End Fossil: Occupy! Was können wir von den Unibesetzungen lernen?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Zwischen September und Dezember 2022 sollten unter dem Namen „End Fossil: Occupy!“ weltweit hunderte Schulen und Unis besetzt werden. Auch in Deutschland sind in über 20 Städten Uni- und Schulbesetzungen angekündigt. Startpunkt für die Aktionen war Uni Göttingen, an der wir uns am 24. Oktober auch beteiligten. Weitere folgten an der Technischen Universität Berlin oder in Frankfurt/Main. Aber was fordern die Aktivistist:innen von End Fossil: Occupy! eigentlich?

Ziele

Im Großen und Ganzen richtet sich End Fossil: Occupy! – wie der Name der Kampagne richtig vermuten lässt – gegen jede Form der fossilen Produktion. So heißt es auf der internationalen Website: „Unser Ziel ist es, das System zu verändern, indem wir die fossile Wirtschaft auf internationaler Ebene beenden. Je nach lokalem Kontext können die Forderungen variieren: Beendigung des Abbaus fossiler Brennstoffe, Beendigung der Finanzierung fossiler Brennstoffe, Beendigung der Finanzierung fossiler Infrastrukturen oder andere.“

Vom deutschen Ableger werden dabei weitere spezifischere Forderungen aufgeworfen. Im Fokus steht dabei die Beendigung der profitorientierten Energieproduktion mittels Übergewinnsteuer aller Energieträger und langfristiger Vergesellschaftung der Energieproduktion insgesamt. Ebenso tritt die Initiative für die Verkehrswende für alle ein, da der Verkehrssektor 18,2 % der jährlichen deutschen Treibhausgasemissionen ausmacht. Um dies zu ändern, braucht es laut Aktivist:innen  einen regelmäßigen, für alle erreichbaren ÖPNV sowie einen massiven Ausbau des überregionalen Schienennetzes. Damit er auch von allen genutzt werden kann, wird darüber hinaus ein 9-Euro-Ticket gefordert und langfristig ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr angestrebt. Daneben schließt sich End Fossil: Occupy! auch den Forderungen von Lützi bleibt!, Debt for Climate und Genug ist Genug an. Zusätzlich erheben viele Besetzungen auch lokale Forderungen, auf die wir später noch einmal zurückkommen werden.

Und wie soll das erreicht werden?

End Fossil: Occupy! ist eine Ansammlung von Aktivist:innen aus der Umweltbewegung, von denen ein guter Teil von Fridays for Future geprägt wurde. Diverse Organisationen unterstützen die Initiative, aber im Stil der Umweltbewegung gibt es keine offene Unterstützer:innenliste, um sich nicht zum „Spielball“ unterschiedlicher Interessen zu machen und „unabhängig“ zu bleiben. Darüber hinaus fallen weitere Ähnlichkeiten mit der bisherigen Klimabewegung auf. So wird auf der Website recht eindeutig gesagt, dass End Fossil: Occupy! von „unzähligen historischen Beispielen, wie der Pinguin Revolution 2006 in Chile, der Primavera Secundarista 2016 in Brasilien, der weltweiten Mobilisierung in und nach 1986 und vielen anderen“ inspiriert ist. Daran ist erstmal nichts verkehrt. Gleichzeitig muss aber bewusst sein, dass sowohl die Proteste in Chile 2006 als auch die  Bildungsstreikproteste in Brasilien, bei denen in kürzester Zeit über 100 Universitäten im ganzen Land besetzt wurden, in einer wesentlich anderen Ausgangslage stattgefunden haben. Bei beiden Beispielen gab es konkrete Angriffe auf das Bildungssystem. Die Besetzungen waren die Antwort von Schüler:innen, Studierenden und teilweise Lehrenden, um diese aktiv abzuwehren.

Aufbauend auf diesen Bezugspunkten setzt die Kampagne jedenfalls mehrere Prinzipien für ihre eigenen Aktionen fest:

„Die Besetzungen sind organisiert von jungen Menschen. Der politische Rahmen hinter den Besetzungen ist der der Klimagerechtigkeit. Wir wollen ein Ende der fossilen Industrie, um Klimaneutralität und weltweite soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Unser Ziel wollen wir durch einen globalen und sozial gerechten Prozess erreichen. Unsere Intention ist es, (Hoch-)Schulen an verschiedensten Orten zu besetzen und so das öffentliche Leben zu stören, bis unsere Forderungen umgesetzt sind.“

Kurzum, die Besetzung soll Druck auf Institutionen aufbauen. Diese müssen dann den Forderungen der Aktivist:innen zustimmen und so sollen der fossilen Produktion Stück für Stück Absatzmärkte entzogen werden.

Unibesetzungen

Besetzungen stellen hier also ein zentrales Mittel zur Veränderung der Lage dar. Gemäß aktuellem Kräfteverhältnis folgt allerdings eher dem Muster der direkten Aktion, also mit dem Hintergedanken, dass Menschen durch eine radikale Tat selbst in Aktivität gezogen werden. Vor Ort, also an den Unis oder Schulen, gibt es unter den Studierenden eigentlich keine systematische Vorbereitungsarbeit. Die Masse soll vielmehr durch die unmittelbare Besetzung und ihre mediale Bewerbung so inspiriert werden, dass sich mehr und mehr Leute spontan anschließen. Dabei gibt es jedoch mehrere Probleme, auf die wir im Folgenden eingehen wollen.

Schulen und Universitäten sind keine oder nur im sehr begrenzten Rahmen – z. B. wenn die Forschung direkt mit industrieller Entwicklung verbunden ist – Orte der Mehrwertproduktion. Das heißt, Streik hier wirkt anders als beispielsweise in Sektoren wie der Bahn oder Autoindustrie. Dementsprechend ist es zwar logisch, von „Störung des öffentlichen Lebens“ zu sprechen, gleichzeitig sorgt sie aber auch dafür, dass diese Auseinandersetzungen länger ausgesessen werden können und weniger Druck erzeugen als Betriebsbesetzungen. Das sollte einem bewusst sein, insbesondere, wenn die Gegner multinationale Konzerne sind.

Heißt das, dass wir das alles schwachsinnig finden? Nein, im Gegenteil. Grundsätzlich halten wir die Initiative für sinnvoll und glauben, dass sie Potenzial entfalten kann. Deswegen haben wir Besetzungen, wo wir vor Ort sind, auch aktiv mit unterstützt und wollen dies künftig weiter tun. Gleichzeitig halten wir es sinnvoll, eine offene Debatte über die Strategie der Klimabewegung zu führen, um so aus den Initiativen sowie Fehlern der Vergangenheit zu lernen und unserem gemeinsamen Ziel näher zu kommen. Besetzungen stellen ein wichtiges Kampfmittel der Student:innenbewegung, von Schüler:innen, Indigenen, Bauern/Bäuerinnen, aber vor allem auch der Arbeiter:innenbewegung dar und bieten in diesem Rahmen eine Menge Potenzial. Bevor wir dazu kommen, wollen wir uns jedoch anschauen, was für uns Besetzungen bedeuten.

Was steckt eigentlich hinter einer Besetzung?

Für uns Marxist:innen sind Besetzungen ein recht starkes Mittel im Klassenkampf. Auch wenn dies manchen Leser:innen als altbacken daherkommen mag, wollen wir an der Stelle einen kurzen Abschnitt aus dem Übergangsprogramm Trotzkis zitieren:

„Die Streiks mit Fabrikbesetzungen, eine der jüngsten Äußerungen dieser Initiative, sprengen die Grenzen der ‚normalen’ kapitalistischen Herrschaft. Unabhängig von den Forderungen der Streikenden versetzt die zeitweilige Besetzung der Unternehmen dem Götzenbild des kapitalistischen Eigentums einen schweren Schlag. Jeder Besetzungsstreik stellt praktisch die Frage, wer der Herr in der Fabrik ist: der Kapitalist oder die Arbeiter.“

Das heißt, Besetzungen werfen unmittelbar die Fragen auf: Wer kontrolliert das besetzte Gebäude, die besetzte Unternehmung? Damit stellen sie die Verfügungsgewalt des Privateigentums und/oder etablierte kapitalistische Herrschaftsstrukturen infrage. Der besetzte Betrieb ist eine lokal begrenzte Form der Doppelmacht. Selbstverwaltete Strukturen von Arbeiter:innen und Unterdrückten existieren parallel und im Gegensatz zum eigentlich staatlich gesicherten Privateigentum.

Deswegen können sich Besetzungen je nach Lage der gesamten Situation recht schnell auch zuspitzen, wie man in der Vergangenheit sehen konnte, beispielsweise von französischen Arbeiter:innen, die ihm Rahmen von Streiks Raffinerien besetzten. Solche Situationen können aber nicht ewig bestehen bleiben, da die eine Struktur immer wieder die Legitimität der anderen in Frage stellt und beide letzten Endes auch Ausdruck zweier unversöhnlicher Interessen sind.

Das heißt: Im klassischen Marxismus geht es bei Besetzungen nicht nur darum, „die Normalität zu stören“, sondern sie sind ein Mittel, um den Klassenkampf bewusst zuzuspitzen. Auf der anderen Seite sind sie auch ein Ausdruck vom Kräfteverhältnissen. D. h., die Lohnabhängigen müssen selbst eine gewisse Entschlossenheit, Bewusstheit, also auch politische und organisatorische Vorbereitung sowie ein Wissen über den/die Gegner:in besitzen, um eine solche Aktion gezielt durchzuführen und den Kampf weiterzutreiben. Ansonsten bleibt eine spontane Besetzung leicht bloßer Ausdruck von Verzweiflung und kann nicht länger gehalten werden.

Dieses Verständnis erklärt übrigens, warum isolierte Besetzungen in der Regel nicht erfolgreich sein können. Sie greifen das kapitalistische System nur an einem Punkt an und steht dem von Besetzer:innenseite keine massive, dauerhafte Mobilisierung entgegen, verfügt der/die Kapitalist:in bzw. der etablierte, bürgerliche Staat, der sein/ihr Privateigentum schützt, über weitaus mehr Ressourcen, diese zu räumen. Heißt das im Umkehrschluss, dass man nur Besetzungen machen sollte, wenn man eine Basisverankerung vor Ort hat? Die Antwort ist: Kommt drauf an, was man erreichen will. Als symbolischer Protest kann eine Besetzung auch genutzt werden, um Basisarbeit aufzunehmen. Das heißt, in diesem Sinne kann es durchaus zweckmäßig sein, dass „die Normalität gestört wird“. Wenn es aber darum geht wie im Hambacher Forst, im Dannenröder Wald oder auch bei End Fossil:Occupy!, aktiv Errungenschaften zu verteidigen oder zu erkämpfen, dann bedarf es unbedingt vorheriger Basisarbeit an dem Ort, der besetzt werden soll. Dann muss dafür auch in den bestehenden gewerkschaftlichen oder studentischen Strukturen gekämpft werden. Im Folgenden wollen wir skizzieren, wie das aussehen kann.

Wir glauben, dass Besetzungen, die mehr als einen symbolischen Charakter haben, erfolgreich sind, wenn eine Massenbasis bzw. eine Verankerung besteht, beispielsweise wenn man gesamte Gebäude einer Universität statt einzelner Hörsäle oder gar Betriebe besetzen will. Werden diese Besetzungen nicht von den Studierenden oder Arbeiter:innen getragen, werden sie schnell geräumt oder im Falle der Unis geduldet, bis die Besetzer:innen nicht mehr können.

Das heißt, sie sind ebenfalls eine bewusste Entscheidung für die Besetzung durch die Mehrheit aller, zumindest aber durch die aktiven Student:innen. Ansonsten ist sie letztlich auf Dauer nicht zu halten, organisiert keine Basis, sondern spielt faktisch Stellvertreter:innenpolitik.

Wie kommt man nun zum Ziel? Vollversammlungen sind ein sinnvolles Mittel wie beispielsweise bei der Besetzung der TU Berlin. Wichtig dabei ist, dass man a) für diese gezielt mobilisiert, indem man beispielsweise Forderungen, die man vor Ort aufstellt, präsentiert und b) die Anwesenden aktiv in die Debatte einbindet und so die Besetzung auch zu ihrer kollektiven Entscheidung gestaltet.

Letzteres ist dort leider nicht passiert und eine der Ursachen dafür, warum die Besetzung auf eine kleine Gruppe und einen Hörsaal beschränkt blieb. Die „gezielte Mobilisierung“ ist für eine wirkliche Besetzung, die das bestehende Kräfteverhältnis in Frage stellt, unumgänglicher, essentieller Teil der Vorbereitung. Das bedeutet praktisch: wochenlanges Flyern, Plakatieren, mit dem Megaphon vor der Mensa zu stehen und Gespräche mit Studierenden bzw. der Belegschaft vor Ort zu führen. Dabei kann man Termine vorschlagen, um den Kreis der Vorbereitenden zu erhöhen und mehr Aktivist:innen in die Arbeit einzubeziehen, und wenn gewollt, auch weitere kreative Mobilisierungsformen entwickeln.

Zentral ist dabei, diese mit Forderungen zu verbinden, die lokale Probleme aufzeigen bzw. thematisieren, wie es positiver Weise an der TU Berlin geschehen ist. So wurden unter anderem die Transparenz über Fördermittel sowie weitere Geldquellen der TU Berlin und  Abkehr von fossiler Finanzierung gefordert. Dabei sollten „alle Einnahmen und sonstige finanziellen Unterstützungen durch Unternehmen transparent und übersichtlich aufgeschlüsselt werden, um sowohl die Verwendung der Gelder als auch den Einfluss der Unternehmen auf akademische Strukturen für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.“

Dies gleicht der Offenlegung der Geschäftsbücher, die wir unterstützen, und bietet beispielsweise auch die Möglichkeit, um mit Beschäftigten an der Uni ins Gespräch zu kommen, was die Höhe ihrer eigenen Gehälter angeht und dass die Unterstützung der Besetzung letzten Endes in ihrem Interesse liegt.

Dies sind alles kleine, mühselige Schritte – aber notwendig, wenn wir Erfolg und Besetzungen nicht bloß einen symbolischen Charakter haben sollen.




Solidarität ist keine Einbahnstraße: Klimaschutz heißt Klassenkampf!

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Viel wird über die strategische Ausrichtung der Klimabewegung gesprochen. Das nächste Jahr bringt die praktische Möglichkeit mit sich, den vielen Worten Taten folgen zu lassen. Was ist damit gemeint? Im Januar beginnt die Tarifrunde Öffentlicher Dienst für Bund und Kommunen, im Herbst die für die Länder. Weitere finden bei der Deutsche Bahn AG und anderen Verkehrsbetrieben statt.

