abgelehnt. Diese „SozialistInnen“ verstecken sich hinter einer vorgeblichen kleinbürgerlichen Majorität in der Bildungsbewegung und bekämpfen auch aktiv jeden Versuch, in der aktuellen Bewegung einen antikapitalistischen, sozialistischen Pol aufzubauen. Statt dessen setzen sie auf parlamentarische Gepflogenheiten, unterstützen Dialogrunden mit den Unileitungen oder gar den Ministerien, lassen sich von der KMK (Kultusministerkonferenz) und der EU zum Bologna-Gipfel einladen und vertrösten die AktivistInnen auf eine mögliche Partizipation in der Bildungspolitik – dies ist klassischer Reformismus.

Diese Kräfte integrieren auch eher die offen rechten Strömungen in der Bildungsbewegung, als an dem Aufbau einer antikapitalistischen, sozialistischen Strömung beteiligt zu sein. Diese rechte Strömung stellt ihre Forderungen allein nach ihren Interessen beim Bildungsabschluss auf. Ihnen geht es um die Verbesserung des BA/MA-Abschlusses. Ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt steht bei ihnen im Vordergrund. Jeder Bezug zu anderen politischen Themen oder Bereichen wird von den rechten Strömungen abgelehnt – sie sehen jede „linke“ Parteinahme für die Bildungsbewegung als Gefahr für ihre Forderungen.. Gegenüber diesen Kräften agieren diese reformistischen Kräfte besonders handzahm. Anstatt innerhalb der Bewegung den Bezug von Bildungsabbau und Kapitalismus herzustellen, laufen sie den rechten Forderungen hinterher und versuchen, diese stets aufzugreifen.

Als Begründung wird abstrakt eine mögliche „Politisierung“ benannt, bei der alle AktivistInnen beim kleinstmöglichen Nenner abgeholt werden sollen und diese nicht „verschreckt“ werden dürfen durch weitergehende politische Agitation. Rückendeckung bekommen diese reformistischen Organisationen auch von ihrer „linken Flanke“, den verschiedenen zentristischen Gruppen. Die Sektionen des CWI (SAV in Deutschland und SLP in Österreich) oder der IST (Marx 21 in Deutschland und Linkswende in Österreich) bspw. agieren stets im Nachtrab der reformistischen Organisationen, betreiben ebenfalls keine offene, antikapitalistische oder gar sozialistische Agitation. Diese Taktik geht ebenfalls davon aus, dass erst ein größerer Teil politisiert, dann im Kampf radikalisiert werden muss und erst später für mögliche antikapitalistische Positionen offen ist.

Dieser Kräftekonstellation haben wir, von der internationalen Jugendorganisation REVOLUTION und den Sektionen der Liga für die 5. Internationale, stets eine antikapitalistische und sozialistische Agitation entgegen gestellt. Wir sind offen als SozialistInnen aufgetreten und haben damit keine AktivistInnen verschreckt – im Gegenteil – viele, die mit der Politik der Hauptströmungen nicht einverstanden sind, haben uns stets als Alternative wahrgenommen und unsere Politik in Bündnissen und Konferenzen unterstützt.

Wir haben von Anfang an für eine weiterführende Perspektive der Bildungsbewe-gung geworben, für den gemeinsamen Kampf mit Krisenprotesten und Arbeitskämpfen gegen die Kürzungen durch den Staat und die Interessen des Kapitals.

Klassenstandpunkt

Die vorangegangene Kritik an kleinbürgerlichen Radikalen und Reformisten wirft zugleich die Frage nach einer alternativen politischen Perspektive und demzufolge einem zu beziehenden Klassenstandpunkt auf. In den oberen Abschnitten haben wir bereits so gut wie möglich versucht, die Angriffe der KapitalistInnen auf die Bildung zu skizzieren. Doch welche Forderungen gilt es aufzustellen, wie und mit welchen Mitteln diese zu erkämpfen?

Zentral ist hierbei ohne Frage der zu beziehende Klassenstandpunkt! Wir glauben, dass die Angriffe, die gezielt auf die Bildung vorgenommen werden, nur dauerhaft durch eine antikapitalistische und revolutionäre Bildungsbewegung gestoppt und gleichzeitig auch Forderungen durchgesetzt werden können. Es ist illusorisch, dass Forderungen nach einer freien und solidarischen Bildung innerhalb der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft realisiert werden können. Denn die Bildung selbst stellt nicht nur einen der elementaren Sektoren der ideologischen Reproduktion dieses Systems dar, sondern dient auch der Ausbildung von für das Kapital angepassten Arbeitskräften. Innerhalb dieses Reproduktionsmechanismus schwimmende Inseln zu schaffen, die vorbehaltlos von Kapital und bürgerlichem Staat geduldet werden, ist nicht nur utopisch, sondern eine Schlussfolgerung, die umso gefährlicher ist, als sie von einem Großteil der Bewegung momentan vertreten wird. Ideen wie die Schaffung von eigenen, von der Bewegung kontrollierten „Universitäten“ (z.B. die Krisu in Wien), sind zwar keine prinzipiell abzulehnenden Forderungen. Gleichzeitig muss jedoch auch der beschränkte Charakter dieser Herangehensweise aufgezeigt werden. Auch Aussagen im Wiener Audimax à la „Wir sind das Parlament“ sind zwar nette rhetorische Kniffe, insgesamt bleiben sie genauso wie die Idee von Alternativuniversitäten jedoch in der Illusion gefangen, dass man ohne eine Herausforderung aktueller Herrschaftsstrukturen Veränderungen durch die Schaffung von progressiven Insellösungen herbeiführen könnte. Auch wenn wir stets bereit sein werden, für Alltagsforderungen einzutreten, insofern sie Fortschritte darstellen und somit keinen reaktionären Charakter haben, wissen wir doch zugleich, dass diese im Kampf gewonnenen Errungenschaften nicht auf Dauer innerhalb des Kapitalismus bestehen können, ohne von Gegenangriffen der KapitalistInnen bedroht zu sein!

Dazu ist es notwendig, über den Protest im Bildungsbereich hinaus eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu entwickeln. Um eine Brücke zwischen der Erkämpfung der dringendsten Forderungen und der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zu schlagen, muss eine klare Analyse über die Ursachen der Bildungskrise angestellt werden. Denn während einige von der Protestbewegung aufgestellten Forderungen durchaus auch erkämpft hätten werden können (z.B. eine Erhöhung der Budgets oder aber auch kleine Veränderungen in den Lehrplänen), stellen anderen Forderungen ganz klar die Frage nach den Machtverhältnissen auf der Uni und in der Gesellschaft. Forderungen wie die „Demokratisierung der Universitäten“ kratzen dabei an etablierten Herrschaftsstrukturen.

Gleichzeitig muss auch eingesehen werden, dass die Bildungskrise nicht durch Bildungsproteste alleine gelöst werden kann. Denn die Ursache der Probleme liegt nicht bloß in der schlechten Umsetzung der Bologna-Reformen, sondern ist vielmehr ein Resultat einer bewussten Förderung der sozialen Selektion an den Schulen und Universitäten. Um diese grundlegenden Probleme lösen zu können, ist ein gemeinsamer Kampf von SchülerInnen, StudentInnen, Azubis und der ArbeiterInnenbewegung  notwendig, der über Forderungen im Bildungssektor hinausgeht.

Die Aufgabe, die sich RevolutionärInnen in der Bildungsbewegung stellen müssen, besteht deshalb nicht nur darin, einen konsequenten Kampf für die Interessen der SchülerInnen, StudentInnen, Azubis und den Beschäftigten im Bildungsbereich zu führen. Jegliche Intervention muss dabei auch einen klaren Bezug zu den Ursachen der Bildungskrise, dem Kapitalismus, herstellen und aufzeigen, wie eine gesellschaftliche Alternative erkämpft werden kann. Hierin liegt auch oft die grundlegende Errungenschaft von Streiks, Demonstrationen und Aktionen in der Bildungsbewegung, auch wenn sie direkte Tagesforderungen bisher nicht in signifikantem Ausmaß realisieren konnte, nämlich in der Stärkung der Organisierung der Beteiligten, der Aktivierung ungeahnter Kräfte. Unwillkürlich werfen diese Aktionen politische Fragen auf und zwingen die Studierenden und SchülerInnen, sich gegenüber Uni-Leitung, Ministerien, Polizei, aber auch zu anderen Kämpfen zu positionieren. Das bietet eine viel günstigere Basis für RevolutionärInnen, ganze Schichten der Jugend für eine revolutionäre, sozialistische Lösung der Misere zu gewinnen.

Welche Tagesforderungen?

Ein zentraler Punkt der Forderungen ist mit Sicherheit der Kampf gegen den Bologna- Prozess auf europaweiter Ebene. Dieser ist das Hauptangriffsziel der Forderungen eines Großteils der Studentnnenbewegung momentan. Hieran sind unglaublich viele Kampffelder geknüpft wie der Kampf gegen Studiengebühren, das BA/MA-System oder aber auch die Förderung weiterer Exzellenzinitiativen unter gleichzeitig voranschreitender Privatisierung großer Teile des universitären Bereichs. Hier haben wir, wenn auch durch Nuancen unterschieden, fast in ganz Europa und auch darüber hinaus exakt die (zeit-)gleichen Angriffe auf das Bildungssystem in den letzten Jahren beobachten können.

In vielen SchülerInnenprotesten haben wir oft unterschiedlichste Anlässe auf internationaler wie auch auf regionaler Ebene gesehen. So zum Beispiel die CPE-Gesetze, die hunderttausende Jugendliche in Frankreich 2006 auf die Straße brachten, die Kürzung von schulfreien Tagen in Österreich oder Bildungsreformen wie z.B. das G 8 -Abitur (Abitur in 12 Jahren) in Deutschland.

Im Kern jedoch lassen sich einige grundlegende Kampffelder und Hauptlosungen innerhalb der momentanen Bildungsbewegung herauskristallisieren (11). Diese wären die Forderung nach einer kostenlosen, staatlich finanzierten Bildung, nach einer Bildung für Alle und somit gegen jedwede Selektion innerhalb des Bildungssystems, die Forderung nach einer bedingungslosen Komplettfinanzierung der Bildung sowie die immer sehr vage formulierte Forderung der Demokratisierung des Bildungssystems.

Natürlich unterstützen wir alle diese Punkte. In der Bewegung wurden sie jedoch oft entweder völlig getrennt und zusammenhanglos präsentiert oder aber zutiefst reformistische Forderungskataloge ausgearbeitet, die im „Rahmen des Möglichen“, also den Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft bleiben sollten. Letzteres beinhaltet auch die Vorstellung, dass eine „gute Bildung“ ja im Interesse Aller, also auch der Unternehmer wäre, die mit besser und umfassender qualifizierten Arbeitskräften hochwertigere und konkurrenzfähigere Produkte herstellen könnten.

Dabei wurde nur selten und sehr ungern die Frage diskutiert, wer überhaupt sämtliche Forderungen der Bewegung bezahlen sollte. Wir sind der Meinung, dass nicht diejenigen zahlen dürfen (mithilfe von (in)direkten Steuern), die direkt von der Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungs- und Sozialsystems betroffen sind, nämlich die ArbeiterInnenklasse und arme Jugendliche. Nein! Zahlen sollen diejenigen, in deren Sinn die kapitalistische Ausbildung stattfindet und zwar durch starke Steuern auf Kapital und Vermögen!

Auch die Frage, wie letztendlich die geforderte Demokratisierung genau aussehen sollte, wurde von ReformistInnen und Libertären entweder sehr wässrig bzw. nicht beantwortet oder aber wurde eine stärkere Mitbestimmung und Eingliederung in bürgerliche/n Strukturen gefordert. Wie diese Bestimmungsrechte letztendlich aussehen, haben wir hervorragend bei Schulstreiks innerhalb der Schülervertretungen gesehen. Dies liegt nicht einmal daran, dass diese meistens von „rechten“ oder offen bürgerlichen Elementen beherrscht werden. Vielmehr sind sie grundlegend bürgerliche Organe, innerhalb deren eine volle Selbstbestimmung und Selbstverwaltung in Wirklichkeit unmöglich ist. Daher stellt sich auch für uns die Frage, welche Strukturen die Bewegung braucht, welche Organe und Formen des Austauschs, um einerseits so demokratisch wie möglich zu funktionieren, andererseits um so effektiv wie notwendig zu arbeiten. Dabei dürfen wir natürlich nie die politische Perspektive vergessen, in deren Zusammenhang diese Strukturen bestehen!  Struktur, Organisation, Partei  Eines hat sich ganz klar in den letzten Monaten gezeigt: die Bildungsbewegung wird und kann nicht dazu in der Lage sein, einen dauerhaften und verallgemeinerten Kampf zu führen ohne verbindliche Strukturen! Die Hintergründe der „Strukturpolitik“ des rechten Flügels der Bewegung haben wir bereits nachgewiesen. Kommen wir also zu unseren Vorschlägen für die Bewegung.

Wir glauben, dass es für das Gelingen der folgenden Protestwellen unabdingbar sein wird, überall wo dies möglich ist, Streik- und Aktionskomitees aufzubauen, sei es an Schule, Uni oder am Ausbildungsplatz. Ihre Aufgabe muss es sein, ein Sammelpunkt für alle kämpferischen AktivistInnen zu sein, um die Mobilisierungen vor Ort zu planen und durchzuführen, ihre KollegInnen für die politischen Forderungen zu  gewinnen und auch im Kampf anzuführen.

Trotz alledem sind diese Strukturen eine Art Bündnis oder Einheitsfront. Sie sind daher vor allem eines – Aktionsorgane, in denen sich unterschiedliche politische Gruppen und Einzelpersonen treffen, um gemeinsame Aktionen durchzuführen. Grundlegend für eine gemeinsame Arbeit muss die ständige Meinungsfreiheit sein, die Freiheit, auch die anderen Partner dieses Bündnisses kritisieren zu können.

Natürlich werden Bündnisse politische Fragen ausführlich diskutieren und versuchen, zu einer gemeinsamen Lösung und Vorgehensweise zu kommen. Aber sie müssen nach Diskussionen auch zu Entscheidungen kommen, was von wem zu tun ist. Dazu vertreten wir das Mehrheitsprinzip. Das mag banal klingen, doch innerhalb der Bewegung ist dies eine wichtige Forderung vor allem gegenüber den Libertären. Die Erfahrung der letzten Jahre hat nämlich gezeigt, dass das so genannte „Konsensprinzip“ eine Fessel für die Bewegung ist, weil es jeder noch so kleinen Minderheit das „Recht“ einräumt, die Mehrheit, also die Gesamtbewegung, am Handeln zu hindern.

Hinzu kommt, dass damit auch jede Transparenz und Klarheit über unterschiedliche politische Vorschläge erschwert, wenn nicht gar blockiert ist, denn das ist die Grundvoraussetzung, damit auch offen Kritik geübt werden kann.

Vor allem ist es fatal, weil in der Bewegung unterschiedliche Fraktionen bzw. Strömungen existieren, die objektiv unterschiedliche (Klassen-)Interessen zum Ausdruck bringen. Diese Differenzen zu verschweigen, kommt einem Maulkorberlass gegenüber dem proletarischen, revolutionären Flügel gleich. Es zeigt auch von dieser Seite den reaktionären Charakter des „Konsensprinzips“. Die Bewegung wird nämlich ihre Schwächen nur überwinden können, wenn unterschiedliche Strategien und Vorschläge offen diskutiert und verbindliche Beschlüsse für die Aktion gefasst werden – nicht, indem unterschiedliche Standpunkte zu einem nicht existierenden „Konsens“ verwässert werden, was reale Differenzen nur verschleiert, nicht löst.

Zurück zu den Streikkomitees. Sie müssen danach streben, sich lokal und regional in Form von Bündnissen zu organisieren, bereit sein, verbindliche Absprachen zu treffen und gemeinsame Aktionen durchzuführen, Seite an Seite mit politischen Gruppen, die die Forderungen des Bildungsstreiks vertreten (ausgeschlossen sind natürlich Rassisten, Sexisten, Faschisten etc.). Auch auf nationaler und erst recht auf internationaler Ebene reichen die Modelle informeller Absprachen nicht, wie wir sie bisher gesehen haben.

