Bürgergeld als Bürgerschreck?

Jürgen Roth, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Als bedeutendste Sozialreform der letzten 20 Jahre war es angekündigt worden, das „neue“ Bürgergeld. Wir hatten bereits in Neue Internationale 268 erläutert, warum dieses hochtrabend formulierte Etikett auf einer Mogelpackung, die Hartz IV fast aufs Haar gleicht, nichts zu suchen hat.

Das parlamentarische Gerangel um das Reförmchen, das diese Bezeichnung kaum verdient, hat in einem Kompromiss gemündet, der fernab von einem Abschied von Hartz IV selbst die wenigen Brosamen an Verbesserungen, die das neue Gesetz mit sich bringt, fast vollständig getilgt hat.

Die Debatten in Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss werfen aber auch in ihrer unangemessenen Hitze ein Schlaglicht auf die Argumente von Gegner:innen wie Anhänger:innen des Entwurfs der Ampelkoalition.

Minimal ist schon zu viel

Dieser Untertitel beschreibt recht gut die Haltung von CDU/CSU und AfD. Ihre Redner in der 1. Bundestagsdebatte am 10. November überboten sich mit Vokabeln. „Anstrengung, Leistungs- und Risikobereitschaft“ würden durch eine vermeintlich vom Bürgergeld geförderte „Arbeitsverweigerung“ unterhöhlt. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter (ein passender Nachname) verstieg sich sogar dazu zu behaupten, „man müsse unsere Arbeitslosen vor dieser Regierung schützen“. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei, richtete das rhetorische Feuer auch gegen die Ampelkoalitionär:innen: „Sie haben mit ihrer Bräsigkeit erst Friedrich Merz ermöglicht“. Er verwies auch auf den Zusammenhang des ALG II mit dem Niedriglohnsektor: „Wir haben ein millionenfaches Lohnproblem.“

Tags zuvor war seine Stellvertreterin Susanne Ferschl konkreter geworden. Es handele sich beim Gesetzentwurf nicht um eine Abkehr von Hartz IV oder gar der „Arbeitsgesellschaft“. Gut sei, dass Ausbildung und Qualifizierung Vorrang vor prekären Bullshit-Jobs bekämen. Der Koalitionsentwurf sieht vor, bei Absolvieren einer Weiterbildung 150 Euro auf die Grundsicherung draufzulegen, bei unterstützenden Maßnahmen, die zur langfristigen Rückkehr in den Job führen, 75 Euro. Die Freibeträge bei Zuverdienst sollen steigen. Ein Berufsabschluss soll in 2 statt 3 Jahren nachgeholt werden können.

Schließlich sei jede/r 4. Empfänger:in von Grundsicherungsleistungen erwerbstätig (Aufstocker:innen). Notwendig seien eine „armutsfeste“ Grundsicherung im Fall der Bedürftigkeit sowie gute, tarifgebundene Arbeit in der Fläche. Lassen wir mal beiseite, dass die von ihr geforderten 200 Euro Erhöhung nur „armutsfest“ in dem Sinne sind, dass sie nicht davor schonen, sondern Armut festschreiben, und tarifgebundene Beschäftigung angesichts der Zaghaftigkeit und Zahnlosigkeit „unserer“ Gewerkschaften noch lange nicht mit guter Entlohnung identisch ist, so hat sich Ferschl von allen Redner:innen am deutlichsten links positioniert.

Holpriger Weg zum Kompromiss

Union und AfD stimmten im Bundestag gegen den Gesetzentwurf, DIE LINKE enthielt sich. Damit nahm die 1. Parlamentskammer die Regierungsvorlage mit den Stimmen der Koalition an. Sie sah eine Erhöhung des Regelsatzes von 449  auf 502 Euro vor, ferner Lockerungen bei Sanktionen in Gestalt von Leistungsentzug, stärkere Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen, verbesserte Vorgaben zur Höhe des Schonvermögens, das nicht auf die Bezüge angerechnet wird, und Wohnungsgröße.

Viele Sozialverbände und auch Gewerkschaften, die zuvor noch den Ampelentwurf kritisiert hatten, begrüßten jetzt das Abstimmungsergebnis. Dieser „Sinneswandel“ erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Union angekündigt hatte, im am 14. November tagenden Bundesrat, der 2. Parlamentskammer, das Gesetz scheitern zu lassen. Getreu der sozialdemokratischen Politik des „kleineren Übels“ reagierten also unter diesem Druck die SPD-Parteigänger:innen in ihren Vorfeldorganisationen. Nur neigt diese Logik die Wippe des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses zuungunsten der Lohnabhängigen, führt auf dieser schiefen Ebene schnell zum nächstgrößeren Übel.

Im Bundesrat fiel das Gesetz denn auch prompt durch. Dabei agierten auch einige SPD-geführte Landesregierungen (Brandenburg) im Sinne des nächstgrößeren Übels und enthielten sich der Zustimmung zum Gesetzesantrag der von der eigenen Partei im Bund geführten Koalition.