Wir schlagen Akivist:innen der Klimabewegung vor, nicht nur gemeinsame Blöcke auf größeren Veranstaltungen zu organisieren, um die Frage des Klimaschutzes in Arbeitskämpfe hineinzutragen, sondern die Kolleg:innen aktiv in ihren Kämpfen zu unterstützen. Ziel muss es sein zu zeigen, dass wir auf ihrer Seite stehen. Denn die Inflation treibt die Preise für Wohnen, Lebensmittel und die Energiekosten in die Höhe. Als Klimabewegung dürfen wir nicht schweigen und tatenlos zusehen, sondern müssen verdeutlichen, dass Klimaschutz eben nicht bedeutet, dass wir kollektiv frieren oder weniger essen. Deswegen sollten wir die Forderungen nach Lohnerhöhungen tatkräftig unterstützen und zeitgleich eigene aufstellen wie eine Übergewinnsteuer auf Energiepreise sowie die Verstaatlichung von Energieunternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle. Denn: Es geht nicht nur darum, solidarischen Austausch untereinander zu schaffen, sondern die Grundlage zu legen, gemeinsame Kämpfe zu führen – was auch bedeutet, für politische Forderungen zu streiken.

Was bedeutet das konkret?

Beispielsweise könnten gemeinsame Vollversammlungen in Betrieben einberufen werden, in denen die Situation der Kolleg:innen sowie der Streikverlauf besprochen werden. Darüber hinaus können dann seitens der Umweltbewegung obige Forderungen eingebracht und diskutiert werden. Ebenso können aktive Unterstützung bei Streikposten oder genereller Mobilisierung im Betrieb helfen, aktiv in Gespräche mit Beschäftigten zu kommen.

Wichtig dabei ist, keine Illusionen in die Gewerkschaftsbürokratie zu schüren. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Abschlüsse bei Tarifrunden geht. Statt alles abzunicken, um zu Wort zu kommen, gilt es Basisstrukturen der Beschäftigten selbst zu stärken und auch aktiv an die Führungen heranzutreten, wenn es darum geht, selbst gesteckte Ziele wie z. B. aufgestellte Tarifforderungen zu erreichen, diese tatkräftig zu unterstützen. Um dies zu unterstützen, halten wir es für sinnvoll, in Strukturen wie der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) aktiv zu sein und diese mit der Klimabewegung zu verzahnen. Wenn ihr Interesse habt, solche Initiativen voranzutreiben, meldet euch bei uns!




Kampf gegen Inflation: Warum blieb der heiße Herbst aus?

Martin Suchanek, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Entgegen aller Erwartung und Ankündigung blieb der heiße Herbst aus. Dabei steigen die Preise und Lebenshaltungskosten wie nie seit Jahrzehnten. Die staatliche Hilfe dagegen ist völlig unzureichend. Jedoch von Klassenkampf keine Spur: Die Tarifabschlüsse blieben hinter der Inflation zurück. Protest von Linken und Gewerkschaften erfolgte nur zaghaft.

Noch nicht angekommen?

Es gibt die Behauptung, die Krise sei bei den Menschen noch nicht angekommen, doch das ist sehr fraglich. Fraglich angesichts der sozialen Lage der Ärmsten, die sich auf das neue Hartz IV (ach nein – Bürgergeld!) freuen können. Fraglich angesichts von Tafeln, die unter Lebensmittelknappheit leiden. Fraglich angesichts einer Rekordinflation, die sich, so die gute (!) Nachricht, bei unter 10 % „stabilisiert“ hätte.

Schließlich könnte es noch weniger Ausgleich und Hilfspakete geben, die Tarifabschlüsse könnten noch schlechter ausgefallen sein. Dass die Krise nicht angekommen sei, heißt nur: Das Schlimmste kommt noch. Die richtig fetten Rechnungen kommen im neuen Jahr und die Rezession wohl auch.

Wir wollen hier keineswegs bestreiten, dass die Hilfspakete der Regierung wie auch die viel zu moderaten Lohnabschlüsse die Auswirkungen der Inflation und Krise auch auf die Lohnabhängigen abmildern. Zumindest wichtige Teile der Mittelschichten und auch besser verdienende Lohnarbeiter:innen können damit erstmal befriedet werden.

Trotzdem kann das nicht erklären, warum der Widerstand auf der Straße verhalten, schwach blieb. Die größte bundesweite Mobilisierung gegen die Krise fand am 22. Oktober statt – gerade mal 24.000 bis, wohlwollend geschätzt, 30.000 Menschen beteiligten sich daran. Die Tatsache, dass es auch einzelne lokale oder regionale Demonstrationen mit respektablen Teilnehmer:innenzahlen gab – zuletzt am 12. November in Berlin mit rund 7.000 – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Linke wenig zustande brachte.

Eher gelang es den rechtspopulistischen und sogar rechtsextremen Kräften, Menschen zu mobilisieren. Doch von einer Massenbewegung auf der Straße sind auch diese zum Glück noch weit entfernt – bisher.

Lähmung

Dass sich die Regierung trotz großer Unzufriedenheit und Wut einigermaßen halten kann, Parteien wie CDU und Grüne in den Umfragen sogar zulegen können, liegt vor allem daran, dass sich die Enttäuschung mit einer Perspektivlosigkeit und Krisenangst verbindet, die etwas Fatalistisches an sich hat.

Gerade weil die ökonomische Lage, der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ein historisch bedrohliches Ausmaß annehmen, die Masse der Bevölkerung die aktuelle Lage tatsächlich als Zäsur erlebt und empfindet, lässt sich eine Bewegung gegen die Krise nicht so einfach entfachen. Die Mehrfachkrise und ihre Bedrohungen – zuerst die Pandemie, dann der vom russischen Imperialismus entfachte Krieg um die Ukraine, nun die damit verbundene Wirtschaftskrise und über allem die permanente ökologische Katastrophe – sie alle vermitteln ein Gefühl der Ohnmacht, der Ausweglosigkeit, rufen zugleich Abwehrmechanismen auf den Plan, wozu auch Schicksalsergebenheit zählt.

Dies zeigt sich schon bei den Schwierigkeiten, eine Bewegung gegen historische Aufrüstungsprojekte, die Kriegspolitik der NATO, der USA, der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten zu verbreitern. Im Kampf gegen die Preissteigerungen, die vor demselben weltpolitischen Hintergrund stattfinden, erleben wir ein ähnliches, eher noch potenziertes Phänomen.

Bei rein ökonomischen Verteilungskämpfen oder direkt sozialen Angriffen wie den Hartz-Gesetzen sind zumindest Freund:in und Feind:in leicht auszumachen. Regierung und/oder Kapital stehen auf der einen Seite, die Lohnabhängigen oder Teile davon auf der anderen. Der Kampf nimmt die Form eines Umverteilungsgerangels an.

Die aktuelle Krise aber, die im Grunde eine viel tiefere des Kapitalismus und des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs als die vorhergehenden bedeutet, erscheint an der Oberfläche und damit im Bewusstsein der Massen wie eine undurchschaubare Verkettung von quasi Naturkatastrophen: Krieg, Klima, Hunger, Irrationalismus und rechter Wahn, Corona und obendrauf Inflation und Wirtschaftskrise.

Ausbruch und Verlauf der aktuellen kapitalistischen Krise sind und werden zwar eng mit den geopolitischen Kämpfen, mit der Umweltkatastrophe und der Pandemie verbunden, ihr innerer Zusammenhang erscheint aber verkehrt, geradezu mystifiziert – und er wird durch die bürgerliche Propaganda zusätzlich ideologisiert. Deutlich tritt das bei den Sanktionen zutage, wo diese nicht als Resultat bewusster, westlicher Regierungsentscheidungen vorkommen, sondern vor allem als von Putin verursachte (indem er bösartig Gegensanktionen verhängt).

Krise und Gerechtigkeit

Die Forderung nach Gerechtigkeit im Allgemeinen wie nach einem „gerechten“ Lohn im Besonderen stellt selbst eine Ideologie dar, die davon ausgeht, dass es so etwas wie eine allgemeine, über den Klassen stehende Gerechtigkeit im Kapitalismus gebe. Daher unterziehen sie Marxist:innen auch einer scharfen Kritik.

Zugleich stellen diese Parolen Mittel zur Mobilisierung in wirklichen Kämpfen dar. Der Ruf nach gerechter Verteilung entspricht dabei der Forderung, den gesellschaftlichen Reichtum zugunsten der Lohnabhängigen oder anderer unterdrückter Schichten umzuverteilen. Die politisch bewussteren Arbeiter:innen wissen aus Erfahrung, dass das nur durch Kampf zu erreichen ist, da sich hier die Ansprüche von Kapital und Arbeit gegenüberstehen. Dieser Gegensatz reflektiert, wie Marx bei der Analyse des Arbeitstages im „Kapital“ zeigt, die entgegengesetzten Interessen unterschiedlicher Warenbesitzer:innen, ja unterschiedlicher Klassen – von Kapitalist:innen und Arbeiter:innen.

Normalerweise – in „normalen Zeiten“ – gehen die um ihren Anteil am Reichtum Ringenden von einem stabilen System aus, innerhalb dessen sie Konflikte um Umverteilung und Gerechtigkeit austragen. Genau diese „Stabilität“ ist jedoch in historischen Krisen wie der aktuellen in Frage gestellt. Deren tiefere Ursache liegen in der strukturellen Überakkumulation von Kapital und fallenden Profitraten. Diese Ursachen, die innerhalb des Systems nur durch die Vernichtung von überschüssigem Kapital, Arbeitsplätzen und Erhöhung der Ausbeutungsrate „gelöst“ werden können, erfordern auch einen Kampf zwischen großen Konzernen und den führenden imperialistischen Staaten, wessen Kapital zerstört, wie der Weltmarkt und die halbkoloniale Welt sowie die Lasten der ökologischen Krise neu aufgeteilt werden.

Eigentlich erfordert eine solche Systemkrise eine systemsprengende, antikapitalistische, revolutionäre Antwort, legt sie gewissermaßen nahe. Doch damit das Bewusstsein dafür in der Arbeiter:innenklasse Fuß fassen kann, müssen auch die Grenzen des aktuellen, am Rahmen des Lohnarbeitsverhältnisses verhafteten Bewusstseins gesprengt werden.

Für den Kampf um „gerechten“ Lohn, um einen „fairen“ Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, um „gerechte“ Verteilung insgesamt stellt das kapitalistische System – und in der Regel sogar nur die jeweilige Nationalökonomie – eigentlich den Referenzpunkt dar. Solange das Gesamtsystem einigermaßen funktioniert und expandiert, vergrößert sich schließlich auch der Verteilungs-, um nicht zu sagen: der Gerechtigkeitsspielraum. In einer allgemeinen Krise bricht dieser „verlässliche“ Rahmen aber tendenziell weg.

Verharren die kämpfenden Klassen in ihm, so ist es nur logisch, dass der Kampf um die Verteilung des Reichtums zugunsten der Sicherung des Gesamtsystems Kapitalismus, genauer der jeweiligen Nationalökonomie und des Nationalstaats, relativiert werden muss.

Rolle der Apparate

Genau auf dieser Vorstellung fußt die Politik der Gewerkschaftsbürokratie wie sämtlicher reformistischer Arbeiter:innenparteien – ob nun der SPD oder der Linkspartei.

Es geht um einen „gerechten Anteil“ am kleiner werdenden Kuchen; die Bäckerei soll aber unbedingt erhalten bleiben.

Diese Ideologie entspricht der Rolle der Gewerkschaftsführungen und der reformistischen Apparate, auch wenn sie selbst ihre Vorstellungen von gerechtem Ausgleich der Lasten teilweise nur mit Kampfdrohungen durchsetzen können. Aber sie entspricht leider auch dem spontanen Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse selbst. Anders als ihre Führungen, die schließlich nicht zu den Tarifen bezahlt werden, die sie für ihre Mitglieder aushandeln, müssen die Arbeiter:innen jedoch damit auskommen.

Das bildet die Basis für das Aufbrechen des Widerspruchs zwischen bürokratischem Apparat sowie reformistischer Führung einerseits und deren proletarischer Basis andererseits – aber es ist unbedingt auch notwendig, dieser Basis und das heißt zuerst den politisch fortgeschritteneren Arbeiter:innen zu erklären, warum ein bloß besonders radikal geführter Umverteilungskampf in einer allgemeinen Krise letztlich nicht ausreicht. Nicht weil ein solcher Kampf im Einzelnen nicht gewonnen werden könnte, sondern weil er letztlich die inneren Widersprüche befeuert und damit die Systemfrage weiter zuspitzt.

Ein radikaler Verteilungskampf – z. B. ein politischer Massenstreik für die Anpassung der Löhne, Renten und anderer Sozialleistungen an die Inflation – würde den Klassenkampf massiv verschärfen und auch die Gegenseite, also die herrschende Klasse und die Rechte radikalisieren. Er markierte nur eine Etappe hin zu weiteren Konflikten.

Dies spüren im Grunde auch die meisten Lohnabhängigen heute – und genau deshalb stehen sie radikalen Lösungsansätzen, die den Klassenkampf zuspitzen, ambivalent gegenüber. Einerseits empfinden auch sie, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, andererseits fürchten sie noch mehr Unsicherheit und Instabilität. Die Masse der Lohnabhängigen will nicht in Konflikte um ihre Existenz gezogen werden, deren Grund wie Ziele sie im Unterschied zu einem reinen Verteilungskampf nicht nur oder nur sehr unvollständig versteht.

Was tun?

Schon gar nicht wollen Arbeiter:innen in perspektivlose Kleinaktionen hineingezogen werden. Dahinter steht ein gesunder Realismus, nämlich die Erkenntnis, dass nur große Aktionen und klare Forderungen an der aktuellen Lage etwas ändern und ihre unmittelbaren Anliegen voranbringen können.

Daher erweisen sich lokale Kleinst- oder sog. linksradikale Bündnisse in der aktuellen Situation als nutzlos. Natürlich spricht nichts gegen Aktionen von anfänglich kleinen Gruppen – aber sie sind politisch nur zweckmäßig, wenn sie dazu dienen, größere Organisationen wie Gewerkschaften, Migrant:innenorganisationen, Mieter:inneninitiativen oder reformistische Parteien zur Aktion zu zwingen. Tun sie das nicht, stellen sie nicht mehr als linksradikale Gymnastik dar.

Es ist unbedingt erforderlich, dass die Linke ihr Gesicht den Gewerkschaften und Betrieben zuwendet, versucht, in Tarifrunden einzugreifen und diese voranzutreiben. Das hat mehrere Gründe. Erstens können die Angriffe auf Einkommen, Löhne, Renten, Sozialleistungen nicht einfach wegdemonstriert werden. Es braucht die Kampfkraft, die nur die Arbeiter:innenklasse entfalten kann – den politischen Streik. Zweitens werden gerade die skeptischen, ambivalenten  breiten Schichten der Lohnabhängigen viel eher selbst zu Aktion und Aktivität bewegt werden können, wenn große Mobilisierungen – und sei es in den Tarifrunden – nicht nur die Richtigkeit eines Anliegens demonstrieren, sondern auch mächtig genug ausfallen, damit sie Erfolg haben können. Erfolgreiche Massenaktionen bieten auch am ehesten die Chance, die oben beschriebene innere Ambivalenz in der Klasse zu überwinden.

