Hambacher Forst und Ende Gelände: Welche Strategie gegen die Kohlekonzerne?

Leo Drais, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Der Kampf um den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung spitzt sich zu. Selbst der Tod eines Journalisten am 19. September führte nur zu einer vorübergehenden Aussetzung der Räumung des Hambacher Forstes. Diese hatte das Bauministerium von Nordrhein-Westfalen am 12. September angeordnet. In den Morgenstunden des 13. September begann der brutale Einsatz. Der Staat fuhr dafür ein Großaufgebot an Polizei und schwerem Gerät auf. Neben Wasserwerfern und Räumpanzern wurden auch Arbeitsbühnen, Kräne, Bagger und Maschinen zum Holzeinschlag vorgehalten. Mehrere Polizeihundertschaften und das Spezialeinsatzkommando sind vor Ort und räumen die Baumhäuser. Als Vorwand hierfür dienen dem Bauministerium von ihnen nicht eingehaltene Brandschutzbestimmungen.

Der eigentliche Hintergrund ist freilich, dass der Energiekonzern RWE, seines Zeichens Eigentümer der Waldes, ab Mitte Oktober über 100 ha des einst riesigen Forstes roden will, um an die Braunkohle darunter zu kommen. Das Bündnis „Ende Gelände“ hatte daher zu großen Blockadeaktionen im Hambacher Tagebau vom 25.-29. Oktober aufgerufen. Doch die Ereignisse haben die Planungen überrollt.

Wöchentlich finden Massenproteste am Hambacher Forst mit tausenden Menschen statt, organisiert von Umweltschutzorganisationen wie BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), NABU (Naturschutzbund Deutschlands), Greenpeace, attac, den Grünen sowie Teilen der radikalen Linken. Währenddessen tagt in Berlin die sogenannte „Kohlekommission“, um bis zum Jahresende einen Plan zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu erarbeiten, wobei anzunehmen ist, dass der Ausstieg um viele Jahre verschleppt werden wird, während die selbst gesteckten Klimaziele Deutschlands (Reduktion des Treibhausgasausstoßes bis 2020 um 40 % im Vergleich zu 1990, Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung von 18 % bis 2020) in Rauch aufgehen.

Beim Kampf um den Hambacher Forst geht es dabei letztlich um weit mehr als den Erhalt eines Waldstücks und die Braunkohleverstromung. Er ist ein Bestandteil des Kampf um wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel und zur Sicherung der natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz – ein Ziel, das angesichts verschärfter kapitalistischer Konkurrenz in noch weitere Ferne rückt.

Braunkohle und Widerstand

Der Tagebau Hambach ist Teil des rheinischen Braunkohlereviers, dessen Brennstoff in den naheliegenden Kraftwerken zur Stromerzeugung verfeuert wird. Neben dem Rheinland ist die Lausitz das zweite große Braunkohleabbaugebiet in der Bundesrepublik. Die in den rheinischen Kraftwerken freigesetzten Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) zählen zu den höchsten CO2-Emissionen durch Elektrizitätswerke weltweit. Die Auswirkungen sind aber nicht nur die Freisetzung von CO2, sondern auch das Umkrempeln des Lebensraumes der Menschen zwischen Köln und Aachen. Acker- und Waldflächen sind verloren, Ortschaften und Verkehrswege wichen ebenso den riesigen Löchern in der Erde. Hinzu kommen Belastungen des Grundwassers und hochgiftiger Feinstaub.

Daher gab es mit Beginn des Braunkohleabbaus bereits Widerstand in den angrenzenden Ortschaften gegen ihre Umsiedlung. Viele davon existieren heute nicht mehr. Heute hat der Protest gegen den Kohleabbau seinen Schwerpunkt vor allem im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel und für „Klimagerechtigkeit“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Kritik am CO2-Ausstoß der sogenannten Industrienationen wie z. B. Deutschland, dessen negative Folgen (Dürre, Anstieg des Meeresspiegels, Stürme,…) vor allem die ausgebeutete halbkoloniale Welt zu tragen hat.

Viele AnwohnerInnen unterstützen zum Teil seit Jahren die Proteste gegen RWE & Co. Ein Großteil der Bevölkerung im Rheinland hält den Polizeieinsatz für überzogen, der der teuerste in der Geschichte von Nordrhein-Westfalen werden könnte.

Die Frage der Protestform

Der Einsatz, mit dem die AktivistInnen im Hambacher Forst Bäume besetzten oder im Rahmen von „Ende Gelände“ immer wieder in Tagebaue im Rheinland oder in der Lausitz eindrangen, verdient enormen Respekt. Es wurde große öffentliche Aufmerksamkeit für die Thematik erzeugt und zumindest kurzzeitig der Betrieb gestört. Der Kampf der BaumhausbewohnerInnen bei der Verteidigung des Waldes verdient unsere Solidarität. All jene, die hierbei staatliche Repression erfahren, sind bedingungslos zu verteidigen.

Die Aktionsform, durch Besetzungen umweltschädliche Maßnahmen zu verhindern, hat eine lange Tradition in der Bewegung, die bis in die 1970er und 1980er Jahre zurückreicht. Um erfolgreich zu sein, muss sie allerdings auch mit einer Massenbewegung und Unterstützung verbunden sein. Ansonsten ist es für die Herrschenden ein Leichtes, die Bevölkerung gegen AktivistInnen in Stellung zu bringen und ihre Aktionen zu isolieren.

Im Hambacher Forst ist die Verbindung zweifellos gegeben. Die Aktiven der Besetzung sind politisch im wesentlichen libertär, anarchistisch oder (post)autonom geprägt. Aktionsbündnisse wie „Ende Gelände“ werden von der „Interventionistischen Linken“ und anderen post-autonomen Kräften dominiert. Die Massendemonstrationen und -aktionen wiederum werden vor allem von den Umweltverbänden und zu einem geringeren Teil Gruppierungen wie attac getragen – im „Hintergrund“ steht die Grüne Partei, in geringerem Maße die Linkspartei.

Auch wenn die radikaleren, anti-kapitalistisch ausgerichteten Kräfte den Aktionen ihren Stempel aufdrücken, so stellen die Umweltverbände die Masse und sind letztlich politisch in der Vorhand.

Dies hat zwei Gründe. Erstens können solche Besetzungen und militanten Aktionen einer Minderheit letztlich ohne eine unterstützende Masse und die Gewinnung der Öffentlichkeit nicht gehalten werden. Zweitens zielen sie natürlich darauf, Druck auf die Landesregierung auszuüben, RWE bei der Rodung zu stoppen und einen möglichst raschen Kohleausstieg zu erzwingen.

Doch wie dieser genutzt wird – darüber entscheidet keine „Bewegung“ und bestimmen erst recht nicht die BesetzerInnen oder „Ende Gelände“. Die Dynamik der Bewegung versuchen vielmehr die VertreterInnen von Greenpeace, BUND und der Grünen – ohne jegliche Kontrolle der Basis – beim Schacher am Verhandlungstisch der Kohlekommission für sich zu nutzen. Bislang mit bescheidenem Erfolg, werden doch „Ausstiegsdaten“ wie 2038 kolportiert. RWE will erst 2045 den Braunkohletagebau einstellen, Greenpeace soll sich angeblich mit 2030 anfreunden können. Inzwischen wollen die LobbyistInnen Fakten schaffen, da sie verhindern wollen, dass auch der noch verbliebene Teil des Hambacher Forstes „ungenutzt“ bleibt.

Die Umweltbewegung, vor allem aber die radikaleren AktivistInnen stehen hier vor einem Dilemma. Mit ihren Aktionsformen, ihren Mitteln können sie nicht mehr leisten, stehen ihn im Grunde nur zwei strategische Optionen des Ausstiegs aus der Kohleverstromung und vor allem zur Reorganisation der Energiewirtschaft offen. Bei der einen läuft es auf eine generelle Reduktion, wenn nicht die Abschaffung industrieller Großproduktion hinaus, die durch „selbstverwaltete“ Formen der Kleinwirtschaft ersetzt werden soll. Ein solches Ziel ist nicht nur utopisch angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse. Es ist auch reaktionär, weil damit weder die Mittel zur Verfügung stünden noch die notwendige Koordination globaler Maßnahmen möglich wäre, um den Klimawandel zu stoppen und die Bedürfnisse von Milliarden Menschen auf der ganzen Welt zu befriedigen (einschließlich einer massiven Ausdehnung der Industrieproduktion auf große Teile der sog. „Dritten Welt“).

Der andere Ausweg ist ein Abkommen mit Kapital und Regierung zum „ökologischen Umbau“ der Gesellschaft. Daran werkelt zur Zeit die „Kohlekommission“.

Kapital und Arbeit

Ein solcher „grüner“ Deal wird nicht funktionieren. Eine gewisse Beschleunigung des Kohleausstiegs mag zwar erreichbar sein – aber sicher keine ausreichenden Maßnahmen beim „Gesamtpaket“ Klimawandel. Selbst das sog. 2-Grad-Ziel rückt global in weite Ferne.

Die zur Erreichung dieses Ziels notwendigen Maßnahmen sind schlichtweg nicht durchsetzbar, solange die Umweltpolitik an den Profitinteressen des Kapitals ihre Grenze findet, solange RWE & Co. bestimmen, was zu welchen Bedingungen produziert und verkauft wird.

Nehmen wir nur RWE, einen letztlich kleinen Teil des Gesamtproblems. Der Konzern macht riesige Profite durch die Stromproduktion, wobei die gleichzeitige Zerstörung unserer Lebensgrundlage billigend in Kauf genommen wird. Wenn nun gefordert wird, aus der Kohleverbrennung auszusteigen, ist es für die KapitalistInnen und auch die Regierung ein Leichtes zu sagen, das gefährde die Jobs der 9.000 Beschäftigten im Rheinland. Doch dieses Argument ist nur ein Vorwand. Die Kohleverbrennung ist vielmehr billig und daher ein zentrales Element im Profit von RWE (Nettogewinn 2017: 1,9 Mrd. Euro). Weiterhin hat RWE bereits massiv in die Braunkohleverstromung investiert, z. B. durch Kauf des Hambacher Forstes. Diese Investitionen hat ein kapitalistischer Staat wie Deutschland zu schützen und dementsprechend verhalten sich CDU, SPD, AfD und FDP – und auch die IG BCE. Und natürlich sind auch die Grünen für einen Deal mit dem Kapital zu haben, wie sie mit ihrer Zustimmung zur Rodung des Forstes in der ehemaligen rot-grünen Landesregierung hinlänglich bewiesen haben.

Tatsächlich sind die Jobs jedoch absolut zweitrangig für die KapitalistInnen und ihre staatlichen HelferInnen in der Landesregierung und im Bundestag. Wenn die Streichung von Stellen in den Augen der KapitalistInnen ihren Gewinn erhöhen könnte, so würden diese auch auf die eine oder andere Weise dem Drang nach Profit zum Opfer fallen. Ein Beispiel dafür findet sich in den 1990er Jahren, wo RWE tausende Arbeitsplätze durch Rationalisierung gestrichen hat.

Eine besonders unrühmliche Rolle bei der Verhandlung um den Kohleausstieg nimmt die sogenannte ArbeiterInnenbürokratie ein. In diesem Fall sind das konkret die Betriebsräte und die Führung der Gewerkschaft IG BCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie). Jüngst haben Betriebsräte vor einem „vorschnellen“ Kohleausstieg gewarnt – auch hierbei wird wieder das Jobargument bemüht. Das ist kein untypisches Verhalten für die offiziellen „Arbeitnehmer“vertreterInnen, wobei sie letztlich den KapitalistInnen in der Argumentation nachlaufen. Das ist auch kein Zufall, denn ihre privilegierte Stellung ist im Rahmen der „Sozialpartnerschaft“ absolut abhängig von der Energieindustrie. Dementsprechend hat die IG BCE die Arbeitsplatzstreichung in den 1990er Jahren auch fleißig mit getragen.

In der Tat braucht es eine Perspektive für die Beschäftigten im Kohlebergbau und in den Kraftwerken und, wie diese für den Kampf gegen die Konzerne gewonnen werden können. Wie es mit den rund 21.000 Menschen (Lausitz und Rheinland) nach einem Kohleausstieg weitergehen soll, beantwortet der aktuelle Aufruf von „Ende Gelände“ leider nicht und erst recht nicht der bürgerliche Teil der Umweltbewegung. Zwar wird im Aktionskonsens geschrieben, dass sich die Aktionen nicht gegen die RWE-MitarbeiterInnen richten, viel mehr aber leider nicht. In der Umweltbewegung gibt es Tendenzen, die ArbeiterInnen in der Energiebranche als GegnerInnen zu betrachten.

Das mag hervorgerufen sein durch Konfrontationen mit dem RWE-Wachschutz oder, weil die ArbeiterInnen mit dem Energiekonzern selbst gleichgesetzt werden. Allerdings ist dies unserer Ansicht nach nicht zielführend. Vielmehr sollte es darum gehen, die Beschäftigten von RWE von ihrer aktuellen Bindung an die Interessen „ihrer“ Konzerne, von RWE, Vattenfall und Konsorten zu brechen und für unseren Kampf zu gewinnen. Das schließt auch ein, ihnen eine Perspektive für die Zeit „nach der Kohle“ vorzuschlagen. Dazu gehören eine Weiterbeschäftigung ohne Lohnverlust und Einsatz bei anderen, für den Umbau des Energiesektors wichtigen Aufgaben.

Diese Perspektive ist nur gegen die Kapitalinteressen durchsetzbar. Erst recht gilt das für die Umstrukturierung des Energiesektors selbst und die Umstellung von Produktion und Konsum im Interesse des Erhalts der Umwelt wie der Menschen. Das ist ohne die Enteignung der Konzerne einfach unmöglich.