Wir schlagen daher Konferenzen vor, die auf Delegiertenbasis, beschickt von regionalen Streikkomitees, politischen Gruppen und z.B. Gewerkschaften stattfinden, die natürlich von ihren eigenen Strukturen gewählt wird. Außerdem müssen diese Konferenzen für Beobachter offen stehen. Die Delegierten müssen ihrer Basis gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von dieser abgewählt werden können. Auf ihnen könnten auch tatsächlich verpflichtende Beschlüsse gefällt werden. Sie wären außerdem weitaus transparenter und nachvollziehbarer, als es momentan der Fall ist.

Diese Strukturen sind die einzige Möglichkeit, um wirklich gegen informelle „Zusammenhänge“ und undemokratische, selbst ernannte FührerInnen (Libertäre, SDS, VSStÖ/SJ) der Bewegung vorzugehen und sie durch handlungsfähige und demokratische Strukturen zu ersetzen.

Diese Strukturen können der Keim für eine SchülerInnen- und StudentInnengewerkschaft sein, die ein mächtiges Bollwerk sein könnte nicht nur in der Verteidigung unserer Rechte, sondern auch im Kampf für unsere Zukunft. Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, dass die Bewegung in den Zeiträumen zwischen den Mobilisierungen und Großaktionen oft in sich zusammenfällt. Das ist ein Stück weit auch unvermeidbar. Ein Streikkomitee ohne Streik wird natürlich zu einer leeren Hülle und kann nicht dauerhaft über längere Monate auf diese Weise existieren. Hinzu kommt, dass die Studierenden und SchülerInnen keine oder zumindest keine vom Staat unabhängige, landesweite Organisation haben. Daher ist die Losung einer SchülerInnen- und StudentInnengewerkschaft wichtig, um eine dauerhafte, kämpferische Organisation zu schaffen, die eine Kontinuität aller AktivistInnen auch für die Zeiten schafft, wenn die Bewegung wenig aktiv ist.

Die Wichtigkeit einer StudentInnengewerkschaft und noch viel mehr von Streikkomitees und deren Zentralisierung zu Streikräten liegt darin, dass sich diese Strukturen als unbedingt notwendig erwiesen haben zur Organisierung von Aktionen. Nur so wird es möglich sein, ausgehend von der Besetzung einzelner Räume zu unbefristeten Besetzungsstreiks/Vollbesetzungen zu kommen. Dazu braucht es demokratische und handlungsfähige Organe – eben Streikräte -, die Besetzungen nach innen organisieren und ausweiten, sie durch Streikposten gegen StreikbrecherInnen, Sicherheitsdienste oder Polizei verteidigen und die Bewegung nach außen vertreten.

Entgegen SDS/SJ und Libertären wissen wir, dass all dies jedoch immer klar mit einer Perspektive verknüpft sein muss, die über das Bildungssystem hinausgeht, die es sich zum Ziel macht, die Ursache, die kapitalistische Gesellschaft, auf Grundlage eines revolutionären proletarischen Programms zu bekämpfen! Doch wir wissen, dass dazu nicht allein Einheitsfrontorgane ausreichen werden.

Dazu werden wir eine kommunistische Partei der Arbeiterklasse brauchen, die gemeinsam mit einer revolutionären Jugendorganisation Seite an Seite für die Interessen der Jugend eintritt! Die ihr Programm verbreitet, die Kämpfe verallgemeinert und in der Lage ist, die Erfahrungen politisch auszuwerten.

Entgegen Kräften wie den ReformistInnen (SDS/Solid, VSStÖ/SJ), den Autonomen oder Libertären haben wir von der internationalen Jugendorganisation REVOLUTION und den Sektionen der Liga für die 5. Internationale, stets eine antikapitalistische und sozialistische Argumentation dagegen gestellt. Wir sind offen als SozialistInnen aufgetreten und haben damit keine AktivistInnen verschreckt – im Gegenteil – viele, die mit der Politik der Hauptströmungen nicht einverstanden sind, haben uns stets als Alternative wahrgenommen und unsere Politik in Bündnissen und Konferenzen unterstützt.

Wir haben von Anfang an für eine weiterführende Perspektive der Bildungsbewegung geworben, für den gemeinsamen Kampf mit Krisenprotesten und Arbeitskämpfen gegen die Kürzungen durch den Staat und die Interessen des Kapitals.

Für eine sozialistische Alternative zum kapitalistischen Bildungssystem

Wenn wir von REVOLUTION und den Sektionen der L5I von einer sozialistischen Bildung sprechen, so sprechen wir von einer Bildung, die von der Mehrheit der Bevölkerung im Rahmen einer gesellschaftlichen Veränderung durch eine Überwindung des Kapitalismus erkämpft werden muss.

Ein Bildungssystem, welches der Jugend und der ArbeiterInnenklasse dienen soll, entsteht natürlich zum einen aus der Negation des jetzigen kapitalistischen Bildungssystems. Die kapitalistische Bildung richtet sich nach den Verwertungsinteressen der Bourgeoisie. Dort gibt es eine „Elitenbildung“ mit Privatschulen für die bourgeoisen Sprösslinge. Dort wird der Nachwuchs der herrschenden Klasse ausgebildet. Ebenso gibt es z.B. die Hauptschulen in Deutschland und Österreich, welche selbst nach bürgerlichen Maßstäben die „Ware Arbeitskraft“ unzureichend ausbilden. Der öffentliche Bildungssektor wird immer weiter ausgeblutet. Viele AbsolventInnen werden direkt in den Niedriglohnbereich überführt, um den Erfordernissen des kapitalistischen Arbeitsmarktes gerecht zu werden. Gleichzeitig konkurrieren auch immer mehr AbsolventInnen der Universitäten um immer weniger Jobs.

Diese Trennung zementiert durch eine Klassenbildung natürlich auch die Klassenspaltung – hier das Proletariat mit begrenztem Bildungszugang und Möglichkeiten, dort das Klein- und Großbürgertum mit Spezialistenbildung. Dies sehen wir auch verschärft im heutigen Bildungssystem. Ein Bildungssystem, das diese Selektion überwindet, welches allen nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen Bildung und Wissen zukommen lässt, kann nur eine sozialistische Bildung sein. Seine Realisierung setzt freilich keine Reform, sondern die Überwindung der Grundlagen der bestehenden Klassenbildung, also den Sturz der Kapitalistenherrschaft und die Errichtung der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse voraus.

Eine Bildung der Mehrheit für die Mehrheit muss zunächst die höchstmögliche wissenschaftliche Bildung für alle frei zugänglich machen, d.h. ohne jegliche Art von Gebühren und anderen Beschränkungen. Jedem Kind und jedem Erwachsenen müssen alle Möglichkeiten offen stehen. Bildung als Menschenrecht, wie es in manch bürgerlichen Politikerfloskeln benannt wird, wird erst dann Realität, wenn Bildung unabhängig von der Klassenlage allen offen steht. Ein Bildungssystem des Proletariats muss bemüht sein, ein „lebenslanges Lernen“ tatsächlich zu verwirklichen. Damit meinen wir den unbegrenzten Zugang zu allen neuen Methoden und Erkenntnissen der Wissenschaft.

Heute sind diese Zugänge stark eingeschränkt. Allein ein Blick in öffentliche Bibliotheken zeigt, dass dort entweder veraltetes Wissen angeboten wird bzw. die finanziellen Mittel nicht da sind, um die Literatur und die Medien auf den neuesten Stand zu bringen. In einer sozialistischen Gesellschaft muss die Versorgung aller Bildungseinrichtungen stets die Aufgabe des Gemeinwesens sein. Das betrifft alle Arten von Schulen genauso wie kommunale Einrichtungen.

Gleichzeitig wird dem Bildungssystem in einer sozialistischen Gesellschaft auch die Aufgabe zufallen, die aufgrund der kapitalistischen Klassengesellschaft geschaffenen Unterschiede in Kultur- und Bildungsniveau abzubauen. Das Bildungssystem in einer sozialistischen Gesellschaft dient deshalb auch der Überwindung noch bestehender Klassenunterschiede, anstatt solche wie im heutigen System zu befördern. Um diese Umkehr zu erreichen, müssen z.B. die Maßnahmen der Bolschewiki wie die Schaffung von voruniversitären Bildungseinrichtungen für ArbeiterInnenkinder zur Vorbereitung auf ein Universitätsstudium aufgegriffen werden. Ebenso setzte die frühe russische Revolution erste Schritte zu einer grundlegenden Veränderung des Ausbildungssystems, indem sie versuchte, die Trennung von praktischer und theoretischer durch die Schaffung polytechnischer Ausbildung zu  überwinden.

Darüber hinaus geht es auch darum, den Bildungsbegriff auszuweiten. Keine Frage: auch in einem sozialistischen System muss es um eine Vermittlung von Qualifikationen gehen. Gleichzeitig ist diese Vermittlung jedoch zwei zentralen Veränderungen unterworfen: erstens reden wir von einer von der Mehrheit der Bevölkerung kontrollierten Wirtschaft, d.h. auch einer Qualifikationsvermittlung, die sich nach diesen Maßstäben richtet. Zweitens von einer Bildung, die wirtschaftlich nicht unmittelbar verwertbare Qualifikationen nicht als lästigen Zusatz versteht, sondern die Ausbildung der Menschen zu Trägern der Gesellschaft als Kernaufgabe der Bildung definiert.

Mit dem Fortschreiten zum Kommunismus wird Bildung/Ausbildung mehr und mehr aufhören, als eine besondere, von der Arbeit oder Freizeit getrennte Sphäre zu existieren. Die Voraussetzung dafür ist jedoch nicht die Umsetzung eines „Bildungsideals“ oder einer besonders ausgeklügelten „Reform“, sondern in erster Linie die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft selbst.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Education at a Glance 2009, S. 223; siehe auch: http://www.oecd.org/dataoecd/41/25/43636332.pdf (Zugriff: 22.01.2010). Anmerkung: Während der Bericht aus 2008 noch von 79% im Jahr 1995 und von 73% im Jahr 2005 schreibt, ist die Verringerung des öffentlichen Anteils um 6% zwischen den Berichten von 2008 und 2009 gleich geblieben.

(2) ebenda.

(3) Dr. Helga Rübsamen-Schaeff, Mitglied des Universitätsrates der Universität Wien und Geschäftsführerin der AiCuris GmbH & Co. KG; siehe: http://www.univie.ac.at/universitaetsrat/mitglieder_ruebsamen-schaeff.html

(4) Dr. Karl Stoss, Mitglied des Universitätsrates der Uni Wien und Generaldirektor der Casinos Austria AG; siehe: http://www.univie.ac.at/universitaetsrat/mitglieder_stoss.html.

(5) Education at a Glance 2009, S. 233; siehe: http://www.oecd.org/dataoecd/41/25/43636332.pdf

(6) Der Europäische Hochschulraum (Bologna-Deklaration): Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, 19. Juni 1999, Bologna.

(7) Auf dem Wege zum europäischen Hochschulraum: Kommuniqué des Treffens der europäischen Hochschulministerinnen und Hochschulminister am 19. Mai 2001 in Prag.

(8) Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 23. und 24. März 2000, Lissabon; siehe auch: http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm (Zugriff 21.01.2010).

(9)siehe:http://www.erstegroup.com/Über_uns/Management/Aufsichtsrat/

(10) siehe: http://www.uniqagroup.com/uniqagroup/cms/de/ group/management/holding/index.jsp (Zugriff: 22.01.2010)

(11) Da die Darstellung aller konkreten Forderungen den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, verweisen wir auf das Aktionsprogramm von REVOLUTION „Kampf der kapitalistischen Bildungskrise: Widerstand aufbauen! Bildung erkämpfen“




Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910

Max Laszer, Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010

Einleitung

Die Generalstreikdebatte in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gilt nicht von ungefähr als zentraler Streitpunkt, an dem sich zunehmend die Differenzen zwischen dem revisionistisch/reformistischen Flügel und der revolutionären Linken manifestierten. Bekannt ist v.a. die erste Zuspitzung der Debatte anlässlich der ersten russischen Revolution und der daraus zu ziehenden Lehren.

Wie der Revisionismus-Streit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, endet die Generalstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie am Parteitag von Jena 1905 wie auch am internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 mit einer Niederlage der Rechten. Die massiven Vorstöße v.a. der deutschen Gewerkschaftsführungen, für die der Generalstreik als „Generalunsinn“ und „undiskutabel“ galt, wurden zurückgewiesen.

Aber sie wurden, wie wir sehen werden, auf inkonsequente Art und Weise – meist über die Vermittlung des Parteivorstandes um Bebel – zurückgewiesen. So wurden die revisionistischen Vorstöße Bernsteins abgewehrt und die Zustimmung der süddeutschen Gliederungen der SPD zu den Staatshaushalten Bayerns oder Württembergs zwar regelmäßig verurteilt, aber die auf Wahlkämpfe und Propaganda und Agitation für den Sozialismus ausgerichtete Parteipraxis blieb davon ebenso unberührt wie die nur auf Verbesserungen der sozialen Lage angelegte Tätigkeit der Gewerkschaften.

Letztere erlebten aufgrund ihres Wachstums, ihrer Erfolge in Lohnkämpfen und gut kalkulierten Teilstreiks einen massiven Aufschwung und überflügelten die Partei an Größe und Finanzkraft und entwickelten noch vor der SPD einen bürokratischen Apparat. Ihre reformistische Tagespraxis, die von einer politischen Zuspitzung des Klassenkampfes nichts wissen wollte, ging auch einher mit einer materiellen Stütze dieser Praxis in der Facharbeiteraristokratie, auf die sich die Gewerkschaften stützten.

Die Generalstreikdebatte war daher ein erstes Kraftmessen mit der Gewerkschaftsbürokratie. Während der Parteitag von Jena 1905 diese Kampfmethode anerkannte, so markierte bereits der Kongress von Mannheim 1906 eine Niederlage der Linken und ein zugunsten der Gewerkschaften verschobenes Kräfteverhältnis. Der Mannheim Kongress revidierte zwar nicht den Beschluss von Jena, aber er sanktionierte praktisch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den Beschlüssen der Partei. Er verdeutlichte, dass die Partei zunehmend abhängig wurde von der inzwischen gewachsenen und gefestigten Gewerkschaftsbürokratie, deren Erfüllungsgehilfe der SPD-Parteivorstand zunehmend wurde.

Bevor wir uns näher dem Schwerpunkt des Artikels – der Generalstreikdebatte um 1910, die anlässlich des Kampfes um das Wahlrecht erneut ausbrach – widmen, wollen wir einen kurzen Abriss der vorausgegangenen Debatten bringen.

Historischer Abriss vor 1905

Die Losung des Massenstreiks war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht neu. Ihr gingen jahrzehntelange Diskussionen um seine Anwendung und dessen politischen Inhalt voraus.

In den 1840er Jahren wurde der Massenstreik von der Chartistenbewegung Englands erstmals eingesetzt. Die Chartisten wollten das allgemeine und gleiche Wahlrecht erstreiken, blieben aber unmittelbar erfolglos.

1868 wurde der Generalstreik vom Brüsseler Kongress der I. Internationale als Mittel, künftige Kriege zu verhindern, beschlossen. Eine breitere Diskussion um das Kampfmittel des Generalstreiks erfolgte dadurch jedoch nicht.

Erstmals mit größerem Gewicht behandelt wurde die Generalstreiklosung nach dem Beschluss des Gründungskongresses der II. Internationale, den 1. Mai 1890 zu einem internationalen Demonstrationstag für den 8-Stunden-Tag zu machen. In Spanien, Österreich und Frankreich wurde gestreikt. Die SPD lehnte den Streik mit der Begründung ab, Bourgeoisie, Militär und Staatsapparat könnten den Generalstreik als Vorwand für einen Staatsstreich und eine Neuauflage der Sozialistengesetze nehmen. Außerdem fürchtete die SPD, man könne die Zustimmung zu diesem Generalstreik als Zustimmung zum syndikalistischen Streikkonzept interpretieren.