„Genug ist genug“ (GiG)

Die Orientierung auf gewerkschaftliche Kämpfe stellt sicher den größten Vorzug der bundesweiten Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) dar, die sich am britischen „Enough is enough“ orientiert.

Ins Leben gerufen wurde es von der Redaktion von Jacobin/Deutschland im Verbund mit Teilen der Gewerkschaftsbürokratie, genauer des ver.di-Apparates. Außerdem wird es von Teilen der Linkspartei (Bewegungslinke, marx21) und der Grünen Jugend getragen.

Ähnlich wie bei „Enough is enough“ gibt es auch bei GiG keine formalen, also formal-demokratischen Bündnisstrukturen. Die Koordinierung wird von oben kontrolliert. Finanziert (und letztlich kontrolliert) wird es von ver.di.

Dabei kombiniert GiG auch pseudodemokratische Elemente (offene „Teams“ und lokale Gruppen) mit einer sehr zentralisierten eigentlichen Führung, die die Rallys organisiert, die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit leitet und letztlich auch bestimmt, was wo getan wird. Dies eröffnet wohl einen gewissen lokalen Spielraum für einzelne Gruppen.

So positiv aber die Orientierung auf und Verbindung zu Gewerkschaften wie auch die Einschätzung ist, dass deren Kämpfe (Tarifrunden, Warn-, Flächenstreiks) von enormer Bedeutung für den Klassenkampf sind, so negativ ist die politische Unterordnung unter den Apparat (was im Zweifelsfall auch finanziell sichergestellt ist: Ohne ver.di-Gelder und -Räume würde GiG nicht existieren).

GiG bezeichnet sich zwar selbst offiziell nicht als Bündnis, sondern als Plattform – als „Tool“, als „Projekt“, das eine Bewegung mit hervorbringen soll. Im Grunde setzt es darauf, dass im öffentlichen Dienst ein heftiger Kampf entbrennt und GiG dazu mobilisiert. Für den Gewerkschaftsapparat soll es dabei als Hilfstruppe dienen.

GiG hat mittlerweile mehr als 30 lokale Ableger und etliche Themengruppen. Es ist sicherlich das größte und wichtigste, wenn auch das undemokratischste bundesweite Bündnis. Dennoch macht es Sinn, in GiG zu arbeiten, insbesondere um Unterstützer:innenstrukturen für Streiks im öffentlichen Dienst zu organisieren.

Außerdem erhebt GiG oder jedenfalls ein Teil seiner Führung auch die Forderung nach einer bundesweiten Aktionskonferenz (wenn auch einer, die letztlich von den Apparaten kontrolliert werden soll; aber auch das wäre ein Schritt vorwärts). Wir sollten dies unterstützen.

Aber: Letztlich kann aber auch GiG eine bundesweite, demokratische Bündnisstruktur nicht ersetzen, die bei einer Aktionskonferenz entstehen muss, wenn von ihr mehr als nur Reden bleiben soll. Als Forderungen schlagen wir dazu vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!




2022 – ein Jahr des Kriegs um die Ukraine

Martin Suchanek/Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Der Krieg um die Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der sich seit Jahren entwickelnde Antagonismus zwischen den tradierten westlichen imperialistischen Mächten, also allen voran den USA und ihren Verbündeten, sowie China und Russland als globalen Konkurrenten eröffnet ein neues Stadium im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Zurzeit wird dieser vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges ausgefochten. Der reaktionäre Überfall Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der ukrainischen Nation, die Leugnung von deren Existenz sowie die barbarische Kriegsführung stellen ohne jeden Zweifel einen Akt der imperialistischen Aggression dar, der das ukrainische Nationalgefühl gestärkt hat.

Charakter des Krieges

Für sich genommen wäre der Kampf gegen die russische Invasion ein gerechtfertigter nationaler Verteidigungskrieg – und zwar unabhängig vom reaktionären Charakter des Kiewer Regimes. Das politische Regime einer Halbkolonie stellt für Marxist:innen nicht den entscheidenden Faktor für die Bestimmung des Kriegscharakters dar (so war die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen die imperialistische Invasion gerechtfertigt und unterstützenswert trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad oder Kabul).

Umgekehrt stellt es eine Verkürzung dar, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Warum Ukraine?

Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland gerade um die Ukraine zuspitzte, stellt keinen Zufall dar. Vielmehr ist dieser selbst Resultat der Entwicklung seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, dem Versuch der Errichtung einer neuen Weltordnung und dem schärfer werdenden Konflikt mit Russland seit dessen Rekonsolidierung als imperialistischer Macht unter Putin.

Die Zuspitzung rund um die Ukraine seit den 1990er Jahren kann nur in diesem Zusammenhang verstanden werden. Wie der Balkan vor 1914 hat sich dieser Konflikt schon lange als Pulverfass für einen potenziellen imperialistischen Krieg entwickelt. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden Verbindungen ihrer Ökonomie mit Russland hatte sich die Ukraine nach 1991 zunächst in Abhängigkeit vom sich neu etablierenden russischen Imperialismus befunden – was sich auch in einem fragilen System aus west- und ostukrainischen politischen Kräften und Oligarch:innen niederschlug. Dagegen hatte sich insbesondere in der Westukraine eine starke nationalistische (bis rechtsextreme) politische Bewegung herausgebildet, die einer „prowestlichen“ Orientierung im Bruch mit der russischen Dominanz zum Durchbruch verhelfen wollte. Dies führte letztlich zum Bürgerkrieg, als wegen der Frage der EU-Assoziation durch die „Maidan-Bewegung“ das den bisherigen Kompromiss repräsentierende Regime Janukowytsch 2014 gestürzt wurde. Die Annexion der Krim und die Abtrennung der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk waren die Folge. Während die Führung der EU um Deutschland und Frankreich den Konflikt durch einen „Ausgleich“, in den Abkommen von Minsk, zu entschärfen suchte, waren die USA und die nationalistische Führung in Kiew von Anfang an gegen einen solchen neuen Kompromiss mit Moskau oder den Vertreter:innen der russischen Minderheit – und führten den Krieg seitdem unvermindert fort.

Interessen der westlichen Mächte

Warum kam es zu einer solch offensichtlichen Differenz zwischen den USA und Britannien mit dem Rest der EU? Für letztere war eine Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotentials und seiner militärischen Kapazitäten immer schon eine Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber der schwächer werdenden US-Hegemonie zu erlangen. Ihre Politik zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt ähnlich wie denjenigen in Jugoslawien auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einfrieren zu lassen, damit sich die Spannungen zu Russland letztlich in Grenzen hielten.

Für die USA bildete dagegen die Ukraine einen strategischen Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie seit langem als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung ausgemacht hatten. Aufgrund der schlechten Performance der ukrainischen Armee 2014 begannen die USA und Britannien daher seit 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land das seit 2015 praktisch bankrott ist, hochverschuldet und unter Schuldenregime von IWF-Paketen dahinvegetiert, gibt einen Großteil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt dazu noch jährlich Militärhilfe aus dem Westen in Milliardenhöhe (allein von Anfang des Jahres bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Damit konnten nicht nur wichtige Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr etc.) mit entsprechender Ausbildung verbreitet werden, sondern es wurde auch eine Infrastruktur an Unterstützung geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis zur strategisch-taktischen Führung.

Unterschied

Damit wird auch klar, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von solchen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa USA gegen Irak oder UK gegen Argentinien, unterscheidet. Es steht hier nicht deren hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee einem tausendfach militärtechnisch überlegenen Imperialismus gegenüber. Es handelt sich vielmehr um eine vom westlichen Imperialismus systematisch auf diesen Krieg vorbereitete und hochgerüstete, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Kriegsausbruch hat sich ihre Unterstützung nochmals vervielfacht. Dies nicht nur in Bezug auf Waffenlieferungen, sondern auch Aufklärung, Ausbildung, strategische Beratung und Wirtschaftshilfe.

Auch wenn sich die NATO-Staaten nicht offen am Kampf beteiligen, sind sie längst als Kriegspartei auch in die ukrainische Kriegsführung eingebunden. Den einzigen Grund, warum die Ukraine hier „stellvertretend“ handelt, bildet natürlich die Gefahr einer Ausweitung des Krieges zu einer direkten NATO-Russland-Konfrontation, die auch den Einsatz von Nuklearwaffen mit einbeziehen könnte.

Die Art und Weise, in der im herrschenden Demokratiekriegsnarrativ inzwischen die Gefahr einer Ausweitung des Kriegs und der Blockkonfrontation heruntergespielt wird, dient dazu, ein immer offensiveres und direkteres Eingreifen in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Dabei kann auch der Übergang zu einem begrenzten innerimperialistischen Krieg nicht ausgeschlossen werden. Schließlich ist die Logik der Ausweitung der Kriegshandlungen im aktuellen Konflikt direkt angelegt. Auch in diesem Sinn kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

Zusätzlich besitzt die innerimperialistische Zuspitzung der Situation auch einen unmittelbar ökonomischen Aspekt. Die Wirtschaftssanktionen des Westens (Ausschluss aus SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzen der Aktivitäten westlicher Konzerne in Russland, weitreichende Handelseinschränkungen etc.) sind tatsächlich von einem historisch noch nie gesehenen Ausmaß (nicht einmal in den bisherigen Weltkriegen).

Der Grad der westlichen Unterstützung stellt also nicht bloß ein Beiwerk bezüglich des Krieges dar, sondern ein wesentliches, für seinen Charakter entscheidendes Moment. Natürlich finden wir auch bei zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis oft eine Intervention einer konkurrierenden Macht auf Seite der unterdrückten Nation vor. Doch diese trägt dabei meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht ändert.

Doch dies nimmt keinesfalls in jedem Krieg zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie einen untergeordneten Aspekt ein. Im imperialistischen Krieg ist dies am deutlichsten. So bestand z. B. bei den Ländern des Balkans im 1. Weltkrieg kein Zweifel, dass das nationale Moment einen untergeordneten Charakter trug, eine Politik der nationalen Verteidigung Serbiens eindeutig reaktionär gewesen wäre und daher in Serbien und anderen Balkanstaaten eine Politik des revolutionären Defätismus notwendig war.

Im Krieg um die Ukraine haben wir es zwar nicht mit einem offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten zu tun, aber die westlichen Mächten, allen voran die USA, bestimmen wesentlich die Kriegsführung und -ziele der Ukraine mit. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land agieren, zu schließen, dass deren Intervention einen untergeordneten Stellenwert annehme (siehe oben).

Der Kriegsverlauf hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Zugleich müssen wir festhalten, dass revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Staaten und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus!

Russland ist eine imperialistische Macht. Die Politik des revolutionären Defätismus greift hier am deutlichsten von allen kriegführenden Staaten. Niederlage und Rückschläge Russlands können die Revolution stimulieren und die Herrschaft Putins erschüttern. Das entscheidende Ziel ist die Umwandlung des reaktionären Kriegs in einen Klassenkrieg zu seinem Sturz und zur Errichtung einer Arbeiter:innenregierung. Unmittelbar geht es in Russland darum:

  • Entlarven des imperialistischen Charakters des Kriegs und der Kriegsziele Russlands.

  • Rückzug der russischen Armee.

  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.

  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).

  • Kampf für demokratische Rechte, gegen die Abwälzung der Kosten auf die Massen (Kontrolle über Verteilung der Güter, Enteignung von Betrieben).

  • Aufbau einer Bewegung, die sich auf Aktionsausschüsse in Betrieben und auf Wohnviertel des Proletariats stützt.

Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind essentiell, um die Revolution vorzubereiten.

Die Entscheidung Putins, mit Pseudoreferenden die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson zu annektierten, stellt zusammen mit der Teilmobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland einen reaktionären Verzweiflungsakt dar, der zugleich aber auch seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter verheizt werden sollen, und der prekären ökonomischen Lage wird sich die Lage in Russland massiv zuspitzen. Aber das hängt wesentlich auch davon ab, wie sehr und stark die nationalistische Propaganda wirkt bzw. diese aufgrund von politischen, militärischen und ökonomischen Erschütterungen in Frage gestellt wird.

Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist dabei essentiell, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Land voranzubringen.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

Hier ist die Lage wohl am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, wie für die Taktik, weil einerseits der innerimperialistische Konflikt auch eine prägende Rolle spielt, andererseits auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung existiert. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

Es geht v. a. darum, die Kriegsziele Russlands – Verhinderung der militärischen, weniger der ökonomischen Integration der Ukraine in den Westen (NATO, Neutralität, Sicherheitsgarantien) sowie Eroberung von Donezk, Luhansk und der Südukraine (und sei es als Faustpfand für mögliche zukünftige Verhandlungen) – zu begreifen. Dem stehen die v. a. der USA und damit der NATO sowie der ukrainischen herrschenden Klasse und Regierung entgegen.

Diese wollen eine volle Westintegration (NATO, EU, … ) und das Zurückdrängen Russlands aus der gesamten Ukraine einschließlich der sog. Volksrepubliken und der Krim auch auf Kosten eines langwierigen Krieges. Eigentlich besteht in der Westbindung der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im wesentlichen deckungsgleich mit jenen des Westens und v. a. der USA sind – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zum vollen imperialistischen Krieg billigend in Kauf nimmt, ja geradezu fordert.

In der Ukraine schließt das jedoch den Kampf gegen die Okkupation keineswegs aus. Es wäre selbstmörderisch zu erklären, dass die Frage, ob russische Panzer und Flugzeuge ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hätte. Aber zugleich darf und kann es kein Zurückstellen des Klassenkampfes gegen die reaktionäre Regierung geben. Zentrale Elemente revolutionärer Politik müssen Folgendes umfassen:

  • Agitation, revolutionäre Propaganda, die den Charakter des Krieges enthüllen, nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.

  • – Forderung nach wirksamem Schutz, Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.

  • Kampf um Kontrolle von Waffen und knappen Versorgungsgütern in Betrieben, Städten, Dörfern, wenn möglich auch Aufstellung von Milizen.

  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation in und gegenüber der russischen Armee; Kampf gegen die Festigung der Okkupation.

  • Kampf gegen die Einschränkung demokratischer Rechte und Angriffe auf das Arbeitsrecht durch das Kiewer Regime.

Außerdem müssten wir in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“ (inkl. ihres Rechts auf Anschluss an Russland oder Eigenstaatlichkeit).

Keinen Fußbreit der NATO!

In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen kommt es darauf an zu verhindern, dass sie bzw. die NATO weiter in den Krieg „schlittern“, aus der weiteren Zuspitzung des Konflikts ein offener imperialistischer oder ein neuer Kalter Krieg resultieren und ein globales Sanktionsregime durchgesetzt wird.