Hier zeigt sich aber auch, warum die ArbeiterInnenklasse nicht nur als politische Unterstützerin gewonnen werden, sondern sich zum zentralen Subjekt im Kampf für den Klimawandel erheben muss:

  • Nur sie verfügt über das technische Know-how für einen geplanten Ausstieg aus der Kohleverbrennung (nicht nur in Elektrizitätskraftwerken, sondern auch in Heizkraftwerken) hin zu erneuerbaren Energien.
  • Sie hat Zugang zu den Produktionsmitteln (Tagebau, Kraftwerk, Forschung) und kann dadurch die Produktion lahmlegen.
  • Durch das Lahmlegen der Produktion im Rahmen eines politischen Streiks kann massiv Druck auf Kapital und Staat ausgeübt werden. Dabei kann der Organisationsgrad der Arbeitenden erhöht werden, z. B. durch Aufbau von Streikkomitees und Verteidigung des Streiks gegen Repression.
  • Die Organisierung der ArbeiterInnen durch den politischen Kampf kann die Grundlage dafür schaffen, dass die Arbeitenden im Rahmen einer entschädigungslosen Enteignung der Energiekonzerne selbst die Kontrolle über die Produktion übernehmen und sie dahingehend planen, dass ein schnellstmöglicher Ausstieg aus der Kohleenergie möglich wird, ohne dass es zu ihren Lasten geschieht.

Der Umsetzung dieser Strategie steht derzeit vor allem die Politik der Gewerkschaftsbürokratie entgegen. Nichtsdestotrotz bleibt sie notwendig, da Kapital und Staat unfähig und unwillig sind, auf zügigem Wege aus der zerstörerischen, aber profitbringenden Kohleenergie auszusteigen. Andernfalls ist zu erwarten, dass der Kohleausstieg, wenn er denn kommt, über Arbeitsplatzstreichungen und Steuern auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung finanziert werden soll. In diesem Kontext schlagen wir einen Forderungskatalog vor, der Eckpunkte zur Energiewende mit einer klassenkämpferischen Perspektive verbindet:

  • Solidarität mit den BesetzerInnen: Rodung des Hambacher Forstes verhindern! Bullen raus aus dem Wald, organisierte Gegenwehr gegen die Räumungsversuche! Massenaktionen gegen RWE und Kohleindustrie! Bundesweite Aktionskonferenz zur Durchsetzung des Kohleausstiegs!
  • Für die ökologischen Katastrophen ist die herrschende Klasse verantwortlich – daher soll sie für die Schäden aufkommen! Entschädigungslose Enteignung der Energie- und Transportindustrie unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für den schnellstmöglichen organisierten Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung und Einstieg in klimaneutrale Erzeugung im Rahmen eines Energieplans unter ArbeiterInnenkontrolle! Für einen solchen Plan auf europäischer und weltweiter Ebene, der Verkehr, Industrie, Haushalte, Strom- und Wärmegewinnung integriert!
  • Weg mit dem Emissionsrechtehandel und der Subventionierung von „regenerativer Energie“! Den „blind“ wirkenden Marktmechanismen setzen wir das bewusste, planmäßige Eingreifen in die Produktion entgegen. Für die Förderung von Energie und Ressourcen sparenden Techniken, bezahlt vom Kapital!
  • Für ein globales Programm zur Wiederaufforstung von Wäldern, der Renaturierung von Mooren und zum Schutz des Bodens und der Meere als CO2-Senken! Entschädigungslose Enteignung von LandbesitzerInnen, nachhaltige Bewirtschaftung unter Kontrolle der ArbeiterInnen und BäuerInnen!
  • Für Forschung nach neuen Energien wie Kernfusion und zur Lösung der Speicherproblematik der erneuerbaren Energien, zur Minimierung bzw. Beseitigung des Schadstoffproblems (Atommüll) unter ArbeiterInnenkontrolle und auf Kosten der Energiekonzerne!
  • Gegen die Spaltung von Umweltbewegung und Beschäftigten in umweltgefährdenden Betrieben! Umschulung und neue Arbeitsplätze zu gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen! Gegen prekäre Beschäftigung in der Branche erneuerbarer Energien: gleiche Bedingungen für alle Beschäftigten in Windkraft-, Solarbetrieben wie für jene in Bergbau, AKWs und bei den Stromkonzernen!



Brasilien vor dem Showdown

Liga Socialista, brasilianische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Die am 7. Oktober stattfindenden Präsidentschaftswahlen (erster Wahlgang) finden in einer äußerst angespannten politischen und ökonomischen Lage statt. Nachdem der bisher in den Umfragen führende Präsidentschaftskandidat der ArbeiterInnenpartei, Lula da Silva, von den Wahlen ausgeschlossen wurde, droht derzeit der Sieg des extrem rechten, rassistischen, ja halb-faschistischen Ex-Militärs Jair Bolsonaro.

Der Putsch

Am 31. August 2016 stimmten die Mitglieder des Senats der Anklage gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der PT (der sozialdemokratischen „ArbeiterInnenpartei“) zu, die damit ohne Beweise für von ihr begangene Unrechtmäßigkeiten aus dem Amt entfernt wurde. Tatsächlich war es ein Putsch der reaktionären Rechten, die es nicht mehr ertragen konnte, dass die PT das Land regierte, selbst mit deren Politik der Klassenversöhnung, die den Interessen der Bourgeoisie diente.

Seitdem haben die Putschisten, die Regierung in Zusammenarbeit mit Kongress und Justiz ihre Absichten deutlich gemacht. Es folgten Angriffe auf Arbeitsrecht und soziale Sicherungen, den öffentlichen Dienst – Einführung einer Schuldenobergrenze für die nächsten 20 Jahre – und auf die demokratischen Freiheiten. Neben politischen Morden (so an der PSOL-Abgeordneten Marielle in Rio) macht sich die Gewalttätigkeit der Rechten auch in direkten Militärinterventionen deutlich (Ausnahmezustand in Rio und vielen Favelas).

Heute führt der Putsch, der weltweit verurteilt wurde, zur Zerstörung der Rechte der Arbeitenden und zur Verhaftung der Führung der wichtigsten Organisationen der unteren Klassen. Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident Brasiliens von 2003-2011, wurde ohne klare Beweise verurteilt und wird von der Bundespolizei in Isolationshaft festgehalten. Sie können nicht verbergen, dass die Verhaftung von Lula neben dem Ziel, sein politisches Leben und das seiner Partei zu beenden, darauf abzielt, die Rückkehr der PT an die Regierung zu verhindern, da sie wissen, dass jede/r rechte KandidatIn bei den Wahlen gegen Lula verlieren würde.

Eine Wahl ohne Lula ist Betrug

Die PT-Führung fuhr eine politische Linie, die in dem Satz „eine Wahl ohne Lula ist Betrug“ zusammengefasst ist, und kämpfte bis zum Ende für die Kandidatur von Lula für das Präsidentenamt mit Fernando Haddad als Vizepräsidenten. Nach der Abweisung der Kandidatur von Lula appellierte die PT an alle Justizbehörden und sogar an die UN-Menschenrechtskommission, die erklärte, Brasilien solle die Kandidatur von Lula zulassen. Die RichterInnen der Putschisten erkannten jedoch die Entscheidung der UNO nicht an.

Diese Haltung der PT war insofern wichtig, als sie den Protest gegen die ungerechte Verurteilung und Inhaftierung von Lula landes- und weltweit bekannt machte und das Justizsystem und die Staatsführung als das entlarvte, was sie sind. Der Vizepräsidentenkandidat für das semi-faschistische Wahlbündnis von Jair Bolsonaro (PSL), General Hamilton Mourão, sagte sogar, dass er eine militärische Intervention nicht ausschließen würde, wenn Lula als Kandidat antreten könne. All dies trug dazu bei, die Militanz der PT-Mobilisierung zu erhöhen.

Am letzten Tag der vom Obersten Wahlgericht (TSE) festgelegten Frist zur Änderung von BewerberInnen für das Präsidentenamt änderte die PT die Kandidatur auf Fernando Haddad (PT) und lancierte als Vizepräsidentschaftskandidatin Manuela d’Ávila (Manu) von der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB, „ReformkommunistInnen“). Nun versucht die PT, Lula aus dem Gefängnis heraus in die Kampgane einzubeziehen, um sicherzustellen, dass seine massive Zustimmung in der Bevölkerung auf Haddad übertragen wird. Bereits jetzt zeigen Meinungsumfragen, dass dessen Unterstützung zunimmt, obwohl ihm das Charisma von Lula bei der ArbeiterInnenklasse und den Unterdrückten fehlt. Zu bekannt ist auch noch seine Bilanz als Präfekt (Oberbürgermeister) von Sao Paulo.

Die Linke und die Wahlen

Wieder ist es nicht gelungen, eine einheitliche Front der Linken hinter einer/m einzigen KandidatIn für diesen Wahlkampf zu schaffen. Die PSOL (die linksreformistische „Partei für Sozialismus und Freiheit“), beschloss, Guilherme Boulos, den jungen Führer der MTST („Bewegung der wohnungslosen ArbeiterInnen“) als Kandidat für das Amt des Präsidenten vorzustellen und ein Bündnis mit der PCB (die alt-stalinistische „Kommunistische Partei Brasiliens“) einzugehen.

Es ist eine propagandistische Kandidatur, die darauf abzielt, AktivistInnen für die PSOL zu gewinnen und der brasilianischen Linken eine etwas linkere Richtung zu geben. Die Wahlplattform ist jedoch ebenso rein reformistisch ausgerichtet wie die der PT. Aber wie die vorangegangenen Kandidaturen zeigen Meinungsumfragen, dass sie wieder kaum die üblichen 1 % schaffen werden.

Die PCO (Partido da Causa Operária, eine größere zentristische Organisation) arbeitete bis zum letzten Moment mit dem Slogan „Lula oder gar nichts“, obwohl sie nicht am Wahlblock mit der PT teilnahm. Sie hat diese politische Linie fortgesetzt und ihre eigenen KandidatInnen für das Parlament aufgestellt. Sie hat sich nicht der Haddad/Manu-Kampagne angeschlossen.

Die PT hat nun die Haddad/Manu-Plattform gestartet, hatte aber zuvor wieder einmal einen bürgerlichen Bündnispartner gefunden: die PROS (Partido Republicano da Ordem Social – Partei des sozialen Republikanismus). Die PROS unterstützte jedoch den Putsch und stimmte für die arbeit„nehmer“Innenfeindliche Arbeitsreform. Außerdem unterstützt die PT in einigen Bundesstaaaten rechte KandidatInnen wie Renan Calheiros (MDB), Renan Filho (MDB), Eunício Oliveira (MDB) und Paulo Câmara (PSB). Damit missachtet die PT-Bürokratie die Entscheidungen ihrer Basis und Anhängerschaft mit der Begründung, dass solche Allianzen eine notwendige Taktik für den Sieg seien. Wir wissen, dass der wahre Grund ganz anders ist: Die PT-Bürokratie versucht, der Bourgeoisie zu zeigen, dass die Partei unter ihrer Kontrolle und nicht gefährlich für sie ist.

Die PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado), die der morenoistischen Organisation LIT-IV international angegliedert ist, hat eine skandalöse sektiererische Linie gegenüber den Parteien der ArbeiterInnenklasse eingeschlagen, die, wie so oft, zu grobem Opportunistismus gegenüber den Kräften der Bourgeosie geraten ist. Von Beginn der Anti-Dilma-Mobilisierungen an sowie nach dem Putsch favorisierte sie den Slogan „Weg mit Dilma, weg mit ihnen allen!“ und zeigte damit, dass sie bereit war, sich in eine vereinte Front mit der rechten Bourgeoisie zu stellen, um die PT zu zerstören. Diese gemeinsame Front setzt sich auch heute fort und dies wird durch die Tatsache deutlich, dass sie fordert, dass Lula inhaftiert bleiben muss. Sie hält die „Lava-Jato“-Verurteilungen für rechtmäßig. Diese ursprünglich zur „Korruptionsbekämpfung“ durchgeführte Justizkampagne (gegen die „Geldwaschanlage“ = „Lava-Jato“) ist inzwischen längst zu einer Waffe der Putschisten geworden, die hauptsächlich PT-PolitikerInnen verurteilen und verhaften.

Für eine Einheitsfront

Angesichts nicht nur eines parlamentarischen und juristischen Putsches sollten die Linken sich um eine gemeinsame Abwehrfront bemühen, um einen Sieg der ArbeiterInnenklasse zu erringen. Wir wissen, dass die Parteidifferenzen groß sind, aber sie dürfen nicht als Vorwand verwendet werden, sich einem gemeinsamen Kampf gegen die Rechte zu verweigern. Sicherlich muss die PT ihre Bündnisse mit den rechten Parteien, ihre Regierungen der Klassenversöhnung im Interesse der Bourgeoisie selbstkritisch bilanzieren – eine Politik, die letztlich den Putsch möglich machte, der diesen Rückschlag für die gesamte ArbeiterInnenklasse zur Folge hatte. Damit die immer noch von der PT geführte ArbeiterInnenklasse erfolgreich ist, muss sie gezwungen werden, endgültig mit den Parteien der rechten Putschisten zu brechen. Dies gilt auch für die PCdoB, die an allen PT-Regierungen beteiligt war, z. B. in Maranhão, wo sie die Regierung des Bundesstaates innehat.

Es ist unter diesen Bedingungen nicht verwunderlich, dass eine einheitliche Front der Linken für den Wahlkampf mit PSOL, PCB, PCdoB und PT nicht zustande gekommen ist. Die PT ist die Partei, die die weitaus größte ArbeiterInnenbasis hat, die wir trotz der Stärke ihrer (verräterischen) Bürokratie nicht in deren Händen lassen dürfen. Die Teilnahme der PT-Basis ist sehr wichtig für den Sieg der ArbeiterInnenklasse. Die PSOL erwies sich im Parlament als propagandistisch stark im Kampf gegen den Putsch, gegen Arbeitsreform und Outsourcing, während die PCB dort auch die Stärke und den Wert ihrer AktivistInnen auf der Straße zeigte. Diese Kräfte würden die PT-Bürokratie mit der Taktik der Einheitsfront viel besser bekämpfen, als sie es je durch Wahlkampfrivalität könnten. Was wir brauchen, ist die Einheit in der gemeinsamen Aktion mit dem Recht aller Parteien, ihre eigenen Programme vorzustellen und die ihrer Verbündeten zu kritisieren.

Wir in der Sozialistischen Liga haben argumentiert, dass linke Parteien eine Einheitsfront aufbauen müssen, um dem Staatsstreich und der reaktionären Rechten eine wirksame Abwehr entgegenzustellen und auch, um die Kombination aus militärischem Bonapartismus und Faschismus, deren Führer Jair Bolsonaro ist, besiegen zu können.