Folglich ging die Vorlage in den Vermittlungsausschuss am 23. November. Tags zuvor hatten sich rot-grün-gelbe Koalition und oppositionelle Union auf einen Kompromiss geeinigt. Er beinhaltete den Verzicht auf die geplante sechsmonatige Vertrauenszeit. In den ersten 6 Monaten des Bürgergeldbezugs können nun Jobcenter Leistungen bei Nichtkooperation kürzen. Die geringfügigen Sanktionslockerungen, die die Bundesregierung vorsah, umfassten aber sowieso erstens nur das, was das Bundesverfassungsgericht bereits 2019 moniert hatte, und zweitens blieben damit die häufigsten Verstöße gegen die Zusammenarbeitsvorschriften mit der Agentur für Arbeit, solche gegen Meldepflichten (80 %), von Sanktionsbefreiung ausgenommen. Im Vergleich zur aktuellen Situation läuft der Deal sogar auf eine Verschlechterung hinaus, denn als Übergang zur Einführung des Bürgergeldes gilt gerade ein Sanktionsmoratorium.

Außerdem sah der vor der Tagung des Vermittlungsausschusses ausgekungelte Kompromiss eine Senkung der Schonvermögenshöhe vor. Für den Haushaltsvorstand gelten jetzt 40.000 statt 60.000 Euro, für jede weitere Person 15.000 statt 30.000. Lediglich eine private Altersvorsorgeversicherung wird von der Anrechnung auf die Sozialleistung ausgenommen und geschützt. Die Karenzzeit, bis es anrechnungsfrei bleibt, sinkt von zwei Jahren auf eines. Ebenfalls nach einem Jahr statt zweien greift jetzt der Zwangsumzug in eine kleinere Wohnung.

Die Erhöhung des Regelsatzes war auch bei der Union nicht umstritten, wohl weil es sich gar nicht um eine Erhöhung, sondern verspätete und unzureichende Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten handelt.

Vermittlungsausschuss gibt grünes Licht

Nicht überraschend wurde oben geschilderter Deal denn auch in der Sitzung des Vermittlungsausschusses am 23. November abgesegnet. Bundesarbeits- und -sozialminister Heil (SPD) dankte CDU und CSU für ihre Zustimmung. Mit der Einigung sei eine gesellschaftliche Polarisierung entgiftet. Die SPD lobte das Bürgergeld als einen „Systemwechsel“, die Union dafür, gerade diesen verhindert zu haben. So viel zur Einigkeit.

Doch wie war es um die Standhaftigkeit der 2. deutschen Sozialdemokratie alias DIE LINKE bestellt? Gesine Lötzsch gestand freimütig, im Vermittlungsausschuss für ihre Fraktion gegen den Kompromiss gestimmt zu haben. Im Bundestag hatte die Fraktion sich beim Regierungsentwurf enthalten. Besser wäre auch hier ein Nein gewesen auch auf die Gefahr hin, mit AfD und Christenfraktionsgemeinschaft in einen Topf geworfen zu werden.

Parlamentarischer Schlussakkord

Doch nun musste dieser Mehrheitsbeschluss des Vermittlungsausschusses noch durch beide Kammern abgesegnet werden. Der Bundestag stimmte mit 557 Stimmen dafür (98 dagegen, 2 Enthaltungen). AfD und DIE LINKE votierten geschlossen dagegen. Und im Bundesrat? Thüringen stimmte für den Kompromiss. Jedenfalls treten somit die erhöhten Regelsätze ab Beginn nächsten Jahres in Kraft. Die weiteren Neuerungen greifen ab Juli 2023.

Oberjanuskopf Katja Kipping, Berlins Nochsozialsenatorin, argumentierte so für die Richtigkeit diese unterschiedlichen Abstimmungsverhaltens: „Zu den von der Union erzwungenen sozialen Verschlechterungen haben wir als Linke ganz klar Nein gesagt, im Bundestag“, um gleich nachzuschieben, bei der Abstimmung im Bundesrat gehe es dagegen um die Regelsatzerhöhung und einige Verbesserungen. Wüsste man es nicht besser und glaubte Gen. Kipping, könnte man meinen, es handele sich um 2 entgegengesetzte Abstimmungsthemen.

Die organisierte Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, sich nicht auf die parlamentarischen Winkelzüge beider bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verlassen, sondern ihrer Kraft in Betrieben und auf der Straße zu vertrauen. In diesem Zuge ist es gut, DIE LINKE daran zu erinnern, wie eilig sie 2004 auf den Zug der Proteste und Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 aufgesprungen ist. Heute verleiht sie Hartz IV Flankendeckung von links, mit welchen rhetorischen Kniffen auch immer sie dies zu tarnen versucht.