D. h., nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. zu stellen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht „Demokratie“ und Menschenrechte verteidigen, sondern eigene imperialistische Interessen verfolgen.

Dies ist essentiell, weil sich nur so die Ablehnung von Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Verlagerungen an die Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen durch die Regierung oder „begrenzten“ Flugverbotszonen schlüssig begründen lässt. Der Verweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, trägt einen schalen Beigeschmack, wenn die Kriegsziele der NATO-Staaten – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Es müssen daher auch Kriegsziele und Klassencharakter der imperialistischen Politik entlarvt werden.

Zentrale Losungen in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen, Waffenlieferungen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt daraus!

  • Keinen Cent für die imperialistische Politik! Abwälzung der Kosten, Preissteigerungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Erwerbslose, Rentner:innen, Niedriglöhner:innen, Übernahme gestiegener Wohnungskosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle an dem Ort, wo sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

  • Bei direkter Intervention (z. B. Errichtung von Flugverbotszonen, Entwicklung neuer Brandherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!

  • Ablehnung jeder Burgfriedenspolitik!

Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Staaten entscheidend. Zugleich müssen so die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklung

Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik der kommenden Monate, wenn nicht Jahre. Es ist durchaus möglich, dass es in den nächsten Monaten und vor allem in Winter 2022/23 zu einer Befestigung aktueller Stellungen kommt. Andererseits wird Russland auf keinen Fall eine Rückgabe der besetzten Gebiete ohne substantielle Zugeständnisse der NATO akzeptieren. Diese sind im Gegenzug äußerst unwahrscheinlich.

Die Tatsache, dass die internationale ökonomische Isolierung Russlands durch NATO und G7 auf massive Schwierigkeiten trifft und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos voll mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien sehr viel schwächer, wenn überhaupt vorhanden. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens greift dort weitaus weniger. Zweitens drücken sich darin aber auch die Erschütterung der US-Hegemonie und eine Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses aus. Daher können die Sanktionen gegen Russland gerade für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang geraten.

Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskriegs gegen Russland ist jedoch trotz dieser offenkundigen Schwierigkeiten ein Einlenken beider Seiten alles andere als sicher.

Zum anderen machen der Krieg, die Sanktionen und Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes in den kommenden Monaten eine tiefe ökonomische Krise, die sich in Form in Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in Form von drohenden Hungerkatastrophen manifestieren wird, sehr wahrscheinlich. Der Krieg und Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen – und die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale auf die Tagesordnung setzen.




Vor 100 Jahren: Gründung der Sowjetunion

Bruno Tesch, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Am 30. Dezember jährt sich der 100. Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz Sowjetunion genannt. Russland, Ukraine, Weißrussland und Transkaukasien (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) schlossen sich zu einem föderativen Staatenbund zusammen.

Gründungsvorbedingungen

Nach einem 4-jährigen Bürger:innenkrieg war die Konterrevolution im Lande trotz Unterstützung durch imperialistische Mächte militärisch besiegt. Die verheerenden Folgen dieses Krieges stellten die neu entstandenen Sowjetrepubliken aber vor gewaltige Aufgaben. Neben der gesamtgesellschaftlichen Aufbauarbeit musste auch die Isolierung seitens des Imperialismus durchbrochen werden.

3 Jahre zuvor war die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen worden. Sie steckte sich die Internationalisierung des Klassenkampfes und der Ausweitung der sozialistischen Revolution zum Ziel. Tragischerweise band jedoch der Überlebenskampf der Revolution in Russland viele revolutionäre Kräfte und kostete etlichen erfahrenen Kadern das Leben.

Eine durch Bürger:innenkrieg und bereits einsetzende Bürokratisierung geschwächte Kommunistischen Partei hatte zwar gesiegt, stand aber zugleich unter dem Druck klassenfremder Elemente im eigenen Land und der Weltbourgeoisie. Der durch Krieg, Isolierung und Rückständigkeit bedingte taktische Rückzug auf die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) verstärkte diesen Widerspruch objektiv.

Zugleich sollte sich aber auch die politische Schlussfolgerung, die die Kommunistische Partei unter Führung Lenins zog, um diese Situation zu bewältigen, selbst als Teil des Problems erweisen. Die Einschränkung der Parteidemokratie und das Fraktionsverbot (1921) stärkten die beginnende Bürokratisierung, die sich im Staat schon vollzog, bildeten einen Nährboden für die kommende bürokratische Konterrevolution unter Stalin.

Verfassung 1924

Auch wenn niemand während der Diskussion um die Gründung der Sowjetunion und deren Verfassung die spätere Entwicklung vorhersehen konnte, zeigten sich schon damals Auseinandersetzungen um diese Frage.

Mit der Russischen Revolution hatten sich zunächst nicht nur in Russland, sondern auch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine und Weißrussland Republiken mit eigenen politischen Machtorganen gebildet. Sie verfügten jedoch über eine gemeinsame Armee und einen ebensolchen Etat.

Im August 1922 wurde auf Initiative des Politbüros des Zentralkomitees der Russischen KP eine Kommission gegründet, die damit beauftragt wurde, den Entwurf für einen Vertrag zwischen den Sowjetrepubliken vorzubereiten.

Die Resolution über den Beitritt der Sowjetrepubliken zur Russischen Föderativen Republik, die von Stalin vorbereitet und von der Kommission verabschiedet worden war, stellte Lenin nicht zufrieden. Er erblickte darin ein Zeichen für den stärker werdenden großrussischen Chauvinismus in der Partei und im Land, wie er schon bei Ordschonikidses Vorgehen in Georgien deutlich wurde. Lenin charakterisiert dessen Vorgehen in „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“ (Lenin, Werke, Band 36, S. 590 – 596) als „russisch-nationalistische Kampagne“, für die er Stalin und Dzierzynski politisch verantwortlich machte.

Daher auch Lenins massives Drängen darauf, dass der zukünftige Sowjetstaat kein um andere Republiken erweitertes Russland sein solle oder dürfe. Stattdessen schlug er vor, einen multinationalen Bundesstaat auf der Grundlage des Gleichberechtigungsprinzips seiner einzelnen Bestandteile zu gründen. Das Plenum des Zentralkomitees unterstützte diese Idee.

Die Vertreter:innen der anderen Sowjetrepubliken stimmten dem Vorschlag zu und nach Diskussion auf dem 2. Sowjetkongress 1923 und seiner Bestätigung trat die gemeinsame Verfassung 1924 in Kraft. Sie enthielt 11 Abschnitte und regelte sowohl die einzelnen konstitutiven und gemeinsamen Organe wie auch das Verhältnis der Föderativrepubliken zueinander und zur Union.

Der Unionsvertrag schrieb eine „symmetrische“ Struktur der Föderation fest: Jedes Föderationsmitglied verfügte – zumindest de jure – über die gleichen Rechte. Im Grunde genommen wurde ein Bundesstaat neuen Typs geschaffen, für den es keine historischen Vorbilder gab: Jede Republik erhielt das Austrittsrecht aus der Union.

Die Verfassung enthält zwar sehr detaillierte Anweisungen über Gliederungen und Zuständigkeiten der einzelnen Organe der Sowjetunion – angefangen von der Zusammensetzung des Zentralexekutivkomitees der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aus Unions- und Nationalitätensowjet, bis auf die Ebene der Stadtsowjets, (1 Deputierte/r auf 25.000 Wähler:innen) und Gouvernementssowjetdeputierte (1 Vertreter:in auf 125.000 Einwohner:innen) –, lässt jedoch wichtige Mechanismen der Arbeiter:innendemokratie zur Kontrolle der bestimmte Funktionen ausübenden Gremien vermissen. Die unmittelbare Wahl von Vertreter:innen und deren Rechenschaftspflicht sowie die jederzeitige Abberufbarkeit aus den Ämtern bleiben unerwähnt.

Nationalitäten und Territorialfrage

Lenin betonte stets das Problem der Nationalitäten als Hinterlassenschaft der bürgerlichen Ordnung, die bei unterdrückten Nationalitäten Ambitionen auf die Bildung eines bürgerlichen Nationalstaates wecken konnte. Er drückte klar aus, dass dies einen Gefahrenherd auch für eine Sowjetrepublik darstellen könne und schlug deshalb als Lösung nicht nur die Gleichstellung innerhalb der Sowjetunion, sondern auch die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts bis hin zur Lostrennung aus dem Verband der Sowjetrepubliken vor, selbst um den Preis seiner territorialen Verkleinerung.

Diesen grundlegenden Gedanken entwickelte er in zahlreichen Schriften vor allem während des Ersten Weltkriegs. In der Diskussion um die Verfassung der Sowjetunion kommt Lenin darauf zurück. In der um die Gründung der UdSSR begreift er die Nationalitätenfrage als eine Schlüsselfrage für deren Ausgestaltung.

Die Erfahrungen in Georgien führten ihn zur Überzeugung, dass das bloße Recht auf freiwilligen Ein- bzw. Austritt aus dem Sowjetverband nicht reicht. Wenn der gesamte, vom Zarismus übernommene Staatsapparat im wesentlichen großrussisch geprägt ist, wenn alle wesentlichen Machtpositionen von diesem zentralisiert werden, droht das Recht auf Austritt aus der Union ein „wertloser Fetzen Papier“ zu werden, „der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten … “ (LW 36, S. 591)

Lenin bezieht sich hier auf den Staatsapparat Sowjetrusslands. Um zu verhindern, dass das Selbstbestimmungsrecht faktisch nur auf dem Papier besteht, schlägt er weitere Maßnahmen vor, darunter strenge Vorschriften zum Schutz des Rechts auf Gebrauch der nationalen Sprache in den nichtrussischen Republiken.

Vor allem aber geht er auf die Frage der Staatsapparatstrukturen der jeweiligen Republiken ein. Lenin wendet sich dabei gegen die Forderung, den Staatsapparat der gesamten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu zentralisieren. Er erkennt zwar an, dass die Nichtvereinigung des Apparates der russischen Republik mit dem anderer Republiken auch Nachteile, Reibungsverluste und Ineffizienz mit sich bringen kann. Aber „der Schaden, der unserem Staat daraus entstehen kann, daß die nationalen Apparate mit dem russischen Apparat nicht vereinigt sind, ist unermeßlich geringer, unendlich geringer als jener Schaden, der nicht nur uns erwächst, sondern auch der ganzen Internationale, den Hunderte Millionen zählenden Völkern Asiens, dem in der nächsten Zukunft bevorsteht, nach uns ins Rampenlicht der Geschichte zu treten. Es wäre unverzeihlicher Opportunismus, wenn wir am Vorabend dieses Auftretens des Ostens, zu Beginn seines Erwachens, die Autorität, die wir dort haben, auch nur durch die kleinste Grobheit und Ungerechtigkeit gegenüber unseren eigenen nichtrussischen Völkern untergraben würden.“ (LW 36, S. 596)

Während sich Lenin in der Formulierung der Verfassung der Sowjetunion durchsetzen konnte, vermochten er und auch später die Linke Opposition nicht, die Bürokratisierung des Staates, schließlich die politische Machtergreifung einer bürokratischen Kaste zu verhindern.

Staatscharakter

Revolutionäres Ziel konnte natürlich nie die Errichtung eines voluminösen Staatsgebildes sein, sondern Voraussetzungen für das Absterben jeglichen Staatswesens, das immer eine Form des Gewaltapparats beinhaltet, zu schaffen.

Bereits Erfahrungen der Pariser  Kommune führten Marx dazu, die Zerschlagung, nicht Umwandlung und Übernahme der bürgerlichen Staatsmaschine, als Voraussetzung für eine sieg- und dauerhafte sozialistische Revolution zu postulieren, d. h. Enteignung der ausbeutenden Klassen und Beseitigung des sich über die Gesellschaft erhebenden bürokratischen Apparats, v. a. seiner unmittelbaren Gewaltorgane Polizei, stehendes Heer. Die Arbeiter:innenklasse braucht einen Staat, der von vorn herein die Möglichkeit zu seinem Absterben eröffnet, einen „Halbstaat“.

Dies kann nur erreicht werden durch proletarische Formen, die Verwaltungs- und Vollzugsaufgaben und deren Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung übernehmen. Ein solcher Halbstaat war Sowjetrussland jedoch allenfalls in Ansätzen.

Bei Schaffung der Roten Armee verschmolzen reguläre Streitkräfte mit dem Milizsystem. Sie war ein der Existenzbedrohung der Revolution durch den Bürger:innenkrieg geschuldeter Kompromiss. Die Erbschaft des Zarismus, deren Armeebestände und Personal, musste in Ermangelung landesweit aufgebauter proletarischer Miltärstrukturen zunächst übernommen, aber deren Befehlshaberränge sollten durch Parteikommissar:innen einer Arbeiter:innenkontrolle unterzogen werden. Diese Armee sollte, v. a. auf Vorschlag Trotzkis, am Ende des Bürgerkriegs in ein allgemeines Milizsystem überführt werden. Aber dazu kam es nicht. Vielmehr folgert er: „Die Bürokratie (…) brauchte eine Kasernenarmee, losgelöst vom Volk.“ ( RM 24, S. 28, L. T., zit. nach WP/IWG Degenerated Revolution, S. 51)

Stalinistische Konterrevolution

War 1924 noch das klassische Modell einer Räterepublik  von 1917/18 Leitmotiv für die erste Sowjetverfassung, glichen sich spätere Umarbeitungen – als erste 1936 festgeschrieben unter dem Beinamen „Stalinverfassung“ –  immer mehr dem bürgerlichen Parlamentarismus an.

Der Stalinismus hatte, beginnend bereits Mitte der 1920er Jahre, auf Basis der Zementierung einer Bürokratie jegliche Selbsttätigkeit der Klasse, jegliche innerparteiliche Demokratie erstickt. Zentralisierung der Gewalt, die Amalgamierung von Staat und Partei zu einer bürokratischen Kaste, Filterung  durch Stellvertreterprinzipien, Kontrolle von oben nach unten, Abschaffung von Räte- und Milizsystem und Liquidierung politischer Gegner:innen, v. a. bolschewistischer Revolutionär:innen, bildeten die Eckpfeiler dieser Entwicklung.

Flankiert wurde dies durch Zickzackbewegungen der politischen Linie, die über eine brachiale Industrialisierung, die buchstäblich über Millionen Leichen v. a. im ländlichen Raum ging, zur mit der Bourgeoisie paktierenden und Arbeiter:innenkämpfen in den Rücken fallenden Volksfrontpolitik auf Weltebene schwenkte. Alles wurde den Interessen der herrschenden Bürokratie in der UdSSR untergeordnet. Der Gedanke an Weltrevolution geriet in Verbannung. Die Kommunistische Internationale, die bis dato ohnehin nur noch als Akklamationsorgan für die Richtlinien der Moskauer Bürokratie gedient hatte, fand 1943 ihr unrühmliches offizielles Ende als Verbeugung vor den westlichen imperialistischen Mächten.