Die Sozialdemokraten lehnten die Forderung nach Generalstreiks über Jahre strikt ab. Unter dem Druck praktischer Erfahrungen mit Massenstreiks änderte sie aber ihre Position: Zumindest theoretisch wurden organisierte Massenstreiks erwogen. Im Unterschied zu den Syndikalisten betrachteten sie, v.a. die SPD, Massenstreiks jedoch wesentlich als Abwehrmittel, um bestehende Rechte zu verteidigen oder die eigene Zerschlagung zu verhindern, während die Syndikalisten damit noch nicht erreichte Rechte durchsetzen oder die bürgerliche Republik verteidigen wollten.

Die Schwächen der syndikalistischen Konzeption spielten freilich auch der Ablehnung, die Generalstreikfrage überhaupt zu diskutieren, in die Hände. So wurde 1893 der syndikalistische Antrag auf einen “Weltstreik“ zu Recht abgelehnt. Aber die Veränderung der Klassenkämpfe und die Entwicklung größerer Streikbewegungen bis zum Massenstreik erforderten ein Umdenken. 1896 wurde eine differenziertere Stellungnahme verabschiedet: “Der Kongress hält Streiks und Boykotts für notwendige Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Arbeiterklasse, sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben. Das nächste Erfordernis ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitermassen, weil von dem Umfange der Organisation die Frage der Ausdehnung der Streiks auf ganze Industrien oder Länder abhängt.” (1)

Während die Frage der Generalstreiks für die Internationale auf Resolutionen beschränkt blieb, fanden in Europa Streiks bis hin zu Massen- bzw. Generalstreiks statt.

In Spanien gab es eine Streikwelle für höhere Löhne, darunter 1901 branchenübergreifende Streiks in Barcelona, die sich auf andere Landesteile ausweiteten, und Streiks der Metallarbeiter Barcelonas 1902. Aus diesen – wirtschaftlich erfolglosen – Kämpfen entstand eine allgemeine Gewerkschaft, die “Solidaridad Obrera”, was ein politischer Erfolg war.

In Belgien streikten 1902 zehntausende ArbeiterInnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Der Streik wurde schließlich abgebrochen, führte jedoch nicht – wie von der Internationale befürchtet – zur Zerschlagung der belgischen Arbeiterbewegung. Auch in Schweden wurde für das Wahlrecht gestreikt. Das Wahlrecht wurde damit zwar nicht gewonnen, die Demonstration des Kampfeswillens und der Solidarität der ArbeiterInnen war jedoch ein politischer Erfolg – was deutsche Gewerkschafts- und Parteiführer nicht daran hinderte, den schwedischen Kampf als erfolglos zu bezeichnen.

Auch in Holland wurde gestreikt. Grund war die parlamentarische Debatte eines Streikverbotsgesetzes. Die dortige Sozialdemokratie wurde in Folge der Zerschlagung des Streiks durch Polizei und Armee zu einem scharfen Gegner von Generalstreiks.

Der Amsterdamer Kongress 1904 konnte von all dem nicht unberührt bleiben. Der “Massenstreik“ wurde als mögliches Mittel zur Abwehr, ja als das äußerste Mittel, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen, anerkannt (Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Amsterdam 1904, Berlin 1904, S. 24). Hierin ist bereits enthalten, was sich in der späteren Diskussion noch deutlicher zeigen wird: Die Aktion der Massen, der Massenstreik, ist vor allem für die SPD nur das äußerste Mittel, das man einsetzt, wenn es um Sein oder Nichtsein der Arbeiterbewegung geht.

Kurz nach Ende des Kongresses brach in Italien ein heftiger Massenstreik aus – ohne Zutun von Parteien oder Gewerkschaften. Auslöser waren zwei Blutbäder der Polizei unter streikenden Bauern und Bergarbeitern in Sizilien. Solidaritätsstreiks breiteten sich über ganz Italien aus. Dieser Generalstreik blieb jedoch, allen Befürchtungen oder Lobpreisungen zum Trotz, beschränkt und führte weder zur sozialen Revolution noch zur Zerschlagung der italienischen Arbeiterbewegung. Er wurde nach Versprechungen der Regierung, die Polizei bei Streiks nicht mehr einzusetzen, abgebrochen.

Die russische Revolution 1905

Die wichtigsten Erfahrungen mit Streiks brachte 1905 die Revolution in Russland. Seit der Jahrhundertwende nahm in Russland die Zahl der Streiks stark zu. Ein Massenstreik brachte auch das Zarenregime ins Wanken. Am 22. 1. 1905 zogen 200.000 ArbeiterInnen vor das St. Petersburger Schloss. Das von Soldaten unter den friedlichen DemonstrantInnen angerichtete Gemetzel ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein. Binnen weniger Tage wälzte sich eine Serie von Massenstreiks durch ganz Russland.

Bedeutender Faktor für die Diskussion der westeuropäischen Sozialdemokratie waren diese Ereignisse deswegen, weil diese Streiks nicht das Machwerk von Anarchisten oder Anarchosyndikalisten war, sondern völlig spontan entstanden waren und von der russischen Sozialdemokratie unterstützt wurden. Rosa Luxemburg führte trefflich ins Feld, dass die russischen Erfahrung eine “gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus” erforderlich macht, nach der “es wieder nur der Marxismus (sein werde), dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen.” (2)

Die russische Revolution vereinte wirtschaftliche wie politische Forderungen – zwei Aspekte, die in der Diskussion der Sozialdemokratie bislang getrennt waren. Russland bewies, welche Kraft und welchen organisatorischen Nutzen Massenstreiks haben konnten. Sie offenbart den Massenstreik als Kampfform. Die Sozialdemokratie Westeuropas hatte sich im Gegensatz dazu auf Machtvergrößerung im parlamentarischen Spielraum und stetige gewerkschaftliche Aktivität beschränkt.

Sie nahm die russische Revolution von 1905 aber nicht als Anlass, ihre Fehler zu korrigieren. Die Generalstreikdebatte kam vielmehr mit der Niederlage der russischen Revolution zum Ende. Jedoch bekam die Frage nach Massenstreiks im Rahmen einer anderen Debatte erneut Relevanz: Diese Frage war, wie am besten gegen den Militarismus gekämpft werden könne. Im Rahmen dieser Antimilitarismus-Diskussion war es erneut die deutsche Sozialdemokratie, die im Gegensatz zur französischen Massenaktionen ablehnte. Nur aus Furcht vor einer erneuten Illegalisierung, wollte man zu Massenstreiks greifen. Auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 wurde schließlich beschlossen:

“Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Mitteln dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.” (3)

Dieser Beschluss tauchte in der Folgezeit jedoch weder propagandistisch noch praktisch auf. Die Bedeutung dieses Beschlusses lag jedoch darin, dass die Linken im Ersten Weltkrieg und die entstehenden kommunistischen Partei daran anknüpfen konnten.

Die Debatte 1910

1905/06 hatten in der deutschen Sozialdemokratie Rosa Luxemburg und Karl Kautsky, trotz mitunter unterschiedlicher Schärfe in der Argumentation, an einem Strang gezogen. Sie waren Teil des linken, marxistischen Flügels in der Partei und Internationale, der viel zur Heranbildung einer klassenbewussten, revolutionären Arbeiterschaft beitrug. Wir wollen damit keineswegs die Fehler Kautsky’s vor 1910 abstreiten (wie auch jene Luxemburgs keineswegs „irrelevant“ sind). Wir bestehen aber darauf, dass sie ein Beitrag zur Formierung eines revolutionären Flügels der Sozialdemokratie vor dem Hintergrund eines Epochenwechsels – vom Übergang der Epoche des klassischen Kapitalismus hin zur Epoche des niedergehenden, imperialistischen Monopolkapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts – waren. So nahm Kautsky bis 1907 zweifellos an der Formierung des Linken aktiv teil und seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ ist wohl auch der Text, wo Kautsky am weitesten nach links ging und einen der ersten Texte überhaupt vorlegte, die versuchten, die Frage der Machtergreifung im Kontext einer neuen Periode zu beantworten.

Der Beginn der Niedergangsepoche des Kapitalismus, der imperialistischen Ära, machte jedoch die „alte“ Programmatik und Methodik des Erfurter Programms – die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm – zunehmend obsolet. Ein Festhalten an dieser Methode führte mehr und mehr dazu, dass das Maximalprogramm zu einer vorgeblich „marxistischen“, aber leeren Rechtfertigung der reformistischen Praxis und Anpassung an den imperialistischen Staat verkam.

Natürlich besaß die gesamte Linke in der internationalen Sozialdemokratie keineswegs eine fertige Alternative zum Minimal-Maximal-Programm. Aber ihr revolutionärer Flügel versuchte – insbesondere im Angesicht der russischen Revolution, die die Frage der politischen Machtergreifung als Tagesfrage aufwarf – das Korsett des Minimal-Maximal-Programm zu sprengen, wenn auch z.T. ohne sich selbst der politischen Konsequenzen völlig klar zu sein.

Die Diskussion um den Generalstreik 1910 markiert hier einen Wendepunkt. Angestoßen wurde die Debatte durch eine massenhafte Wahlrechtsbewegung in Deutschland, von Massendemonstrationen in zahlreichen Großstädten bis hin zur illegalen Demonstration im Berliner Tiergarten mit 150.000 TeilnehmerInnen am 6. März 1910. Rosa Luxemburg und der gesamt radikale Flügel der Partei hatte großen Anteil daran, dass diese Bewegung zustande kam und sich weiter entwickelte.

Zugleich konnte sich auch der Parteivorstand, dem die Sache über den Kopf zu wachsen drohte, der Bewegung und der Massenagitation nicht direkt entgegenstellen. Die Parteiführung – und noch mehr die Gewerkschaften – wollten auf keinen Fall, dass sich die Bewegung radikalisierte und zum Mittel des politischen Massenstreiks griff, wie Luxemburg, aber auch sehr viele Grundorganisationen und die linken Ortsverbände in Preußen forderten.

Der Parteivorstand versuchte offen, die beginnende Debatte zu unterdrücken. Artikel und Stellungnahmen, die sich für den Massenstreik aussprachen, durften im Zentralorgan nicht veröffentlicht werden.

Das hinderte Luxemburg nicht, sich an die politische und theoretische Spitze der Unterstützer des Massenstreiks zu stellen und dafür zu agitieren. Sie versuchte, durch Agitation und Aufklärung bei den Massen die Versäumnisse der Parteiführung wettzumachen. Dies war der Zündfunke für eine öffentliche Debatte zwischen Luxemburg und Kautsky in der „Neuen Zeit“. Karl Kautsky, ein „Linker“, wurde zum wichtigsten Kontrahenten Luxemburgs in der Debatte.

Die Generalstreikdebatte 1910 markiert also auch einen offenen Bruch innerhalb der Linken zwischen einem opportunistischen, rechts-zentristischen Flügel um Kautsky, Hilferding u.a., dem „Zentrum“ sowie der revolutionären, radikalen Linken um Luxemburg, Zetkin und Mehring. Es ist daher kein Zufall, dass die Debatte rasch über das Thema Generalstreik hinausging und auch Grundfragen der Strategie und Taktik der Partei umfasste.

Soll man das Thema Massenstreik öffentlich diskutieren?

Nach mehreren – bürokratisch unterbundenen -Versuchen Luxemburgs, in der „Neuen Zeit“ für den Massenstreik zu werben, veröffentlichte Kautsky darin den Artikel “Was nun?“ (28. Jahrgang, 2. Band 1910), mit dem er einem “Angriff” Luxemburgs auf Mehring beantworten wollte, mit dem er “in dieser Frage vollkommen übereinstimme”. Ob eine Diskussion des Massenstreiks zweckmäßig sei, hänge davon ab, in welchem Sinne diese geführt werde. Der Massenstreik käme natürlich allgemein in Frage, dies sei ja bereits am Jenaer Parteitag beschlossen worden. Die Diskussion, ob er in der gegenwärtigen Situation angebracht ist oder nicht, solle man jedoch nicht in der Öffentlichkeit führen, da man dadurch dem Feind seine Schwachstellen offenbare. “Die ganze Diskussion wäre ebenso zweckmäßig, als wollte man einen Kriegsrat darüber, ob man dem Gegner eine Schlacht liefern soll, in Hörweite des Feindes abhalten” (4), schreibt er.

Diskutiere man die Frage des Massenstreiks “unter sich” sei es etwas anderes. Kautsky hoffte, Luxemburgs Artikel habe nicht den Erfolg, in der Parteipresse eine Diskussion zu der Frage zu entfachen, in welcher “die eine Seite ihre Gründe für die augenblickliche Aussichtslosigkeit des Massenstreiks auseinandersetzte”. Ob sie Recht hätten oder nicht – eine derartige Diskussion wirke keinesfalls anfeuernd für die Aktion der Massen. Anstelle dieser Frage will Kautsky sich vielmehr damit auseinandersetzen, ob es für die Sozialdemokratie nun notwendig ist, den Massenstreik “mit allen Mitteln schon für die nächste Zeit anzustreben”. (5)

Luxemburg antwortet Kautsky darauf (Ermattung oder Kampf? Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band 1910), das Thema Massenstreik sei nicht von ihr erfunden, es wurde davor bereits diskutiert und dazu publiziert. So wurde in Halle in formellen Anträgen dem Parteivorstand die Befassung mit der Frage des Generalstreiks nahegelegt. In Königsberg, Essen, Breslau und Bremen wurde beschlossen, Vorträge mit Diskussionen über den Massenstreik abzuhalten. In einer öffentlichen Versammlung hatte Genosse Pokorny vom Bergarbeiterverband in Essen den Massenstreik in Aussicht gestellt und die Hoffnung ausgesprochen, dass in den kommenden Aktionen den Bergarbeitern eine führende Rolle zufalle. Auch bei den Versammlungen, wo Luxemburg selbst gesprochen hatte, fand die Losung des Massenstreiks stürmischste Zustimmung unter den ArbeiterInnen. Kampfesstimmung und der Wille zum Kampf sind also unter den ArbeiterInnen gegeben, nur ignoriert dies das Parteizentralorgan.

Es wurden für die „Neue Zeit“ sogar Sätze aus Berichten gestrichen, die mit dem Massenstreik zu tun hatten. Es besteht, so Luxemburg, “ein so gespanntes Interesse für die Idee des Massenstreiks, wie noch nie bis jetzt in Deutschland”. (6) Eine Diskussion über den Massenstreik zu unterbinden – was nicht zum ersten Mal versucht werde – sei unmöglich. Aus dem einfachen Umstand, dass die Sozialdemokratie keine Sekte ist, sind alle vergangenen Versuche gescheitert, die Diskussion des Massenstreiks zu verbieten (Kölner Gewerkschaftskongress 1905, Salzburger Parteitag 1904). Betrüblicher als der Versuch, die Diskussion zu unterbinden, sei – so Luxemburg – die allgemeine Auffassung, die vom Massenstreik herrscht.

Die Erfahrungen der Russischen Revolution werden ignoriert und v.a. das ganze Konzept, das sich der Parteivorstand offenbar unter einem Massenstreik vorstellt, ist ernüchternd. Dieser sei kein Werkzeug, das man zur Hand nehmen und wieder zusammenklappen könne, er entstehe nicht durch einen geheimen Vorstandsentschluss. Kraft und Schwäche hingen von den politischen und sozialen Verhältnissen ab. Kautskys Formulierung eines “Kriegsrats in Hörweite des Feindes” zeige dieses Verständnis auf, nach dem der Massenstreik “demnach ein schlau ersonnener Coup” (7) wäre.