Die Wahlen und darüber hinaus

Wenn eine politische Kraft beschließt zu putschen, um die Macht zu übernehmen, hat sie sicherlich nicht die Absicht, sie nach zwei Jahren in diesem Wahlprozess aufzugeben. So kann man sicher sein, dass die Putschisten alles ihnen zur Verfügung Stehende tun werden, um über Jahre bzw. Jahrzehnte an der Macht zu bleiben.

Wir müssen bereit sein, uns auf widrigere Bedingungen des Kampfes für die ArbeiterInnenklasse einzustellen. Die Messerattacke auf den semi-faschistischen Präsidentschaftskandidaten Bolsonaro (der in den Umfragen führt) macht deutlich, dass Akte des individuellen Terrors jedoch nur der Reaktion nutzen. General Mourão, der Stellvertreter von Bolsonaro, hat bereits begonnen, die politische Linie zu bestimmen und kündigt an, dass er die Attacke zum Anlass für die Abrechnung mit der gesamten Linken nehmen wird. Teile der Bourgeoisie scheinen auch eine direkte Militärintervention für den Fall eines PT-Sieges zu überlegen. Entsprechende Äußerungen wurden bereits vom Oberkommandierenden der Streitkräfte getätigt. In diesem Fall kann nur die vereinte ArbeiterInnenklasse dagegen aufstehen.

Unser Kampf hört nicht mit dem Ende des Wahlprozesses auf. Im Gegenteil, er wird sich danach intensivieren – unabhängig davon, wer gewinnt. Wir müssen die ArbeiterInnenklasse organisieren, indem wir Widerstandskomitees an Arbeitsplätzen, Schulen, in Nachbarschaften usw. bilden.

Wir müssen den Wahlkampf nutzen, um die verschiedenen Sektoren der ArbeiterInnenklasse im Kampf um die Stimmen, aber auch um ihre Rechte und demokratischen Freiheiten zu organisieren.

In diesem Sinne fordern wir die PT und die PCdoB auf, mit der rechten Putschpolitik zu brechen und ihre Anhängerschaft für einen größeren Kampf zu organisieren, die Straßen des Landes zu besetzen und den Kampf für eine gerechte und egalitäre Gesellschaft zu gewährleisten. Wir erkennen die Bedeutung anderer linker Parteien im Kampf gegen den Putsch und gegen Angriffe auf die Rechte der ArbeiterInnenklasse an und wir fordern auch PCB, PSOL und PCO auf, sich in diesem Kampf mit der PT und PCdoB zusammenzuschließen. Wir befinden uns an einem entscheidenden Moment im Klassenkampf.

Die Sozialistische Liga bei den Wahlen

Dieser Wahlkampf ist ganz anders als die vorangegangenen, auch wenn man den letzten berücksichtigt, als der Wahlausgang zwischen Aécio Neves (PSDB) und Dilma Rousseff (PT) sehr knapp war. In diesem Wahlkampf unternehmen die Putschisten natürlich alle Anstrengungen, um an der Macht zu bleiben. Wenn wir jede Anstrengung sagen, beziehen wir uns auf alle Methoden, einschließlich der schmutzigsten und gewalttätigsten. Andererseits ist die Reaktion der Massen auf die Putschisten klar. Aber wir brauchen mehr, wir müssen die ArbeiterInnenklasse für einen größeren Kampf vereinen, gegen die Putschisten und gegen den Imperialismus, der sich durch den Putsch bereichert.

Der Halbfaschist Jair Bolsonaro, der sich nun als Märtyrer ausgeben kann, führt jetzt die Umfragen an. Dies ist ein Mann, der die Regime der Militärdiktatur von 1964-1985 lobt, der die Demokratie offen verspottet und die Militärbasen im ganzen Land bereist, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Er wäre eindeutig bereit, durch einen direkten Militärputsch an die Macht zu kommen, der den bisherigen „konstitutionellen Putsch“ wie ein Picknick aussehen ließe. Aber wenn er die Zustimmung der Bevölkerung zu einer Wahl mit dem Spektrum der rechtsbürgerlichen Parteien hinter sich gewinnen könnte, wäre dies natürlich ein großer Vorteil für ihn, sobald er eine massive Repression gegen die ArbeiterInnen und die plebejischen Massen entfesseln würde. Er könnte behaupten, es sei eine legitime Vorgehensweise, die von „dem Volk“ gebilligt wurde. Die militärisch-bonapartistische Seite seiner Politik ist damit klar. Aber es gibt auch eine andere an Bolsanaro, nämlich das Schüren von blankem Rassismus gegen „nicht-weiße“ BürgerInnen, das Aussprechen von Hassparolen und sogar Morddrohungen gegen die Militanten und die FührerInnen der Linken, insbesondere der PT. Frauen und auch LGTB-Menschen müssen mit repressiven und patriarchalischen Politiken rechnen, die sie um Jahrzehnte zurückwerfen werden. All dies zielt darauf ab, eine reaktionäre plebejische Massenbasis auf den Straßen für den Einsatz gegen die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren. So ist Bolsonaro eine semi-faschistische und semi-bonapartistische Figur.

Was auch immer der genaue Charakter seines Regimes sein mag, wir können sicher sein, dass er einen regelrechten Bürgerkrieg gegen die ArbeiterInnenklasse, die armen Bauern und Bäuerinnen sowie die indigene Bevölkerung auslösen würde, um ihre Organisationen zu zerstören. Es ist von entscheidender Bedeutung, ihn und das Spektrum der rechten Parteien, die ihn unterstützen, zu bekämpfen, eine gemeinsame Front des Kampfes aller Parteien der Linken, aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse zu bilden. Die Wahl selbst ist Teil dieses Kampfes, aber sie ist weder der Anfang noch das Ende. Der Wahlkampf sollte genutzt werden, um die Alarmglocken in jedem Teil der Massen zu läuten, um sie bei den Demonstrationen und Kundgebungen, an den Arbeitsplätzen und in den Favelas zu mobilisieren.

Als Teil dieses Kampfes und um die Vereinigung der Massenmitgliedschaft von PT, CUT (der PT nahestehende Gewerkschaftsdachverband) und MST (der PT nahestehende Bewegung der Landlosen) mit den Kräften der Linken zu erleichtern, empfehlen wir eine Stimmabgabe für die Präsidentschafts- und VizepräsidentschaftskandidatInnen der PT/PCdoB. Gleichzeitig werden wir ihre Schwäche und Ausflüchte im Kampf gegen die Rechte kritisieren und die PT-Basis auffordern, diese zu korrigieren und so viel Kontrolle wie möglich in ihre eigenen Hände zu nehmen.

Bei den (gleichzeitig für die Hälfte der Sitze stattfindenden) Wahlen zu den beiden Kammern des Parlaments hingegen empfehlen wir in jedem Wahlkreis eine Stimme für die Partei, die die Mehrheit der organisierten ArbeiterInnen hinter sich hat, sofern sie sich dem Staatsstreich widersetzt und die einheitliche Front der ArbeiterInnen unterstützt hat. Sowohl bei den Präsidentschafts- als auch bei den Parlamentswahlen vermitteln wir eine starke Botschaft der Einheit der ArbeiterInnenklasse, um die Rechte zu besiegen, die demokratischen Errungenschaften wiederherzustellen und zu verteidigen und den Weg zu einer ArbeiterInnenregierung zu ebnen. Eine ArbeiterInnenregierung muss die Macht des bürgerlichen Staatsapparates brechen und den Apparat der Unterdrückung zerstören, alle Verletzungen demokratischer Rechte aufheben und rückgängig machen und die Bedürfnisse der Massen befriedigen, indem sie große soziale Maßnahmen vorantreibt. Diese sollten aus der Besteuerung des Vermögens der Reichen und der großen imperialistischen Banken und Unternehmen bezahlt, das Großkapital entschädigungslos und unter ArbeiterInnenkontrolle enteignet und ein demokratischer Plan zur Befriedung der Bedürfnisse der Massen ausgearbeitet werden.

Deshalb: keine Stimme für den Putsch! Keine Stimme für Parteien, die für die Arbeitsreform und das Outsourcing stimmten. Wir sollten sowohl in der ersten als auch in der zweiten Runde für den PT/PCdoB-Präsidialblock stimmen trotz all unserer Kritik, denn sein Sieg würde die Putschisten in ein Dilemma bringen. Sie müssten entweder mit einem groß angelegten militärisch-faschistischen Staatsstreich an die Öffentlichkeit gehen, zu einer Zeit, in der die Massen bereits in Millionenstärke gegen sie mobilisiert wurden, oder sie müssten sich wieder in ihre Löcher zurückschleichen.

Bei den Parlamentswahlen stimmen wir für die Parteien, die sich zur Verteidigung der ArbeiterInnenklasse zusammengeschlossen haben. In diesem turbulenten Szenario von Angriffen auf demokratische Freiheiten, Rechte und Errungenschaften und angesichts der faschistischen Bedrohung plädieren wir dafür, dass die ArbeiterInnenklasse für die diejenigen Linken in PT, PCdoB, PSOL, PCB und PCO stimmt, die gegen den Putsch und gegen die Angriffe der Putschregierung kämpfen.

  • Stoppt den Putsch von rechts und Bolsonaro!
  • Komitees des Widerstands am Arbeitsplatz und Selbstverteidigungseinheiten der ArbeiterInnen!
  • Auf die Straße zur Verteidigung unserer Rechte und Errungenschaften!
  • Gegen die Rentenreform und für den Widerruf aller anderen Angriffe der Putsch-Regierung!



Der Fall Maaßen und die Große Koalition

Robert Teller, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Hans-Georg Maaßens Dienste am Vaterland waren wohl zu gewichtig, um ihn einfach in hohem Bogen rauswerfen zu können: seine Rolle in der Kurnaz-Affäre, die Veranlassung des Verfahrens wegen Landesverrats gegen netzpolitik.org, seine bekanntermaßen wenig kritische Haltung zur „Identitären Bewegung“, Falschaussagen im Amri-Untersuchungsausschuss. Nach rechts offen war er auch schon, als er 2012 das Amt des Verfassungsschutzpräsidenten im NSU-Skandal mit der Ankündigung übernommen hatte, „Vertrauen zurückzugewinnen“.

Strafversetzt nach ganz oben

Nach Chemnitz hatte er sich nicht nur zum populistischen Sprachrohr Seehofers gemacht, sondern auch offen gegen Angela Merkel geschossen. Die Strafe für ihn fiel dennoch gering aus, umso heftiger dagegen die Empörung über die so durchschaubare wie dilettantische Kungelei innerhalb der Koalition. Statt, wie zunächst vorgesehen, um ein paar Gehaltsstufen nach oben und zum Staatssekretär befördert zu werden, gibt es jetzt einen für ihn geschaffenen Sonderposten im Innenministerium, für den er, wie schon zur Zeit als Verfassungsschutz-Chef, satte 10.746,50 Euro pro Monat erhält.

Schließlich war seine Verfehlung nicht, wie von der SPD-Führung behauptet, „mangelnde Kompetenz“. Maaßen selbst drückt es so aus: Zu seinen Aufgaben gehöre nicht nur der Schutz der Verfassung, sondern auch die Aufklärung von „Desinformation“. Und zu diesem Zweck streute der Amtsleiter auch mal selbst welche.

Aufklärung ist nun offenbar in Form von eindeutigem Videomaterial aus Chemnitz über die Öffentlichkeit hereingebrochen, wo faschistische Hooligans, NS-Parolen und Gewalt gegen migrantisch aussehende Menschen zu sehen sind. Natürlich geht es nicht um die Frage, ob die Aufnahmen authentisch sind. Gruppierungen wie die „NS-Boys“ stellen in der Chemnitzer Fanszene seit langem einen offen faschistischen Flügel dar.

Das Problem liegt darin, dass die Verharmlosung des im Schulterschluss mit AfD und Pegida agierenden rechten Mobs Wahlkampfhilfe für Seehofer und politische Deckung für Sachsens Ministerpräsident Kretschmer darstellen sollte, aber auch einen offenen Angriff auf Merkels Politik der Abgrenzung gegenüber der AfD. In seiner neuen Position soll Maaßen sich treu bleiben können. Er wird für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei der Durchführung von Abschiebungen und die Aushandlung von diesbezüglichen Abkommen zuständig sein.

Rolle der Geheimdienste

Die Verstrickung des Verfassungsschutzes in rechtsextreme Strukturen ist spätestens seit dem Auffliegen des NSU-Skandals bekannt. Geheimdienste haben keinen „demokratischen Auftrag“ – sie sind Institutionen, die sich per Definition einer demokratischen und rechtlichen Kontrolle entziehen und befugt sind, im staatlichen Auftrag die Grenzen des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaatsprinzips zu überschreiten.

Diese Verstrickung ist daher keine zufällige „Abweichung“ – sie gehört zur Arbeitsweise eines Inlandsgeheimdienstes. Sie verdeutlicht nur, dass die bürgerlich-demokratischen Freiheiten in einer Klassengesellschaft nichts „Absolutes“ sind. Rechtsgleichheit – also das Recht, selbst seine Arbeitskraft „frei“ zu verkaufen – gehört zwar zu den Existenzbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die demokratischen Rechte der ArbeiterInnenklasse oder der Unterdrückten sind jedoch immer den Erfordernissen der Herrschaft des Kapitals untergeordnet. Daher sollen sie auch in Phasen der Instabilität zunehmend eingeschränkt werden. Folglich gehören Verbindungen zur Rechten und Kampf gegen links zur Geschäftsgrundlage des Verfassungsschutzes. Maaßen hat das allerdings für den Geschmack der GroßkoalitionärInnen zu offen formuliert – und damit die SPD an die ungenehme Wahrheit erinnert, dass der Dienst im Ernstfall auch für autoritärere Herrschaftsformen bereitsteht, wenn SPD und die Gewerkschaften als Stützen der „Demokratie“ ausgedient haben sollten.

Die ArbeiterInnenbewegung kann die errungenen bürgerlich-demokratischen Freiheiten nur verteidigen, wenn sie für die Abschaffung aller polizeilichen und geheimdienstlichen Sonderbefugnisse und für die Zerschlagung derartiger Institutionen eintritt. Die SPD hingegen verteidigt nur die Räuberbande gegen ihren Räuberhäuptling, wenn sie für Maaßens Ablösung durch eine/n „geeignete/n“ KandidatIn eintritt.