Niedergang und Ende

Trotz Bürokratie überstand die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg. Doch nach Jahrzehnten wirtschaftlichen Aufschwungs zerplatzten mit Einbrüchen in der Weltkonjunktur ab den 1970er Jahren, durch eine bürokratisch geplante Wirtschaft und das Zurückbleiben im Rüstungswettlauf mit dem Imperialismus ab den 1980er Jahren verstärkt, nicht nur die Seifenblasen von einem „Einholen des Westens“, sondern es wankten und fielen die gesellschaftlichen Grundfesten in der UdSSR und ihren Vasallenstaaten, so dass ihr Schicksal ab 1990 besiegelt war.

Die Sowjetunion als Leuchtfeuer der Revolution und somit Hoffnungsträgerin für Millionen Arbeiter:innen hat in ihrer stalinistischen Degeneration zugleich ein Zerrbild von sozialistischen Prinzipien und Entwicklungsfähigkeit geliefert, in den Köpfen der Arbeiter:innenbewegung weltweit Verwirrung hinterlassen.

Ihr Ende und die Restauration des Kapitalismus bedeuten gleichzeitig eine historische Niederlage des Proletariats, aber auch die Chance zur schonungslosen Aufarbeitung der Geschichte und zum Neuanfang für die Reorganisation einer internationalen Arbeiter:innenbewegung, angeführt von einer revolutionären Internationale – dringend notwendiger denn je.




Bürgergeld als Bürgerschreck?

Jürgen Roth, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Als bedeutendste Sozialreform der letzten 20 Jahre war es angekündigt worden, das „neue“ Bürgergeld. Wir hatten bereits in Neue Internationale 268 erläutert, warum dieses hochtrabend formulierte Etikett auf einer Mogelpackung, die Hartz IV fast aufs Haar gleicht, nichts zu suchen hat.

Das parlamentarische Gerangel um das Reförmchen, das diese Bezeichnung kaum verdient, hat in einem Kompromiss gemündet, der fernab von einem Abschied von Hartz IV selbst die wenigen Brosamen an Verbesserungen, die das neue Gesetz mit sich bringt, fast vollständig getilgt hat.

Die Debatten in Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss werfen aber auch in ihrer unangemessenen Hitze ein Schlaglicht auf die Argumente von Gegner:innen wie Anhänger:innen des Entwurfs der Ampelkoalition.

Minimal ist schon zu viel

Dieser Untertitel beschreibt recht gut die Haltung von CDU/CSU und AfD. Ihre Redner in der 1. Bundestagsdebatte am 10. November überboten sich mit Vokabeln. „Anstrengung, Leistungs- und Risikobereitschaft“ würden durch eine vermeintlich vom Bürgergeld geförderte „Arbeitsverweigerung“ unterhöhlt. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter (ein passender Nachname) verstieg sich sogar dazu zu behaupten, „man müsse unsere Arbeitslosen vor dieser Regierung schützen“. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei, richtete das rhetorische Feuer auch gegen die Ampelkoalitionär:innen: „Sie haben mit ihrer Bräsigkeit erst Friedrich Merz ermöglicht“. Er verwies auch auf den Zusammenhang des ALG II mit dem Niedriglohnsektor: „Wir haben ein millionenfaches Lohnproblem.“

Tags zuvor war seine Stellvertreterin Susanne Ferschl konkreter geworden. Es handele sich beim Gesetzentwurf nicht um eine Abkehr von Hartz IV oder gar der „Arbeitsgesellschaft“. Gut sei, dass Ausbildung und Qualifizierung Vorrang vor prekären Bullshit-Jobs bekämen. Der Koalitionsentwurf sieht vor, bei Absolvieren einer Weiterbildung 150 Euro auf die Grundsicherung draufzulegen, bei unterstützenden Maßnahmen, die zur langfristigen Rückkehr in den Job führen, 75 Euro. Die Freibeträge bei Zuverdienst sollen steigen. Ein Berufsabschluss soll in 2 statt 3 Jahren nachgeholt werden können.

Schließlich sei jede/r 4. Empfänger:in von Grundsicherungsleistungen erwerbstätig (Aufstocker:innen). Notwendig seien eine „armutsfeste“ Grundsicherung im Fall der Bedürftigkeit sowie gute, tarifgebundene Arbeit in der Fläche. Lassen wir mal beiseite, dass die von ihr geforderten 200 Euro Erhöhung nur „armutsfest“ in dem Sinne sind, dass sie nicht davor schonen, sondern Armut festschreiben, und tarifgebundene Beschäftigung angesichts der Zaghaftigkeit und Zahnlosigkeit „unserer“ Gewerkschaften noch lange nicht mit guter Entlohnung identisch ist, so hat sich Ferschl von allen Redner:innen am deutlichsten links positioniert.

Holpriger Weg zum Kompromiss

Union und AfD stimmten im Bundestag gegen den Gesetzentwurf, DIE LINKE enthielt sich. Damit nahm die 1. Parlamentskammer die Regierungsvorlage mit den Stimmen der Koalition an. Sie sah eine Erhöhung des Regelsatzes von 449  auf 502 Euro vor, ferner Lockerungen bei Sanktionen in Gestalt von Leistungsentzug, stärkere Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen, verbesserte Vorgaben zur Höhe des Schonvermögens, das nicht auf die Bezüge angerechnet wird, und Wohnungsgröße.

Viele Sozialverbände und auch Gewerkschaften, die zuvor noch den Ampelentwurf kritisiert hatten, begrüßten jetzt das Abstimmungsergebnis. Dieser „Sinneswandel“ erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Union angekündigt hatte, im am 14. November tagenden Bundesrat, der 2. Parlamentskammer, das Gesetz scheitern zu lassen. Getreu der sozialdemokratischen Politik des „kleineren Übels“ reagierten also unter diesem Druck die SPD-Parteigänger:innen in ihren Vorfeldorganisationen. Nur neigt diese Logik die Wippe des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Lohnabhängigen, führt auf dieser schiefen Ebene schnell zum nächstgrößeren Übel.

Im Bundesrat fiel das Gesetz denn auch prompt durch. Dabei agierten auch einige SPD-geführte Landesregierungen (Brandenburg) im Sinne des nächstgrößeren Übels und enthielten sich der Zustimmung zum Gesetzesantrag der von der eigenen Partei im Bund geführten Koalition.

Folglich ging die Vorlage in den Vermittlungsausschuss am 23. November. Tags zuvor hatten sich rot-grün-gelbe Koalition und oppositionelle Union auf einen Kompromiss geeinigt. Er beinhaltete den Verzicht auf die geplante sechsmonatige Vertrauenszeit. In den ersten 6 Monaten des Bürgergeldbezugs können nun Jobcenter Leistungen bei Nichtkooperation kürzen. Die geringfügigen Sanktionslockerungen, die die Bundesregierung vorsah, umfassten aber sowieso erstens nur das, was das Bundesverfassungsgericht bereits 2019 moniert hatte, und zweitens blieben damit die häufigsten Verstöße gegen die Zusammenarbeitsvorschriften mit der Agentur für Arbeit, solche gegen Meldepflichten (80 %), von Sanktionsbefreiung ausgenommen. Im Vergleich zur aktuellen Situation läuft der Deal sogar auf eine Verschlechterung hinaus, denn als Übergang zur Einführung des Bürgergeldes gilt gerade ein Sanktionsmoratorium.

Außerdem sah der vor der Tagung des Vermittlungsausschusses ausgekungelte Kompromiss eine Senkung der Schonvermögenshöhe vor. Für den Haushaltsvorstand gelten jetzt 40.000 statt 60.000 Euro, für jede weitere Person 15.000 statt 30.000. Lediglich eine private Altersvorsorgeversicherung wird von der Anrechnung auf die Sozialleistung ausgenommen und geschützt. Die Karenzzeit, bis es anrechnungsfrei bleibt, sinkt von zwei Jahren auf eines. Ebenfalls nach einem Jahr statt zweien greift jetzt der Zwangsumzug in eine kleinere Wohnung.

Die Erhöhung des Regelsatzes war auch bei der Union nicht umstritten, wohl weil es sich gar nicht um eine Erhöhung, sondern verspätete und unzureichende Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten handelt.

Vermittlungsausschuss gibt grünes Licht

Nicht überraschend wurde oben geschilderter Deal denn auch in der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 23. November abgesegnet. Bundesarbeits- und -sozialminister Heil (SPD) dankte CDU und CSU für ihre Zustimmung. Mit der Einigung sei eine gesellschaftliche Polarisierung entgiftet. Die SPD lobte das Bürgergeld als einen „Systemwechsel“, die Union dafür, gerade diesen verhindert zu haben. So viel zur Einigkeit.

Doch wie war es um die Standhaftigkeit der 2. deutschen Sozialdemokratie alias DIE LINKE bestellt? Gesine Lötzsch gestand freimütig, im Vermittlungsausschuss für ihre Fraktion gegen den Kompromiss gestimmt zu haben. Im Bundestag hatte die Fraktion sich beim Regierungsentwurf enthalten. Besser wäre auch hier ein Nein gewesen auch auf die Gefahr hin, mit AfD und Christenfraktionsgemeinschaft in einen Topf geworfen zu werden.

Parlamentarischer Schlussakkord

Doch nun musste dieser Mehrheitsbeschluss des Vermittlungsausschusses noch durch beide Kammern abgesegnet werden. Der Bundestag stimmte mit 557 Stimmen dafür (98 dagegen, 2 Enthaltungen). AfD und DIE LINKE votierten geschlossen dagegen. Und im Bundesrat? Thüringen stimmte für den Kompromiss. Jedenfalls treten somit die erhöhten Regelsätze ab Beginn nächsten Jahres in Kraft. Die weiteren Neuerungen greifen ab Juli 2023.

Oberjanuskopf Katja Kipping, Berlins Nochsozialsenatorin, argumentierte so für die Richtigkeit diese unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens: „Zu den von der Union erzwungenen sozialen Verschlechterungen haben wir als Linke ganz klar Nein gesagt, im Bundestag“, um gleich nachzuschieben, bei der Abstimmung im Bundesrat gehe es dagegen um die Regelsatzerhöhung und einige Verbesserungen. Wüsste man es nicht besser und glaubte Gen. Kipping, könnte man meinen, es handele sich um 2 entgegengesetzte Abstimmungsthemen.

Die organisierte Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, sich nicht auf die parlamentarischen Winkelzüge beider bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verlassen, sondern ihrer Kraft in Betrieben und auf der Straße zu vertrauen. In diesem Zuge ist es gut, DIE LINKE daran zu erinnern, wie eilig sie 2004 auf den Zug der Proteste und Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 aufgesprungen ist. Heute verleiht sie Hartz IV Flankendeckung von links, mit welchen rhetorischen Kniffen auch immer sie dies zu tarnen versucht.




Solidarität mit den Klimaktivist:innen!

Redaktion, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wurde gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert, obwohl nachweislich klar ist, dass dieser mit der Autobahnblockade nichts zu tun hatte. Während radikale Aktionen des zivilen Ungehorsams als Vorboten einer Klima-RAF diffamiert werden, wird dreist verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Rechte und Konservative – allen voran AfD und CSU – rufen nach Gesetzesverschärfungen. Der Bayern macht den Vorreiter. Die Freiheit des Rasers wird zum letzte Refugium des Selbstbestimmung des kleinen Mannes verklärt, der ansonsten für die Profite in den Autobuden und an sonstigen Unternehmensstandorten schuftet. So wird einer Besetzerin der A9 nicht nur „Unverhältnismäßigkeit“ und „Störung des Mobilität“ vorgeworfen, sondern auch gleich ein Angriff auf „die Freiheit“ und ihre „Grundordnung“. Dem will die CSU durch die Verhängung von Präventivhaft von bis zu 30 Tagen für mögliche Störenfriede vorgreifen. Die AfD ruft nach der Überwachung der jungen „Verfassungsfeinde“.

Da hilft es den Aktivist:innen der „Letzen Generation“ nichts, dass sie auf Demokratie und Menschenrechte pochen. Längst haben sie bürgerliche Politiker:innen als Staatsfeinde ausgemacht. Für NRW-Innenminister Reul weist die Gruppe Züge einer „kriminellen Vereinigung“ auf, weil sie organisiert vorgeht – eine Begründung, die natürlich jederzeit gegen jede andere Besetzung z. B. sei es einer Braunkohlegrube, eine Straße oder eines Betriebes herangezogen werden kann.

Bei so viel konservativer und rechter Hetze gibt sich die Ampel-Koalition vergleichsweise nüchtern. Die Letzte Generation verdammen natürlich auch diese Parteien, die angesichts von Ukraine-Krieg und Profitinteressen den Klimaschutz auf die lange Bank schieben. Aber, so diese „Verteidiger:innen des Rechtsstaats: Man brauche keine Sondergesetze, die bestehenden würden schon ausreichen, um hunderter Aktivist:innen anzuklagen, zu verurteilen und finanziell auszubluten. Kriminalisierung light, also.

Gegen diese Angriffe braucht es die Solidarität der gesamten Linken und der Arbeiter:innenbewegung. Bei den Prozessen und Gesetzesverschärfungen geht es nicht darum, ob wir mit den Aktionsformen und der politischen der „Letzten Generation“ übereinstimmen, sondern um die Kriminalisierung von Protest und Widerstand der Umweltbewegung. Maßnahmen die heute gegen Klima-Aktivist:innen angewandt werden, können morgen ebenso gut Proteste gegen das Immobilienkapital oder „unverhältnismäßig“ hart geführte Arbeitskämpfe betreffen.

  • Freiheit für alle ihre Gefangenen, Niederschlagung aller Verfahren! Nein zu allen Gesetzesverschärfungen und Präventivhaft! Keine Repression gegen Klimaschützer:innen!



Italien: Zur Verteidigung von Ravepartys aus einer Klassenperspektive

Luca Gagliano, PCL Italien, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Vorwort der Redaktion: Der folgende Artikel wurde von Luca Gagliano, (Partito Comunista dei Lavoratori, Italien) verfasst und behandelt die neuen Gesetze zu Raves. Seit Ende November gibt es in Italien eine rechte Regierung, geführt von der postfaschistischen Fratelli d’Italia mit Giorgia Meloni an der Spitze. Eines ihrer ersten Gesetzen war das Antiravedekret, welches ein Strafmaß für die Organisierung oder „Förderung“ illegaler Raves und anderer „gefährlicher Versammlungen“ von drei bis sechs Jahren Gefängnis vorsieht. Diese waren ursprünglich beschrieben als alle, die Häuser besetzen, um „Events“ (jetzt spezifiziert auf musikalische Events) zu organisieren.

