Kritische Bilanz der bundesweiten „Genug ist Genug!“-Konferenz

Valentin Lambert/Lukas Müller, Infomail 1217, 22. März 2023

Am 03./04. März 2023 fand in den Räumlichkeiten der Universität Halle das erste bundesweite Vernetzungstreffen von „Genug ist Genug!“ (GiG) statt. Angekündigt wurde dieses als „Aktionskonferenz“. Gut 80 Aktivist:innen, die meisten davon bereits politisch organisiert und jünger als 30 Jahre, nahmen an der Konferenz teil. Die Kampagne wurde 2022 vor allem von Jacobin-Magazin und linken Hauptamtlichen aus GEW und ver.di ins Leben gerufen, um gegen die steigenden Preise und die soziale Schieflage zu kämpfen. Zu diesem Zweck wurden die folgenden Forderungen aufgestellt:

1. 1000 Euro Wintergeld für alle. 2. Das 9-Euro-Ticket verlängern. 3. Löhne endlich erhöhen. 4. Energiepreise deckeln. 5. Energieversorgung sichern. 6. Krisenprofiteur:innen besteuern.

Konferenz mit dem Ziel, „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“

An Gruppen konnten wir wahrnehmen: SDAJ, SDS, FAU, Falken, Grüne Jugend, Soli-Netz, Armutsbetroffeneninitiative, ver.di und uns als GAM. Besonders stark vertreten waren die Grüne Jugend und ver.di. Eine große Mehrheit der Aktivist:innen sagte aus, noch im Studium zu stecken, ein kleinerer Teil stellte sich als Gewerkschaftsfunktionär:innen vor. Als Beschäftigte/r aus den Betrieben stellte sich kaum jemand vor, bis auf wenige Redner:innen beim Auftakt, welche teilweise als Gäste eingeladen wurden.

Die Aktionskonferenz hatte das Ziel, „sich für die anstehenden Kämpfe aufzustellen“, um „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“. Am ersten Abend wurde über die Aktivitäten der letzten sechs Monate berichtet. Thesen zur aktuellen politischen Lage wurden vorgestellt und eine sehr kurze offene Debatte geführt. Den Auftakt bildeten Eröffnungsreden von Beschäftigten aus verschiedenen Branchen, u. a. aus der Krankenhausbewegung in NRW, dem Fabrikkollektiv GKN aus Italien und der Initiative #ichbinarmutsbetroffen. Außerdem redete eine Reihe von Gewerkschaftsfunktionär:innen.

GiG orientiert sich um

In den Thesen zur aktuellen Lage in Deutschland wurde festgestellt, dass der erhoffte „heiße Herbst“ von linken Kräften ausblieb. Die Proteststimmung sei nun weg. Trotzdem sei die Lage prekär und es müsse irgendwie weitergehen, aber auf anderen Wegen. Durch die anstehenden bzw. laufenden Tarifverhandlungen rücken Arbeitskämpfe und der Streik als Mittel nun in den Vordergrund der politischen Kämpfe. In Zukunft möchte sich die Kampagne daher innerhalb der Tarifkämpfe einbringen. Die Tarifverhandlungen seien so politisch wie lange nicht mehr und sollen gesellschaftliches Gewicht erlangen.

Diese Analyse und die Schlussfolgerung sind soweit sehr richtig, aber auch mehr oder weniger Allgemeingut. Zudem ging die Analyse kaum über diese wenigen Sätze hinaus und war nach 5 – 10 Minuten abgehandelt. Die Frage, warum es nicht gelungen ist, Massenproteste von links zu initiieren, die durchaus vorhandene Wut der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken, ja an etlichen Orten stattdessen die Rechten das Ruder übernommen haben und was wir daraus lernen können, wurde nicht bearbeitet. Zudem wurde nicht darauf eingegangen, dass die Tarifkämpfe zwar polarisierter sind und heftiger mobilisiert wird, dass sie zugleich aber unter Kontrolle der Bürokratie stattfinden und auch den Rahmen ökonomischer Kämpfe nicht verlassen haben.

Die abschließende „offene Debatte“ wirkte verkürzt und war mit einer einminütigen Redezeit und einem Beitrag pro Person quasi nicht möglich. Bei mehr als 80 Personen ist so etwas zwar zwangsläufig nicht einfach, allerdings für einen tatsächlich bundesweiten Austausch dennoch von zentraler Bedeutung. Hier hätte man deutlich mehr Zeit einplanen müssen. Vom Podium wurde dazu aufgerufen, die Redezeit zu nutzen, um anzureißen, welche Themen man am nächsten Tag vertiefen möchte. Allerdings waren diese hierfür bereits gesetzt und Raum für in der offenen Debatte aufgekommene Themen gar nicht vorgesehen.