Auseinandersetzungen in der SPD

Im Falle Maaßen erreichten nicht nur die Chuzpe Seehofers und der Machtverlust Merkels neue mediale Höhen. Besonders dramatisch offenbarte sich der Dilettantismus der SPD-Führung unter Nahles. Nachdem die SPD-Spitze ausnahmsweise eine für ihre Verhältnisse energische Kampagne zur Ablösung Maaßens eröffnet hatte, stimmte die Parteichefin, gestützt von der sozialdemokratischen Ministerregie, seiner Beförderung zu. Erst dann fiel ihnen – ähnlich wie der Kanzlerin – auf, dass die eigene Partei, die Bevölkerung, ja jeder nur einigermaßen denkende Mensch eine Beförderung für eine Beförderung halten könnten.

Innerhalb der SPD hat Maaßen daher erheblichen Widerstand nicht nur der Parteilinken, sondern auch wichtiger Landesverbände wie Nordrhein-Westfalen provoziert, wodurch er auch für ihre Führung zum Problem geworden ist.

Die „neue“ Lösung und eine Reihe von Entschuldigungen können dabei freilich nicht erklären, warum sich die SPD-Spitze ursprünglich auf den Deal mit Maaßen als Staatssekretär eingelassen hat.

Der Grund ist recht einfach. Ähnlich wie Merkel und die CDU-Spitze fürchtet sie den Bruch der Koalition über alles. Und ähnlich wie die Kanzlerin hofft sie, dass es mit der Zeit irgendwie besser würde, dass das „Vertrauen der Bevölkerung“ durch eine „Rückkehr zur Sacharbeit“ wiederhergestellt werden könne.

Die Diskussion drehte sich weniger um die Frage, ob ein nach rechts offener Verfassungsschutzpräsident im Zuständigkeitsbereich Seehofers als solcher akzeptabel ist, sondern um die „Stabilität“ und das „Gesamtinteresse“ der Regierung. Andrea Nahles drückte es wie folgt aus: „Die SPD sollte diese Bundesregierung nicht opfern, weil Horst Seehofer einen Beamten anstellt, den wir für ungeeignet halten.“

Der zum linken Flügel zählende Ralf Stegner meinte nicht ganz unzutreffend: „Mit Seehofer und seinen Eskapaden haben wir uns die Pest an Bord geholt“ – nur dass die Krankheit eigentlich nicht die Person Seehofers ist, sondern die Große Koalition selbst.

Krise geht weiter

Auch ohne den Fall Maaßen, ja selbst wenn die „Pest“ Seehofer nach einem Debakel bei den Landtagswahlen von Bord gehen sollte, wird die Große Koalition nicht zur Ruhe kommen. Sie wird weiter von der AfD und einer erstarkenden Rechten getrieben werden.

Vor allem aber wird sie selbst davon geprägt, dass sie nicht in der Lage ist, einer entschlossenen Gesamtstrategie des Großkapitals und des deutschen Imperialismus Ausdruck zu verschaffen. Angesichts der EU-Krise schwankt sie, statt zu führen. Damit kommt offen zum Vorschein, dass die herrschende Klasse selbst über keine klare und einheitliche Strategie verfügt, dass sich in den politischen Konflikten in der Bundesregierung vielmehr unterschiedliche Linien ausdrücken.

Die eine, zur Zeit noch schwächere, ist eigentlich dabei, das EU-Projekt zurückzustellen, die Formierung der EU als politische Einheit aufzugeben. Die derzeitige Mehrheitslinie, die sich auf einen guten Teil der CDU, eine Minderheit der CSU und v. a. auf die SPD (und auch die Gewerkschaften) stützt, will das EU-Projekt vorantreiben. Verkompliziert wird die Lage dadurch weiter, dass diese beiden Pole in sich selbst noch einmal in verschiedenen Fragen auseinandergehen. Vor diesem Hintergrund muss jede Regierung als schwach, krisenanfällig, zerrüttet erscheinen, weil sie immer nur Kompromisslinien verwaltet. Die SPD gibt in ihrer eigenen Unfähigkeit ein getreues Bild der Regierung.

Hinzu kommt, dass es gewissermaßen zur Existenzgrundlage der Großen Koalition gehört, so zu tun, als gebe es diese grundlegenden Konfliktlinien nicht, als ließen sie sich einfach umschiffen. Alle an der Regierung Beteiligten – aber auch die Spitzen der DGB-Gewerkschaften und des Großkapitals – wissen, dass ein Bruch der Koalition zum offenen Aufbrechen dieser Gegensätze führen könnte, jedoch ohne dass es eine erkennbare Alternative zur aktuellen Politik gibt. Und genau diese Furcht hemmt nicht nur, sie hält auch die Koalition zusammen.

Für die SPD bedeutet das, dass ihr Niedergang noch verschärft wird – mehr noch als bei einer „normalen“, stabileren Großen Koalition. Mit der Nahles-Führung ist ein Bruch der Koalition sicher nicht zu haben, ebenso wenig wie mit den Gewerkschaftsspitzen, die eine der zentralen sozialen Stützen für diese Regierung darstellen.

So wird die Große Koalition zum weiteren, durchaus wohlverdienten Niedergang der SPD führen. Mitleid ist hier unangebracht, Sorge aber wohl. Zur Zeit profitiert nämlich neben offen bürgerlichen Parteien wie den Grünen vor allem die AfD von der SPD-Regierungspolitik und der sozialpartnerschaftlichen Deckung durch die Gewerkschaften. All das verstärkt den Rechtsruck.

Eine SPD-Linke, die diesen Namen verdient, muss ebenso wie kritische Ortsvereine, alle kämpferischen GewerkschafterInnen für das Ende der Großen Koalition eintreten – und jetzt die Mobilisierung gegen Rassismus, Rechtsruck und die Politik der Regierung in Angriff nehmen. Ansonsten bliebe sie, was sie auch seit Bildung der Großen Koalition ist – eine linke Flankendeckung der Politik von Nahles und Scholz.




Einheitsfront gegen Rechte und Rassismus!

Redaktion, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Der beängstigende Aufstieg der AfD und die Politik der Bundesregierung setzen die Frage, wie der Rechtsruck gestoppt werden kann, auf die Tagesordnung. Angesichts der Tatsache, dass die AfD gegen alle „demokratischen Kräfte“ vorgehen will, scheint es naheliegend, dass sich alle Feinde der Rechten zusammenschließen zur „Einheit aller DemokratInnen“ gegen das größere Übel.

Diese Logik hat aber einen gewaltigen Pferdefuß. Ein Bündnis aller „DemokratInnen“ läuft letztlich auf ein Bündnis gesellschaftlicher Kräfte hinaus, die in gegensätzliche Richtungen ziehen. Die UnternehmerInnen und ihre Parteien treten für mehr Sozialabbau, bessere Profitbedingungen, mehr Militarismus und selektive Migration, also „gezielten“ Rassismus ein. Die Masse der Lohnabhängigen und Jugendlichen hat unabhängig von Pass, Geschlecht und Alter ziemlich die gegenteiligen Interessen. Wie also soll der Nährboden für die soziale Demagogie der AfD entzogen werden, wenn wir gegen sie ein „Bündnis“ bilden wollen, das gerade die sozialen Fragen, Imperialismus, Militarismus und staatlichen Rassismus ausklammert?

Schlimmer noch. Die sozialen und demokratischen Forderungen sollen wegen des gemeinsamen Feindes in den Hintergrund treten. Dabei sind es die zunehmende Konkurrenz und die Angriffe, die uns in zunehmend unsichere Arbeitsverhältnisse zwingen und die Angst vor dem sozialen Abstieg schüren. Die bürgerlichen DemokratInnen sind es, die mit ihrer rassistischen Asylpolitik dem rassistischen Mob auf der Straße zunehmende Zugeständnisse machen. Die Politik der Bundesregierung ist leider nicht nur erbärmlich, sondern vor allem reaktionär.

Unser Kampf gegen den Rechtsruck muss mit der sozialen Frage verbunden werden. Er muss die Frage rechtlicher, politischer und sozialer Gleichstellung aller in diesem Land Lebenden aufwerfen, also egal, ob geflüchtet oder hier geboren. Schlussendlich muss unser Antirassismus die Frage des Ursprungs des Rassismus im Kapitalismus aufgreifen.

Dafür können wir uns aus Angst vor einem Wolf nicht als blinde Schafe durch den anderen schützen lassen. Was wir brauchen, ist ein Bündnis aller Organisationen, Parteien und Gewerkschaften, die sich auf die ArbeiterInnenklasse, die MigrantInnen, die Unterdrückten stützen – eine Einheitsfront gegen den Rechtsruck.

Dazu schlagen wir eine Aktionskonferenz zum Kampf gegen Angriffe von Kapital und Kabinett, gegen Rassismus und Faschismus vor. Ein gemeinsamer Aktionsfahrplan bietet die Möglichkeit, aktuelle Kämpfe zu verbinden und die Defensive zu überwinden.




Landtagswahlen in Bayern: DIE LINKE wählen, aber organisiert den Kampf!

Helga Müller, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Die CSU wird bei dieser Wahl stark an Stimmen verlieren. Ende September lag sie bei 36 % (diese und folgende Zahlen nach www.merkur.de vom 24.9.). Die AfD kommt auf 13,2 %. Damit würde sie als drittstärkste Kraft in den bayrischen Landtag einziehen. Die SPD verliert weiterhin und käme auf 12,1 %. DIE LINKE würde mit 3,3 % erneut nicht in den Landtag kommen.

Die Grünen sind die einzige Partei, die kontinuierlich vom Verlust der CSU profitieren konnte. Sie würden demnach mit rund 18 % zweitstärkste Landtagsfraktion und es gilt mittlerweile als wahrscheinlich, dass es erstmals zu einer schwarz-grünen Koalition unter der CSU kommen wird.

Die Taktik der CSU, mit einer scharfen Konfrontation gegen Merkel, rassistischer Hetze und Sondergesetzen der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist in zweifacher Hinsicht gescheitert. Einerseits konnte sie die rechten WählerInnen nicht zurückgewinnen, andererseits verliert sie wertkonservative oder liberale WählerInnen an die Grünen.

Eine bürgerliche Koalition von CSU und Grünen würde in der Substanz – also vor allem hinsichtlich der Sicherung der Interessen des Großkapitals – zwar die CSU-Politik mit grüner Tünche weiterführen. Zugleich wäre sie jedoch auch eine instabile Konstellation. Die CSU müsste einerseits gewisse Zugeständnisse an die Grünen machen, andererseits würde sie weiter unter den Druck der rechts-populistischen AfD geraten. Die Grünen wiederum würden eine rechtere Politik betreiben als unter Kretschmann in Baden-Württemberg, müssten sie doch das neue PAG und den bayrischen „Grenzschutz“ mittragen.

SPD im Siechtum

Festzuhalten bleibt, dass weder die SPD noch DIE LINKE von der CSU-Krise profitieren können. Themenfelder gäbe es viele, mit denen sie gerade bei den Arbeitslosen, sozial Schwachen, aber auch der Masse der arbeitenden Bevölkerung punkten könnten: preiswerte Mieten, ausreichend Pflegepersonal, Schutz gegen Altersarmut, genügend LehrerInnen, Jugendfreizeiteinrichtungen etc…

Nach den großen Demos gegen das neue PAG, Grundrechtseinschränkungen und dem allgemeinen Unmut gegen den anhaltenden Rechtstrend haben am 15. September rund 11.000 Menschen gegen Mietspekulation und unbezahlbare Wohnungen im Ballungsraum München demonstriert. Es gibt auch im „reichen“ Bayern ein Potential, das sich zumindest gegen die extremsten Auswüchse des Kapitals zur Wehr setzen will.

Doch der SPD hängt die Große Koalition in Berlin wie ein Mühlstein um den Hals. Hinzu kommt, dass die Sozialdemokratie auch in Bayern unklare Antworten gibt. So fordert die SPD zwar eine Spekulationssteuer auf ungenutzten Boden oder die Schaffung von 100.000 neuen bezahlbaren Wohnungen in den nächsten 5 Jahren, 25.000 davon durch eine staatliche bayrische Wohnungsbaugesellschaft. Doch alle wissen, dass das nicht reicht. Wie die SPD konkret verhindern will, dass Spekulationssteuern nicht auf die MieterInnen abgewälzt werden, erfahren wir erst recht nicht. Kein Wunder also, dass die Grünen der SPD den Rang als stärkste Herausforderin der CSU abgelaufen haben. Sie erscheinen als glaubwürdigere, humanistische Partei der „Mitte“, die für liberale KapitalistInnen, humanistisches KleinbürgerInnentum und besser gestellte Schichten der Lohnabhängigen gleichermaßen wählbar ist.

Die LINKE?

Die Partei DIE LINKE geht in ihrem Wahlprogramm in vielen Punkten weiter als die SPD und wirft auch etliche richtige Fragen und Forderungen auf, wie z. B. die Beschlagnahme von Wohnraum, der aus Spekulationsgründen leer steht, oder die Forderung der demokratischen Kontrolle von Wohnungsbaugesellschaften durch MieterInnenräte. Aber sie gibt keine klare Antwort darauf, wie dies gegen den zu erwartenden Widerstand von VermieterInnen und SpekulantInnen durchzusetzen wäre.

Trotzdem rufen wir in den bayrischen Landtagswahlen zur Wahl der Partei DIE LINKE auf. Nicht, weil wir der Meinung sind, dass ihr Wahlprogramm die Lösung aller Probleme darstellt. Trotz vieler richtiger Forderungen ist es allenfalls linksreformistisch und gleicht eher einem Wunschkatalog als einer Anleitung zum Kampf.

Aber in der derzeitigen Konstellation bedeutet jede Stimme für DIE LINKE auch eine Ablehnung der aktuellen Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung, auf die Jugend, auf die RentnerInnen, Arbeitslosen und ImmigrantInnen. Sie stellt ein positives Signal gegen die AfD und den allgemeinen Rechtsrutsch dar. Als einzige Partei lehnt sie eine Koalition mit der CSU ab.

Genau aus diesen Gründen erblicken viele Jugendliche und die bewusstesten Teile der ArbeiterInnenklasse in der Wahl von DIE LINKE die Möglichkeit, ihren Protest und Widerstand zum Ausdruck zu bringen. Wir als RevolutionärInnen teilen zwar die Illusionen in die Programmatik und Strategie der Partei nicht. Aber wir teilen den Wunsch, jene Stimmen möglichst stark zu machen, die die Ablehnung aller offen bürgerlichen Parteien und der Koalitionspolitik der SPD zum Ausdruck bringen.