„Witchtek“ war einer von solchen Raves in Modena, welches am 31. Oktober von 300 Bereitschaftspolizist:innen gewaltsam aufgelöst wurde.

Das Ravepartydekret ist eine Gefahr, die auch die Arbeiter:innenbewegung betrifft.

Solidarität mit den Organisator:innen und Teilnehmenden von Witchtek! Neben der Räumung, den Klagen und der Beschlagnahmung ist noch etwas viel Schwerwiegenderes passiert: ein Gesetzesdekret, das sich angeblich nur gegen Raves richtet. Leider handelt es sich um einen Angriff der Regierung, welcher darüber hinausgeht. Es ist ein Angriff auf die Organisation vieler Praktiken des Kampfes der Arbeiter:innenklasse: Haus-, Fabrikbesetzungen, Streiks, Demonstrationen und vieles mehr. Solidarität und Verteidigung müssen in erster Linie gegenüber der Bewegung der freien Partys (Raves) betont werden, die direkt betroffen und beeinträchtigt ist. Sie darf nicht ignoriert oder verunglimpft werden, weil sie ein falsches Modell der linken und sozialen Opposition annimmt.

Gegen falsche Mythen! Es geht um viel mehr als eine Party

Besetzung und Selbstverwaltung sind für die Bourgeoisie und ihre Funktionär:innen eine störende Praxis, da sie die allgemeine Profit- und Managementdynamik ihrer Politik unterlaufen. Die Anwendung der profitorientierten Markt- und Politiklogik erzwingt das unterdrückerische und intolerante Gesellschaftsmodell, welches nicht bürgerlich-konforme Ausdrucksformen verhindern möchte.

Die vielen Formen des praktischen Widerstands bilden jedoch einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung eines neuen kritischen Bewusstseins. In der Besetzungs- und Selbstverwaltungsszene können viele Aspekte geschützt und entwickelt werden, die durch die kapitalistische Gesellschaft diskriminiert sind. Das gilt von der freien Entfaltung der eigenen Geschlechtsidentität über musikalische und kreative Innovationen (in allen künstlerischen Bereichen) bis hin zur Erschwinglichkeit von Großveranstaltungen. Es geht um mehr als eine Party, denn sie ist durch die Art und Weise, wie sie organisiert ist und mit der bestehenden Ordnung kollidiert, in ihrem Wesen ein politisches Ereignis.

Klassenverteidigung. Wir entlarven das Geschwätz der Reformist:innen

Wir haben nichts mit jenen gemeinsam, die dieses neue Gesetz nur von einem verfassungsrechtlichen und liberal-bürgerlichen Standpunkt aus kritisieren. Die Freiheit und die Verfassung, die sie verteidigen, schützen das Privateigentum, über welches bisher die Eigentümer:innen der Fabrikhalle (Ort des Raves) verfügen. Es die Bourgeoisie, welche dieselben Hallen als Ort der Ausbeutung nutzt, zugunsten ihrer eigenen Profitinteressen.

Wir sind daher nicht an der sogenannten öffentlichen Ordnung interessiert. Wir hegen kein Interesse an der Regierbarkeit dieses Systems, weil es dasselbe ist, das uns jeden Tag bei der Arbeit ausbeutet und unterdrückt. Wir wollen es stürzen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht auch für demokratische Rechte und fortschrittliche Errungenschaften im Hier und Jetzt kämpfen sollen. Zusätzlich müssen wir aber die Verantwortung derjenigen Betrüger:innen anprangern, die uns einerseits sagen, dass wir als Bürger:innen Rechte haben, und andererseits diese dem Proletariat verweigern. Schließlich müssen wir mit den Illusionen der reformistischen Parteien brechen, die immer wieder versuchen, in der Hoffnung auf die Regierbarkeit des kapitalistischen Systems an die Regierung zu kommen.

Castlemorton 2022

Erinnern wir uns an den Criminal Justice and Public Order Act von 1994 nach dem Castlemorton Common Festival von 1992 (England). Er stellte Musik unter Strafe, die „ganz oder überwiegend durch eine Abfolge von sich wiederholenden Takten gekennzeichnet ist“. Das italienische Dekret ist ebenso lächerlich, aber aufgrund seiner Formulierung weitaus gefährlicher: Es ist ein offener Angriff auf die Organisation von Massenprotesten.

„Gesetze werden uns nicht aufhalten“, erklären Aktivist:innen der Bewegung. Leider spielen manchmal auch die Gesetze und die Befugnisse des Staates eine große Rolle bei der Entwicklung einer sozialen Opposition. Die Besetzungen, die aufgrund des Gesetzes von 1994 in England zurückgegangen sind, belegen das. Mit dem Wissen, dass die Realität nicht nur von Ideen abhängt, dürfen wir daher nicht akzeptieren, dass dieses Gesetz ohne nennenswerten Widerstand der Massen verabschiedet wird. Umso mehr müssen wir jetzt alle Kräfte vereinen: die Organisator:innen der freien Partys mit Arbeiter:innenorganisationen, Verbänden und Gewerkschaften. Aufbau einer vereinigten Massen- und Klassenfront, die dem staatlichen Angriff mit gleicher Kraft begegnen kann!

Wir fordern nicht nur, dass das Schwert des/r Henker:in verfassungsgemäß ist. Wir fordern seine/ihre Enthauptung. Für eine antikapitalistische, internationalistische und revolutionäre Perspektive müssen wir mit einigen unmittelbaren Forderungen beginnen:

  • Bußgeldfreie Freigabe von Musikinstrumenten und Transportmitteln
  • Rücknahme der Anklage gegen die Organisator:innen
  • Keine Konsequenzen für die erfassten Personen
  • Abschaffung des Ravepartyerlasses
  • Einrichtung eines internationalen Widerstandsfonds gegen Klagen und Beschlagnahmen
  • Für eine große nationale Demonstration als Reaktion auf den Angriff des Staates
  • 10, 100, 1000 Raves gegen bürgerliches Recht und Ordnung. Es lebe die Selbstorganisation der Unterdrückten!



Der Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus

Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Die Polarisierung zwischen einem „autoritären“, konservativen und einem „demokratischen“ bürgerlichen Lager kennzeichnet die Situation in vielen imperialistischen wie auch halbkolonialen Ländern. Die aktuelle kapitalistische Krise selbst befördert diese Polarisierung und die Tendenz zum Populismus, zur Radikalisierung im bürgerlichen Lager, dem ein vorgeblich demokratisches gegenübersteht.

Letzteres versucht, sich als „fortschrittliche Alternative“ zu präsentieren, und reicht von der liberalen Bourgeoisie (einschließlich Teilen der Konservativen) über die Grünen bis hin zur Sozialdemokratie und Teilen der Linksparteien und des Linkspopulismus.

Scheinalternative

Politisch steht es für Elemente der staatlichen Intervention, des Korporatismus, der Einbeziehung von Unternehmer:innen und Gewerkschaften oder anderen Vertretungsorganen der Lohnarbeit in die Sozialpartner:innenschaft.

Ökologische und ökonomische Versprechen wie der Green (New) Deal, begrenzte Sozialreformen, formale demokratische Verbesserungen für Frauen oder rassisch Unterdrückte sollen die Masse der Lohnabhängigen und Unterdrückten bei der Stange halten, ohne jedoch die Akzeptanz des Finanzkapitals und eine Erneuerung des Kapitalstocks in den jeweiligen Ländern in Frage zu stellen. All dies wird mit einer demokratisch verbrämten imperialistischen Außenpolitik kombiniert.

Es ist kein Zufall, dass eine solche Politik vor allem in den reicheren imperialistischen Ländern mit einer relativ großen Arbeiter:innenaristokratie und umfangreichen lohnabhängigen Mittelschichten eine gewisse Grundlage finden kann. In den Halbkolonien, aber auch in den bonapartistischen imperialistischen Regimen, muss die „Demokratie“ durch nationalistische und chauvinistische Ideologie ersetzt werden. Die populistisch organisierte Massenunterstützung muss dort auf solche Ideologien zurückgreifen, wie z. B. den zunehmenden völkisch konnotierten Nationalismus in Russland oder den Hinduchauvinismus in Indien.

Die Polarisierung im bürgerlichen Lager ist jedoch auch das Ergebnis der inneren Krise der Bourgeoisie und der veränderten Lage der Mittelschichten und des Kleinbürgertums. Die Krise untergräbt nämlich ihre Stellung in der Gesellschaft und drückt ihre wirtschaftlich aktiven Teile an die Wand. Die Kombination aus internen Konflikten in der Bourgeoisie und der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse führt dazu, dass die Mittelschichten und das Kleinbürgertum, enttäuscht von den Hauptklassen der Gesellschaft, eine scheinbar unabhängige Kraft hervorbringen – sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, zusammen mit einer Reihe von Schwankungen zwischen den Polen.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich rechtspopulistische, scheinbar gegen das Establishment gerichtete Parteien und Organisationen als Scheinalternative des „kleinen Mannes“, der „normalen“ Menschen.

Faschismus

Neben dem bedrohlichen Anstieg rechtspopulistischer, rassistischer und rechtsextremer Organisierung darf die faschistische Gefahr in ihren verschiedenen Gestalten nicht vergessen werden. Nachdem die Linke lange Zeit in allen möglichen politischen Tendenzen und Verschärfungen staatlicher Repression bereits den „Faschismus“ ante portas (vor den Toren zur Machtergreifung) sah, stand sie lange Zeit fassungslos dem wachsenden populären Massenanhang für Antimigrationsmobilisierungen, Protesten gegen liberale Gesetzgebungen in Gender- oder Antidiskriminierungsfragen, Klimaschutzregeln, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gegenüber. Die Konfrontation mit diesen rechten Massenphänomenen war für die sogenannte „antifaschistische“ Linke viel schwieriger als das Stoppen kleiner Neonaziaufmärsche oder -aktionen der Vergangenheit. Dabei können sich gerade Faschist:innen im Windschatten dieser Bewegungen in viel wirksamerer Weise aufbauen als früher.

Der Faschismus ist nicht bloß eine bestimmte, besonders reaktionäre ideologische Strömung innerhalb bürgerlicher Politik. Er stellt vielmehr die äußerste Form des konterrevolutionären Bürgerkriegs gegen die Gefahr der sozialen Revolution in Zeiten zugespitzter sozialer Krisen dar. In den 1920er/-30er Jahren war er das letzte Mittel der Bourgeoisie, um durch Massenmobilisierung die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung zu zerschlagen. Normalerweise vertraut bürgerliche Politik auf die Integration der Massen durch politisch-demokratische Institutionen, die bürgerliche Öffentlichkeit („Zivilgesellschaft“) und repressive Mittel des Staatsapparates. Darüber hinaus sollen radikalere Klassenkämpfe und damit verbundene reformistische und gewerkschaftliche Organisationen auch durch Mittel des Bonapartismus im Zaum gehalten werden – und sei es, um „Schlimmeres zu verhindern“.

Doch ab einem gewissen Punkt der Zuspitzung des Klassenkampfs bedarf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung radikalerer Mittel, die auf die Zerschlagung nicht nur der sich selbst organisierenden und revolutionären Bewegungen der Klasse und Unterdrückten, sondern der gesamten organisierten Arbeiter:innenbewegung zielen. Der Zweck der organisierten und militanten Massenbewegung des Faschismus besteht dabei darin, über die staatliche Repression hinaus eine politische Atomisierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten herbeizuführen. Für die faschistische Herrschaft ist nicht einfach die Übernahme der Machtpositionen im bestehenden Staat entscheidend, sondern auch die Bewegung hin zur Machtübernahme, die die Unterklassen durchdringt und jeglichen Widerstand im Keim erstickt. Es ist daher für den Faschismus charakteristisch, dass er als Bewegung des rabiaten Kleinbürger:innentums samt demoralisiertem Anhang in anderen Klassen beginnt und diese gesellschaftliche Kraft zu einer Bewegung, einem Rammbock gegen die Arbeiter:innenbewegung – und oft zuerst gegen deren unterdrückteste Teile – zusammenschweißt.

Eine solche totalitäre Form des Kampfes um die Macht erfordert eine organisierte Massenbewegung, die sich auf verzweifelte, von Aggression und Irrationalismus getriebene Teile von Unterklassen stützt, die in der sozialen und ökonomischen Krise aus ihrer bisherigen „bürgerlichen“ Scheinwelt entwurzelt wurden. Traditionell waren dies Teile des Kleinbürger:Innentums und des Lumpenproletariats. Mit der sich seit einigen Jahrzehnten entwickelnden Krise der Arbeiter:innenklasse selbst, ihrer größer werdenden Differenzierung und Spaltung sind es auch vermehrt Schichten der von der Krise betroffenen Lohnabhängigen, die, vom Reformismus enttäuscht, sich den rechten Rattenfänger:innen anschließen. So z. B. die Teile der Arbeiter:innenaristokratie, die vom Abstieg durch Veränderungen des Produktionsprozesses ins Abseits geschoben wurden. Umgekehrt können der Faschismus – und als Vorstufe der Rechtspopulismus – eine Anziehungskraft für deklassierte, marginalisierte Teile der Lohnabhängigen, die aus tariflich gebundenen Arbeitsverhältnissen ausgeschlossen sind und von den Gewerkschaften nicht organisiert werden, verkörpern. Für diese Schichten erscheinen reformistische Teile der Arbeiter:innenbewegung als die „Krisengewinner:innen“ in der Klasse, die sich mit den Mittelschichtsgrünen arrangieren, als besondere Verräter:innen ihrer Interessen und damit neben den Migrant:innen als primäre Ziele ihres gesellschaftlichen Hasses.

Diese Formen der Entwurzelung, des Aufbaus von Ersatzhassobjekten, des Weltbildes von Verschwörungen eines „volksfremden“ Establishments gegen die eigentlich gute „bürgerliche“ Gesellschaft führen zu extrem aggressiven Formen von Massenmobilisierungen, die sich letztlich auch in bewaffneten Organen, von „Bürgerwehren“ bis hin zu Milizen, bündeln lassen. Zumeist besteht auch eine Nähe zum Personal der bewaffneten Kräfte des „normalen“ bürgerlichen Staatsapparates, wo es einen überdurchschnittlichen Anteil an Sympathien für rechte politische Strömungen gibt. So baut sich mit der Zeit ein Netzwerk von Waffenarsenalen, rechtem Terror und schließlich bewaffneten Organisationen auf, das zum Kampf um die Macht bereit ist.

Diese Form kam vielen Linken gerade in den westlichen Demokratien lange als Relikt der Vergangenheit vor und über Jahrzehnte hinweg bestand in vielen Ländern auch nicht die gesellschaftliche Basis für eine faschistische Massenbewegung (auch wenn es durchaus bedeutsame Ausnahmen gibt).

