Grundzüge der aktuellen Weltlage

Teil 1, Martin Suchanek, Infomail 1156, 18. Juli 2021

Während die dritte Welle der Pandemie den globalen Süden regelrecht überrollt, üben sich Wirtschaftsforschungsinstitute und die Regierungen der führenden kapitalistischen Staaten in (Zweck-Ooptimismus.

US-Präsident Biden verkündet, dass die schlechten Trump-Jahre vorbei seien und die USA wieder die Führungsrolle auf dem Globus übernommen wollten. Vorbei seien die Jahre des Unilateralismus, des Ausstiegs aus dem Pariser Klimaabkommen und des öffentlichen Vorführens der europäischen Verbündeten. Die Welt soll wieder hegemonial nach Wunsch und Vorstellung der USA geordnet werden, natürlich zum Wohl von Freiheit und Demokratie, von Marktwirtschaft und Wettbewerb.

Doch auch der chinesische Imperialismus, der neue Hauptrivale im globalen Kampf um Märkte und Einflusssphären, stellt seine Ansprüche offen zur Schau. Anlässlich des hundertjährigen Bestehens der KP Chinas präsentiert er sich einmal mehr als Alternative zur US-dominierten Weltordnung. So wie die etablierten westlichen Führungsmächte, die USA, aber auch ihre PartnerInnen und RivalInnen aus der EU ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen gern mit demokratischen Versprechen verschleiern, geriert sich Peking noch immer als weniger imperialistischer Imperialismus, der sich in innere Angelegenheiten seiner VasallInnen vergleichsweise wenig einmische, solange sie den Zielen Chinas nicht entgegenstehen.

Selbst die krisengeschüttete EU beschwört einmal mehr den neuen Aufbruch. Vorzugsweise Deutschland und Frankreich müssten mehr Verantwortung für die Welt übernehmen und offensiver ihre Interessen vertreten – sei es gegenüber Russland und China, aber auch  den USA und Britannien. Vor allem aber müssten sie ihren eigenen Block endlich neu ordnen und die EU voranbringen – auf dem eigenen Gebiet wie auch im Mittelmeer und in Afrika.

Weitaus verhaltener fallen die politischen Proklamationen und Ambitionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern aus. Hier ist weder ein Ende der ökonomischen Krise noch der Pandemie in Sicht. Während Letztere im Jahr 2020 die globale Rezession  synchronisierte, erleben wir jetzt eine Auseinanderentwicklung der Weltwirtschaft.

Konjunkturprognosen

Dies drückt sich auch in den Prognosen der konjunkturellen Entwicklung für die Jahre 2021 und 2022 aus. In seinem vierteljährlichen Bericht geht der IWF im April 2021 von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und rechnet damit sogar mit einer noch stärkeren Erholung der globalen Ökonomie als am Beginn des Jahres.

Getragen wird der Aufschwung wesentlich vom Wachstum in den imperialistischen Zentren, d. h. vor allem von China und den USA, die zur Zeit beide als Lokomotiven der Weltwirtschaft fungieren. Für die USA prognostiziert der IWF ein Plus von 6,4 %, für China gar 8,4 %. Für die Eurozone werden hingegen lediglich 4,4 %, für Deutschland 3,7 %, für Japan 3,3 %, für Britannien um die 5 % veranschlagt. Damit liegen diese Länder unter dem erwarteten globalen Durchschnitt von 6,0 %. Diese Zahlen müssen natürlich vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass das höher erwartete Wachstum in Britannien oder den USA gegenüber Deutschland und der EU natürlich auch das unterschiedliche Tempo reflektiert, in dem die Staaten Impfungen gegen Pandemie durchführten und damit Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufrechterhalten und auf die Krise des Gesundheitswesens reagieren mussten. Insofern sind sie nur bedingt vergleichbar. Sie verdeutlichen aber die entscheidende konjunkturelle Entwicklungstendenz.

Grundsätzlich können wir jedoch von einem Wachstum der imperialistischen Ökonomien im Jahr 2021 und 2022 ausgehen, das die Weltwirtschaft insgesamt stimulieren wird. Gleichzeitig dürfen diese kurzfristigen Prognosen nicht über deren weitere Krisenhaftigkeit hinwegtäuschen, ebenso wenig wie über die weiter grassierende Pandemie, die vor allem in den Ländern des globalen Südens wütet.