Zugleich fordern wir DIE LINKE dazu auf, konsequent für ihre Forderungen auf der Straße zu mobilisieren und in den Gewerkschaften den Kampf für ihre Verwirklichung zu führen. Gleichzeitig ist es aber notwendig, nicht nur DIE LINKE zu wählen, sondern für die Verteidigung der Arbeits- und Lebensbedingungen selbst den Kampf aufzunehmen.




Sonderausgabe der Neuen Internationale: Kampf gegen Wohnungsnot

Redaktion, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Im September 2018 veröffentlichten wir eine achtseitige Sonderausgabe der Neuen Internationale. Unter dem Titel „Gegen das Berliner Wohnungsmonopoly!“ beschäftigen wir uns mit einer Reihe von Aspekten der „neuen Wohnungsnot“, die mit alarmierenden Zahlen verdeutlicht wird.

Im Mittelpunkt steht zum einen die Finanzialisierung des Wohnungsmarktes am Beispiel der Deutsche Wohnen AG (DW). Warum die DW? Dieser Konzern ist der größte private Vermieter in Berlin mit 110.000 Wohnungen. Der Untersuchung seiner Eigentums- und Geschäftsstruktur schließt sich ein Interview mit einer Mieterin bei DW an, das eigene negative Erfahrungen mit dem Wohnungskonzern wiedergibt.

Zum anderen positionieren wir uns zum Volksbegehren, das das Berliner Mietenbündnis zur Enteignung der DW eingeleitet hat. Hier begründen wir unsere Mitarbeit in dieser Initiative und erläutern, wo Chancen und Grenzen eines Volksentscheids liegen und warum unsere Unterstützung nur eine kritische sein kann. Ferner drucken wir ein kurzes Statement zur Prozedur ab, die bis zur Abhaltung eines Volksentscheides durchlaufen werden muss. Es ist der Webseite der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ entnommen (www.dwenteignen.de).

Schließlich nehmen wir ausführlich die Politik der Interventionistischen Linken (IL) unter die Lupe. Die IL ist die einflussreichste linksradikale Gruppierung im Bündnis. Ihre Broschüre „Das Rote Berlin“ enthält jedoch leider zahlreiche blinde Flecken und reformistische Versatzstücke. Noch ausgeprägter findet sich im Landtagswahlprogramm 2016 von DIE LINKE ein Potpourri an sozialer Flickschusterei, ohne die Triebkräfte und Verantwortlichen für die „neue Wohnungsnot“ auch nur zu benennen. Sowohl DIE LINKE als auch die IL spielen aber innerhalb der Berliner MieterInnnenbewegung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Eine Auseinandersetzung mit ihnen ist daher unumgänglich! Abschließend skizzieren wir als politische Alternative Eckpunkte eines revolutionären Programms zur Wohnungsfage.




Kampf gegen Pflegenotstand: Welche Perspektive?

Jürgen Roth, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Nach der Gesundheitsministerkonferenz am 20. Juni 2018 gab es Warnstreiks an den Unikliniken Homburg/Saar und im Klinikum Niederlausitz. Die Vollstreiks an den Unikliniken Essen und Düsseldorf kamen ebenso zu einem Abschluss wie ein 51-tägiger Ausstand der Vivantes Service GmbH (VSG Berlin). Am 22. September demonstrierten 1.500 in Hamburg und forderten, die Vorschläge der Volksinitiative gegen den Pflegenotstand im Krankenhaus sofort umzusetzen.

Vom 19.-21. Oktober findet ein Kongress auf Einladung des Bündnisses „Krankenhaus statt Fabrik“ zum Thema „Was kommt nach den Fallpauschalen?“ statt. Das Bündnis besteht derzeit aus den ver.di-Landesfachbereichen 03 Baden-Württemberg, Berlin-Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, der Soltauer Initiative sowie Einzelpersonen und wendet sich gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und insbes. das deutsche System der Krankenhausfinanzierung durch sog. Fallpauschalen (DRGs). Schließlich lädt das Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus zu einem bundesweiten Treffen aller Bündnisse gegen den Pflegenotstand am 9./10. November ein.

Wichtig wäre, dass sich beide Konferenzen eingehend mit der Frage beschäftigen, wie der Stand der Bewegungen für mehr Personal im Krankenhaus ist und welche Strategie uns weiterbringen kann.

Flickenteppich an Aktionen und Initiativen

Grob gesagt gibt es 3 Stoßrichtungen: Lobbypolitik gegenüber den Regierenden, Tarifkämpfe und eine Ausrichtung auf Volksentscheide. Ver.di als potenziell mächtigste Kraft reitet mittlerweile auf allen drei Pferden. In Berlin gelang es dem Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus, in der 1. Stufe des Volksentscheids für ein Volksbegehren, dem Senat mehr als doppelt so viele Unterschriften wie nötig (über 40.000) zu präsentieren. Der Senat prüft die Zulässigkeit des Antrags juristisch. Das kann eine Ewigkeit dauern. Wir unterstützen Volksentscheidsinitiativen kritisch und beteiligen uns nach Kräften an ihnen. Wir weisen aber darauf hin, dass selbst bei einem positiven Ausgang die Regierung(en) nicht daran gebunden ist/sind.

Streiken – aber richtig!

Wäre mit der gleichen Begeisterung, mit der zahlreiche Aktive sich jetzt für Volksentscheide ins Zeug legen, gestreikt worden, sähen die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal bedeutend besser aus. Der Arbeitskampf an der Berliner Charité spielte eine Vorreiterrolle. Neuartige Streikformen (Bettenstreik, TarifberaterInnen) führten 2016 dort zu einem Tarifvertrag (TV) Entlastung. Die Achillesferse neben einer nur für Teilbereiche geltenden Personalregelung stellte jedoch die schwerfällige sog. Interventionskaskade dar.

Das Personal besaß keine Kontrolle über seine Arbeitsbedingungen, durfte z. B. keine Betten sperren. Nach einjährigem Testlauf kündigte ver.di den TV. Doch 2 Streiktage im September 2017 führten zu keiner besseren Regelung. Das Beispiel ihres ins Stocken geratenen Paradepferds veranlasste darum mutmaßlich die ver.di-Bürokratie, die Gäule zu wechseln und das Terrain des ökonomischen Klassenkampfs zu verlassen – zugunsten bürgerlich-demokratischer „Kampf“formen. Doch das sind selbstgemachte Leiden!

Beachtlicher Teilerfolg

Seit Mai gibt es für 27.000 Beschäftigte an den 4 Universitätskliniken Baden-Württembergs eine Einigung über 120 neue „SpringerInnen“, wenn der Personalschlüssel unterschritten wird. In Düsseldorf und Essen währte die Tarifauseinandersetzung seit Juni.

Eine PatientInneninitiative sammelte 5.000 Euro und Unterschriften für die Unterstützung des Streiks. Während die VSG-Berlin-Beschäftigten auf sich allein gestellt streikten, war das hier anders. Es traten nahezu alle Berufsgruppen in den Ausstand, was erheblich dazu beitrug, alle Widrigkeiten zu überwinden (lange Streikdauer, anfänglich verweigerte Verhandlungsbereitschaft der Klinikdirektionen – zuständig sei die Tarifgemeinschaft der Länder, diese drohte mit Abbruch der Verhandlungen der Gehaltstarifrunde im gesamten öffentlichen Dienst der Länderbeschäftigten NRWs).

Dieses vorbildliche Beispiel führte zu einem Schlichtungsergebnis, das mit über 70 % in der Urabstimmung angenommen wurde: bis Oktober 2019 je 180 Stellen mehr pro Haus, Auszubildende werden nicht auf den Schichtplan angerechnet, müssen unter Aufsicht einer Fachkraft arbeiten, 10 % ihrer Ausbildung besteht aus Praxisanleitung. Der Pferdefuß ähnlich wie an der Charité Berlin: Besetzungsregelung und Interventionsregime liegen in der Hand des Managements!

Fazit

  1. Relativ isolierte Einzelstreiks des Pflegepersonals haben bisher mehr gebracht als alle Volksentscheidsinitiativen und Katzbuckeln mit Unterschriftenlisten bei „der Politik“!
  2. Nicht Streiks sind das Problem, sondern ihre Beschränktheit! Für flächendeckende Vollstreiks wie z. B. während Gehaltstarifrunden, die auch alle anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes einbeziehen! Kontrolle über Streik und Umsetzung des Ergebnisses durch die Basis (ArbeiterInnen- statt Managementkontrolle)! Einbeziehung aller Berufsgruppen! Wiedereingliederung der ausgegliederten Bereiche zu vollen TVöD-Ansprüchen!
  3. Nicht die politische Bedeutung des Kampfs gegen Pflegenotstand ist falsch, sondern die Orientierung auf dessen VerursacherInnen als Erlösung! Wir brauchen unsere eigenen politischen Methoden: Für einen politischen Massenstreik gegen Pflegenotstand, ausgerufen durch den DGB! Weg mit den DRGs! Rückgängigmachung aller Privatisierungen! Einbeziehung aller Sektoren, auch der Altenpflege sowie PatientInnen und ihrer Organisationen! Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  4. Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs- und Rehabilitationswesens von unten durch Beschäftigte und PatientInnen unter Hinzuziehung von ExpertInnen ihres Vertrauens! Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Gewinne und Vermögen!



Proteste am Dritten Flughafen in Istanbul – Solidarität mit den streikenden ArbeiterInnen!

Svenja Spunck, Infomail 1021, 22. September 2018

Die Baustelle des Dritten Flughafens von Istanbul befindet sich im nordwestlich der Stadt gelegenen Arnavutköy. Betrieben wird sie von der Firma IGA – Istanbul Grand Airport AŞ, die der AKP nahe steht, wie eigentlich alle Firmen im Bausektor.

Circa 36.000 Arbeiter errichten dort den Flughafen, der der größte Europas werden soll. Jährlich 9 Millionen Passagiere aus aller Welt werden dann dort abgefertigt. Die Eröffnung plant Erdogan für den 29. Oktober, dem Jahrestag der Republiksgründung. Doch dass der Flughafen bis dahin tatsächlich fertig gestellt werden wird, ist nicht sicher. Denn seit dem 14. September befinden sich 10.000 Arbeiter aus der Abteilung Akpınar im Streik. Ihre Forderungen haben sie in 15 Punkten zunächst handschriftlich formuliert und als Foto in den sozialen Medien verbreitet. Daran lässt sich erkennen, unter welch unmenschlichen Umständen sie dort seit Monaten schuften.

Barbarische Bedingungen

Die Unterkünfte, in denen die Arbeiter in Mehrbettzimmern untergebracht werden, seien voller Wanzen und die sanitären Anlagen würden nur selten geputzt werden. Das Essen in der Kantine sei oft schlecht, jedoch gäbe es besseres Essen für die Vorarbeiter. Einige Arbeiter hätten keine Arbeitskleidung bekommen, andere warten seit über 6 Monaten auf ihren Lohn. Da die Baustelle riesengroß ist, müssen die Arbeiter mit Shuttle-Bussen von ihren Unterkünften zum Arbeitsplatz gebracht werden, doch die Bussen fallen hin und wieder aus. Ein Zusammenstoß zwei solcher Busse, bei dem 17 Menschen verletzt wurden, löste den Protest Mitte September aus.

Die Arbeitssicherheit auf der Baustelle ist, wie auch auf anderen Bauplätzen in der Türkei, katastrophal. Die ILO gibt die Türkei seit Jahren auf Platz drei der Länder mit den meisten tödlichen Arbeitsunfällen an. Und auch der Flugplatz in Istanbul ist auf dem Blut und dem Leben der Arbeiter errichtet. Das Verkehrsministerium gibt an, dass „nur“ 27 Arbeiter tödlich verunglückt seien. Laut der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet sind allerdings über 400 Menschen umgekommen. Die wenigen GewerkschafterInnen, die es vor Ort gibt, betonen, dass es sich um Morde, nicht um Unfälle handelt. Die Baufirma nehme die Unfälle in Kauf, um so schnell wie möglich mit dem Bau fertig zu werden.

Alles, was dem im Weg steht, wird unterdrückt und aus dem Weg geschafft. Am zweiten Tag der Proteste wurden die Protestierenden mit Wasserwerfern und Tränengas von der Gendarmerie angegriffen. 500 ArbeiterInnen wurden vorübergehend verhaftet, 24 von ihnen befinden sich nun in Untersuchungshaft. Der Vorwurf gegen sie lautet, sie hätten das Demonstrationsrecht missbraucht. Von welchem „Recht“ hier gesprochen wird, ist äußerst fraglich, denn die AKP-Regierung lässt seit Jahren konsequent alle Demonstrationen zerschlagen.

Neben den physischen Angriffen auf die Protestierenden, begannen die regierungsnahen Medien auch mit Schmähkampagnen gegen sie. Sie würden im Interesse von ausländischen Agenten handeln, ja sogar von diesen finanziert werden, um die Türkei ins Chaos zu stürzen. Statt sich also ernsthaft mit den Interessen derjenigen auseinander zu setzen, die Erdogans neues Prestigeprojekt errichten, wird von ihnen Loyalität bis zum Tod verlangt. Deshalb beschreibt der Slogan, mit dem die Arbeiter protestieren, die Lage sehr gut: „Wir sind keine SklavInnen!“

Unter den Inhaftierten befinden sich wenige politische Oppositionelle, die meisten sind einfache ArbeiterInnen, die für menschliche Arbeitsbedingungen kämpfen. Doch auch den AKP-WählerInnen unter ihnen wird deutlich, dass der Staat nicht ihre, sondern die Interessen ihrer Bosse vertritt.