Im Gegensatz dazu muss die Sozialdemokratie aber ihre Taktik mit den Massen, also öffentlich diskutieren. Dann wendet sie sich Kautsky’s nächstem Argument zu: Eine Debatte über den Massenstreik wirke nicht anfeuernd zur Aktion. Luxemburg erwidert, dass eine öffentliche Diskussion auf jeden Fall sinnvoll ist, da es gut und billig ist, wenn entweder vor den Augen der Massen die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit des Anstrebens eines Massenstreiks aufgezeigt wird. Sofern Kautsky verhindern wollte, dass die Gewerkschaftsführer ihre „Kanonen“ gegen den Massenstreik richten, unterliegt diesem Punkt wieder eine falsche Grundlage: ein technisches Verständnis der Macht der Gewerkschaften, wo abermals die Führer geheime Pläne aushecken. Treten in einer solchen Situation der bereitwilligen Kampfesstimmung die Gewerkschaftsführer gegen die Massen auf, so sind es nicht die Massenstreikpläne, sondern die Autorität der Gewerkschaftsführer, um die gefürchtet werden muss. Es könnte – vor dem Hintergrund der großen Kampfesstimmung – gar nichts wünschenswerter sein, als ein öffentliches Auftreten der Gewerkschaftsführer gegen den Massenstreik. Luxemburg betont den Aspekt, dass ein Massenstreik nicht von oben gemacht wird und dass die Arbeiterklasse sich nur selbst befreien kann, was konkret auch bedeutet, dass ein Massenstreik aus der massenhaften Stimmung dafür entsteht. Deswegen befürwortet sie es, dass der Massenstreik möglichst breit diskutiert wird. „Ob ein Massenstreik möglich, notwendig oder angebracht ist, würde sich dann aus der weiteren Situation und aus der Haltung der Masse ergeben“. (8)

Luxemburg beleuchtet, wie merkwürdig es ist, dass Kautsky für mehrere mögliche Szenarien vermerkt, es sei dann notwendig, den Massenstreik anzuwenden. Wenn dem so ist, so Luxemburg, dann „ergibt es sich von selbst, dass es unsere Pflicht ist, auch den Massen alle diese Eventualitäten vor Augen zu stellen, jetzt schon in möglichst breiten Kreisen des Proletariats Sympathie für diese Aktion zu wecken“ (9), damit die Arbeiterklasse nicht überrumpelt wird, nicht blindlings, nicht unter Affekt, sondern vollends bewusst mit sicherem Gefühl der eigenen Kraft und möglichst massenhaft den Kampf beginnt. Die marxistische Auffassung besteht gerade in der Beachtung des Klassenbewusstseins. In diesem Sinne sei ein Massenstreik – wie der Kampf um das Wahlrecht – nur Mittel zur Klassenaufklärung und Organisation dieser. Deswegen sei es unerklärbar, wie man der Masse die Befassung mit dieser Frage vorenthalten kann.

Streikarten

Nach den Überlegungen zur Frage, ob und in welcher Form es überhaupt Sinn mache, das Thema zu diskutieren, stellt Kautsky folgende Bedingung auf: Er hält es für unerlässlich, hinsichtlich des Massenstreiks zwischen Demonstrations- und Zwangsstreik zu unterscheiden und möchte gern von Genossin Luxemburg Klarheit darüber, welche Form der von ihr skizzierte Massenstreik haben solle. Die beiden müssten “streng auseinandergehalten” werden, da sie andere Bedingungen voraussetzten und eine andere Taktik erforderten. Ein Zwangsstreik versuche, Regierung oder Parlament zu etwas zu zwingen – gelingt dies nicht, sei er gescheitert. Ein Demonstrationsstreik hingegen sei von begrenzter Dauer und nicht an Resultate gebunden. Letzterer kann lokal beschränkt bleiben, ein Zwangsstreik müsse dagegen allgemeiner Natur sein. Propagiere man den Massenstreik ungeachtet dieser, laut Kautsky notwendigen, Trennung, laufe man Gefahr, “bei lebhafteren Naturen wider unseren Willen den Gedanken des Zwangsstreiks großzuziehen und Aktionen hervorzurufen, die wir nicht beabsichtigen, die weder der Situation noch den Kräfteverhältnissen entsprechen und zu Niederlagen führen. Vergessen wir nicht, dass der Massenstreik als Zwangsstreik unsere letzte (Hervorhebung Kautskys) Waffe ist, die wir einzusetzen haben.” (10)

Sollte Genossin Luxemburg ihn auf Russland 1905 verweisen wollen, falle die dortige Situation unter die Kategorie “Revolution”, was in Preußen nicht der Fall sei. Aus westeuropäischen Ländern ist Kautsky keine Vereinigung von Wahlrechtskampf mit ökonomischen Forderungen bekannt. Dass es dazu nicht kam, ergibt sich für Kautsky daraus, dass die “Verquickung des allen Arbeitern gemeinsamen politischen Kampfesziels mit besonderen, für verschiedene Arbeitszweige verschiedenen gewerkschaftlichen Zielen” ein Mittel böte, “die einzelnen Arbeiterschichten voneinander zu isolieren. Wie dadurch der Massenstreik als Mittel des Wahlrechtskampfes gestärkt werden soll, ist mir nicht ganz klar.” (11)

Illustriert bedeutet diese These: Kombiniert man z.B. die Kämpfe von Grubenarbeitern um ökonomische Forderungen mit der Wahlrechtslosung, würden die Grubenbesitzer den ökonomischen Forderungen nur nachgeben, um die Bestreikung des Betriebes aufzuheben. Dies würden sie jedoch nicht tun, wenn die Werktätigen aufgrund der Wahlrechtsforderungen dann weiterstreiken würden. Somit wären dann die Grubenarbeiter von der Wahlrechtsbewegung isoliert. Der Blick ins Ausland nütze nichts, geht Kautsky erneut auf Russland ein, da die Bedingungen dort andere sind. Auch wenn Luxemburg sich auf die Kämpfe, die in Belgien stattgefunden haben, bezieht, merkt er an, dass diese das gleiche Wahlrecht nicht erfolgreich erstritten haben. “Mit diesem Beispiel kommen wir also auch nicht weit.” (12)

Luxemburg antwortet Kautsky, sein Trennen der Streikarten hätte vielleicht auf dem Papier Bestand, aber auf der Straße, wo das Leben alles durcheinander werfe, nicht. Luxemburg lehnt Kautskys Position ab, dass die russischen Lehren keine Gültigkeit für Deutschland hätten, bloß weil er sie als „Revolution“ etikettiere. Als Beispiel für den fließenden Wechsel zwischen ökonomischen und politischen Forderungen bringt sie die belgische Wahlrechtsbewegung.

Dort kam es 1886 zu einem “Sturm wirtschaftlicher Kämpfe”. (13) Erst fand ein Streik der Bergarbeiter statt, dem in fast allen Städten und Branchen des Landes Streiks folgten, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen ökonomischen Kämpfen entwickelte sich die Wahlrechtsbewegung Belgiens. Zu den Lohnforderungen gesellte sich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts. Am 15. August 1886 veranstaltete die belgische Sozialdemokratie, die durch den wirtschaftlichen Kampf erregte Stimmung nutzend, eine Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel.

Ähnlich war es 1891. Ein großer politischer Massenstreik erzwang die Durchsetzung einer Wahlrechtsvorlage. Dieser fand zusammenhängend mit dem Kampf um den Achtstundentag statt, als Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen und direkt angestoßen durch die vorhergegangene Maifeier. Dieser erste Wahlrechtsmassenstreik vereinte die vorhergehenden Branchenstreiks von Bergarbeitern, Eisen- und Stahlwerken, Tischlern, Zimmerern, Hafenarbeitern u.a., die im Kampf um den Achtstundentag entstanden waren.

Auch nach Beendigung des Massenstreiks – angesichts von Zugeständnissen der Regierung – setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhungen zu erringen. Auch im Folgejahr 1892 fanden vor dem Hintergrund einer latenten Wirtschaftskrise mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnkürzungen statt, schließlich am 8. November 1892 ein Demonstrationsmassenstreik und im Dezember 1892 einige Arbeitslosendemonstrationen. Die Bewegung entwickelte sich also, wie Luxemburg betont, “in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der ‚Zwangsstreiks’” (14), welche den großen Wahlrechtsmassenstreik im Jahre 1893 vorbereitete.

Auch Beispiele aus Deutschland kann sie anbieten, so Baugewerbekämpfe und die Sympathie zwischen diesen und der Wahlrechtsbewegung. Desgleichen die Mai-Feier, wo der Kampf um den Acht-Stunden-Tag mit Wahlrechtsforderungen verbunden wurde, was nach Kautskys Konzept ein Fehler sei. Was Kautsky vorschlägt, also das Trennen der Kampfformen, macht, so Luxemburg, nur Sinn, wenn man den Kampf rein “im Sinne des bürgerlichen Liberalismus (…) nur als politischen Verfassungskampf“ (15) führen wolle, während dies im Sinne einer proletarischen Taktik, als “Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes“ (16) als zweckwidrig und unmöglich erscheint. Es hieße, “die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Massen lebt.” (17)

Dieses „pedantisch-engherzige“ Agieren schadete der deutschen Sozialdemokratie bereits 1908 und 1909, als der “erste Demonstrationssturm der preußischen Wahlrechtsbewegung losbrach und gleichzeitig die Arbeiterklasse eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu spüren bekam.“ (18) Die zahlreichen, durch die Krise auf die Straße geworfenen, Arbeitslosen veranstalteten Versammlungen und Demonstrationen. Doch die Führung der SPD trennte diese Kämpfe, anstatt die eine Bewegung durch die andere zu stärken. Nach Kautskys Schema “ein weises Stück Ermattungsstrategie”, wie Luxemburg satirisch anmerkt. Kautsky macht also nichts anderes, als die praktischen Fehler der Partei theoretisch zu untermauern. Jene, die – so Luxemburg – nichts lieber täten, als öffentliche Veranstaltungen nur im kleinen Kreis bereits Organisierter abzuhalten und “die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver” auffassen, “statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.” (19)

Kautsky antwortet Luxemburg, indem er die eigene Position abschwächt: „Aber wann habe ich je geleugnet, dass ökonomische und politische Aktion einander stützen, wann habe ich gesagt, zur Zeit eines Wahlrechtskampfes seien wirtschaftliche Kämpfe als schädlich zu meiden? Gerade in meiner Erwiderung an die Genossin Luxemburg habe ich betont, daß der Wahlrechtskampf aus ökonomischen Gegensätzen und Kämpfen seine stärkste Kraft ziehe“. (20) Genossin Luxemburg renne also offene Türen bei ihm ein. Es handle sich nicht darum, „ob während der Jahre eines Wahlrechtskampfes nicht ökonomische Kämpfe vorkommen und auf jenen zurückwirken können, sondern darum, welcher Art der bestimmte nächste Massenstreik sein soll, den die Genossin Luxemburg erwartet. (…) Will sie behaupten, dass in Westeuropa irgendwo ein bestimmter Streik vorkam, der gleichzeitig mit politischen Forderungen der Gesamtheit des Proletariats an Regierung und Parlament auch ökonomische Sonderforderungen einzelner Arbeiterschichten an einzelne Kapitalistengruppen durchzusetzen suchte?“ (21)

Die Erkenntnis, dass Demonstrations- und Zwangsstreiks einander mitunter folgen, sei unleugbar richtig, biete aber wenig Aufschluss darüber, welcher Art die Parole des Massenstreiks sein solle. Luxemburgs Bild des Massenstreiks sei nicht klar. Wie Faust mit dem Hexentrank im Leibe in jeder Frau Helena sieht, so sehe sie in jedem Streik ein Muster des kommenden Massenstreiks. Seine mechanische Denkweise zeigt sich sehr klar in folgendem Absatz:

“Den Anstoß zur Massenaktion können nicht die Leitungen der proletarischen Organisationen geben, sondern nur die Massen selbst: (…) Diese selbe Massenaktion soll aber nach der Genossin Luxemburg ganz davon abhängen, dass dazu der Masse von der Partei die Parole ausgegeben wird, die einzig den durch sie begonnen Kampf weiter vorwärts treiben kann.

Wird im ‚gegebenen Moment‘ diese Parole nicht gegeben, dann bemächtigt sich der Masse eine Enttäuschung, die Aktion bricht in sich zusammen. Auf der einen Seite kann also der Massenstreik nicht gemacht werden; er entsteht von selbst. Auf der anderen Seite wird er durch eine Parole der Partei gemacht. Zuerst ist die Masse der Ursprung und Träger der ganzen Aktion. Dann wieder vermag die Masse gar nichts, wenn ihr nicht die Parole zugerufen wird.” (22)

Hier offenbart sich sehr deutlich das Unverständnis Kautskys für die Beziehung zwischen Partei und Masse. Wo er nur Widersprüche sieht, existiert ein organisches Verhältnis. Einerseits kann die Partei einen Kampf nicht erfinden oder künstlich beschwören, andererseits kann ein Kampf der Masse in sich zusammenfallen, wird er nicht durch die Partei vorangetrieben, koordiniert und geführt. Lassen wir Luxemburg antworten:

Sie stellt hierzu in “Die Theorie und die Praxis“ (Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, 1910), mit unmissverständlicher Klarheit fest, dass weder das “geheimnisvolle Aushecken von großen Plänen” noch das “Warten auf Elementarereignisse” die Aufgabe der Sozialdemokratie sei, sondern Massenstreiks nicht auf Kommando gemacht werden, “sie müssen aus der Masse und ihrer fortschreitenden Aktion” sich ergeben. Aufgabe der Sozialdemokratie sei es dann eben, diese Aktion “politisch (Hervorhebung Luxemburgs) im Sinne einer energischen Taktik, einer kräftigen Offensive so vorwärts zu führen, dass die Masse sich ihrer Aufgaben immer mehr bewusst wird”. Zwar vermag es die Sozialdemokratie nicht, künstlich eine revolutionäre Massenbewegung zu schaffen, “sie kann aber wohl unter Umständen durch ihre schwankende, schwächliche Taktik die schönste Massenaktion lähmen.“ (23) Als Beispiel nennt sie die 1902 “abkommandierte” Wahlrechtsbewegung in Belgien.

Dieser Gedanke wird auch von Leo Trotzki im Vorwort zu “Geschichte der russischen Revolution” beschrieben:

“Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.” (24)

Niederwerfungs- vs. Ermattungsstrategie

Den Kernpunkt in Kautsky’s erster Argumentation – wir werden noch sehen, dass er diesen Kernpunkt später zu anderen Argumenten verlagert – bildet die “Ermattungsstrategie”. Kautsky definiert diese mit Anleihen militärischen Vokabulars folgendermaßen: “Bei der Ermattungsstrategie dagegen weicht der Feldherr zunächst jeder entscheidenden Schlacht aus; er sucht die gegnerische Armee durch Manöver alle Art stets in Atem zu erhalten, ohne ihr Gelegenheit zu geben, ihre Truppen durch Siege anzufeuern; er strebt danach, sie durch ewige Ermüdung und Bedrohung allmählich aufzureiben und ihre Widerstandskraft immer mehr herabzudrücken und zu lähmen”. Und: “Zur Ermattungsstrategie wird sich ein Feldherr nur dann verstehen, wenn er keine Aussicht hat, durch die Niederwerfungsstrategie zu seinem Ziele zu kommen.” (25)

Die Zeiten der Niederwerfungsstrategie seien vorbei, so Kautsky. Sie passten bei einem politischem Zustand, wo eine Großstadt dominiert, bei schlechteren Transportmöglichkeiten, “die es unmöglich machten, rasch große Truppenmassen aus dem Lande zusammenzuziehen” sowie bei Straßenbau und Militärtechnik, die Chancen für den Straßenkampf boten. Durch allgemeines Wahlrecht, Koalitionsrecht, Pressefreiheit und Vereinsfreiheit sei nun aber die Grundlage gelegt, für “die neue Strategie der revolutionären Klasse”, wobei sich Kautsky vor allem auf Engels´ Vorwort zu den “Klassenkämpfen in Frankreich” von Karl Marx beruft. Natürlich räumt Kautsky ein, dass eine unbestimmte letzte Schlacht notwendig sein werde. “Die Ermattungsstrategie unterscheidet sich von der Niederwerfungsstrategie nur dadurch, dass sie nicht, wie diese, direkt auf den Entscheidungskampf losgeht, sondern ihn lange vorbereitet und sich ihm erst dann stellt, wenn sie den Gegner genügend geschwächt weiß.” (26) Kampfaktionen wie den Massenstreik hält Kautsky für angebracht, wenn “unsere Gegner, durch das unaufhaltsame Wirken unserer Ermattungsstrategie zur Verzweiflung gebracht, eines schönen Tages einen Gewaltstreich versuchen.” (27) Dadurch könne der Massenstreik ein Mittel werden, um von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie überzugehen.