Wie wir sehen werden, stellt die ungleichmäßige Entwicklung der Weltökonomie ein zentrales Merkmal der aktuellen Lage und Form dar, die der konjunkturelle Aufschwung annimmt. Die Ungleichzeitigkeit zwischen den verschiedenen Regionen und der imperialistische Charakter des globalen Kapitalismus treten nicht nur während der Rezession, sondern insbesondere auch in der gegenwärtigen Erholung besonders deutlich hervor. Der Aufschwung der einen bedeutet Stagnation, Niedergang und Dauerkrise der anderen.

Gründe für den Aufschwung

Um die Ursachen für die zunehmende Ungleichzeitigkeit zu verstehen, müssen wir uns mit den kurzfristigen, konjunkturellen Ursachen der Entwicklung beschäftigten.

a) China und einige andere Länder wie Australien oder Südkorea  waren in der Lage, die Pandemie, wenn auch mit sehr drastischen staatlichen Zwangsmaßnahmen, relativ erfolgreich einzudämmen. Chinas BIP wuchs daher auch 2020, wenn auch nur um 2,3 %. Die USA und Britannien führten energische Impfkampagnen durch und konnten so rascher das öffentliche Leben und den Konsum wieder ankurbeln.

Die Länder der EU lagen hier lange zurück, doch auch diese werden bis September 2021 einen großen Teil der Bevölkerung geimpft haben. Darüber hinaus monopolisieren diese Länder sowie China und Russland faktisch den verfügbaren globalen Impfstoff, einschließlich der Produktion von und Verfügung über modifizierte/n Vakzine/n, um die Bevölkerung gegen neue Virusmutationen zu schützen. Indien besitzt zwar auch enorme Produktionskapazitäten, über die Patente verfügen jedoch die westlichen Konzerne.

Die Konzentration von Impfstoffen und der Mittel für den Gesundheitsschutz auf die imperialistischen Zentren und einige wenige Halbkolonien bedeutet aber auch, dass die meisten Länder des Planeten weiter von der grassierenden Pandemie heimgesucht werden. Hinzu kommt, dass sie, anders als die reichsten Länder, kaum oder jedenfalls nicht längerfristig über die Mittel verfügen, die Wirtschaft zeitweilig herunterzufahren und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Daher fehlt es nicht nur an Impfstoffen und medizinischer Versorgung. Die Masse der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen ist weiter gezwungen, ohne nennenswerten Gesundheitsschutz unter prekärsten Bedingungen ihrer Arbeit nachzugehen – und somit das Risiko schwerer chronischer Erkrankungen oder eines Massensterbens in Kauf zu nehmen (siehe Lateinamerika, Afrika, aber auch Indien und weitere große Teile Asiens). Diese Lage stellt nicht nur einen Schritt zur Barbarisierung mit Millionen Toten dar – sie geht auch mit einer wirtschaftlichen Dauerkrise in diesen Ländern einher, die durch andere Faktoren wie z. B. ökologische Katastrophen verschärft wird.

b) Alle großen imperialistischen Staaten und von ihnen geführte Blöcke (EU) griffen während der Pandemie zu, wenn auch begrenzten, staatlichen Lenkungsmaßnahmen, um den Gesundheitssektor einigermaßen zu zentralisieren und den verheerenden Folgen neoliberaler Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte entgegenzuwirken. Ein Resultat dieser Maßnahmen stellt auch die relativ rasche Entwicklung von Impfstoffen dar, deren Entwicklungskosten die privaten Konzerne zum größten Teil auf die Staaten und SteuerzahlerInnen abwälzten, während sie jetzt (insbesondere BioNtech/Pfizer und Moderna) Milliarden Extraprofite einstreichen.