Repression und Solidarität

Als sich in Kadiköy, einem Stadtviertel auf der asiatischen Seite Istanbuls, linke Jugendorganisationen solidarisch mit dem Streik erklärten und Demonstrationen abhalten wollten, wurden auch sie von der Polizei angegriffen. Einige von ihnen, darunter auch JournalistInnen, wurden vorübergehend verhaftet. Das zeigt deutlich, wovor sich die Regierung fürchtet: die Verbindung von einer Masse wütender ArbeiterInnen, die gegen ihre unerträglichen Arbeitsbedingungen kämpfen mit politischen Organisationen, die mit einem sozialistischen Selbstverständnis eben diese Werktätigen organisieren wollen.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die momentan in der Türkei herrscht und vor allem auch den Bausektor betrifft, soll auf dem Rücken der ArbeiterInnen ausgetragen werden, wenn es nach der Regierung geht. Doch die Arbeitsbedingungen in der Türkei waren schon immer miserabel und die Verschärfungen, die durch die Krise spürbar werden, sind unerträglich für die ArbeiterInnen. Die Proteste am Flughafen zeigen einen Kampf um fundamentale Rechte, die in Zukunft auch in anderen Bereichen beschnitten werden könnten. Deshalb gilt es nun, mit diesen Protesten vollste Solidarität zu zeigen. Sie können der Anfang einer neuen Welle von Protesten gegen die Regierung sein, die sie in einer Zeit politischer und wirtschaftliche Instabilität hart treffen kann.

Der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung am Flughafen und generell in der Türkei ist noch sehr gering, doch die ArbeiterInnen machen hier ihre ersten positiven Erfahrungen des organisierten Widerstandes. Linke Gruppen, Gewerkschaften und Parteien müssen hier intervenieren, um für Organisierung und koordinierten Protest zu argumentieren. Bisher ist es noch leicht für die IGA, StreikbrecherInnen einzusetzen und Streikende einfach zu entlassen. Doch das Zusammenspiel zwischen den Bossen der Baufirma und der AKP-Regierung zeigt, dass es sich hier auch um ein politisches, nicht nur um ein wirtschaftliches Problem handelt. Der Mut der ArbeiterInnen, spontan in den Streik zu treten, trotz aller Repression und der Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist respekteinflößend und verdient vollste Solidarität.

Das deutsche Unternehmen DHL ist einer der größten Investoren am neuen Flughafen in Istanbul und freut sich schon auf die dort erwarteten Gewinne. Für den DGB bedeutet dies erst recht, dass seine Mitglieder in Solidarität mit den KollegInnen in der Türkei mobilisiert werden müssen. Erdogan selbst kommt in der nächsten Woche nach Berlin, um sich mit der Kanzlerin und Ministern der SPD zu treffen. Wer sich daran erinnert, auch der Bundespräsident Steinmeier war einst Kanzlerkandidat der sich selbst als „Sozialdemokraten“ Bezeichnenden. Statt diesem Arbeitermörder den Hof zu machen und ihn mit militärischen Ehren zu empfangen, ist es die Pflicht der SPD, sowie aller anderen Parteien, die behaupten im Namen der ArbeiterInnen zu sprechen, und linken Organisationen, sich gegen diesen Staatsbesuch zu stellen und sich den die Interessen Erdogans noch des deutschen Imperialismus entgegenzustellen.




Aufstehen, weggehen, sitzen bleiben?

Tobi Hansen, Infomail 1019, 11. September 2018

Auf einer Pressekonferenz am 4. September stellte sich die „Aufstehen“ erstmals „offiziell“ der Öffentlichkeit vor und präsentierte ihr Selbstverständnis. Die versammelte bürgerliche Presse, welche seit Monaten über eine mögliche „Wagenknecht“-Partei und deren hohe Umfragewerte spekuliert, durfte nun vier ProtagonistInnen Fragen stellen. Mehr als 100.000 Menschen haben sich per Newsletter bei „Aufstehen“ angemeldet. Ob als Mitglieder, UnterstützerInnen oder einfach, um Informationen der „Bewegung“ zu beziehen, ist wohl auch diesen unklar. Jedenfalls wurden sie nicht in Berlin versammelt, um über die politischen Grundlagen von „Aufstehen“ zu diskutieren, die angeblich „von unten“ kommen sollen.

Verkündung per Pressekonferenz

Stattdessen erklärte Frontfrau Wagenknecht, dass die „soziale Frage“ im Mittelpunkt stehen würde. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass wir „unser“ Land in „5-10 Jahren nicht mehr wiedererkennen“. Der Grüne Ludger Volmer, unter Schröder und Fischer Staatsminister im Auswärtigen Amt und heute Kuratoriumsmitglied beim „Institut Solidarische Moderne“, erklärte, warum er an der Regierung noch den Jugoslawienkrieg unterstützt habe, heute aber für eine andere Friedenspolitik eintreten wolle. Der Berliner Dramaturg Stegemann verspricht sich von „Aufstehen“ irgendwie mehr Bürgernähe als Alternative zu „Themenvampirismus und Gefühlsanästhesie“ in der Politik, die oft genug große Sprüche klopfe und nichts halte (Neues Deutschland, 5.9.18). Ob die Rhetorik dabei hilft, werden wir sehen. Als vierte Vertreterin von „Aufstehen“ sprach noch Simone Lange, Oberbürgermeisterin aus Flensburg und Gegenkandidatin von Andrea Nahles beim letzten SPD-Parteitag. Sie erscheint noch vergleichsweise glaubwürdig, wenn sie erklärt, dass sie die SPD nach „links“ rücken und für eine rot-rot-grüne Koalition eintreten wolle.

Vorgestellt wurde ein Gründungsaufruf, der zwei wesentliche Ziele enthält. Zum einen soll uns wieder das Ziel einer „reformierbaren und gerechten“ sozialen Marktwirtschaft schmackhaft gemacht werden. Mit etwas Steuererhöhung für die Reichen, etwas Umverteilung, mehr Jobsicherheit und weniger Privatisierungen soll der Kapitalismus wieder einmal gezähmt werden. So und durch „außerparlamentarischen Druck“ sollen die etablierten „linken“ Parteien von „Aufstehen“ in Richtung Rot-Rot-Grün gedrückt werden.

Die Erfolgsaussichten dürften dabei kurzfristig zweifelhaft sein. SPD und Grüne sind bei „Aufstehen“ mehr schlecht als recht repräsentiert, die Grünen überhaupt nur mit politischen Auslaufmodellen wie den Vol(l)mers, die wirklich niemand vermisst.

Hinzu kommt außerdem, dass „Aufstehen“ nicht nur ein „Vereinigungsprojekt“, sondern vor allem einen direkten Angriff auf die Linkspartei bzw. deren aktuelle politische Ausrichtung von rechts darstellt. Und das in zwei zentralen Punkten: erstens in der Anpassung an die Bundesregierung und die Rechts-PopulistInnen in der Frage der Migration. Statt Kampf gegen den Rassismus und Rechtsruck, statt Kampf gegen alle Abschiebungen, für offene Grenzen und volle StaatsbürgerInnenrechte schwadroniert „Aufbruch“ von einer angeblich „grenzenlosen Willkommenskultur“, der es ebenso entgegenzutreten gelte wie dem Rechtspopulismus. Kein Wunder, dass sich AfD-Chef Gauland positiv über die Neugründung äußert. Marx 21 beschreibt die Auswirkungen auf die Linkspartei durchaus zutreffend:

„Das Lager um Wagenknecht organisiert einerseits von außerhalb Druck auf die Linke durch die Sammlungsbewegung und andererseits einen Strömungskampf innerhalb der Partei, um ihre Positionen und Akteure durchzusetzen. So erklärte Wagenknecht selbst: ,Wenn der Druck groß ist, werden die Parteien, auch im Eigeninteresse, ihre Listen für unsere Ideen und Mitstreiter öffnen‘“.

Realismus?

Die „Aufstehen“-InitiatorInnen wollen eine „mehrheitsfähige“ und „realistische“ Politik. Manches in der Linkspartei scheint ihnen noch „zu links“ bzw. nicht geeignet, um mit SPD und Grünen auf Bundesebene zu koalieren. Dass die Führungen von SPD und Grünen das Projekt angreifen, ist nicht verwunderlich. Fragwürdiger ist jedoch die Vorstellung, dass manche in der SPD glauben, dieses Projekt sei wirklich „links“. Wagenknechts sozialchauvinistische Position haben wir unter anderem im Artikel „Linkspartei und Migration – Status quo oder sozialistische Politik?“  behandelt.

Wagenknecht, Lafontaine & Co. wollen die gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung Rot-Rot-Grün drehen, die Linkspartei noch stärker auf diesen Kurs zwingen, als es jede aktuelle Landesregierung in Ostdeutschland ohnedies schon tut. Dafür eignen sich besonders folgende Punkte aus dem „Aufstehen“-Gründungsaufruf:

„Eine neue Friedenspolitik: Deutschland und Europa müssen unabhängiger von den USA werden. Abrüstung, Entspannung, friedlichen Interessenausgleich und zivile Konfliktverhütung fördern statt Soldaten in mörderische Kriege um Rohstoffe und Macht schicken. Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee in eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft einbinden, die Ost und West umfasst.

Sicherheit im Alltag: mehr Personal und bessere Ausstattung von Polizei, Justiz und sozialer Arbeit; ein Strafrecht für Unternehmen statt Kapitulation des Rechtsstaats.“

Die Aufrufenden unterstützen offen den Aufbau einer europäischen Armee, wenn auch nur zur „Verteidigung“. Der EU wird – bei aller Kritik an ihrer aktuellen „marktradikalen Ausrichtung“ – unterstellt, dass sie ebenso wie der deutsche Imperialismus zu einem Hort von Frieden, Stabilität und sozialen Ausgleich in einer Welt werden könne, in der sich die Widersprüche zwischen den Klassen und zwischen den Mächten unwillkürlich mehr und mehr zuspitzen.

Das Programm ist offenkundig darauf bedacht, den EU-Militarismus als Ausdruck wachsender „Unabhängigkeit“ vom eigentlichen Übel der Welt, den USA, zu rechtfertigen. Damit steht freilich auch jede Kritik an Auslandsinterventionen, an der „Verteidigung“ Europas durch deutsche oder europäische Verbände auf tönernen Füßen. Das macht „Aufstehen“ nicht nur kompatibel mit einer rot-rot-grünen „Friedenspolitik“, sondern auch mit der Formierung eines europäischen Blocks unter deutscher Führung, der nur „sozialpartnerschaftlicher“ ausgestaltet werden müsste.

Dass „soziale Arbeit“ unter der Überschrift „Sicherheit“ angeführt wird, ist an sich schon eine Erwähnung wert. Dass es bei der besseren Ausstattung der Polizei vor allem um Mittel zur Bekämpfung von außerparlamentarischem Widerstand gehen dürfte, ist auch klar. Mit der Formulierung lässt sich auch jede verbesserte Ausstattung der Bundeswehr legitimieren. Auch hier wird – jedenfalls gegenüber dem Programm der Linkspartei – ein weiterer Schritt nach rechts vollzogen.

„Aufstehen“ bricht aber auch an einem weiteren Punkt mit der Linkspartei. Die soziale Basis der Partei bildet die Klasse der Lohnabhängigen. Ähnlich wie die SPD ist sie eine bürgerliche ArbeiterInnepartei, also eine Partei, die auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung steht und diese verteidigt, aber über ihre Geschichte, Mitglieder, Verbindungen zu Massenorganisationen, vor allem auch über die Gewerkschaften in der ArbeiterInnenklasse organisch verankert ist.

Dieses Verbindungsglied kommt bei Wagenknecht & Co. nicht vor. Sie versuchen, „Aufstehen“ nicht einmal als reformistische, verbürgerliche Form einer ArbeiterInnenorganisation zu präsentieren, sondern inszenieren sie als „BürgerInnenbewegung“. Dem Rechtspopulismus stellen sie einen Linkspopulismus entgegen. Die zunehmenden Risse in der Gesellschaft sollen gekittet werden durch soziale Marktwirtschaft und „echte“ Demokratie. Das Subjekt der Veränderung sind „die BürgerInnen“, „die Menschen“ unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Implizit wird dem „Volk“ die Elite gegenübergestellt. Nicht der Kapitalismus ist das Übel, sondern nur das Finanzkapital, das „gezügelt“ werden müsse.

Wie viele populistische Formationen gibt sich „Aufstehen“ dabei als demokratischer als die etablierten Parteien. In Wirklichkeit ist es jedoch nur plebiszitärer. Lanciert wird der Verein, der bisher vor allem über eine professionelle Medienpräsenz verfügt, ohne jegliche nennenswerte Mitsprache der „Basis“. Aktionen, Kongresse und Mitmachmöglichkeiten werden zwar angekündigt, bislang erstrecken sich diese jedoch darauf, dass die „Basis“, also jene, die sich per Mausklick wo auch immer eingetragen haben, einen Newsletter erhält und weitere „AnhängerInnen“ werben soll. Die „demokratische“ Bewegung bleibt so selbst hinter der verknöcherten formalen Demokratie der bürgerlichen Parteien zurück.

Wie weiter für die Linkspartei?

Mit Wagenknecht/Lafontaine und Kipping/Riexinger bekämpfen sich de facto zwei staatstragende Flügel in der Linkspartei (http://arbeiterinnenmacht.de/2018/06/18/linkspartei-nach-leipzig-siegerinnen-sehen-anders-aus/), wobei die Linie um Wagenknecht zweifellos den rechtesten Teil der Partei darstellt. Es ist auch kein Zufall, dass sich der Parteirechte Bartsch gegenüber der „Aufstehen“-Gründung vergleichsweise wohlwollend zeigte. Das Problem der Linken in der Linkspartei besteht jedoch darin, dass sie selbst zu einer unkritischen Unterstützung der aktuellen Führung der Partei tendieren.

So verhalten sich zentristische Linke wie marx21, SAV und die ISO zu den aktuellen Kampagnen der Partei, z. B. Pflegevolksbegehren, unkritisch und präsentieren das aktuelle Erfurter Programm als sozialistisch oder wenigstens einen „Schritt nach links“, obwohl sie es besser wissen müssten. Zwar verweist die SAV in ihrem Statement zur „Aufstehen“-Gründung auf die sog. „Geburtsfehler“ der Linkspartei, z. B. dass diese eine Koalition mit bürgerlichen Parteien einschließt bzw. überhaupt die Regierungsbeteiligung als Ziel ausgibt. Doch die Kritik bleibt letztlich oberflächlich, weil die strategische Ausrichtung auf die Bildung „linker“ bürgerlicher Regierungen als Betriebsunfall erscheint und nicht als notwendige Zielsetzung jeder reformistischen Partei kritisiert wird. In Wirklichkeit muss nämlich jede Partei, die die proletarische Machtergreifung, die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und die Errichtung der Rätemacht ablehnt, zur Verwirklichung ihres Reformprogramms danach trachten, die Regierungsmacht zu erringen (oder sie ist gezwungen, bis in alle Ewigkeit Opposition zu bleiben).