Die Frage, ob man auf den Ausbruch eines Massenstreiks hinarbeiten solle, sei daher die Frage, ob es angebracht ist, von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstra-tegie überzugehen. In Kautskys Worten: “ob die Fortführung der bisherigen Ermattungsstragie unserer Partei jetzt schon unmöglich geworden ist oder unsere Partei schwer bedroht ist.” (28)

Um diese Frage zu beantworten, stellt Kautsky Bedingungen für den sinnvollen Übergang von der Ermattungs- zur Niederwerfungsstrategie auf. Wenn der Feind “uns von unserer Basis abzuschneiden oder diese selbst wegzunehmen” droht, “wenn sie die eigenen Truppen demoralisiert und entmutigt, wenn wir in eine Sackgasse geraten sind, in der wir nur die Wahl haben zwischen Niederwerfung des Feindes und schimpflicher Kapitulation.” (29)

Den Beschluss des Parteitages von Jena legt er so aus, dass der Massenstreik dann ins Auge gefasst werden solle, wenn die erste dieser Bedingungen erfüllt ist. Auch werde der Massenstreik nicht notwendig, weil nur durch stete und rasche Steigerung der Aktionsmittel “die Massen an unsere Fahne geheftet werden könnten.“ (30)

Als Beispiel einer „glänzenden Massenbewegung“ ohne Zuspitzung nennt Kautsky Österreich, wo von 1894 bis 1905 eine solche in Gang gehalten worden wäre, „und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.“ (31)

“Wenn die Sozialdemokratie von ihren Anfängen an die Ermattungsstrategie akzeptierte und zur Vollkommenheit entwickelte, so geschah es nicht bloß deshalb, weil die damals gegebenen politischen Rechte ihr eine Basis dazu boten, sondern auch deshalb, weil die Marxsche Theorie des Klassenkampfes ihr die Gewähr gab, dass sie auf das klassenbewusste Proletariat stets rechnen kann, solange sie seine Klasseninteressen energisch verficht, mag sie die Massen durch Erfolge oder neue Sensationen begeistern oder nicht.” (31) Die Gefahr, dass die Massen enttäuscht werden, dass „Erschlaffung und Mutlosigkeit” eintritt, sei dann gegeben, wenn die Sozialdemokratie “mehr verspricht, als sie zu leisten vermag”. Würde die Partei, wie Kautsky es Luxemburg unterstellt, Propaganda für den Massenstreik entfalten und erklären, Straßendemonstrationen genügen nicht, eine rasche stete Steigerung der Mittel der Massenaktion sei erforderlich, dann werde man in kürzester Zeit vor dem Dilemma stehen, “entweder die Massen aufs tiefste zu enttäuschen oder mit einem gewaltigen Satze dem Junkerregime an die Gurgel zu fahren, um es niederzuwerfen oder von ihm niedergeworfen zu werden.” (32) Diese Situation sei aber nicht gegeben, man sei noch frei in der Wahl seiner Mittel.

Ein Dilemma, dass die Massen sich von der Partei abwenden, greift sie nicht zu schärferen Mittel, besteht also laut Kautsky so lange nicht, wenn die Partei nicht selbst Erwartungen schaffe, die über ihr Vermögen hinausgingen. Nur eine Situation sieht Kautsky, in der er es für sinnvoll hält, zur Niederwerfungsstrategie überzugehen: Wenn die Regierung in einer “Klemme sich befände, die es gelte, aufs rascheste auszunutzen”. Von dieser, für ihn “entscheidenden Frage” (33), hänge ab, ob eine Durchführung des Massenstreiks im gegebenen Moment zweckmäßig sei.

Erst nachdem die Partei eine Massenpartei geworden war und diese Massen in größte Erregung geraten waren, so Kautsky, sei es möglich, dass die Straßendemonstration “ihren gewaltigen Umfang und ihre tiefe Wirkung erreicht”, “Begeisterung und Ermutigung in den Massen, Verwirrung und Kopflosigkeit bei der Regierung und den Regierungsparteien hervorgerufen” (34) haben. Ursachen für diese Erregung sind z.B. die Teuerung der Lebensmittel, das Wettrüsten und Wachstum des Steuerdrucks. Aus all dem bleibe der Bourgeoisie nur der Krieg als Weg. Diese Verhältnisse führen international zu wachsender Erregung der Massen und zu “wachsenden Gegensätzen der herrschenden Klassen untereinander”, wobei er konkret “Kleinbürger, Intellektuelle, Händler und kleinere Kapitalisten” nennt, die in Widerspruch zu “Grundbesitz, hohe Finanz und große industrielle Monopolisten” (35) geraten würden. Das preußische Junkertum verdanke mehr der brutalen Gewalt als jede andere Klasse Europas und kehre diese gegenüber dem Proletariat und seiner Klassenpartei besonders heraus. Aber auch “die bürgerlichen Massen und Parteien” bekommen diese in “immer höherem Grade” zu spüren, wobei er sich auf ökonomische Momente bezieht. Das Junkerregime treibe v.a. die arbeitenden Schichten in den Schoß des Wahlmandats der Sozialdemokratie. “Das sind die Gründe, (…) die die allgemeinen Reichtagswahlen im nächsten Jahre zu einem furchtbaren Tage des Gerichts für die Regierung der preußischen Junker und deren ganze oder auch nur halbe Bundesgenossen zu machen droht. Gegnerische Wahlstatistiker rechnen bereits mit der Möglichkeit, dass wir bei den kommenden Wahlen 125 Mandate erobern.” (36)

Es sei auch kein Grund zur Annahme vorhanden, die wirkenden Ursachen für die Empörung der Massen und ihrer Begeisterung für die Sozialdemokratie würden bis zu den nächsten Jahren verrauchen. Es sei genauso falsch zu behaupten, mit dem Schwinden der Arbeitslosigkeit werde auch der Kampfeswillen der Arbeiter schwinden, da diese auch bei wirtschaftlichem Aufschwung nur Teuerung zu spüren bekämen, wie zu behaupten, in Zeiten der Krise seien die Arbeiter zaghaft und kampfunfähig, da sie dann froh sein müssten, eine Arbeit zu haben. Richtig sei, dass “jede Aktion des Proletariats Hindernisse findet, sowohl zur Zeit der Krise wie zur Zeit der Prosperität, die sie beeinträchtigen.” (37) Darauf müsse ein proletarischer Politiker Rücksicht nehmen bei der Wahl seiner Kampfmittel. Kautskys Rezept lautet: “In der Zeit der Krise werden große Straßendemonstrationen leichter durchzuführen sein als Massenstreiks. In der Zeit der Prosperität dürfte der Arbeiter sich für einen Massenstreik leichter begeistern als während der Krise.” (38)

Natürliche gäbe es nicht nur das eine oder das andere, es gibt auch einen Wechsel dazwischen. Und gerade in dieser Periode des Überganges scheinen die Arbeiter am kampfeslustigsten zu sein. Kautsky ist sich sicher, dass die Partei bei den nächsten Wahlen einen großen Sprung vorwärts machen werde, “der die Erreichung der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu einer Frage weniger Jahre macht.” Ein solcher Sieg bedeutet “nichts geringeres als eine Katastrophe des ganzen herrschenden Regierungssystems. Es unterliegt für mich gar keinem Zweifel, dass die nächsten Wahlen dieses System in seinen Grundfesten erschüttern werden.” (39) Dies lasse dem Junkerregime drei Möglichkeiten: Entweder “westliche Methoden zur Abwehr der steigenden Flut des Sozialismus”, womit er “erhebliche Konzessionen” meint, namentlich das Reichstagswahlrecht für Preußen. Oder, was er für wahrscheinlicher hält, brutale Gewaltstreiche. Oder drittens ein kopfloses Schwanken zwischen A und B, wodurch die “Flamme nur angeblasen” werde, die sie ersticken wollten. Wie auch immer, die nächsten Wahlen “müssen eine Situation schaffen, die für unsere Kämpfe eine neue und breitere Basis erzeugt; eine Situation, die, wenn eine der beiden letzterwähnten Alternativen eintritt, allerdings durch ihre innere Logik rasch sich immer mehr zuspitzt zu großen Entscheidungskämpfen, die wir aber auf der neuen, breiten Basis ganz anders auszukämpfen imstande sein werden als heute.” (40)

Und weiter: “Den Schlüssel zu dieser gewaltigen historischen Situation, den überwältigenden Sieg bei den nächsten Reichtagswahlen, haben wir bei der ganzen Konstellation der Dinge heute bereits in der Tasche. Nur eines könnte bewirken, dass wir ihn verlieren und die glänzende Situation für uns verpfuschen: eine Unklugheit von unserer Seite. Eine solche wäre es, wenn wir uns durch Ungeduld verleiten ließen, die Früchte pflücken zu wollen, ehe sie reif geworden sind; wenn wir eine Kraftprobe vorher provozieren wollten auf einem Terrain, auf dem uns der Sieg keineswegs sicher ist.” (41) Gewiss könne ein Feldherr kaum große Triumphe feiern, wage er nichts. Jedoch: “wenn man durch die Gunst der Verhältnisse und ihre geschickte Ausnutzung dahin gelangt ist, einen unzweifelhaften großen Sieg vor sich zu sehen, wenn dieser Sieg durch nichts gefährdet werden kann als durch den Übergang zu einer neuen Strategie, die eine Schlacht auf einem unübersichtlichen und zweifelhaften Kampfterrain provoziert, dann ist es eine gewaltige Torheit, eine der artige Schlacht vor dem sicheren Siege heraufzubeschwören und dadurch diesen selbst zu gefährden.” (42)

Ein Kampf, so Kautsky, kann ein moralischer Sieg sein, trotz einer materiellen Niederlage. “Wenn der Kampf von unserer Seite so glänzend geführt wurde, dass wir selbst dem Gegner Achtung abnötigen, und wenn er unvermeidlich war, uns von den Gegnern aufgenötigt wurde.” (43) Von den Gewerkschaftskämpfen dieses Jahres erwartet er sich eine Steigerung der Verbitterung und eine Verstärkung des Wahlrechtskampfes, auch wenn diese nicht materiell so erfolgreich werden sollten wie gewünscht. Jedoch würde diese Verstärkung in ihr Gegenteil verkehrt, brächte man sich selbstverschuldete Niederlagen bei. “Niederlagen, dadurch hervorgerufen, dass wir aus freien Stücken das Proletariat in schwere Kämpfe mit höchst zweifelhaftem Ausgang verwickelt hätten, ohne es zu müssen, ohne uns darum zu kümmern, ob es ihnen gewachsen sei oder nicht (…).

Die schlimmste Niederlage aber wäre es – und auch diese Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen -, wenn wir das Proletariat zum politischen Massenstreik aufriefen und es nicht in überwältigender Überzahl dem Appell folgte.” (44)

Luxemburg erwidert diesem Konstrukt, dass, wenn man Kautskys Argumentation folge, Straßendemonstrationen sogar vehementer als Massenstreiks abgelehnt werden müssten und zeigt, wie bereits seit Jahren auf Parteitagen Anträge zum Streik vorliegen und auch angenommen wurden.

Luxemburg zeigt auf, dass Kautsky im Prinzip will, dass Demonstrationen nicht vorwärts und nicht rückwärts gehen. Er will Massenaktionen, die sich weder zuspitzen, noch abschwächen. Dabei sind Demonstrationen selbst nicht die Lösung eines politischen Problems, sie sind der Anfang, nicht das Ende einer Massenbewegung. Sie werfen automatisch die Frage auf: „Wie weiter?“, sie schaffen eine Zuspitzung. Luxemburg widerlegt – gespickt mit Zitaten aus Österreich – das Beispiel Kautskys, nach dem in Österreich über 12 Jahre eine Massenbewegung ohne Zuspitzung stattgefunden haben soll. In Wirklichkeit gab es in dieser Bewegung 7 Jahre Stillstand, zu Beginn und Ende (inspiriert durch die Kämpfe erst in Belgien und dann in Russland) wahrhafte Massenaktionen, die den Massenstreik ernsthaft und vollends vorbereiteten – und Siege brachten.

Zudem sei man nicht – wie in Österreich über die erwähnten Zwischen-Jahre – in der Situation, eine Kampfeslust in den Massen schaffen oder erfinden zu müssen, diese ist vorhanden. Man müsse sie nur ausnutzen, in politische Losungen fassen und umprägen. Die Massenstreiklosung sei damit ein Mittel, um aufzurütteln, um neue Horizonte zu zeigen und proletarische Anhänger bürgerlicher Schichten herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten bereit zu machen und endlich in wirksamster Weise auch für die Reichtagswahlen vorzuarbeiten.

Kautsky will also die bereits auf neuen Bahnen vorgeschrittene Parteibewegung in die alten ausgetreten Geleise des reinen Parlamentarismus zurückpferchen. Luxemburg skizziert, dass die Partei ohnehin großes Gewicht auf Wahlen legt. Kautsky hat nur einen ideologischen Schirm für Zögerer und Nur-Parlamentarier geschaffen. Weitere Aussichten der Wahlrechtsbewegung fordern gerade eine Fortsetzung und machtvollere Entfaltung der Massenaktion. Die Aktion der Gegner ist mit ihrem Latein am Ende, die Aktion des Proletariats muss umso nachdrücklicher erfolgen. Nicht tröstliche Erwartungen und Revanche in 1,5 Jahren sondern jetzt, Schlag um Schlag, müsse man handeln.

Kautsky antwortet Luxemburg darauf, in dem er ihre Argumentation dort rezitiert, wo sie anführt, dass sich die Kämpfe zuspitzen müssen, um Erfolge zu bringen, und neben anderen Staaten auch Österreich nennt. Gerade Österreich sei aber, meint Kautsky, kein Beispiel hierfür, da es einerseits nicht zum Massenstreik gekommen sei und andererseits die Bewegung sich auch nicht zugespitzt habe. Nun verwundert es Kautsky, wie es sein könne, dass Luxemburg Österreich erst als eines der Beispiele nennt, wo der Massenstreik bzw. das Zuspitzen zum Erfolg geführt habe, um dann Österreich als ein Beispiel zu nennen, wo die Massenaktion zusammengebrochen ist, weil sich die Kämpfe nicht zuspitzten. Beides sei aber ohnehin gleich falsch. Wahr ist laut Kautsky, dass die Wahlrechtsbewegung Österreichs aufgrund eines Sieges eine Zeit lang ruhte. Nach Konzessionen im Wahlsystem war es „ganz natürlich“, dass die Massen sich erstmal auf die Wahlen konzentrieren und nicht direkt in Folge für den Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht zu gewinnen waren.