Generell stützen die imperialistischen Staaten während der Rezession ihr Großkapital, ihre Finanzinstitutionen (und dem untergeordnet auch kleinere Unternehmen und Teile der ArbeiterInnenklasse) mit Milliardensubventionen, um die Ökonomie zu stabilisieren und die Kapitale vor dem Ruin oder Zusammenbruch zu retten. Diese Politik wird nun mit gigantischen Konjunkturprogrammen – allein das der US-Regierung unter Biden entspricht rund 8 % des US-amerikanischen BIP – fortgesetzt.

Aufschwung für wen?

Die Konjunkturprogramme sind jedoch auf die imperialistischen Metropolen beschränkt. Für die vom imperialistischen Finanz- und Großkapital ausgebeuteten Staaten und Regionen in Afrika, Lateinamerika und in den größten Teilen Asiens sind sie nicht wiederholbar. D. h. die aktuelle Konjunkturpolitik der führenden kapitalistischen Staaten und vor allem der Großmächte verstärkt die globalen Ungleichheiten und festigt die Dominanz der imperialistischen Mächte. Diese zeigt sich auf verschiedenen Ebenen:

Erstens hängt der konjunkturelle Aufschwung der Weltwirtschaft insgesamt von der Akkumulationsdynamik und der Nachfrage in den imperialistischen Zentren ab. Zweitens führt deren Aufschwung generell zu einem Kapital- und Investitionsabfluss zu den imperialistischen Zentren, was auch die Schwellenländer unter Druck setzt. Drittens trifft die gigantische Zunahme staatlicher und privater Verschuldung imperialistische und halbkoloniale Länder unterschiedlich. Erstere können so ihr weltbeherrschendes Großkapital retten und sogar versuchen, den Kapitalstock in Richtung Zukunftstechnologie zu erneuern. Die Verschuldung der halbkolonialen Länder hingegen hat solche Ausmaße angenommen, dass sie vor allem als Hebel zur Vertiefung der Abhängigkeit von den imperialistischen Kapitalen dient, zu verstärkter Unterordnung führt und ein zentrales Mittel zum Abfluss von Extraprofiten in die imperialistischen Länder darstellt.

Damit sind wir bei einem ersten zentralen Charakteristikum der gegenwärtigen Entwicklung der Weltwirtschaft angelangt: Krise, Pandemie und auch der konjunkturelle Aufschwung vertiefen die halbkoloniale Abhängigkeit. Es ist daher kein Wunder, dass zahlreiche Länder – darunter auch Staaten wie Indien, Südafrika, Brasilien, die Türkei – von einer chronischen Krisenhaftigkeit geplagt sind, deren wichtige Merkmale steigende Schuldenlast, drohender oder wirklicher Kapitalabfluss, Inflation, offene oder verdeckte Massenarbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung darstellen. In der extremsten Form führt dies zu einem dramatischen Anstieg von Mangel- und Unterernährung und zu Millionen Hungertoten.

Der wesentlich auf imperialistische Kernländer beschränkte Charakter der gegenwärtigen Erholung der Weltwirtschaft bedeutet auch, dass es zwar nicht sicher ist, welche Großmächte und führenden Kapitale als SiegerInnen aus dieser Krise hervorgehen werden. Es ist aber deutlich absehbar, welche Länder geschwächt und als Verlierer aus der Krise hervorgehen werden: die Masse der Halbkolonien inklusive Länder wie Brasilien. Unter diesen liefert Indien das widersprüchlichste Bild. 2020 erlebte das Land einen historischen Einbruch des BIP von –8 %). Für 2021 wird jedoch ein extrem großes  Wachstum von bis zu 12,5 % prognostiziert – allerdings unter der Voraussetzung, dass das Land die Pandemie erfolgreich in den Griff bekommt. Davon kann beim besten Willen nicht die Rede sein.

Neben den halbkolonialen Ländern werden auch einige imperialistische Staaten auf ökonomischer Ebene Verlierer der aktuellen Entwicklung sein – allen voran Russland. Der Kurs Putins und die Verstärkung des bonapartistischen und autoritären Charakters seines Regimes stellen auch eine präventive Aktion gegen mögliche Massenproteste dar, die neben der bürgerlichen Opposition auch die ArbeiterInnenklasse in Bewegung bringen könnten.