Es ist daher nur folgerichtig, dass jede ostdeutsche Landesregierung mit Beteiligung der Linkspartei akzeptiert wird. Sicherlich fiel auch manchen Linken auf, dass die Wahlkämpfe im Osten kaum geeignet waren, das „antikapitalistische“ Profil zu stärken, geschweige denn Protest gegen die herrschende Politik einzusammeln. Auch ist sicherlich aufgefallen, dass die Spitzen der dortigen RegierungsgenossInnen wie Ramelow oder Golze inzwischen auch öffentlich Koalitionen mit der CDU nicht ausschließen wollen, dass Landesregierungen Geflüchtete abschieben oder der Thüringer Ministerpräsident den Einstieg in die Privatisierung der Autobahnen im Bundesrat durchwinkt.

Diese Praxis der Linkspartei hat dazu geführt, dass sie bei den letzten Bundestagswahlen 420.000 Stimmen an die AfD verlor, darunter speziell im Osten viele ArbeiterInnen und Arbeitslose. Dies war auch schon der Fall, als die Linkspartei nach 9 Jahren Regierungsbeteiligung in Berlin die Hälfte ihrer Stimmen verlor. Damals diskutierte niemand über „offene Grenzen“ und es gab noch keine AfD. Zweifellos wirkt der Rechtsruck der Gesellschaft auch auf die Linkspartei. Aber zugleich wird die Frage um die Verluste unter den ArbeiterInnen und Arbeitslosen auch in Form einer „Schattendiskussion“ geführt, die davon ablenken soll, dass die Regierungspolitik der Partei Hunderttausende vor den Kopf gestoßen hat. Dies sorgt für eine gelähmte Partei, eine Organisation, die derzeit eigentlich nicht einmal den Mindestansprüchen einer links-reformistischen Partei genügt.

Wäre der Riexinger/Kipping-Vorstand tatsächlich daran interessiert, die Linke als „Bewegungspartei“ zu organisieren und antikapitalistische oder kämpferische Aspekte ihres Programms zu verteidigen, dann müsste anders gegen „Aufstehen“ vorgegangen werden. Die Führung der Linkspartei hofft aber vor allem darauf, dass das Konkurrenzprojekt einfach scheitert. Eine politische Auseinandersetzung wird nicht geführt, obwohl das Projekt von Wagenknecht, sollte es erfolgreich sein, leicht zu einer Spaltung der Partei führen kann. Gerade diese Gefahr bewirkt aber eine Vogel-Strauß-Politik des Vorstandes. Darin liegt zweifellos auch eine gewisse Logik, weil eine offene Auseinandersetzung um das Programm und die populistischen Grundlagen von „Aufstehen“ unwillkürlich eine kontroverse Diskussion über Theorie und Praxis, Regierungshandeln wie Oppositionsrolle der Partei mit sich bringen würde – eine Diskussion, der alle Flügel lieber aus dem Wege gehen.

Für die „Aufstehen“-Gruppierung, für den Parteivorstand und erst recht für die RegierungssozialistInnen besteht die „Lösung“ des Problems aktuell darin, dass alle „ihr Projekt“ wie bisher verfolgen und so tun, als hätte sich nichts geändert.

Für die Linkspartei als solche ist das fatal. Ihre Krise setzte sich fort – unterschwellig und in Form einer Paralyse. In dieser Situation müssten die Linken in der Partei, die eine sozialistische Politik machen wollen, auf zwei Ebenen die politische Initiative ergreifen.

Erstens müssten sie von der Linkspartei einfordern, was deren Führung – wenigstens in Worten – verspricht: Zusammenführen von Kämpfen und Bewegungen gegen die Regierung, gegen Angriffe des Kapitals (Mieten, Privatisierungen, Prekarisierung, …) und gegen den Rechtsruck. Sie müssten z. B. den Aufbau einer antifaschistischen und antirassistischen Einheitsfront fordern und für organisierten Selbstschutz eintreten.

Davon ist nicht nur die Partei insgesamt weit entfernt, sondern auch die „marxistischen“ und „sozialistischen“ Kräfte bleiben erschreckend defensiv. Stattdessen hoffen sie, dass die Mobilisierungen und die „breiten“ Bündnisse, in denen die Linkspartei schon aktiv ist, für sie das Problem der politischen Ausrichtung der Kämpfe lösen werden. So verzichten sie auf eigene Vorschläge oder präsentieren sie in einer Art und Weise, die vor allem darauf berechnet ist, Gefallen bei der Vorstandsmehrheit zu finden und nicht anzuecken. Daher findet die Forderung nach organisierter Selbstverteidigung gegen den Faschismus bei den Linken in der Linkspartei kaum oder gar keine Erwähnung.

Zweitens müssten die Linken in der Linkspartei nicht nur „RegierungssozialistInnen“ und PopulistInnen kritisieren, sie müssten auch die reformistischen Grundlagen und den bürgerlichen Charakter der Partei offen benennen. Nur so kann ein Kampf für ein revolutionäres Programm, die Sammlung revolutionärer Kräfte und damit der politische Bruch mit den ReformistInnen begründet werden. Dass die Linken in der Linkspartei davor zurückscheuen, ist leider kein Zufall. Ihre falsche, beschönigende Einschätzung der Partei und ihres Programms stellt eine Ursache für ihren Opportunismus dar. Zum zweiten fürchten sie, dass sie sich mit einem revolutionären Programm in der Partei „isolieren“ würden, dass sie damit nur eine kleine Minderheit ansprechen könnten. Wir wollen dem gar nicht widersprechen. Es verdeutlicht jedoch, wie weit die Linkspartei von einer „revolutionären“ oder antikapitalistischen Organisation entfernt ist. Der freiwillige Verzicht der „Linken“ auf die Ausarbeitung einer politischen Alternative und eines konsequenten revolutionären Programms entpuppt sich in Wirklichkeit nicht als geschickte Taktik, sondern als ein zentraler Teil des Problems.




Organisierte Selbstverteidigung und antifaschistischer Kampf, Teil 1

Martin Suchanek, Infomail 1018, 6. September 2018

Der rassistische und faschistische Mob von Chemnitz und dessen Hetzjagden gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und Linke verdeutlichen, dass wir – und damit meinen wir die gesamte ArbeiterInnenbewegung, die sozial Unterdrückten und die Linke – die Frage der organisierten Gegenwehr diskutieren und praktisch in Angriff nehmen müssen. Ansonsten drohen uns die Rechten, seien es offene Nazis und militante RassistInnen, das rechtspopulistische AfD-Milieu, das sich zu „besorgten BürgerInnen“ stilisiert, und der repressiver werdende Staatsapparat immer weiter in die Defensive zu drängen.

Die Schaffung eines organisierten Selbstschutzes bildet dabei zwar nur einen, in letzter Instanz untergeordneten, Aspekt einer Gesamtstrategie. Aber sie ist zugleich ein unverzichtbares Element ebendieser Konzeption.

Wir werden uns in diesem Beitrag zuerst mit Einwänden beschäftigen, die in den letzten Tagen von Menschen erhoben wurden, die Faschismus und Rassismus entgegentreten wollen, und danach unsere Vorstellung organisierter Selbstverteidigung darlegen.

Erzeugt Gewalt nicht nur (noch mehr) Gewalt?

Viele Menschen, die von der brutalen Aggression der Rechten und deren offen zur Schau getragenen Gewalttätigkeit abgestoßen sind, befürchten, dass eine organisierte Gegenwehr von Seiten der Linken letztlich zur Reproduktion dieser Gewalttätigkeit führen würde. Wenn mit gleicher Münze zurückgezahlt würde, werde das berechtigte Anliegen von antifaschistischen und antirassistischen Kräften aufgrund ihrer gleichfalls gewalttätigen Praxis mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, so dass auch bei diesen Vernunft, Argument, Verständigung durch das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ ersetzt würden.

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass eine solche Gefahr besteht. Jede Aktionsform, jede Kampfmethode kann sich unter bestimmten Bedingungen verselbständigen und sogar in ihr Gegenteil verkehren. Natürlich gab es auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung oder von Befreiungsbewegungen immer wieder solche Fälle. Bestimmte Strategien (wie z. B. der Guerillaismus, aber auch die verselbstständige Aktion „militanter“ Kleingruppen, die niemandem rechenschaftspflichtig sind) tragen einen inhärent elitären und anti-proletarischen Charakter, weil diese unwillkürlich jeder realen Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse entzogen sind.

Das Problem der prinzipiellen Ablehnung der Gewalt der Unterdrückten – aktuell der von Rassismus und Faschismus bedrohten – besteht aber darin, dass aus einer möglichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit konstruiert wird. Die Frage, wer wo unter welchen Bedingungen Gewalt anwendet, wie Selbstverteidigungseinheiten, Milizen, bewaffnete Verbände einer unterdrückten Klasse oder Bevölkerungsgruppe mit deren politischen, gewerkschaftlichen, sozialen Strukturen verbunden sind – all das wird unerheblich, wenn Gewalt per se als die Ursache allen Übels betrachtet wird.

Die These, dass „Gewalt nur Gewalt erzeuge“, ist allenfalls im ersten Moment plausibel.

Klassengesellschaft

In Wirklichkeit verstellt sie jedoch den Blick auf deren gesellschaftliche Ursachen. Sie unterstellt, dass Gewalt von einzelnen Individuen erzeugt und daher auch durch die Einnahme einer bestimmten Haltung durch eine möglichst große Zahl einzelner, z. B. durch „bessere Erziehung“ und Aufklärung beendet, werden könne. Strukturelle, in den gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschriebene Gewalt, die unabhängig von der individuellen Einstellung existiert und die Gesellschaft prägt, gerät so aus dem Blick. Dabei beruht unsere gesamte, kapitalistische Gesellschaftsordnung auf der Ausbeutung der Klasse der LohnarbeiterInnen. Zur Verteidigung und Absicherung dieses Verhältnisses braucht es wie zur Durchsetzung jeder damit verwobenen Form gesellschaftlicher Unterdrückung (z. B. der von Frauen, LGBTIA*-Menschen, der Jugend, von nationaler wie rassistischer Unterdrückung) immer auch Gewalt. Diese nimmt auch „private“ Formen der Diskriminierung oder gar physischer Angriffe an. Vor allem tritt sie uns als verselbstständigte Institutionen, als Staats- und Repressionsapparat, gegenüber.

Nicht die Gewalt hat Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen, es sind vielmehr die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse, die zu ihrer Reproduktion und Verteidigung auch Gewalt erfordern. Historisch geht daher Entstehung der Klassengesellschaft wie auch der Frauenunterdrückung mit der Bildung des Staates einher. Die Wandlung der Staatsform (z. B. von der feudalen zur bürgerlichen) spiegelt dabei grundlegende Veränderungen der Klassenverhältnisse wider.

Da in der menschlichen Geschichte die Herrschenden nie freiwillig ihrer ökonomisch, gesellschaftlich und politisch privilegierten Stellung entsagt haben, müssen die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf gegen sie notwendigerweise auch deren Gewaltmonopol in Frage stellen. Sie müssen selbst Formen der Selbstverteidigung und vom Staat unabhängige Organisationen schaffen, die in gesellschaftlichen Krisensituationen zu Instrumenten für den revolutionären Sturz und die Errichtung der Macht der vormals Ausgebeuteten werden können. Ansonsten sind diese bis ans Ende der Geschichte zu einer Existenz als Unterdrückte, als LohnsklavInnen, verdammt.

Zweifellos trägt die Gewalt der Unterdrückten bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzung auch exzessive Züge einer Abrechnung mit besonders brutalen UnterdrückerInnen. Dies ist jedoch ein unvermeidlicher Aspekt aller Revolutionen, aller fortschrittlichen Umbrüche der Geschichte. Wer diese gänzlich ausschließen will, muss sich letztlich gegen die Umwälzung der Verhältnisse selbst wenden.

Der Pazifismus, die Doktrin des allseitigen „Gewaltverzichts“, erweist sich angesichts der Gewalt der Verhältnisse und des Aufstandes der Unterdrückten als leere Floskel. Sie muss entweder verworfen werden – oder aber sie endet bei der Verteidigung des Bestehenden, indem die Gewalt der Unterdrückten mit jener der UnterdrückerInnen gleichgesetzt wird.

Staat und Gewaltmonopol

Da die Gewaltmittel der Gesellschaft im Kapitalismus ohnedies im bürgerlichen Staat (Polizei, Militär, Geheimdienste, Justiz, Gefängnisse …) konzentriert und monopolisiert sind, erscheint die Selbstverteidigung der Unterdrückten oder deren gewaltsames Aufbegehren (Aufstand, Revolte, Revolution) in der bürgerlichen Ideologie als zusätzliche Gewalt, nicht als Mittel zur Beschränkung oder Überwindung der Gewalt der UnterdrückerInnen.

Das staatliche Gewaltmonopol wird als „natürlich“, „zivilisierend“ verklärt und als scheinbar über den gesellschaftlichen Konflikten stehende, „neutrale“ Kraft ideologisch gerechtfertigt. Daher tendieren PazifistInnen und „GewaltgegnerInnen“ im Zweifelsfall dazu, diese für das geringere Übel zu halten. In ihrer Vorstellung (aber auch in der von Liberalen und ReformistInnen) erscheint die Konzentration der Gewaltmittel im bürgerlichen Staat nicht als Mittel zur Herrschaftssicherung einer Minderheit über die Mehrheit, sondern als Mittel zur „Befriedung“ der Gesellschaft, zur Beschränkung legaler, gesellschaftlich sanktionierter Gewaltanwendung auf eine Gruppe eigens dazu legitimierter und spezialisierter Menschen.

Dieser Schein wird durch das für den Kapitalismus grundlegende Auseinanderfallen von Politik und Ökonomie, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zusätzlich befestigt. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint notwendigerweise als Vertragsverhältnis freier WarenbesitzerInnen, von KäuferIn und VerkäuferInnen von Arbeitskraft. Die Menschen treten einander nicht nur auf dem Arbeitsmarkt als formal gleiche gegenüber, sondern auch als gleiche Rechtspersonen, als BürgerInnen im öffentlichen Leben. Vor dem Gesetz erscheinen ArbeiterInnen und KapitalistInnen als gleich. Der Staat, der auch die allgemeine Reproduktion dieses Rechtsverhältnisses sichern muss, scheint also über den Klassen zu stehen.