Zur Frage von Ermattungs- versus Niederwerfungsstrategie will sich Kautsky nur noch kurz auslassen. Als Ermattungsstrategie bezeichne er jene Taktik, die seit den 1860er Jahren verfolgt werde, die zu einer beständigen Stärkung der Kräfte der Sozialdemokratie und einer beständigen Schwächung jener der Reaktion führte, „ohne sich dabei zu einer Entscheidungsschlacht provozieren zu lassen, solange wir die Schwächeren sind.“ (45) Dazu gehörre nicht nur Parlamentarismus, sondern auch „glücklich ausgefochtene Lohnbewegungen und Straßendemonstrationen.“ Davon, „Nurpalamentarismus“ zu predigen, sei er weit entfernt. Es gäbe jedoch kaum ein Mittel „außer einem siegreichen Massenstreik, das so große moralische Wirkung böte wie ein großer Wahlsieg.“ Nichts sei so erfolgreich wie Erfolg. Je größer die Partei, desto größer ihr Zustrom. „Es gibt aber wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren, wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate.“ Die gegenwärtige Situation sei eine solche, die es nun ermögliche, „einen Wahlsieg von einer Wucht zu erkämpfen, die ihn zu einer Katastrophe für das herrschende Regierungssystem gestaltet.“ (46)

Kautsky resümiert: Das Maß der Erregung habe „noch nicht jene Höhe erreicht, die allein unter deutschen Verhältnissen einen siegreichen Massenstreik erwarten lasse”. Sei ein solcher aber unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten, dann gebe es nur ein Mittel, die Aktion über das erreichte Stadium hinauszutreiben: „die nächsten Reichstagswahlen.“ Vor dem Hintergrund eines großen Wahlsieges könne eher eine Massenaktion entspringen, die in einem Massenstreik ende, „für dessen siegreichen Ausgang dann die Vorbedingungen weit günstiger lägen als heute.“ Den Massenstreik habe er nicht für jetzt abbestellt, um ihn für die Zeit nach den Wahlen anzukündigen, er sei ein Elementar-ereignis, „dessen Eintreten nicht nach Belieben herbeizuführen ist, das man erwarten, nicht aber festsetzen kann.“ Luxemburg spreche auch selbst nicht mehr von der Notwendigkeit des Massenstreiks, sondern nur von dessen Erörterung. Für ihn bleibt nur „ein Bündel Fragezeichen“, da er sich nicht erklären kann, ob Luxemburg nun der Meinung ist, der Zeitpunkt zur Anwendung des Jenaer Beschlusses sei gekommen, oder nicht, oder ob sie behaupten möchte, er wäre Anfang März gekommen gewesen, „und nur der Redakteur der ‚Neuen Zeit‘ habe die Revolution im Keim erstickt, indem er sich weigerte, seine ‚Schuldigkeit zu tun‘ und den Artikel der Genossin Luxemburg abzudrucken?“ (47)

Unterschiedliche Bedingungen

Kautsky argumentiert die Ablehnung der praktischen Anwendung nun v.a. mit angeblich ganz unterschiedlichen Bedingungen in Russland und Westeuropa bzw. Deutschland. Lernen hieße nicht einfach nachahmen. Nichts sei verkehrter, als die Auffassung, dass die bloße Betrachtung der geschichtlichen Erfolge und Misserfolge die Wege zeige, die zum Erfolg führen. Da sich aber die Bedingungen der ökonomischen und politischen Kämpfe „nie völlig“ wiederholen, haben „zu den verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Ländern daher sehr verschiedene Methoden Erfolge gehabt“. Es sei kaum eine Methode des politischen Kampfes denkbar, „für die sich nicht Belege ihrer Vorzüglichkeit in der Geschichte finden ließen, für jakobinischen Terrorismus und christliche Ergebung“ so wie natürlich für „die aufs ganze gehende Revolution und die schrittweise vordringende Reformation, für Republik und Monarchie, Föderalismus und Zentralismus usw.“

Gerade bei großen Ereignissen wie Revolutionen sei Vorsicht geboten. „So erscheint gerade eine Revolution immer höchst fruchtbar an ‚Lehren‘, die zeigen sollen, wie weitere Revolutionen zum Siege zu führen sind und vor welchen Fehlern man sich dabei zu hüten hat.“ (48) Aber eine große Revolution ändere auch die Bedingungen, die sie vorfand, von Grund auf. Auch wenn sie nicht erreicht, was man sich erhofft, gestalte sie die politischen und sozialen Verhältnisse um und schaffe neue, die neue Methoden des Kampfes und der Propaganda notwendig machen, „so dass wir ganz irregeführt werden, wenn wir nach der Revolution die Lehren ihrer Erfolge und Misserfolge ohne weiteres auf unsere Praxis anwenden wollen.“ (49) Natürlich könne man dennoch daraus lernen, aber man müsse kausale Zusammenhänge erkennen. Nicht durch das Nachahmen von Methoden, „sondern dadurch, dass es (das Land) seine Erfahrungen mit denen anderer Länder vergleicht, deren Erfolge und Misserfolge auf ihre Ursachen zurückführt und untersucht, inwieweit die gleichen Ursachen bei uns bestehen, bestanden oder im Kommen begriffen sind“. (50)

So untersuchte er die Umstände der russischen Revolution von 1905:

• Die russische Regierung sei die schwächste der Welt gewesen. Keine Klasse stand hinter ihr, Korruption, Verschwendung, Desorganisation … all das sei klar hervorgetreten.

• Die Armee erlitt eine furchtbare Niederlage nach der anderen, gegen einen Gegner, den man verlacht und verspottet hatte, was diese von einem Stützpfeiler der Regierung zu einem Mittel der Rebellion gestaltete.

• Eine andere wichtige Stütze, die Bauernschaft, war seit 1905 in Aufständen begriffen.

• Dem zahlreichem gedrückten und erbitterten Proletariat fehlten jegliche Möglichkeiten legaler Betätigung. Ihnen blieb, so Kautsky, nur ein Mittel, um ihre Forderungen kundzugeben und gegen ihr Elend zu protestieren: Der Streik.

Dieser Streik brachte den russischen Arbeiter erst in Fühlung zu anderen, sie gewannen durch ihn das Kraftgefühl der Masse, schöpften daraus Begeisterung, „so wurde der Streik für den russischen Arbeiter eine Lebensnotwendigkeit; es war schon die bloße Tatsache des Streiks, die ihn belebte, ohne Rücksicht darauf, ob er ein Demonstrationsstreik war oder ein Kampfstreik“. (51) Allein die Tatsache des Streiks war dort ein Sieg und wurde zu einer revolutionären Aktion, ungeachtet seines „sonstigen Charakters“. Dies bereits vor 1905, Krieg, Zusammenbruch der Regierung und ökonomische Krise verstärkten dies noch. Der Streik gewann immer mehr einen Charakter des politischen Protests gegen die Regierung und gewann auch immer mehr Sympathien in den Kreisen der bürgerlichen Opposition. Kautsky sieht auch in den Eigenheiten Russlands verstärkende Faktoren hierfür. Diese benennt er wie folgt:

• ungeheure Ausdehnung des Reichs;

• Mangel an Kommunikationsweisen, Eisenbahnen, Postverbindungen, Zeitungen;

• keine ökonomische Einheit; in zahlreiche ökonomisch eigenständige Gebiete zerfallend, deren Proletariermassen ohne Fühlung miteinander seien.

Auch war die Streikbewegung uneinheitlich. Sie brach nicht überall zur gleichen Zeit los, was aber nicht schädigend wirkte, sondern dafür sorgte, dass sie nicht zur Ruhe kam. Die Regierung wiederum konnte sich dadurch nirgends sicher fühlen und ihre Kräfte nicht konzentrieren. Trotz alledem könne er nicht einfach den deutschen Arbeitern zurufen „Gehet hin und tuet desgleichen. Schon Cervantes wusste, dass, was Heldentum unter bestimmten Verhältnissen ist, unter geänderten Verhältnissen zur Donquichotterie wird.“ (52)

Dem stellt Kautsky dann die – wie er meint – Bedingungen in Preußen gegenüber:

• hier habe man es mit „der stärksten Regierung der Gegenwart“ zu tun;

• nirgends seien „Armee und Bürokratie so straff diszipliniert, vielleicht nirgends ist die Zahl der Staatsarbeiter größer“;

• nirgends stehen sie „in solcher ‚gottgewollten Abhängigkeit“, nirgends sei der „Kadavergehorsam“ schlimmer;

• Ausbeuter mit einer „Kraft und Brutalität, die ihresgleichen suchen“ – und alle geschlossen hinter der Regierung;

• Unterstützung für diese von großen Massen Bauern und Kleinbürgern. (53)

In Russland sei die Regierung isoliert gewesen – in Preußen sei das Proletariat bei jeder Aktion isoliert, die „energisch den bestehenden Zuständen an den Leib rücken will“. Während Russland in einem „leichtfertigen Kriege gegen eine kleinen Macht schmählich zusammengebrochen“ sei, werde Preußen „seit bald einem Jahrhundert von dem Glanze beständiger Siege getragen, Siege über die stärksten Großmächte der Welt.“ (54)

Auch seien die Lebensbedingungen des preußischen Proletariats keine so „verzweifelten“. Der Streik böte nicht die einzige Möglichkeit der Betätigung als Klasse, sich „zu seinen Kameraden zu gesellen, mit ihnen vereint zu protestieren, Forderungen zu erheben, Kraft zu entfalten. Vereine, Versammlungen, Presse, Wahlen aller Art beschäftigen ihn vollauf.“ Der Streik erhalte also eine ganz andere Bedeutung. Es sei keinesfalls wie in Russland der Fall, dass der Streik Mittel und Zweck sei, unabhängig seines Ausgangs. „Wir haben andere Mittel, das zu erreichen. Zum Streik greift der Arbeiter in Deutschland – und in Westeuropa überhaupt – nur als Kampfesmittel, wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.

Von der Gestaltung der Forderungen durch die Streikleitung hänge daher eine Menge ab, da sich der Streik sonst durch einen Misserfolg in sein Gegenteil verkehren und niederdrückend auf die Arbeiter wirken könne. „Was vom Standpunkt des amorphen, primitiven Streiks des revolutionären Russland eine überflüssige, pedantisch-engherzige Unterscheidung sein mochte, ist in Westeuropa eine wesentliche Bedingung jeder rationellen Streikführung.“ Auch wenn die Streikarten in einander übergehen können oder wenn ein politischer Massenstreik ökonomische Ausläufer nach sich ziehen kann: „Unter unseren Verhältnissen (müssen) jedes mal bei Beginn eines Streiks dessen Wesen und Art, sowie die Ziele und Zwecke, die man ihm setzen will, genau erwogen sein“. Da ja die Bedingungen in Russland sehr unterschiedlich zu denen in Westeuropa und speziell Deutschland seien, brauche deshalb „eine Streiktaktik, die sich dort bewährt hat, noch lange nicht hier am Platze zu sein.“ (55)

Beim „bloßen Demonstrationsstreik“ sieht Kautsky folgende Unterschiede: „Nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistische Bewegung, sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit“ (56) werden Demonstrationsstreiks wie in Russland nicht so leicht kommen. Infolge des halben Jahrhunderts proletarischen Klassenkampfes seien nicht nur die proletarischen Organisationen, sondern auch die kapitalistischen zur Unterdrückung des Proletariats weit stärker entwickelt und „treten auch bei einem bloßen Demonstrationsstreik viel eher und kraftvoller in Aktion.“ Andererseits „haben dank der politischen Freiheit die Arbeiter so reichliche Gelegenheit, ohne Risiko ihre Anschauungen kundzutun, daß selbst bei außerordentlichen Anlässen nur die kraftvollsten und vorgeschrittensten unter ihnen das Risiko eines Streiks auf sich nehmen werden, wenn dieser eine bloße Demonstration bleiben soll. (…) Ist doch der Streik für sie nicht die einzige mögliche Form politischer Betätigung und politischen Protestes, ja ein bloßer Demonstrationsstreik nicht einmal die eindrucksvollste. Eine siegreiche Reichstagswahl macht weit größeren Eindruck.“ (57) Einen Massen-Demonstrationsstreik für das ganze Reich kann sich Kautsky schwer vorstellen, eher für denkbar halt er kleine, lokale Demonstrationsstreiks, die spontanen Ursprungs seien aber sich deswegen auch nicht vorher diskutieren ließen. „Eine weitertragende politische Wirkung“ spricht er diesen nicht zu, doch müssten sie „belebend wirken“. Auch ein wie von Luxemburg gewünschter Massenstreik, der ganz Deutschland umfasse, „stieße auf große Schwierigkeiten, könnte nur bei einem Zusammentreffen höchst günstiger Momente gelingen und würde doch kaum mehr bewirken als etwa eine Reichstagswahl.“ (58)

Kautsky ist auch anderer Ansicht als der holländische Marxist Pannekoek, wenn dieser meint, der Unterschied zwischen Deutschland und Russland bestehe v.a. in der „gewaltigen Organisationsmacht des Proletariats“ und könne nur dazu führen, die Wucht des Kampfes zu vermehren. Die gewaltige Organisation des Proletariats sei – so Kautsky – eine Folge der „gewaltigen Konzentration des Kapitals und der nicht minder gewaltigen Entwicklung des Verkehrs, die alle Gebiete des Reiches immer mehr in die engste ökonomische und geistige Verbindung miteinander bringt, aber auch nicht bloß die Organisationen der Proletarier, sondern ebenso die der Unternehmer und der staatlichen Gewalt immer mehr zentralisiert und einheitlicher gestaltet.“ (59)

Damit, und das ist ein wesentlicher Punkt der Kautskyschen Argumentation, „werden die Kämpfe zwischen diesen Organisationen ebenfalls immer mehr zentralisiert und konzentriert.“ Sicherlich gewännen sie an Wucht aber „sie werden damit auch – immer seltener.“ Lange überlege man es sich da, ob man sich auf einen Kampf einlässt. Sei er dann einmal entbrannt, gewinne er „sofort die weiteste Ausdehnung“ und müsse mit allen Machtmitteln „durchgefochten werden“, „entweder bis zum Siege oder völliger Erschöpfung der Kräfte auf ganzer Linie.“ (60) Die Vorstellung von einer Periode der Massenstreiks, zunächst ohne praktischen Erfolg, aber sich immer wieder erneuernd, bis der Gegner zur Strecke gebracht, fände Halt „in der russischen ökonomischen Rückständigkeit“, widerspreche aber völlig den Kampfbedingungen eines hoch entwickelten Industrielandes, da sich ein solcher Kampf in selbigen auch nicht so ohne weiteres wiederholen ließe. Auch dass man eine Periode von Streiks aller Art als Periode des Massenstreiks ansehen konnte, entsprach der „politischen Rückständigkeit Russlands“, da nur durch diese „jeder Streik, auch ein rein ökonomischer, zu einem Akte revolutionärer Politik wurde.“ (61)

Klar sei, dass diese russischen Streiks nicht die Streiks der Zukunft Deutschlands seien. Streiks in Deutschland seien legal, könnten frei besprochen werden und haben für sich noch keine Spitze gegen die Regierung. Vor ihrem Ausbruch werden sie genau erwogen, fallen nicht von selbst zusammen und es würde auch niemand einfallen, Zeiten, in denen sich Streiks häufen, als Massenstreikperiode zu bezeichnen. Solle eine Aktion als politischer Massenstreik wirken, dürfe sie nicht „lokal, ohne Absicht und Ziel sein, dann muss sie von vornherein nach Plan und Absicht als ein politischer Streik auflodern, und dieser muss es bis zu seinem Ende bleiben.“ (62) Staatsweit müsse er sein, nicht partiell oder lokal und er würde zu einer „empfindlichen Niederlage“ führen, wenn er sich „ohne politisches Resultat in einen ökonomischen Kampf verwandelt, in Straßenkampf, oder von selbst zusammenfällt'“. Nur unter der völligen Unfreiheit Russlands konnte eine jahrelange Periode aufeinander folgender Streiks meist lokaler und ökonomischer Natur einen derart revolutionären Charakter annehmen, dass man sie als „den Massenstreik bezeichnen durfte“. Selbst unter den russischen Verhältnisse habe es nur eine Zeit lang gegolten, dass der Streik organisiert, aufklärt, stärkt ohne Rücksicht darauf, ob er in sich zusammenfällt oder niedergeworfen wird. „Je mehr die russische Streikperiode den Charakter eines wirklichen politischen Massenstreiks annahm, desto mehr näherte sie sich dem Moment, in dem es hieß: Siegen oder untergehen.“ (63)

Natürlich sieht Kautsky die Aufgabe der Sozialdemokratie, sich an die Spitze jeder Massenaktion des Proletariats zu stellen, was auch das Resultat sein möge. Und sie war in Russland auch nicht umsonst, sie habe ein anderes Russland geschaffen. Doch, so mutmaßt Kautsky, vielleicht hat sie damit sogar für Russland selbst die Verhältnisse beseitigt, „die es ermöglichten, daß man eine jahrelange Streikperiode als ‚den Massenstreik‘ bezeichnen konnte. Sobald in Russland wieder eine Arbeiterbewegung kraftvoll einsetzt, und das wird hoffentlich der Fall sein, kann sie Bedingungen vorfinden, die den ‚Streik ohne Plan und Absicht‘, den Streik, der ein Gewinn ist, ob er ‚im Straßenkampf endet‘ oder ‚in sich zusammenfällt‘, als einen Rückfall in veraltete Methoden erscheinen lassen. Dann wird wohl auch in Russland die ‚pedantische‘ Scheidung der Streiks nach Plan und Absicht notwendig sein und wird ein politischer Massenstreik ebenso wie in Westeuropa ein einmaliger Akt werden, dessen Bedingungen von denen des ökonomischen Streiks streng geschieden sind.“ (64) Wie dem auch sei, für deutsche Verhältnisse passe das russische Schema nicht.