Die Ungleichzeitigkeit der ökonomischen Entwicklung trifft schließlich auch die EU/Eurozone weit stärker als die USA und China. Die Krise verschärft die Ungleichgewichte und zentrifugalen Tendenzen in der EU noch einmal dramatisch. Imperialistische Länder wie Italien und Spanien verlieren weiter an ökonomischem/r Gewicht und Konkurrenzfähigkeit, sind zugleich jedoch viel zu groß und bedeutsam, als dass die EU sie fallen lassen könnte.

Risiken

Wenn wir vom gegenwärtigen konjunkturellen Aufschwung der Weltwirtschaft sprechen, dürfen wir auch die Unsicherheitsfaktoren nicht vergessen, auf die auch die bürgerlichen Institutionen wie IWF, Weltbank oder OECD und nationale Wirtschaftsforschungsinstitute hinweisen: Dazu gehört zuerst die Pandemie. Auch wenn diese zur Zeit in vielen westlichen Ländern einigermaßen zurückgedrängt wurde, so können wir selbst in diesen von einer infolge der Massenimpfungen wahrscheinlich  schwächeren vierten Welle ausgehen. Die halbkoloniale Welt befindet sich jedoch im freien Fall. Eine wirksame Pandemiebekämpfung, die ohne massiven Ressourcentransfer aus der imperialistischen Welt kaum möglich erscheint, ist nicht in Sicht.

Ein zweites massives Risiko stellt die Inflationsgefahr dar, vor allem in den halbkolonialen Ländern, deren Währungen aufgrund der Krise massiv unter Druck geraten. Doch die Rückkehr der Inflation, die in den imperialistischen Ländern über Jahre verschwunden zu sein schien, wird auch in den Zentren der Weltökonomie zu einer zunehmenden Gefahr.

Drittens haben die Antikrisenmaßnahmen und die gigantischen Konjunkturpakete zwei miteinander verbundene Probleme massiv verschärft: die gigantische Verschuldung von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten einer-, das Anwachsen spekulativer Blasen andererseits.

Überakkumulation

Letzteres ist eng mit der Entstehung neuer Formen des Finanzkapitals verbunden. Die gigantische Zunahme von fiktivem Kapital hängt aber ursächlich damit zusammen, dass die Politik der großen imperialistischen Staaten seit 2007 wesentlich auf die Rettung des Großkapitals, sei es des zinstragenden, des industriellen oder kommerziellen abzielte. Dies bedeutet wiederum, dass die für eine grundlegende Erholung der Profitraten notwendige Vernichtung von überschüssigem Kapital nicht oder jedenfalls nicht in dem Ausmaß stattfand, um eine neue Akkumulationsdynamik im produktiven Bereich in Gang zu setzen.

Die aktuelle Politik der USA, der EU und auch Chinas zielt zwar unter Schlagworten wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz und ökologische Erneuerung auch auf eine stoffliche Ersetzung und Modernisierung des Kapitalstocks ab, und alle greifen daher auch zu diesem Zweck auf staatliche Konjunkturpolitik zurück.

Doch in allen Fällen – insbesondere in den tradierten westlichen Staaten – wird letztlich die Quadratur des Kreises versucht. Einerseits sollen nämlich staatlicherseits eine Erneuerung des Kapitalstocks forciert, andererseits jedoch die bestehenden Großkapitale geschützt werden. Da das bestehende industrielle Anlagekapital in allen führenden imperialistischen Staaten auch gigantische Vermögenswerte darstellt, die kein/e EignerIn freiwillig aufgeben und vernichten lassen will, wird der gesamte „Umbau“, jede „Modernisierung“ zu einem widersprüchlichen Unterfangen, das letztlich auf massive Subventionen des Großkapitals hinausläuft, dessen mehr oder weniger große stoffliche Erneuerung weitgehend vom Staat finanziert wird, also zu einem großen Teil aus den Steuern der ArbeiterInnenklasse.

Hinzu kommt, dass der Stoffersatz des Großkapitalstocks, wie sehr er auch mit den Etiketten „ökologisch“ und „erneuerbar“ versehen wird, vor allem auf die gesteigerte Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten abzielt.