Faschistische Frontorganisationen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren faschistische Parteien in Europa und Nordamerika nach den Erfahrungen des Nazi- und italienischen Faschismus außerdem weitgehend diskreditiert. Die überlebenden faschistischen Kräfte hatten daher drei Optionen: erstens das Überleben als mehr oder weniger unauffälliges Netzwerk in bürgerlich-parlamentarischen Parteien; zweitens als kleine, sektenartige Randgruppen; drittens aber auch durch den Aufbau von faschistischen Frontorganisationen. Insbesondere in Italien wurde mit der MSI (Movimento Sociale Italiano) eine Organisation gebildet, die weiterhin einen faschistischen Kern und entsprechende Ideologien enthielt, aber darüber hinaus als „normale“ Partei im parlamentarischen Rahmen agierte. MSI und später in Frankreich der FN (Front National) des Jean-Marie Le Pens konnten beschränkte Massenwirksamkeit erreichen, ohne die eigentlichen faschistischen Formen des Kampfes einzusetzen. Ihre respektable bürgerliche Fassade, ihr gewöhnlicher Rechtspopulismus konnten trotzdem faschistische Kerne an sich binden, die diese Form der Frontorganisation als Mittel ihres langfristigen Aufbaus für den eigentlichen militanten Kampf sahen.

Faschistische Frontorganisationen tragen somit wesentlich widersprüchliche Tendenzen in sich. Zwischen reinem Verbreiten „faschistischer Ideologie“ (die letztlich immer einen Mischmasch verschiedener, schon vorgefundener extrem reaktionärer Ideen darstellt) und dem tatsächlichem Kampf des Faschismus um die Macht besteht ein weites Feld. Sofern solche Fronten dann tatsächlich Funktionen im bürgerlichen Staat übernehmen ohne die entsprechenden Formen der faschistischen Machtergreifung, transformieren sich Teile ihrer Führung schnell zu gewöhnlichen rechtspopulistischen oder rechtskonservativen Politiker:innen und die faschistischen Kräfte spalten sich ab. So geschehen in den 1990er Jahren in der ersten Regierung Berlusconi in Italien, als seine Partei zusammen mit der Lega Nord und der zur Alleanza Nazionale (AN) gewandelten MSI eine Koalition einging. Dies war natürlich keine „faschistische Machtübernahme“. Die Regierungsbeteiligung führte vielmehr zur „Verbürgerlichung“ eines Teils der MSI und der Abspaltung der „traditionellen Faschist:innen“, aus denen später die Fratelli d’Italia (FdI) entstand. Offenbar wiederholt sich gegenwärtig derselbe Prozess mit letzterer – auch wenn die faschistische Front diesmal sogar die stärkste Kraft in der Koalition ist. Der FN in Frankreich machte schon vor der möglichen Regierungsbeteiligung einen solchen Wandlungsprozess durch, in dem er sich in das Rassemblement National (RN) umbaute.

Während der Globalisierungsperiode entwickelte sich ein breites Spektrum von rechtspopulistischen, rechtsextremen bis hin zu faschistischen Organisationen, die an diese Vorgeschichte anknüpften. War nationale Abschottung zwar angesichts der faktischen Gewalt der kapitalistischen Globalisierung kein realistisches Politikprojekt, so wurden nationalistische Scheinantworten auf die sozialen Folgen der Globalisierung immer verbreiteter. Dies betraf nicht nur Phänomene wie verstärkte Standortverlagerungen oder Arbeitsmigration, sondern auch wachsenden Verlust nationaler Gesetzgebungskompetenz angesichts der übermächtigen Kapitalströme. Mit dem Aufkommen verstärkter Krisentendenzen am Ende der Globalisierungsperiode haben irrationale nationalistische Alternativen zur Globalisierung immer mehr an politischem Gewicht gewonnen. Dies ist nicht nur in der völligen Überhöhung von Fragen der Migration oder von „Genderwahn“ & Co. zu sehen, sondern in Europa insbesondere an Fragen der EU-Integration. Letzteres führt im EU-Raum zu verschiedenen Formen von Austrittsbewegungen, zu Bewegungen oder Kampagnen gegen bestimmte EU-Vorgaben, an denen sich rechte und faschistische Kräfte aufrichten können. Die Rechte benutzt teilweise berechtigte EU-Kritik zur Selbstinszenierung als Antiestablishmentkämpferin gegen „Globalismus“, „EU-Establishment“, den „woken Totalitarismus“ etc.

Die AfD

Der Aufstieg der AfD muss im Rahmen dieser allgemeinen Tendenz betrachtet werden, auch wenn sich ihre Entstehung und Entwicklung deutlich von jener faschistischer Frontparteien unterscheidet. Gegründet wurde sie weitgehend von EU-kritischen rechten U-Booten in den etablierten konservativen Parteien (CDU, CSU, FDP), insbesondere aus der Ablehnung des Euro heraus. Massenwirksam wurde die AfD jedoch vor allem durch extrem rassistische Mobilisierung rund um Migrationsfragen. Dadurch konnten sich auch rechtsextreme Kreise in der Führung der AfD immer mehr durchsetzen. Einer Wählerschaft von 10 – 20 % in Deutschland sind angesichts der Wirkung von kritischer Demagogie bezüglich EU- und Migrationspolitik die offensichtlich rechtsextremen Figuren in verschiedenen Führungspositionen der Partei immer unwichtiger. Inzwischen wird die Partei durch den rechtsextremen „Flügel“ unter dem neuen „Führer“ Bernd Höcke dominiert. Er weist tatsächlich viele Merkmale einer faschistischen Frontorganisation auf, auch wenn sein Verhältnis zu offenen Naziorganisationen wie den „Freien Sachsen“ durchaus auch konfliktbehaftet ist. Gerade wo sich der AfD und auch den vom „Flügel“ geführten Organisationen parlamentarische Möglichkeiten eröffnen (z. B. bei parlamentarischen Manövern mit CDU und FDP in Thüringen), ist auch letzterer dem Spannungsverhältnis von bürgerlichem Politikbetrieb und offenem Faschismus ausgesetzt. Das Konstrukt der AfD erlaubt den faschistischen Kernen jedoch, sich genügend fern von der Diskreditierung durch etablierte bürgerliche Politik zu halten, aber gleichzeitig genügend nahe am bestehenden Politikbetrieb zu bleiben, um neue Anhängerschaft und Geldmittel zu rekrutieren. So bauen sie sich auf, als reale politische Kraft, die im Fall der Fälle für den Kampf um die politische Macht im faschistischen Sinn bereit steht. Auch wenn die AfD insgesamt als rechtspopulistische Partei charakterisiert werden muss, die ihre Klientel vor allem als Wähler:innen organisiert und weiter auf eine Koalition mit Konservativen und anderen Rechten abzielt, so enthält sie auch einen stärker werdenden inneren Teil, der eine faschistische Frontorganisation darstellt.

Anderswo in Europa gibt es verschiedene Formen ähnlicher „Konstrukte“, in denen sich Faschist:innen auf ihre zukünftige Rolle vorbereiten. Die „Schwedendemokraten“ entstanden direkt aus einer offen faschistischen Organisation, die sich ähnlich MSI/AN/FdI im letzten Jahrzehnt in eine rechtspopulistische Partei mit extrem rassistischen Positionen umwandelte. Erhalten blieben jedoch jeweils faschistische Kerne, die entsprechende Frontorganisationen innerhalb der „gemäßigten“ etablierten Partei bilden und sich oft auch auf eine breitere Unterstützung innerhalb der Mitgliedschaft dieser Organisationen stützen können. Bei Diskreditierung durch Teilnahme an Koalitionsregierungen oder deren Duldung besitzen die faschistischen Kerne genügend Spielraum, um weiterhin als „Opposition“ zu agieren oder eventuell auch Neugründungen anzustoßen. Auch hier wird mit diesen Konstrukten eine reale faschistische Machtalternative zumindest vorbereitet.

Halbkolonien

In Halbkolonien ist der Aufbau faschistischer Organisationen als Kampfmittel zur entsprechenden Machteroberung weiterhin schwieriger, da die entsprechenden vom Abstieg betroffenen Mittelschichten, die von reformistischen Organisationen enttäuscht sich nach alter nationaler Größe zurücksehnen, nicht so ausgeprägt sind wie in den imperialistischen Zentren. Solche faschistischen Kräfte treten daher eher in ökonomisch entwickelteren Halbkolonien wie Brasilien auf. In der islamischen Welt erfüllen extrem islamistische Kräfte oft die Rolle der Atomisierung und Zerschlagung von progressiver Organisierung der Arbeiter:innen und Unterklassen. Dabei rekrutierte z. B. der Islamische Staat (Daesch) seine Militanten tatsächlich sehr stark unter deklassierten Jugendlichen aus imperialistischen Ländern. Der Aufstieg Bolsonaros in Brasilien ist verbunden mit der Bildung verschiedener reaktionärer Organisationen z. B. rund um evangelikale Kirchen, bewaffnete Milizen von Agrarunternehmer:innen, Teile von Vereinigungen Angehöriger von Polizei und Armee, reaktionäre Transportunternehmer:innen und ihre Beschäftigten, offen rechtsextreme Organisationen (z. B. Movimento Direita in Minas Gerais) etc. Diesem Amalgam von bewaffneten Gruppierungen fehlte jedoch bisher die vereinigende politische Organisierung. Die reaktionäre Clownerie des Bolsonaro genügte zwar, um Wahlkämpfe zu führen und eine Welle von rechtem Terror auszulösen, aber nicht für eine faschistische Form der Machtübernahme – daher als (vorläufig) ultimative Losung der Aufruf zum Militärputsch. Ob die neuen Parteien des Bolsonarismus, die PL und die Republikaner:innen, faschistische Frontorganisation werden, hängt davon ab, ob sich jenseits der politischen Figuren im üblichen Politikbetrieb von Kongress, Einzelstaaten und Lokalverwaltungen tatsächliche faschistische Kader mit stabilen Organisationsstrukturen herausbilden, die in diesen Parteien eine wesentliche Rolle spielen können. Gerade bei Ex-Militärs und im Umfeld der Agrarbosse haben sich in den Mobilisierungen nach der Niederlage Bolsonaros bereits entsprechende Personen profiliert.

Auch wenn sich faschistische Kräfte heute vor allem im Windschatten reaktionärer rechter Parteien aufbauen, werden die Opfer der extremen Rechten immer zahlreicher. Zunächst bedeutet die allgemeine Rechtsverschiebung eine repressivere Politik gegenüber Migrant:innen und Minderheiten aller Art ebenso wie ein brutaleres Vorgehen rechtslastiger „Sicherheitskräfte“. Durch die Unterstützung von rechten Medienkonzernen oder die Kampagnen in den „sozialen Medien“ wird ein Klima der Angst und Hetze gegen Linke, unliebsame Journalist:innen und Lokalpolitiker:innen, Wissenschaftler:innen, Migrant:innen, Minderheiten etc. erzeugt, das sich auch über Drohungen hinaus bewegt. Verstärkt tritt rechter Terror nicht nur in Einzeltaten, sondern auch in geplanten Aktionen zutage. Es verwundert nicht, dass in diesen Gewaltakten auch der Antisemitismus wieder eine Rolle spielt. Rechte Parteien und ihre Sympatisant:innen im Polizeiapparat verharmlosen diesen Gewaltanstieg bzw. kriminalisieren den Widerstand dagegen.

Reformistische Irrwege

Die Reaktion der reformistischen Organisationen bzw. von progressiven Mittelschichtparteien wie den Grünen besteht zumeist in der Forderung nach Schulterschluss der „Demokratie“ zur Verhinderung der Machtbeteiligung der Rechtsextremen. Im Windschatten vertreten auch Teile der extremen Linken neue Varianten der Volksfrontpolitik in Form von „demokratischen Allianzen“ (wie jüngst bei der Wahl in Brasilien). Das Problem des Verbündens mit offen bürgerlichen Parteien, die noch nicht zur Zusammenarbeit mit der extremen Rechten bereit sind, liegt darin, dass sie die reformistischen Organisationen und die Linke zu noch mehr Zugeständnissen an die bürgerliche Krisenpolitik zwingen und sowieso viele Forderungen der extremen Rechten z. B. in der Migrationspolitik mit aufgegriffen werden. Die extreme Rechte kann so die Enttäuschung über den Reformismus noch weiter vorantreiben und sich als die „wahre Opposition“ des „kleinen Mannes“ gegenüber dem vereinigten Establishment der „Volksfeind:innen“ präsentieren. Wie schon in den 1930er Jahren geschehen, gerät die Volksfront so zur Wegbereiterin des Aufstiegs des Faschismus.

Gewisse Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit und auch der Linken vertreten die Ansicht, dass sich die extremen Rechten am besten durch tatsächliche Regierungsbeteiligung entlarven ließen, in der sie demonstrieren müssten, dass sie für den Großteil ihrer ärmeren Wähler:innen nicht nur nichts bewirken würden, sondern sogar weitere Verschlechterungen betreiben. Dies verkennt den irrationalen Kern der Basis der extremen Rechten, die durch solche Tatsachen nur davon überzeugt werden, dass der „tiefe Staat“ und die Machthaber:innen „hinter den Kulissen“ die eigenen Führer:innen an der Durchsetzung ihrer Politik hindern würden. Auch dies führt letztlich nur zur weiteren Radikalisierung und Bildung neuer, noch rechterer Organisationen. So wurde die österreichische FPÖ bei ihren Regierungsbeteiligungen jedes Mal in fürchterlicher Weise entlarvt – um dann kurze Zeit später in neuem, weiter rechts stehendem Gewand in alter Stärke wiederaufzuerstehen. Auch das Debakel der „Dänischen Volkspartei“, die während ihrer Regierungstolerierung von 20 % auf heute unter 3 % abstürzte, brachte nur die noch rechtere Partei der „Dänendemokraten“ hervor, die von ihr die Führungsrolle übernahm.

Das dänische Beispiel zeigt auch ein weiteres ungeeignetes Modell: Hier übernahm die größte reformistische Partei, die Sozialdemokratie, wesentliche Teile des rassistischen Migrationsprogramms der Rechten, um es mit klassischer Sozialpolitik für die „eigenen“ Unterschichten zu verbinden. Dieses Modell einer rechtsnationalen Sozialdemokratie wurde tatsächlich für einige sozialdemokratische Parteien nicht nur in Skandinavien zu ihrem modernen Weg ernannt. Auch wenn es teilweise in Wahlen erfolgreich war, verhindert es nicht, dass sich dadurch der rechte Irrationalismus weiter bestärkt fühlt und letztlich doch wieder das „Original“ gewählt wird – insbesondere wenn die so nach rechts gewendete Sozialdemokratie dann doch wieder klassische bürgerliche Krisenpolitik betreibt. Ähnlich verfehlt ist die Strategie, links von der Sozialdemokratie linkspopulistische Organisationen aufzubauen, die ebenso eine offene Flanke gegenüber Rassismus und sozialchauvinistischer Migrationspolitik aufweisen. Auch wenn Mélenchon in Frankreich oder Wagenknecht in Deutschland zeitweise in der Lage sind, Wähler:innen von den Rechten in ihre Richtung zu lenken, so bestärken sie ihrerseits die gesellschaftlichen Spaltungen in den Unterschichten, die gerade zum Aufstieg der Rechten führen.