Kautsky fasst zusammen: „Hier, in dieser Auffassung, liegt der tiefste Grund der Differenzen über den Massenstreik, die zwischen meinen Freunden und mir bestehen. Sie erwarten eine Periode der Massenstreiks, ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod (…) Natürlich stelle ich mir dies einmalige Ereignis nicht als einen ‚aus der Pistole geschossenen‘ isolierten Akt vor. Auch ich erwarte eine Ära erbitterter Massenkämpfe und Massenaktionen, aber den Massenstreik als die letzte Waffe, die dabei ins Gefecht geführt (…) Ich halte es für unmöglich, unter deutschen Verhältnissen den Kampf von Anfang an mit dieser Waffe zu führen und diese immer und immer wieder in Anwendung zu bringen, deren Wucht unsere eigenen Arme zu rasch erlahmen ließe. Man führt nicht Vorpostengefechte mit schwerer Artillerie.“ (65)

Luxemburg antwortet darauf, Kautsky hatte, um seine Stellungnahme gegen Massenstreiks in der Wahlrechtskampagne zu rechtfertigen, eine ganze Theorie von Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie geschaffen. Jetzt geht er noch weiter und baut ad hoc eine neue Theorie, eine über die Bedingungen des politischen Massenstreiks in Russland und Deutschland. Sie fasst Kautskys Wiedergabe der angeblichen Unterschiede Russland / Deutschland wie folgt zusammen: Er meine, die lange revolutionäre Periode von Massenstreiks, in denen „die ökonomische und politische Aktion, die Demonstrations- und die Kampfstreiks beständig einander ablösten und in einander spielten“, stelle „ein spezifisches Produkt der russischen Rückständigkeit“ (66) dar. Selbst ein Demonstrationsmassenstreik nach russischer Art sei nach Kautsky in Westeuropa schwierig bis unmöglich, nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Betätigung, wie dieser schreibt. Der politische Massenstreik könne nur noch als ein einmaliger letzter Kampf auf Leben und Tod eingesetzt werden. Kautskys Schilderung ist jedoch in den wichtigsten Punkten verkehrt.

Die russischen Bauernaufstände begannen nicht plötzlich 1905, sondern ziehen sich mit Unterbrechung von 1885-95, seit 1861 durch die russische Geschichte. Neu war 1905, dass die chronische Rebellion der Bauernmasse erstmals politische und revolutionäre Bedeutung erlangte.

Kautsky’s Streikbild über Russland ist blühende Fantasie. Die russischen Streiks erreichten beträchtliche Erhöhungen der Löhne, Verkürzung des 10- auf den 9-Stunden-Tag, in Petersburg in zähestem Kampf über mehrere Woche wurde der 8-Stunden-Tag erreicht, das Koalitionsrecht der Arbeiter sowie Staatsangestellter bei Eisenbahnen und Post erkämpft und bis zum Sieg der Konterrevolution verteidigt, in vielen Unternehmen Arbeiterausschüsse zur Regelung aller Arbeitsbedingungen geschaffen, Abschaffung de Akkordarbeit, Heimarbeit, Nachtarbeit, der Fabrikstrafen, es wurde die strikte Durchführung der Sonntagsruhe zur Aufgabe gestellt, es keimten Gewerkschaftsorganisationen in fast allen Gewerben auf, der Petersburger Rat der Arbeiterdelegierten wurde aus den Streiks geboren, kurz gesagt, die Streikbewegung ist weit von amorph und primitiv (wie Kautsky schrieb) entfernt.

Vergleicht man, was die russische Bewegung in kurzer Zeit erreicht hat mit dem Errungenschaften z.B. der deutschen Sozialdemokratie, will man ihren fortschrittlichen Charakter also am unmittelbaren Erfolg messen, wie Kautsky es will, so hat die russische Bewegung in den wenigen Jahren verhältnismäßig mehr durchgesetzt als die deutsche Gewerkschaftsbewegung in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz. Dies ist einfach den Vorteilen des Sturmschritts einer revolutionären Periode im Vergleich mit dem langsamen Gang der ruhigen Entwicklung im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus zu verdanken. Kautsky selbst schrieb früher in seiner „Sozialen Revolution“ bezogen auf den Vergleich der Verhältnisse Russlands mit denen Westeuropas: „Die Verschiedenheit der Verhältnisse ist mir natürlich nicht unbekannt, wenn man sie auch nicht übertreiben darf. Die jüngste Broschüre unserer Genossin Luxemburg beweist klar, dass die russische Arbeiterklasse nicht so tief steht und so wenig erreicht hat, als man gewöhnlich annimmt. Wie die englischen Arbeiter es sich abgewöhnen müssen, auf das deutsche Proletariat als ein rückständiges Geschlecht herabzusehen, so müssen wir in Deutschland uns das gleiche gegenüber dem russischen abgewöhnen.“ Und: „Die englischen Arbeiter stehen als politischer Faktor heute noch tiefer als die Arbeiter des ökonomisch rückständigsten, politisch unfreiesten europäischen Staates: Russland. Es ist ihr lebendiges, revolutionäres Bewusstsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte.“ (67) So also auch Kautsky – in der Theorie. Als es jedoch um die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis in Deutschland ging, sprach Kautsky eine andere Sprache.

Dann wendet sich Luxemburg Kautskys Schilderung der deutschen Verhältnisse zu. Sie widerlegt ihn durch folgende Ausführungen:

Eine materialistische Geschichtsauffassung kann die Stärke einer Regierung nicht aus ihrer Rückständigkeit, Kulturfeindlichkeit, dem Kadavergehorsam und dem Polizeigeist ableiten. Kautsky selbst charakterisierte Deutschland im Dezember 1906 in „Die Situation des Reiches“: „(…) niemals seit seinem Bestand war des Deutschen Reiches Stellung in der Welt schwächer und nie hat eine deutsche Regierung gedankenloser und launenhafter mit dem Feuer gespielt wie in der jüngsten Zeit“. (68)

Kautskys Schilderung westeuropäischer Streiks ist eine gewaltige Phantasie. Statistiken über die Streiks in Westeuropa zeichnen ein Kautskys Schilderungen konträres Bild. Von 1890 bis 1908 fanden 19.766 Streiks und Aussperrungen statt, von denen 25,2 Prozent völlig erfolglos, 22,5 Prozent teilweise erfolgreich und 49,5 Prozent erfolgreich waren. Nach Kautskys Definition haben also ein Viertel dieser Streiks „seinen Zweck“ ganz und ein weiteres Viertel diesen großteils verfehlt. Kautsky jedoch versicherte, der Arbeiter greife nur zum Streik „wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.“ (69)

Auch widerlegen diese Statistiken Kautskys These, dass die Entwicklung von Arbeiter- und Unternehmerorganisationen deren Kämpfe immer seltener und machtvoller werden lässt. So waren es 1890-99 insgesamt 3.772 Streiks und Aussperrrungen, 1900-08 jedoch 15.994. Nicht nur an Zahl der Streiks und Aussperrungen selbst, auch die beteiligten ArbeiterInnen stiegen im selben Verhältnis: 1890-99 425.142, 1900-08 1.709.415. Kautsky leugnet mit seinen Ausführungen völlig die Wirkung des Streiks als Mittel gewerkschaftlicher Organisation. Solche „erfolglosen Streiks“ haben nicht bloß „ihren Zweck“ nicht verfehlt, sie dienen der „Verteidigung der Lebenshaltung der Arbeiter, zur Aufrechterhaltung der Kampfenergie in der Arbeiterschaft, zur Erschwerung künftiger neuer Angriffe des Unternehmertums“. (70)

Mit der Strategie Kautskys, bemerkt Luxemburg trefflich, „lässt sich nicht bloß keine große politische Massenaktion führen, sondern nicht einmal eine gewöhnliche Gewerkschaftsbewegung“. (71)

Zudem schließt Kautskys Schema die Tatsache aus, dass all diese immer häufiger werdenden und oft ohne „bestimmte Erfolge“ verlaufenden Streiks, „Explosionen eines tieferen inneren Gegensatzes“ sind, der direkt auf das politische Gebiet hinüberspielt. Als Beispiele hierfür zählt Luxemburg „die periodischen Riesenstreiks der Bergarbeiter“ (Deutschland, England, Frankreich, Amerika), „die spontanen Massenstreiks der Landarbeiter“ (Italien, Galizien) sowie „Massenstreiks der Eisenbahnarbeiter“. (72) Auch hierzu kann Luxemburg Kautsky selbst ins Feld führen, schrieb dieser doch noch 1905 in „Die Lehren des Bergarbeiterstreiks im Ruhrrevier“: „Diese neue gewerkschaftliche Taktik, die des politischen Streiks, der Verbindung von gewerkschaftlicher und politischer Aktion, ist die einzige, die den Bergarbeitern noch möglich bleibt, sie ist überhaupt diejenige, die bestimmt ist, die gewerkschaftliche wie die parlamentarische Aktion neu zu beleben und der einen wie der anderen erhöhte Aggressivkraft zu geben.“ (73) Kautsky weiter: „Die großen, entscheidenden Aktionen des kämpfenden Proletariats werden immer mehr durch die verschiedenen Arten des politischen Streiks auszufechten sein. Und die Praxis schreitet da schneller vorwärts wie die Theorie. Denn während wir über den politischen Streik diskutieren und nach seiner theoretischen Formulierung und Begründung suchen, entbrennt spontan, durch Selbstentzündung der Massen, ein gewaltiger politischer Massenstreik nach dem anderen – oder wird jeder Massenstreik zu einer politischen Aktion, gipfelt jede große politische Kraftprobe in einem Massenstreik, sei es bei den Bergarbeitern, sei es unter den Proletariern Russlands, den Landarbeitern und Eisenbahnern Italiens usw.“ (74)

Luxemburg merkt zusammenfassend an, dass „‚die Theorie‘ nicht bloß langsamer ‚vorwärts schreitet‘ als die Praxis, sie macht leider zuweilen auch noch Purzelbäume nach rückwärts“. (75)

Insgesamt bringt Kautskys neue Theorie seine alte Ermattungsstrategie um. Mittelpunkt der Ermattungsstrategie war der Hinweis auf die kommenden Wahlen, während Luxemburg jetzt bereits die Strategie des Massenstreiks anwenden wollten. Kautsky jedoch pochte auf die neue Lage nach den Wahlen. Nun aber belegt Kautsky, dass für eine Periode der Massenstreiks in Deutschland bzw. Westeuropa allgemein die Bedingungen fehlen würden. Sogar einfache Demonstrationsstreiks mit der Wucht der russischen seien fast unmöglich, so Kautsky. Dies dann jedoch natürlich auch nach den Wahlen. All die Gründe, die Kautsky nannte, werden nach den Wahlen nicht einfach verschwinden. Kautsky bestätigt damit Luxemburgs Vorwurf des Nichts-als-Parlamentarismus, denn von den Verheißungen auf das Jahr nach den Wahlen und dem Pochen auf das Vorbereiten der Wahlen bleibt nichts als letzteres. Zudem weist sie auf den Widerspruch zwischen Kautskys ersterer Aussage, aufgrund der gespannten Situation könnten Massenaktionen wie ein Massenstreik jederzeit durch die Regierung notwendig gemacht werden und den neueren, die soziale- und politische Entwicklung verunmögliche derartige Massenaktionen, hin. Könnte eine brutale Aktion der Polizei zwar die Erregung der Massen steigern, wäre sie dennoch nicht imstande, die wirtschaftliche und soziale Struktur Deutschlands umzustülpen.

Zudem stellen Kautskys jüngste Erkenntnisse den Jenaer Beschluss in Frage. Der Jenaer Parteitag, der ja gerade von den russischen Erfahrungen die Massenstreiktaktik entlehnte, wird dadurch von Kautsky einer gründlichen Revision unterzogen, wenn dieser gravierende Unterschiede zwischen den russischen und den westeuropäischen Verhältnissen konstruiert, unter denen die Anwendung dieser nicht möglich sei.

Die Massenstreikaktion des russischen Proletariats aus ihrer sozialen Rückständigkeit zu erklären, heißt die führende Rolle des städtischen großindustriellen Proletariats in der russischen Revolution durch die Rückständigkeit Russlands erklären, also die Dinge auf den Kopf zu stellen. Nicht die Rückständigkeit, sondern gerade die hohe Entwicklung des Kapitalismus, der Industrie, des Verkehrs in den städtischen Zentren Russlands ermögliche und bedingte diese Art Massenstreikaktion. Die Zentralisierung des Proletariats, das starke Klassenbewusstsein, der fortgeschrittene kapitalistische Gegensatz – nur deswegen konnte der Kampf um politische Freiheit in entschlossener Weise von diesem Proletariat geführt werden und zwar nicht als reiner Verfassungs-kampf, sondern als echter moderner Klassenkampf in seiner ganzen Breite und Tiefe, in dem sowohl um ökonomische wie um politische Interessen gestritten wurde, gegen Kapital wie Zarismus, um Achtstundentag und demokratische Verfassung. Nur weil die Industrie und damit verbundene Verkehrsmittel bereits Existenzbedingung des wirtschaftlichen Lebens des Staates geworden, konnten die Massenstreiks in Russland eine so erschütternde, ausschlaggebende Wirkung erzielen, dass die Revolution mit ihnen ihre Siege feierte und mit ihnen unterlag und verstummte.

Überhaupt war die russische Revolution kein Produkt spezifisch russischer Umstände, sondern wesentlich Ausdruck einer neuen Epoche der internationalen Entwicklung der Produktivkräfte. All die vielen Gründe, die Kautsky als Argumente gegen die Möglichkeit entsprechender Kämpfe für Deutschland auflistet, führt Luxemburg als verschärfende Faktoren für eben diese Kämpfe in Deutschland an.

Alle Argumente, die Kautsky gegen den Massenstreik ins Feld führt, sind nach Prüfung Momente, die diesen immer notwendiger machen.

Die Macht der Unternehmerverbände und der Kadavergehorsam machen eine ruhige Gewerkschaftsarbeit immer unmöglicher, drängen und zwingen zu Explosionen und Machtproben. Gerade die politische Isolierung des Proletariats und die Tatsache, dass die gesamte Bourgeoisie bis ins Kleinbürgertum hinter der Regierung steht, machen jeden großen Kampf gegen die Regierung zugleich zum Kampf gegen die Bourgeoisie. Diese Umstände bürgen dafür, dass jede energische revolutionäre Massenaktion in Deutschland nicht die parlamentarische Form des Liberalismus oder die ehemaligen Kampfformen des revolutionären Kleinbürgertums, die Barrikadenschlacht annehmen wird, sondern die klassisch-proletarische, die des Massenstreiks. Und gerade wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Aufklärung und politischer Freiheit muss sich zu den politischen Kämpfen ein wirtschaftliches Element gesellen.

Noch 1907 schrieb Kautsky „Wir haben nicht den mindesten Grund anzunehmen, dass der Grad der Ausbeutung des deutschen Proletariers ein geringerer ist als in Russland.“ (76) Auch vergisst Kautsky bei seinen Schilderungen der Vereine, der Wahlen und der Versammlungen wohl auf die Staatsarbeiter, die Eisenbahner, Postangestellten und die Landarbeiter, denen das Koalitionsrecht rechtlich oder faktisch fehlt. Er vergisst, so Luxemburg, dass diese „russisch“ leben. Diese werden bei politischen Erschütterungen unmöglich den Kadavergehorsam bewahren und ihre Sonderrechnung in Form von Massenstreiks präsentieren.