Das lässt sich leicht anhand der Automobilindustrie darstellen. Der Umstieg auf E-Mobilität bedeutet natürlich nicht den auf die Schiene oder andere nachhaltigere Formen des Güter- und Personenverkehrs, sondern vor allem von PKWs mit Verbrennungsmotoren auf solche mit Elektroantrieb. Ökologisch ist dieses Unterfangen ein Weg in die Sackgasse. Es wird zwar fälschlich als nachhaltig verkauft, faktisch werden jedoch gigantische Summen zur Subvention der großen Konzerne aufgewendet, so dass diese pseudoökologische Transformation vor allem die Profite der bestehenden Großkapitale sichert.

Diese Form staatlicher Intervention dient also in erster Linie der Neuformierung der Kapitale und Stärkung ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Dort verschärft sie jedoch längerfristig die Krisenhaftigkeit der globalen Ökonomie. Nehmen wir wieder die Autoindustrie. Sollten die Pläne der EU, USA, Japans und anderer Herstellerländer erfolgreich sein und die jeweiligen Konzerne konkurrenzfähig halten, so würde sich natürlich an der Überakkumulation von Kapital in der Branche nichts ändern. Früher oder später würde sich dies in Überkapazitäten und Überproduktion äußern, zumal wenn es China gelingen sollte, einen oder mehrere weltmarktfähige E-Auto-Konzerne hervorzubringen und auch auf diesem Gebiet als Konkurrenz zu den westlichen Monopolkapitalen aufzutreten. Was für die Automobilindustrie gilt, gilt natürlich für alle anderen wichtigen Branchen auch.

Die „Transformation“ der kapitalistischen Wirtschaft stößt somit auf zunehmende Schranken, die aus der Akkumulation des Kapitals selbst erwachsen und nur über eine gewaltige Eskalation dieses inneren Widerspruchs – also eine gigantische Vernichtung von bestehendem, überschüssigem Kapital – überwunden werden können.

Schon seit 2007/8 befinden wir uns im Grunde in einer Periode der Entwicklung dieses Widerspruchs und Vorbereitung einer solchen Eskalation. Wie lange es noch dauern wird, bis diese ausbricht, der Widerspruch auf die Spitze getrieben ist, kann niemand genau vorhersagen. Schließlich ist dies nicht einfach Resultat einer rein ökonomischen Bewegung, sondern der politisch-ökonomischen Gestalt des Weltkapitalismus, also insbesondere auch der Entwicklung des Klassenkampfes auf verschiedenen Ebenen – zwischen Lohnarbeit und Kapital, aber auch zwischen den verschiedenen Bourgeoisien.

Auch wenn die aktuellen Konjunkturprogramme zentrale Nationalökonomien und die Weltwirtschaft kurzfristig beleben können, so werden sie nicht zu einer nachhaltigen Dynamisierung der Weltwirtschaft insgesamt führen können. Vielmehr wird sich der innere Widerspruch der Kapitalbewegung aufgrund dieser Programme weiter zuspitzen. Fallende Profitraten sind durch den Rückgriff auf neokeynesianische Konzept längerfristig  nicht zu stoppen, vielmehr wird die Masse an überschüssigem und fiktivem Finanzkapital weiter anwachsen.

Kampf um den Weltmarkt

Die aktuelle Politik aller großen Mächte ist dabei nicht auf eine protektionistische Politik ausgelegt. Es wäre ein grobes Missverständnis, die durchaus bedeutenden Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik in den USA, der EU und auch Deutschlands (vom Staatsinterventionismus Chinas ganz zu schweigen) als eine Abschottung oder Absetzbewegung vom Weltmarkt zu verstehen.

Im Gegenteil. Zur Zeit zielen alle führenden kapitalistischen Staaten darauf ab, Bedingungen zu schaffen, die ihrer Industrie, ihren großen Dienstleistungsunternehmen und vor allem ihren Finanzinstitutionen Erfolg auf den globalen Märkten sichern sollen. Die Politik der USA, Chinas und der führenden imperialistischen Mächte in der EU geht natürlich damit einher, ganze Regionen der Welt zur Investitions- und Anlagesphäre vor allem ihres Kapitals zu gestalten. Deutschland und andere imperialistische Staaten versuchen dabei, Nachteile gegenüber den USA und China durch Anbindung ganzer Länder an die EU als halbkoloniale Märkte und Produktionsstandorte im Rahmen internationaler Wertschöpfungsketten wettzumachen. Dies geht zugleich Hand in Hand mit Kapital- und Warenexport in die ganze Welt, nicht zuletzt auch nach China selbst, von dem sich Deutschland (und andere europäische Staaten) sicher nicht abschotten wollen.