Kämpferische Bewegung von unten oder geordnete Bahnen?

Am zweiten Tag der Aktionskonferenz fanden Workshops und Arbeitsgruppen statt, welche auch nach der Konferenz weiter aktiv sein sollen: Inflation und Preise, öffentlicher Dienst, Post, Bus und Bahn, GiG an den Unis, Social Media und interne Kommunikation. Diese schienen überwiegend von Gewerkschaftshauptamtlichen vorbereitet worden zu sein. Wir beteiligten uns am Workshop zum TVöD.

Hier wurden vor allem verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie man die Aktionen der Beschäftigten „von außen“ unterstützen kann. Diskutiert wurde aber auch über die starren Strukturen der Gewerkschaften. Von der Genossin aus der Krankenhausbewegung in NRW wurde von Erfahrungen der Selbstorganisation von unten berichtet, was nicht gerade auf Begeisterung seitens der an der Debatte beteiligten Gewerkschaftsfunktionär:innen stieß.

Die Idee der Zusammenführung von Streiks zu einem Generalstreik wurde von der ver.di-Funktionärin Jana Seppelt aus Berlin aufgrund einer angeblichen Spaltung der Bewegung abgelehnt und es wurde vor einem utopischen „Überschuss“ gewarnt. Die Kritik einer marxistischen Gruppe auf einem GiG-Treffen in Berlin an der Beteiligung der Grünen Jugend, da die Grünen im Bundestag gegen eine Vermögenssteuer gestimmt haben, bezeichnete Jana Seppelt in Halle als „linksradikale Kleinscheiße“. Im Allgemeinen wurde/n selbst auf vorsichtige Kritik an der Gewerkschaftsführung umgehend mit entsprechenden Gegenredebeiträgen von Gewerkschaftssekretär:innen reagiert und kämpferische Vorschläge eher ausgebremst.

GiG ist leider noch nicht genug

Als im vergangenem Jahr linke Gewerkschafter:innen und andere Aktivist:innen „Genug ist Genug!“ aufbauten, um einen bundesweit koordinierten Kampf gegen die Krise zu entfalten, ergriffen sie eine bitter nötige und unterstützenswerte Initiative. Auch die nun vollzogene Orientierung auf die Tarifkämpfe und der Versuch, diese zusammenzuführen und die gesellschaftliche Debatte dadurch insgesamt zu prägen, sind für sich genommen richtig. Allerdings weisen die Struktur und die Strategie von GiG unserer Ansicht nach Schwächen auf und sind zumindest in ihrer aktuellen Form noch nicht geeignet, diesen Aufgaben gerecht zu werden.

Welche Struktur brauchen wir?

So wurden von verschiedenen Personen zu Recht die eher undurchsichtigen Strukturen und Verantwortlichkeiten von GiG kritisch angesprochen. Ist GiG ein Bündnis oder eine eigene Organisation? Wer trifft die Entscheidungen und schnürt die Kampagnen? Auch auf der Konferenz war für uns nicht ersichtlich, wer die Leute sind, die da vorne auf dem Podium sitzen und die Konferenz organisiert haben. Ein gewähltes bundesweites Koordinierungsgremium, welches politisch verantwortlich und rechenschaftspflichtig ist, Protokolle seiner Arbeit intern veröffentlicht und so weiter, scheint es nicht zu geben. Bisher hat GiG vor allem so funktioniert, dass „von oben“ vorgefertigte Kampagnen und Materialien „unten“ in den Ortsgruppen einfach reproduziert wurden, ohne dass die Aktivist:innen und Gruppen vor Ort diese inhaltlich mitgestalten konnten. Die Tatsache, dass GiG behauptet, 38 Ortsgruppen zu haben, sich aber nur gut 80 Leute an der ersten bundesweiten Konferenz beteiligten, zeigt, dass die Struktur von einer lebendigen Kultur der Mitgestaltung weit entfernt ist und/oder viele Ortsgruppen gar nicht mehr aktiv sind.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass GiG fast ausschließlich aus Studierenden zu bestehen scheint. Natürlich ist es löblich, wenn sie, die nicht unmittelbar von Tarifkämpfen betroffen sind, diese unterstützen wollen. Ein Fehler ist es aber, diesen Zustand nicht überwinden und mit den Beschäftigten aus den Betrieben praktisch wie organisatorisch zu einer gemeinsamen Bewegung verschmelzen zu wollen. So wurde von der Vertreterin der Grünen Jugend sogar explizit vorgeschlagen zu versuchen, primär Studierende in die Arbeit einzubinden, denn diese hätten im Gegensatz zu Beschäftigten Zeit. In den ganzen Debatten wurde von GiG gesprochen als einer Supporter:innenstruktur, welche von außen an die Streiks herantritt, den Beschäftigten und der Gewerkschaftsführung bei ihrem Kampf zur Hand geht, die Moral durch die gezeigte Solidarität stärkt und innerhalb der Bevölkerung Öffentlichkeit und Verständnis schafft.