Um die These vom Sonderfall Russland weiter zu entkräften, befasst sie sich mit den Massenstreiks der jüngsten Jahre in Westeuropa. Während die großen belgischen Massenstreiks der 1890er Jahre noch isoliert standen, folgten ihnen eine Fülle anderer: „1900 Massenstreik der Bergarbeiter in Pennsylvanien, der nach dem Zeugnis der amerikanischen Genossen mehr für die Ausbreitung der sozialistischen Ideen getan hat als zehn Jahre Agitation“ (77), ebenso 1900 Bergarbeitermassenstreik in Österreich, 1902 Bergarbeiter-massenstreik in Frankreich, Generalstreik der gesamten Produktion Barcelonas, Demonstrationsmassenstreik in Schweden, Massenstreik in Belgien, Massenstreik der Landarbeiter in Ostgalizien, 1903 zwei Massenstreiks der Eisenbahner in Holland, Massenstreik der Eisenbahner in Ungarn, Demonstrationsmassenstreik in Italien, 1905 Massenstreik der Bergarbeiter im Ruhrrevier, Demonstrationsmassenstreik in Prag und Umgebung, Demonstrationsmassenstreik in Lemberg, Demonstrationsmassenstreik in ganz Österreich, Massenstreik der Landarbeiter und später der Eisenbahner in Italien, Demonstrationsmassenstreik in Triest „der die Reform auch siegreich erzwungen hat“, 1906 Massenstreik der Hüttenarbeiter in Mähren, 1909 Massenstreik in Schweden, Massenstreik der Postangestellten in Frankreich, Massenstreik in Trient und Rovereto, 1910 Massenstreik in Philadelphia.

Soviel zur Unmöglichkeit von Massenstreiks in Westeuropa! Kautskys Theorie von der Unmöglichkeit einer Massenstreikperiode in Deutschland beruht demnach wohl weniger auf Unterschieden Deutschlands – Russlands wie vielmehr auf Unterschieden gesamt Westeuropas zu Deutschland. Preußen müsste demzufolge eine „Ausnahme unter allen kapitalistischen Ländern sein“. In Preußen wäre demnach unmöglich, was in den restlichen europäischen Ländern möglich ist. Die seltsame Folge wäre, dass je stärker die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften, je besser die Organisation und die Disziplin, je aufgeklärter das Proletariat und je größer der Einfluss des Marxismus, um so ohnmächtiger die Arbeiterklasse. Dies hieße, so Luxemburg, „Ein Armutszeugnis ausstellen, das es (das deutsche Proletariat, d.A.) noch durch nichts verdient hat.“ (78)

Resümierend kommt Luxemburg zu dem Schluss, dass von Kautskys Massenstreiktheorie nur der „letzte rein politische“ Massenstreik übrig bleibt, der ein einziges Mal, wie ein deus ex machina „losgelöst von ökonomischen Streiks“, „wie ein Donner aus heiterem Himmel einschlägt“. (79) Zu diesem Bild eines Streiks passt jedoch kein reales Vorbild, weder die russischen noch die westeuropäischen Streiks.

Oda Olberg schrieb, wie Luxemburg anmerkt, dazu treffend in der Neuen Zeit: „Die Errungenschaften des politischen Streiks sind nicht einzuschätzen: je nach dem Grade des proletarischen Klassenbewusstseins wechselt ihr Wert. Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren, weil das ist, was bezweckt, eine Machtentfaltung des Proletariats, bei der die Kämpfenden ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl stählen und die herrschenden Klassen der Stärke der Gegner bewußt werden.“ (80) Auch ist es unmöglich, dass ein derartiger „letzter Streik“ ohne eine Periode der Vorbereitung, der Aufrüttelung der Massen und der praktischen Schulung? Wie soll „die ganze große Masse des deutschen Proletariats, die bis jetzt weder unserer gewerkschaftlichen Organisation noch der sozialdemokratischen Agitation zugänglich war, mit einem Sprunge für einen ‚letzten‘ Massenstreik ‚auf Leben und Tod‘ reif sein, wenn sie nicht durch eine vorhergehende Periode stürmischer Massenkämpfe, Demonstrationsstreiks, partieller Massenstreiks, wirtschaftlicher Riesenkämpfe usw., nach und nach aus ihrer Starrheit, ihrem Kadavergehorsam, ihrer Zersplitterung losgelöst und der Gefolgschaft der Sozialdemokratie angegliedert wird?“ (81)

Auch wenn Kautsky zugesteht, dass er sich „dies einmalige Ereignis“ nicht als isolierten Akt vorstellt: Welche „Massenkämpfe und Massenaktionen“ sollen es denn sein, die dem „letzten“ Streik vorausgehen, wenn nicht Massenstreiks selbst? Reine Straßendemonstrationen kann man nicht jahrzehntelang durchführen und allgemeine, eindrucksvolle Demonstrationsstreiks sind laut Kautsky Streiktheorie für Deutschland ausgeschlossen. Reichstagsresolutionen oder Versammlungen mit Protestresolutionen werden einen solchen Streik nicht vorbereiten. So bleibt Kautskys „letzter“ Streik aus der Pistole geschossen.

Während in Kautskys erster Theorie Massenstreiks durch die Ermattungstheorie auf eine unbestimmte Zeit nach den Reichstagswahlen verschoben wurde, entschwinden sie nun in weite Ferne, als „letzter“ und einziger Massenstreik.

Zusammenfassend lässt sich beobachten, wie Kautsky, der in früheren Jahren selbst sehr gute Schlüsse aus den praktischen Entwicklungen der Arbeitskämpfe zog, im Verlauf der Diskussion gezwungen war, eine Theorie nach der anderen gegen den Massenstreik ins Feld zu führen, um letztlich dessen Rolle auf ein Paukenschlag-ereignis, durch das der Kapitalismus ad hoc überwunden wird, zu reduzieren.

Dem gegenüber stellte Luxemburg die Idee des Massenstreiks als revolutionäre Praxis. Streik nicht bloß als Zweck, bestimmte konkrete Ziele zu erreichen, sondern als praktische Schule für die Arbeitermassen. Nicht ein isolierter, am grünen Tisch entworfener und hundert Prozent der Arbeiterklasse umfassender Massenstreik, sondern eine Welle von Streiks, eine Streikbewegung, über längeren Zeitraum, mit Teilsiegen oder Rückschritten, doch wo möglich den Kampf zuspitzend und mit dem Zweck, das Bewusstsein der ArbeiterInnen dahingehend zu entwickeln, dass eine friedliche Koexistenz mit den Kapitalisten nicht möglich ist, sondern der Kapitalismus im Kampf überwunden werden muss und auch praktische Erfahrungen, wie derartige Streiks zu bewerkstelligen sind, zu sammeln.

Schluss

Kautskys Position markiert den Übergang eines Teils der ehemaligen Linken der Sozialdemokratie zur Verteidigung der Position des Parteivorstandes, einer Politik des Abwartens, die die ganze sozialdemokratische Tätigkeit in der Trias aus begrenzten, gewerkschaftlichen, tariflichen Aktionen, Sammlung proletarischer Mitglieder im Vereinsleben der Partei und Wahlkampagnen samt Parlamentstätigkeit erblickt.

Anders als von den Gewerkschaftsbürokraten wird der Massenstreik oder Generalsstreik nicht grundsätzlich und offen bekämpft und abgelehnt, sondern „nur“ für die jeweilige, politische Situation. Für die Zukunft oder „an und für sich“, sei er, so Kausky und alle anderen Kautskyaner berechtigt, heute jedoch nicht. Immer sei es noch zu früh oder, wenn die Chance vertan, zu spät. Das Motto der Kautskyaner lautet also „Für den Massenstreik – am St. Nimmerleinstag!“

Eng damit verbunden ist auch ein vollkommen passives Konzept der „Machtergreifung“, die ebenfalls als nichts begriffen wird, das aktiv politisch und organisatorisch vorbereitet werden müsse, sondern die kommt, wenn es soweit ist. So wie für den Generalstreik sind dann auch die Bedingungen nie so weit.

Eine solche Theorie, die für den Kautskyanismus ab 1910 typisch ist, kommt auch den Revisionisten und Gewerkschaftsführern gelegen, läuft sie doch auf eine Rechtfertigung ihrer aktuellen Tagespolitik hinaus.

Schließlich zeigt die Debatte, wie sträflich die Kautskyaner die Verschärfung der Gegensätze im imperialistischen Kapitalismus „übersahen“.  Er tat dies durchaus wieder besseres, eigenes Wissen, arbeitete er doch in „Der Weg zu Macht“ 1907 in polemischer Abgrenzung noch die These von der Verschärfung der Klassengegensätze aus. Doch die Verteidigung einer revisionistischen Position und einer reformistischen Praxis hat immer ihre eigene Logik, die dazu zwingt, die eigenen Erkenntnisse von gestern über Bord zu werfen.

Es mutet geradezu tragisch-komisch an, wenn man Kautskys Beiträge liest und sich vor Augen hält, daß diese nur wenige Jahre vor dem Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges 1914 geschrieben wurden. Der „realistische“ Kautsky warnt die „utopische“ Luxemburg davor, die herrschende Klasse Deutschlands doch nicht mit Massenstreiks zu provozieren, da man doch eh auf friedlichem, parlamentarischem Weg die absolute Mehrheit bei den Wahlen erobern könne. Kautsky redete den deutschen ArbeiterInnen ein, die herrschende Klasse ließe sich durch eine Ermattungsstrategie ermatten. In Wirklichkeit ermattete die deutsche Arbeiterklasse an der Mattheit ihrer Führung. Die herrschende Klasse jedoch bereitete sich zu ihrer bürgerlichen „Niederwerfungsstrategie“ vor und überrumpelte die Arbeiterbewegung mit dem 1. Weltkrieg. Es war Luxemburg und ihre Strategie der „Niederwerfung“, die weitaus realistischer war als Kautsky und seine matte Ermattungsstrategie.

Damit wollen wir keineswegs die Unzulänglichkeiten Luxemburgs leugnen. So überlegen ihre Massenstreikstrategie gegenüber den Kautskyanern auch war, so war doch ihre Konzeption noch zu wenig „russisch“. Und zwar in der Hinsicht, als diese Strategie noch nicht eingebettet war in ein klares Konzept der Machteroberung durch einen bewaffneten Aufstand und der entsprechenden politischen Vorbereitung, so wie das Lenin und die Bolschewiki in den Jahren vor der russischen Revolution 1905 in den Seiten der Iskra und der Wperjod taten.

Dies hing mit ihrer Schwächen in Bezug auf das Verständnis der Entwicklung des revolutionären Klassenbewusstseins zusammen. Zu sehr vertraute sie auf die spontane Entstehung und Entwicklung eines solchen Klassenbewusstseins, zu wenig erkannte sie die Notwendigkeit, dieses Bewusstsein durch eine revolutionäre Partei in die ArbeiterInnenklasse hineinzutragen und auf dieser Grundlage die Vorhut der Klasse in der Partei zu organisieren. Dies war letztlich der wesentliche Grund, warum Lenin und die Bolschewiki auf die russische Revolution 1917 politisch vorbereitet waren und die deutsche Linke um Luxemburg und Liebknecht nicht entsprechend in die deutsche Revolution 1918 eingreifen konnten.

Es wäre falsch, den Kautskyianismus und das „Zentrum“, das sich ab 1910 eigenständig zu formieren beginnt, mit den Revisionisten und Gewerkschaftsführern als identisch zu betrachten. Die Aufgabe, der Kautsky in der Generalstreikdebatte 1910 und später im Krieg und selbst in der USPD nachkommt, besteht vielmehr darin, eine „Mittelströmung“, ein „Zentrum“ zu formieren zwischen Reformismus und revolutionären Marxismus, das diese Positionen miteinander aussöhnt.

Da zwei gegensätzliche Klassenstandpunkte jedoch nicht versöhnt werden können, läuft der Kautskyanismus – wie Lenin u.a. später treffend herausarbeiten – auf eine besonders gefährliche Art des Opportunismus hinaus, eines Opportunismus, der den Reformismus, Sozialchauvinismus oder imperialistische Vaterlandsverteidi-gung letztlich verharmlost und einem Bruch mit ihm entgegenarbeitet.

Die Massenstreikdebatte war ein historischer Prüfstein für die Sozialdemokratie. In ihr zeichneten sich ihre grundlegenden politischen Schwachpunkte, aber auch die Entwicklung einer konsequent revolutionären Strömung ab.

Anstatt die Arbeiterklasse als Subjekt der Revolution zu fördern, wurde diese als ein die Arbeit der Partei unterstützendes Objekt gesehen. Zur Aufgabe der Partei wurde nicht gemacht, Klassenbewusstsein und eine revolutionäre Strategie in der Klasse zu verbreiten, sondern die ArbeiterInnen nur noch als WählerInnen und passive Mitgliedermasse zu erfassen. Wenn nötig, wird die Arbeiterklasse dann für diese oder jene Kundgebung oder Streik mobilisiert – oder wieder abbestellt, wenn es den Plänen der Parteispitzen entspricht.

Im Gegensatz zu der klassischen und aktuellen Auffassung der Sozialdemokratie bezüglich Streiks und Kampfmaßnahmen gilt es heute wie damals, ganz im Sinne Luxemburgs, Kampfmaßnahmen zu fordern, zu fördern und vorzubereiten. Nur durch die praktische Erfahrung in konkreten Kämpfen wird die Arbeiterklasse die notwendigen Lehren ziehen können und sich eine neue, konsequente Vertretung ihrer Interessen schaffen können.

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Zürich 1896, zit. nach Antonia Grunenberg, Einleitung, Grunenberg (Herausgeberin), Die Massenstreikdebatte. Beiträge von Parvus, Luxemburg, Kautsky, Pannekoek, Frankfurt/Main 1970, S. 12

(2) Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Frankfurt 1966, zweite Auflage, S. 147

(3) Protokolle des Internationalen Sozialistenkongresses Stuttgart 1907, zit. nach Grunenberg, a.a.O., S. 18

(4) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 96

(5) Ebenda, S. 97

(6) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 346

(7) Ebenda, S. 347

(8) Ebenda, S. 351

(9) Ebenda, S. 352

(10) Kautsky, Was Nun?, S. 98

(11) Ebenda, S. 100

(12) Ebenda, S. 101

(13) Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in: Luxemburg, Gesammelte Werk, Band 2, S. 353

(14) Ebenda, S. 354

(15) Ebenda, S. 355

(16) Ebenda, S. 356

(17) Ebenda, S. 356

(18) Ebenda, S. 356

(19) Ebenda, S. 357

(20) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S 161

(21) Ebenda, S. 162

(22) Ebenda, S. 164

(23) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 418

(24) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, S. 13/14

(25) Kautsky, Was Nun?, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte, S. 101

(26) Ebenda, S. 103

(27) Ebenda, S. 105

(28) Ebenda, S. 105

(29) Ebenda, S. 106

(30) Ebenda, S. 106

(31) Ebenda, S. 108

(32) Ebenda, S. 110

(33) Ebenda, S 111

(34) Ebenda, S. 111

(35) Ebenda, S. 112

(36) Ebenda, S. 114

(37) Ebenda, S. 116

(38) Ebenda, S. 116

(39) Ebenda, S. 117

(40) Ebenda, S. 118

(41) Ebenda, S. 118

(42) Ebenda, S. 118

(43) Ebenda, S. 119

(44) Ebenda, S. 119

(45) Kautsky, Die neue Strategie, in: Grunenberg, Die Massenstreikdebatte S. 186

(46) Ebenda, S. 187

(47) Ebenda, S. 189

(48) Ebenda, S. 165

(49) Ebenda, S. 166

(50) Ebenda, S. 166

(51) Ebenda, S. 168

(52) Ebenda, S. 169

(53) Ebenda, S. 169

(54) Ebenda, S. 168

(55) Ebenda, S. 169f

(56) Ebenda, S. 170

(57) Ebenda, S. 171

(58) Ebenda, S. 172/173

(59) Ebenda, S. 174

(60) Ebenda, S. 174

(61) Ebenda, S. 174

(62) Ebenda, S. 176

(63) Ebenda, S. 176

(64) Ebenda, S. 176f

(65) Ebenda, S. 177

(66) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 388

(67) Kautsky, „Soziale Revolution“, Zitiert von Luxemburg in: Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 390

(68) Ebenda, S. 392

(69) Ebenda, S. 392

(70) Ebenda, S. 393

(71) Ebenda, S. 394

(72) Ebenda, S. 394

(73) Ebenda, S. 394

(74) Neue Zeit, XXIII, I, S. 780

(75) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 395

(76) Kautsky, Zitiert von Luxemburg in: Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 403

(77) Luxemburg, Die Theorie und die Praxis, in: Luxemburg, Werke, Band 2, S. 404

(78) Ebenda, S. 407

(79) Ebenda, S. 407

(80) Ebenda, S. 408

(81) Ebenda, S. 409