Kampf

Mit dem Faschismus gibt es letztlich keine „diskursive“ politische Auseinandersetzung. Faschistische Kader müssen je nach Kräfteverhältnis in direkter Aktion an ihrer politischen Aktivität gehindert werden. Ihnen darf keine öffentliche Plattform gestattet werden. Dies betrifft auch Faschist:innen am Arbeitsplatz oder in Gewerkschaften, wo wir für ihren Ausschluss eintreten. Auch ihr Antritt bei Wahlen muss mit gebotenen Mitteln ver- oder behindert werden. Dabei vertrauen wir nicht auf den bürgerlichen Staat oder seine Organe (da etwaige Verbote sowieso vor allem gegen Linke eingesetzt werden), sondern auf die Einheitsfront von Arbeiter:Innenorganisationen und Vereinigungen anderer gesellschaftlich Unterdrückter.

Bei den rechtspopulistischen Organisationen wie der AfD oder auch der breiteren Wähler:innenschaft von Frontorganisationen ist ein differenzierteres Vorgehen notwendig, da ihre Anhängerschaft nur zu einem gewissen Teil aus Faschist:innen besteht. Entscheidend ist aber auch hier die Einheitsfront, insbesondere die Forderung an die führenden reformistischen Organisationen,  mit der bürgerlichen Krisenpolitik (die mit den „demokratischen Allianzen“ noch verstärkt wird) zu brechen und sich in einen gemeinsamen Kampf gegen kapitalistische Angriffe und rechte Hetze einzureihen. Den Rechten darf der Krisenprotest nicht überlassen werden aus lauter Angst vor „Querfronten“. Dabei muss in solchen Einheitsfrontaktionen auf den Ausschluss rechter Kräfte und die Verteidigung der Aktionen gegen Unterwanderung durch Rechte gedrängt werden. Aktionen der rechten Frontorganisationen, in denen faschistische Kader eine wichtige Rolle spielen, z. B. Mobilisierungen gegen Geflüchtete müssen ähnlich wie direkt faschistische Aktionen konfrontiert werden. Politische Veranstaltungen der klassischen Art wie z. B. Wahlkundgebungen oder Diskussionsveranstaltungen können je nach Kräfteverhältnis rein propagandistisch angegriffen oder gestört werden. Dabei steht das Aufzeigen der politischen Alternative und die Schwäche der Rechten bei den entscheidenden Fragen gerade gegenüber unentschlossenen, verunsicherten Personen aus den sozial bedrängten Unterschichten im Vordergrund.

Die wichtigste Waffe gegen den Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus ist jedenfalls das konsequente Vorantreiben einer internationalistischen antikapitalistischen Alternative und das Aufzeigen des revolutionären Weges dahin. Nur dies kann die Scheinalternativen der nationalen Abschottung, des Vorantreibens gesellschaftlicher Spaltungen und des Aufbaus von Ersatzfeind:innen für den/die eigentliche/n Klassenfeind:in als Irrwege entlarven. Die Einheitsfront bildet ein zentrales Instrument zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie von den Rechten benutzt werden. In der Einheitsfront erleben die Arbeiter:innen und Unterdrückten die Solidarität über Grenzen der nationalen Herkunft, Geschlechteridentitäten, Verdienst- und Bildungsunterschiede, kulturellen und schichtspezifischen Verschiedenheiten hinaus.

Sie ist aber vor allem auch ein wichtiges Instrument, um die weiterhin bestehende Mobilisierungsfähigkeit reformistischer Organisationen und der Gewerkschaften zu nutzen und ihre Führung vor den Massen dem Test der Praxis zu unterziehen. Trotzki wies 1932 in „Was nun?“ darauf hin, dass die Lage der Arbeiter:innenbewegung angesichts von Niederlagen, Krise und Aufstieg der Nazis aussichtslos zu sein schien, dass aber gerade die aus der Situation der Defensive entstehenden Kämpfe eine Perspektive der Offensive eröffnen würden: „Man darf nicht vergessen, dass die Einheitsfrontpolitik im Allgemeinen in der Defensive viel wirksamer als in der Offensive ist. Konservativere oder zurückgebliebenere Schichten des Proletariats lassen sich leichter in den Kampf ziehen, um das zu verteidigen, was sie bereits besitzen, als um Neues zu erobern.“

Bei einem klaren strategischen Plan der revolutionären Partei für den erfolgreichen Aufbau der Einheitsfront besteht die weitergehende Perspektive: „Der Widerstand der Arbeiter gegen die Offensive von Kapital und Staat wird unvermeidlich eine verstärkte Offensive des Faschismus hervorrufen. Wie bescheiden die ersten Verteidigungsschritte auch sein mögen, die Reaktion des Gegners wird unverzüglich die Reihen der Einheitsfront zusammenschließen, die Aufgaben erweitern, die Anwendung entschiedenerer Maßnahmen erforderlich machen, die reaktionären Schichten der Bürokratie von der Einheitsfront abschütteln, den Einfluss des Kommunismus steigern, die Barrieren innerhalb der Arbeiterschaft schwächen und damit den Übergang von der Defensive zur Offensive vorbereiten.“




Tarifrunde öffentlicher Dienst – Mit dem üblichen Ritual ist nichts zu gewinnen

Helga Müller, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Auch die ver.di-Tarifkommission verspürt Druck – zumindest ansatzweise. Am 11. Oktober beschloss sie aufgrund des Aufbegehrens von Kolleg:innen aus vielen Dienststellen und Betrieben die Forderungen für die Tarifrunde bei Bund und Kommunen: 10,5 % für alle, 500 Euro Festgeld für die unteren Lohngruppen, eine Laufzeit von 12 Monaten.

Die Festgeldforderung würde für die unteren Lohngruppen eine Steigerung bis zu 20 % – also tatsächlich einen Inflationsausgleich – bedeuten. Angesichts einer Preissteigerung von rund 10 % ist die volle Durchsetzung der Forderungen für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen dringend nötig.

Darüber hinaus bemängelt ver.di in ihrer Tarifbroschüre die nach wie vor existierende Lohnlücke zwischen dem Verdienst im öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft: „Gegenüber dem Jahr 2000 sind die Einkommen der Beschäftigten bei Bund und Kommunen um 59 Prozent gestiegen. In der Gesamtwirtschaft hingegen betrug das Plus in diesem Zeitraum 63,1 Prozent.“

Übliches Tarifrundenritual?

Ver.di attestiert der kommenden Auseinandersetzung eine „historische Dimension“. Trotzdem wird in der Planung am üblichen, um nicht zu sagen üblen, Tarifritual festgehalten. Drei schon lange vor den Kampfmaßnahmen angesetzte Verhandlungen mit den öffentlichen Arbeit„geber“:innen mit ein paar Warnstreiks dazwischen, um ein bisschen Druck auf Kommunen und Bund auszuüben. Am dritten und letzten Verhandlungstag wird dieser Regie zufolge nach einer Marathonsitzung schweißgebadet ein fauler Kompromiss verkündet werden. Dass das nicht ausreichen wird, um die Forderungen auch nur annähernd durchzusetzen, wissen eigentlich alle.

Kein Wunder also, dass schon jetzt die betrieblichen Funktionär:innen darauf vorbereitet werden, dass ein Abschluss wie in der IG Metall zu erstreben sei und es ein Erfolg wäre, wenn dieses Ergebnis auch im öffentlichen Dienst durchgesetzt werden würde. Dabei wissen wir alle, dass dieser Abschluss in der noch immer mobilisierungsstarken Metall- und Elektroindustrie einen Reallohnverlust bedeutet (siehe dazu auch die Analyse des Abschlusses in dieser Ausgabe der NI).

Vor allem aber stellt diese „Vorbereitung“ der Tarifrunde einen Schlag ins Gesicht der Kolleg:innen – z. B. aus dem Krankenhausbereich – dar, die sich mit Vehemenz für die hohen Forderungen ein-und diese durchgesetzt hatten. In einzelnen Dienststellen wurden Forderungen um die 19 % erhoben, um die Tarifrunde auch zu einem Kampf gegen die Auswirkungen der Inflation geraten zu lassen.

Auch wenn die Mobilisierungsfähigkeit in den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes sehr unterschiedlich ist, das Arbeiten im Home-Office diese nicht gerade fördert und die Forderungen auch auf unterschiedliche Resonanz stoßen, so ist es doch möglich, angesichts der Inflation eine größere Bewegung im öffentlichen Dienst hinzubekommen. Die Situation ist günstig: Auch der Tarifvertrag der Beschäftigten bei Bussen und Bahnen läuft Ende diesen Jahres ab. Die Kolleg:innen haben für ihre Tarifrunde bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen, weil auch sie sich als einen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge verstehen, und wollen auch gemeinsame Streiks und Kundgebungen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst organisieren. Hier kommen nochmal 100.000 Kolleg:innen dazu, die die Kampfkraft noch steigern können.

Was tun?

Um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tarifrunde zu schaffen, dürfen und können wir uns nicht auf den Apparat verlassen. Es gilt vielmehr, dass wir schon in der Vorbereitung für einen kämpferischen Kurs eintreten. Dabei sollten wir uns in einem ersten Schritt auf jene Belegschaften beziehen, die hohe Tarifforderungen gestellt haben, aber diese auch in alle Bereiche ausweiten:

a) Die Vorbereitungen auf die ersten Warnstreiks – oder, wie ver.di das nennt, den Stärketest – müssen genutzt werden, um Mitglieder zu gewinnen. Die beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass ein systematischer Aufbau von Mitgliedern auch in Bereichen wie der Pflege möglich ist, die noch vor wenigen Jahren von ver.di nicht als streikfähig angesehen wurden. Ihre Kämpfe der letzten Jahre haben bewiesen, dass sich auch längere Streikphasen durchstehen lassen.

b) Die Belegschaften müssen diesen Kampf als den ihren begreifen. Die Kolleg:innen in den beiden Krankenhausbewegungen haben bewiesen, dass auch dies möglich ist. Sie haben ihre Forderungen selbst aufgestellt und wurden auch in die Verhandlungen der Tarifkommission mit den Unikliniken miteinbezogen. So konnte ein 79-tägiger Streik in NRW auch wirklich durchgehalten werden.

c) Die Kolleg:innen müssen ihren Kampf – angefangen bei der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Streikführung und Entscheidung darüber, wann der Streik zu Ende ist – selbst bestimmen und kontrollieren können. Dafür gab es in den Krankenhausbewegungen auch Elemente eines eher demokratisch geführten Tarifkampfes.

An der Uniklinik Essen ging das am weitesten: Ähnlich wie beim ersten Streik für einen TV Entlastung 2018 haben die Kolleg:innen ein Streikkomitee gegründet, gewählt aus den verschiedenen Abteilungen, mit Hilfe dessen sie ihren Kampf diskutiert, entschieden und kontrolliert haben.

d) Es braucht auch Diskussionen, Beiträge und Flyer, die auch die Frage der Finanzierung der öffentlichen Haushalte aufgreifen. Und es braucht Forderungen wie die massive progressive Besteuerung der großen Unternehmen und Dax-Konzerne, die auch während der Pandemie und Energiekrise hohe Profite eingestrichen haben, sowie die Wiedereinführung der Vermögens- und Einführung einer Übergewinnsteuer. Ein Verweis darauf – wie in der ver.di-Tarifbroschüre –, dass die finanzielle Situation der Kommunen gar nicht so schlecht sei, reicht nicht. Wichtig ist vielmehr, die Offenlegung der öffentlichen Finanzen und aller Verträge zur Auslagerung öffentlicher Dienste zu fordern. Vor allem aber muss die Frage ins Zentrum gestellt werden, welche Klasse – Kapital oder Lohnabhängige – für öffentliche Versorgung mittels Steuern aufkommen muss.

e) Last, but not least muss in den verschiedenen Dienststellen und Einrichtungen auch jetzt schon die Diskussion begonnen und den Kolleg:innen eine ernsthafte Perspektive geboten werden, wie dem Personalmangel entgegengesteuert werden kann. Er ist in den Krankenhäusern ebenso bekannt wie eklatant, aber auch im Erzieher:innen- und im Bildungsbereich hat die Pandemie mehr als deutlich gemacht, dass Personal fehlt. Ein Element ist sicherlich eine bessere Bezahlung, um mehr Kolleg:innen für diese Bereiche zu gewinnen. Wichtig ist aber, den Kampf um mehr Personal nicht nur auf einzelne Krankenhäuser oder Einrichtungen zu beschränken, sondern ihn gemeinsam und bundesweit zu führen mit einer Kampagne gegen Privatisierung und für eine Finanzierung der Krankenhäuser und aller Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge entsprechend dem realen Bedarf. Hier spielt auch die Frage der kollektiven Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und vor allem Personalausgleich eine große Rolle.

In dieser Tarifrunde ist es vor allem wichtig, in betrieblichen wie örtlichen gewerkschaftlichen Gliederungen Beschlüsse, Anträge zu formulieren, dass es darum geht, die Forderungen – vor allem das Festgeld von 500 Euro bezogen auf eine Laufzeit von 12 Monaten – auch wirklich durchzusetzen. Dafür muss die Urabstimmung für unbefristete Streiks nach den ersten Warnstreiks eingeleitet werden. Darüber hinaus geht es darum, dass die Tarif- und Verhandlungskommission nicht nur die „Stimmung der Beschäftigten in den Verwaltungen und Betrieben“ (wie es in der ver.di-Tarifbroschüre heißt) in Bezug auf den Abschluss einholt, sondern die Kolleg:innen in Streikversammlungen über das Ergebnis informiert werden, darüber diskutiert und entschieden wird – wie in der NRW Krankenhausbewegung geschehen. Etwaige Verhandlungen müssen öffentlich und offen geführt werden, nicht im Hinterzimmergesprächen sog. „Tarifexpert:innen“. Kein Abschluss ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Schnellstmögliche Einleitung der Urabstimmung statt monatelanger Verhandlungsrituale!

Dafür ist es notwendig, dass sich die Kolleg:innen über die Betriebe und Orte hinweg koordinieren und Absprachen treffen, wie am besten die Absicht der ver.di-Führung, auch diese Tarifrunde auf das übliche Ritual zu beschränken, durchbrochen werden kann. Ein Zusammenschluss von aktiven Kolleg:innen, die sich nicht mit den faulen Kompromissen abfinden, sondern einen ernsthaften Kampf gegen Inflation und Personalmangel führen wollen, ist mehr als notwendig. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.