Was wir aber versuchen müssen, ist der Aufbau eines gemeinsamen bundesweiten Aktionsbündnisses aus allen kampfbereiten Beschäftigten, unterstützenden Studierenden, linken Organisationen und Gewerkschaften, welches die verschiedenen Tarifkämpfe, die Umwelt- und die Antikriegsbewegung zu einem gemeinsamen Kampf vereint, statt sich gegenseitig von außen zu unterstützen. Dieses bundesweite Aktionsbündnis sollte lokale Ableger in den Städten haben und versuchen, Verankerung vor allem in den Betrieben, aber auch an Unis und Schulen aufzubauen. In dem Bündnis sollten die verschiedene Organisationen und (Betriebs-)Gruppen bzw. deren Vertreter:innen auf Augenhöhe diskutieren und mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fällen. Eine demokratisch gewählte, rechenschaftspflichtige und transparent arbeitende Koordinierung sollte die Arbeit und Kämpfe bundesweit zusammenführen. Ein erster Schritt in diese Richtung müsste die Einberufung einer Aktionskonferenz über GiG hinaus sein, unter Einbezug aller oben genannten Akteur:innen. Dafür müssten die Gründer:innen von GiG, welche wie gesagt vor allem aus den Apparaten von ver.di und GEW kommen, allerdings bereit sein, die Zügel aus der Hand zu geben und die Initiative für einen solchen Schritt zu ergreifen.

Welche Strategie führt zum Sieg?

Die Debatten zur Intervention in die Tarifkämpfe klangen auf der Konferenz vor allem nach Vorfeldarbeit für die Politik der Gewerkschaftsführung. Wenn GiG die Tarifkämpfe zuspitzen und zusammenführen möchte, hätte man eine eigenständige Perspektive diskutieren müssen, wie und wohin die Streiks konkret führen sollen. Die aktuellen Tarifverhandlungen bei der Post machen deutlich, dass auf die Gewerkschaftsbürokratie kein Verlass ist, wo sich ver.di nach knapp 90 % Zustimmung unter den Beschäftigten für einen Streik auf einen in letzter Sekunde vorgelegten faulen Kompromiss eingelassen hat. Die demokratische Urabstimmung zum Streik wurde kalt missachtet und die Bewegung ausverkauft (https://arbeiterinnenmacht.de/2023/03/14/post-guter-streik-statt-schlechter-verhandlungen-das-ergebnis-muss-abgelehnt-werden/). Eine Zuspitzung der Kämpfe wird wohl kaum ohne massiven Druck von unten gegen die Bürokratie durchzusetzen sein. Aktuell wird die GiG aber vor allem aus den Apparaten heraus finanziert.

Diese Zuspitzung darf nicht alleine bedeuten, die einzelnen Tarifauseinandersetzungen zusammenzuführen, viele Mitglieder in die Auseinandersetzung zu ziehen oder neue zu gewinnen, auch wenn dies ein nützlicher Teilschritt wäre. Ein weiterer Zwischenschritt wäre eine Kampagne gegen die Gefahr eines Schlichtungsverfahrens im öffentlichen Dienst und für die Aufkündigung dieser Vereinbarung. Unserer Einschätzung nach bedarf es einer Vorbereitung auf den politischen Massenstreik branchenübergreifend und notfalls unbefristet. Zugleich müssen wir uns darauf vorbereiten, dass solche radikaleren Kampfmaßnahmen auch den Widerstand von Staat und Kapital befeuern.

Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass die Forderungen von GiG überarbeitet werden müssen. Wir schlagen der Kampagne deshalb abschließend folgende zentrale Forderungen vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!