China setzt seinerseits nicht nur auf innere Dynamik, sondern treibt mit der sog. Neuen Seidenstraße seinen Griff nach Märkten und Anlagesphären für sein Kapital voran.

Die USA wollen eine neue westliche Allianz nicht einfach wiederbeleben, um China von ihren Märkten abzuschotten und die EU als untergeordnete Verbündete einzugemeinden, sondern auch um verlorene Weltmarktpositionen zurückzuerobern.

Dem Kipppunkt entgegen

Aufgrund der inneren Dynamik dieser Weltmarktkonkurrenz, zu der sich neben den USA, China, führenden EU-Ländern auch noch Japan, Britannien, Russland und selbst gewichtige Halbkolonien wie Indien, Südkorea, Taiwan … gesellen, ist natürlich früher oder später eine Ablösung dieser verschärften Weltmarktkonkurrenz durch eine protektionistische Politik, die Abschottung des eigenen Wirtschaftsblocks vorhersehbar.

Die Handelskonflikte und wechselseitigen Strafzölle zwischen den USA und China wie der EU unter Trump müssen als Vorboten einer möglichen Veränderung der vorherrschenden Wirtschaftsstrategie betrachtet werden. Auch die US-Politik der Eindämmung Chinas und Russlands, das Hineinziehen der EU und anderer Verbündeter in eine immer offenere Konfrontation mit ihnen kann natürlich in eine Fragmentierung des Weltmarktes und die Abschottung ganzer Regionen gegenüber der Konkurrenz umschlagen.

Auch wenn wir uns auf einen solchen Kipppunkt zubewegen, so ist dieser noch nicht erreicht. Diesem Umschlag steht der erreichte Stand der Weltmarktintegration, der Bildung globaler Produktions- und Verwertungsketten, also der Entwicklung der Produktivkräfte entgegen, die bei einer Abschottung vom Weltmarkt und beim Übergang zu einem protektionistischen System vernichtet werden würden. Umgekehrt werden diese inneren Tendenzen der Kapitalakkumulation selbst nicht nur an die inneren Hindernisse von Überakkumulation und fallenden Profitraten stoßen. Auch die nationalstaatliche Verfasstheit des Weltkapitalismus wird sich einmal als Hürde der Entwicklung erweisen.

Das Grundproblem der aktuellen Wirtschaftspolitik aller Großmächte zeigt sich darin, dass sie einerseits auf Momente der Krisenhaftigkeit reagieren und versuchen, ihnen Rechnung zu tragen (z. B. durch vermehrte Staatsintervention), andererseits jedoch nur auf Mittel zu ihrer Lösung zurückgreifen können, die selbst die Konkurrenz und Krisenanfälligkeit verschärfen müssen.

Wirtschaftspolitik und politische Herrschaftsform

Es ist daher kein Zufall, dass die herrschende Klasse – und damit auch ihre Wirtschaftspolitik wie überhaupt ihre längerfristige Strategie – selbst in die Krise geraten sind. Dies drückt sich in inneren Konflikten und Schwankungen aus, wie wir sie nicht zuletzt in den USA beobachten können, wie anhand der Doktrin und Politik eines Trump und Biden ersichtlich wird. Im Grunde lassen sich solche inneren Gegensätze in allen großen imperialistischen Staaten beobachten. Sie spiegeln unterschiedliche Interessen gegensätzlicher Kapitalfraktionen, den Widerspruch zwischen kurzfristigen Profitzielen der Einzelkapitale und einer langfristigen Politik zur Sicherung des Gesamtkapitalinteresses wider.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland hatten eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“.