Wenn in der bürgerlichen Ideologie – und somit auch in ihren pazifistischen und reformistischen Spielarten – der Klassencharakter des Staats verschwindet, so beruht dies nicht auf einer bewussten Täuschung, sondern dieser Schein wird durch die kapitalistischen Verhältnisse selbst hervorgebracht.

Auf diesem falschen Verständnis des Staates beruht aber auch die Position von vielen PazifistInnen und ReformistInnen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnenklasse, der MigrantInnen und Geflüchteten selbst im Kampf gegen die Nazis abzulehnen wäre. Durch den Aufbau von Selbstschutzeinheiten würden ihrer Logik zufolge noch mehr Menschen als die legal Befugten (Polizei, …) „militarisiert“. Damit würde die Gewalt nur zunehmen. Sofern sie sich nicht auf rein moralische Phrasen wie die Aufforderung zum „Gewaltverzicht“ aller zurückziehen, müssen sie nach dem Staat im Kampf gegen die Nazis rufen. Dessen staatliches Gewaltmonopol müsse wieder gefestigt und die Sicherheitskräfte müssten auf die „Demokratie“ verpflichtet werden, um so sicherzustellen, dass nicht noch mehr Menschen anfangen, die „Ordnung“ oder ihre eigenen Interessen auch mit Mitteln der Selbstverteidigung, also „gewaltsam“, durchzusetzen. Wenn schon die Gesellschaft nicht als Ganze friedlich sein kann, so die Logik, soll die legalisierte Gewalttätigkeit auf einzelne spezialisierte Personen, eben den Staatsapparat, beschränkt bleiben.

In Wirklichkeit ist das staatliche Gewaltmonopol (und zwar nicht nur die Polizei, die unmittelbaren Repressionsorgane, sondern auch Gerichte etc.) eine Fessel nicht nur für Linke, sondern auch für die ArbeiterInnenbewegung. So stellt jeder Streik, der über eine ritualisierte Form hinausgeht, auch die Frage nach der Verteidigung gegen Streikbruch. Gegen StreikbrecherInnen, die sich durch Worte allein nicht überzeugen lassen, bedarf es des Zwangs. Sie müssen an der Aufnahme der Arbeit gehindert werden. Die Verteidigung eines Arbeitskampfes gegen Streikbruch, Werkschutz, Polizei erfordert die Bildung von Streikposten, von „Selbstschutz“. Ab einer bestimmten Stufe der Eskalation – z. B. wenn FaschistInnen drohen, einen Streik oder eine Besetzung anzugreifen – stellt sich auch die Frage der Bewaffnung solcher Streikposten, die sich im Zuge der Auseinandersetzung zu einer ArbeiterInnenmiliz entwickeln können.

Wenn die Lohnabhängigen nicht in der Lage sind, auf drohende Gewalt von Rechten oder des Staates adäquat zu antworten, so sind sie zum Rückzug gezwungen. Das hatten wir z. B. bei den großen Streiks und Besetzungen der Raffinerien unter Sarkozy in Frankreich gesehen. Diese wurden besiegt, indem der damalige Präsident mit dem Ausnahmezustand und dem Einsatz des Militärs drohte. Die GewerkschaftsführerInnen und die Klasse insgesamt waren darauf nicht vorbereitet. Sie brachen ihre Aktionen ab. Um in dieser Situation dem Angriff der Regierung zu begegnen, hätten sie selbst den Konflikt weiter zuspitzen, also zum Generalstreik und zur Bildung von Selbstverteidigungsmilizen aufrufen müssen. Sie hätten das mit einer Agitation unter den SoldatInnen verbinden müssen, eigene Rätestrukturen zu bilden und den Einsatz gegen die Streikenden zu verweigern. Ein solcher Kurs wäre jedoch auf eine revolutionäre Zuspitzung hinausgelaufen, die die GewerkschaftsführerInnen vermeiden wollten. Stattdessen zogen sie die Niederlage vor. Die Klasse selbst hatte keine alternative politische Kraft hervorgebracht, die in dieser kritischen Lage die bestehende Führung hätte ersetzen können, da sie selbst auf die Konfrontation nicht vorbereitet wurde – und zwar auch nicht von den linken KritikerInnen der Bürokratie.

In der bürgerlichen Gesellschaft entscheidet, wie Marx im Kapital bei der Analyse des Kampfes um den Arbeitslohn herausarbeitet, zwischen widerstreitenden Rechtsansprüchen letztlich – die Gewalt. So war es auch in Frankreich. Wer daher „prinzipiellen“ Gewaltverzicht predigt, der schlägt der ausgebeuteten Klasse letztlich den Verzicht auf die Verteidigung ihrer Interessen bei allen wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen vor. Im Kampf gegen den Faschismus ist dies jedoch besonders fatal.

Faschismus, Staat und Gewalt

Der Faschismus und die gewalttätigen RassistInnen, die MigrantInnen, Unterkünfte, SupporterInnen, linke Strukturen angreifen, verfolgen mit dieser Gewalttätigkeit einen politischen Zweck. Sie wollen die Organisationen ihrer FeindInnen vernichten, zum Teil diese selbst (MigrantInnen, MuslimInnen, Linke) – und sie werden sich davon sicher nicht durch deren „Gewaltverzicht“ abhalten lassen. Der Faschismus organisiert für seine Ziele nicht nur besonders brutale, barbarisierte Menschen. Er präsentiert sich als besonders „radikal“, um dem KleinbürgerInnentum, dem Lumpenproletariat und politisch rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse das Gefühl der Stärke zu vermitteln. So treiben Nazis Menschen durch die Straße und terrorisieren sie auch, um so ihre AnhängerInnen zu binden. Die Verletzung, ja Tötung des Feindes wird zum Beleg der Überlegenheit in den Augen ihres Umfeldes, des Milieus, das der Faschismus ultra-reaktionär organisiert.

Daher müssen wir den Nazis und dem von ihnen organisierten Umfeld auch anders begegnen als „normalen“ reaktionären Kräften. Das grundlegende Ziel des Faschismus ist die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, die Ausschaltung aller Elemente der proletarischen Demokratie und die Reorganisation der Gesellschaft nach dem Modell der „Volksgemeinschaft“. Die faschistische Diktatur, ist sie einmal verwirklicht, entpuppt sich zwar von Beginn an nicht als Herrschaft des zum Volk stilisierten Kleinbürgertums, sondern als jene des Finanzkapitals – aber sie ist zugleich eine Herrschaft, die durch den erfolgreichen Terror gegen die ArbeiterInnenklasse, MigrantInnen, JüdInnen, ja selbst bürgerlich-demokratische Kräfte errichtet wurde.

Bis zu einem gewissen Grad durchbricht auch die reaktionäre Gewalt des Faschismus und militanter RassistInnen das staatliche Gewaltmonopol. Daher brechen Konflikte über den Umgang mit dem Faschismus oder auch mit rechts-populistischen Gruppierungen wie der AfD sowohl unter den bürgerlichen Parteien wie in der herrschenden Klasse selbst auf. Ein Teil möchte auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – also einer kapitalistischen Krise und verschärfter Konkurrenz – an den etablierten Formen der Herrschaftsausübung (parlamentarische Demokratie, Sozialpartnerschaft) festhalten, da diese über Jahre oder Jahrzehnte die ArbeiterInnenklasse gut integrierten, den sozialen Frieden wahrten, die Profite und die imperialistischen Gesamtinteressen sicherten.

Doch die Krisenhaftigkeit des Systems stellt in vielfacher Hinsicht auch diese „traditionelle“ Form der Herrschaft in Frage. Schon der Neo-Liberalismus hat sie über Jahre unterminiert. Ab einem bestimmten Punkt sehen sich auch größere Teile der herrschenden Klasse vor die Notwendigkeit gestellt, die gesellschaftliche und politische Ordnung neu zu organisieren. Dies nimmt aktuell die Form einer scheinbar außerhalb der bürgerlichen „Elite“ stehenden, kleinbürgerlich-populistischen Bewegung und auch faschistischer Kräfte an. Diese sind keineswegs bloß gedungene LakaiInnen des Großkapitals. Bis zu einem gewissen Grad braucht der Populismus wie auch der Faschismus einen Bewegungscharakter, der sich nationalistisch, rassistisch oder gar völkisch gegen MigrantInnen, die „Gutmenschen“ aus reformistischer ArbeiterInnenschaft, Liberalen und Grünen richtet wie auch gegen die „Elite“. Während es dem Rechts-Populismus letztlich um eine Verschiebung und einen Umbau der bestehenden staatlichen Institutionen und Herrschaft Richtung Autoritarismus und Bonapartismus geht, will der Faschismus noch gründlicher „aufräumen“, gleich die gesamte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen.

Es ist kein Zufall, dass Rassismus, Anti-Liberalismus und auch Anti-Semitismus immer wiederkehrende Ideologien dieser Bewegungen sind. Im Unterschied zu den Rechts-PopulistInnen geht es dem Faschismus jedoch nicht nur um eine Protestbewegung von „Empörten“, sondern um die Schaffung einer militanten Bewegung zur Zerschlagung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Gerade der gewalttätige „Bewegungscharakter“ kann sich in zugespitzten Krisen auch für die herrschende Klasse als nützlich erweisen. Der faschistische Mob, die zur einer reaktionären Kraft, zu einem Rammbock gegen die ArbeiterInnenbewegung zusammengeschweißten Nazis kommen aus denselben Wohngebieten, wo auch ArbeiterInnen, die Linken, MigrantInnen leben. Sie sind – anders als Polizei und Justiz – „normale BürgerInnen“. Sie arbeiten in Betrieben, betreiben Geschäfte – und errichten ihre Vorherrschaft über ein Wohngebiet durch Terror und Organisation „von unten“ (auch wenn sie natürlich, einmal zur Macht gekommen, diese Macht dem Monopolkapital überlassen müssen). Daher erweist sich der Faschismus an der Macht auch als eine weitaus tiefer gehende Diktatur als andere Formen.

Eine solche totalitäre Form bürgerlicher Herrschaft lässt sich ohne Gewalt und Terror nicht errichten. Der Faschismus (oder die Bedrohung, die er bedeutet) zeigt aber schlagkräftiger als alles andere, wie wenig hilfreich der Satz ist, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeuge.

Nehmen wir einmal an, wir würden auf jede Gewalt gegen den Faschismus verzichten. Was würde dann passieren? Weniger Gewalt? Wohl nicht. Die Gewalt der FaschistInnen würde uns nur ungebremst die Knochen brechen. Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Entweder wir nehmen mehr und mehr Gewalt einfach hin – oder wir appellieren an eine andere Institution, die den Faschismus scheinbar aufhalten kann: den bürgerlichen Staat. Dumm nur, dass dieser selbst in Zeiten der Krise mehr und mehr zu autoritären Formen greift, dass die bürgerliche Politik selbst dem Faschismus, Rassismus und Rechts-Populismus einen Nährboden liefert.

Verzichten die Linken und die ArbeiterInnenbewegung im Kampf gegen die Nazis auf organisierte Selbstverteidigung, dann bedeutet das, dass sie selbst entweder alle zu hoffnungsfrohen ChristInnen der ersten Stunde mutieren müssen, die dem Feind, nachdem er sie auf die linke Wange geschlagen hat, auch die rechte hinhalten – oder sie setzen auf die Polizei, die Geheimdienste, die bürgerlichen Parlamente und Regierungen im Kampf gegen rechts. Das heißt aber, sie müssten dann für eine Stärkung des repressiven Apparates eintreten, der gerade dabei ist, für die Interessen des deutschen Imperialismus aufzurüsten, das Mittelmeer zum Massengrab zu machen und Geflüchtete in Länder wie Afghanistan abzuschieben. Sie müssten also selbst der Bourgeoisie jene Waffen schmieden helfen, die sie morgen (oder schon heute) gegen Streiks, antirassistische Aktionen, gegen die BesetzerInnen im Hambacher Forst, gegen linke Demonstrationen einsetzt.

Der Appell an den bürgerlichen Staat und seine Stärkung im Kampf gegen den Faschismus erweist sich als doppelt falsch. Erstens unterstellt er dem bürgerlichen Staat wider eigene Erfahrung zu, ein verlässlicher Verbündeter im Kampf gegen rechts zu sein oder sein zu können. Dabei wird die historische Erfahrung ausgeblendet, dass die herrschende Klasse selbst in Krisensituationen auf den Faschismus zurückgreift, dass sie genötigt sein kann, ihn als letztes Mittel zu ihrer Herrschaftssicherung zu nutzen – und ihn daher in Reserve hält.

Zweitens bedeutet das falsche Vertrauen in den bürgerlichen Staat auch, dass sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in einen Zustand gesellschaftlicher Ohnmacht begeben und in diesem verharren. Während die Rechten trotz manchmal härterer, zumeist ohnedies verhaltener staatlicher Repression weiter ihre Bewegung aufbauen, ihre AnhängerInnen im Kampf auf der Straße, in der reaktionären Mobilisierung schulen und so deren Moral und Zuversicht heben, überlässt die Linke dem bürgerlichen Staat das Handeln. Sie verzichtet auf den Aufbau eigener Strukturen. Indem sie die Kampfmoral und das Selbstbewusstsein der eigenen UnterstützerInnen nicht heben kann, verstärkt sie auch die Passivität, Niedergeschlagenheit und den Fatalismus der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Diese werden zu reinen Objekten, die sich entweder von den Faschos und Rechten drangsalieren lassen oder auf rassistische, mit den Rechten oft sogar noch sympathisierende Bullen hoffen müssen. Wer auf den bürgerlichen Staat bei der Verteidigung gegen faschistische Gewalt vertraut, überlässt diesem unwillkürlich nicht nur das Heft des Handelns, er macht sich selbst letztlich von der „Initiative“ der herrschenden Klasse, deren „Schutz“ abhängig.

Der Verzicht auf Strukturen, die der faschistischen und rassistischen Gewalt entgegentreten können, ermutigt nur diese Gewalt. Sie bringt eine Konzentration der Gewalt auf einer Seite (nämlich der der Barbarei und Unterdrückung) hervor, während die Gegenkräfte immer ohnmächtiger werden und sich selbst so fühlen.

 

Im zweiten Teil des Artikels werden wir uns mit der Frage beschäftigen, welchen Selbstschutz wir brauchen und wie dessen Aufbau in ein Strategie zur Bekämpfung des Faschismus eingebettet ist.