Die Basis für den Aufstieg des Rechtspopulismus bildeten einerseits das Versagen der reformistischen und gewerkschaftlichen ArbeiterInnenbewegung, eine progressive Antwort auf die Krise des Kapitalismus zu liefern, andererseits die zunehmende reale oder befürchtete Deklassierung des KleinbürgerInnentums, der Mittelschichten, aber auch der ArbeiterInnenaristokratie und der Masse der Lohnabhängigen. Drittens bringen diese rechtspopulistischen Bewegungen um bürgerliche Führungsfiguren wie Trump, Salvini, Modi, Bolsonaro usw. auch den Standpunkt jenes Flügels des Kapitals zum Ausdruck, der die tradierten Herrschaftsformen der westlichen, bürgerlichen Demokratie – und das heißt vor allem die errungenen Stellungen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten – schleifen und durch autoritäre und plebiszitärer Systeme ersetzen will.

Die Abwahl Trumps, die Regierung Biden, aber auch die meisten europäischen Regierungskoalitionen präsentieren sich gegenüber dem Rechtspopulismus als „vernünftige“ bürgerliche Alternativen, die auf Demokratie, einen gewissen sozialen Ausgleich, die Integration der VertreterInnen der ArbeiterInnenklasse und der gesellschaftlichen Unterdrückten setzen. Der Green New Deal bildet deren ideologisches Aushängeschild.

Dabei darf keinesfalls übersehen werden, dass auch die „demokratischen“ ImperialistInnen wie Macron in Frankreich oder die deutsche Regierung einen Kurs des Abbaus demokratischer Rechte, von rassistischen Gesetzgebungen und der Ausweitung der Polizeibefugnisse und des Überwachungsstaates verfolgen. Die Situation an den Flüchtlingslagern an der US-amerikanischen Grenze und die Toten im Mittelmeer verdeutlichen diese Realität des „demokratischen“ Imperialismus.

Umgekehrt stellen bonapartistische, auf eine starke, zentralisierte Führung ausgerichtete Regime wie in Russland oder China auch nur eine sehr begrenzte Antwort auf die Krise bürgerlicher Politik und Herrschaft dar. Sie funktionieren nur so lange, wie sich die bonapartistische Spitze als erfolgreiche Vermittlungsinstanz zwischen verschiedenen sozialen Interessen und Klassenfraktionen erweist. Scheitert diese, so wankt auch die Herrschaft, wie wir am Beispiel Putins sehen können.

Vor allem ändert das jeweilige politische Regime nichts an den grundlegenden Widersprüchen, die es zu bewältigen vorgibt. Die verschärfte globale ökonomische Konkurrenz geht unvermeidlich mit einer politischen Konfrontation zwischen den Großmächten einher – zur Zeit vor allem mit dem Versuch der USA unter Biden, eine globale Allianz gegen China/Russland zu bilden und die westlichen Verbündeten in diese unter ihrer Führung einzugliedern. Damit werden im Grunde zwei Ziele verfolgt. Erstens die Eindämmung Chinas, zweitens die Wiederherstellung und Befestigung der US-Führung gegenüber den anderen westlichen imperialistischen Staaten. Auch wenn alle wie auf dem jüngsten G7-Gipfel die wiedergewonnene Einheit der Werte, die gemeinsamen Interessen und Ziele beschwören, so können diese nicht über handfeste gegensätzliche Interessen z. B. in der Wirtschaftspolitik gegenüber China hinwegtäuschen. Während die USA im Grunde eine stärkere Konfrontation mit Russland sucht, betrachten Deutschland und Frankreich diese Konfrontation auch als Hindernis für ihre eigenen längerfristigen Interessen.

In jedem Fall wird sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt weiter verschärfen – und damit auch Aufrüstung, Interventionen in anderen Ländern sowie Nationalismus und Rassismus zur ideologischen Rechtfertigung dieser Politik vor der eigenen Bevölkerung.

Klassenkampf

Die konjunkturelle Entwicklung wie auch die unterschiedlichen, vorherrschenden Konstellationen bürgerlicher Politik werden jedoch für die nächste Periode wichtige Auswirkungen auf den Klassenkampf in den verschiedenen Ländern zeitigen.

Mit Schlussfolgerungen für den Klassenkampf werden wir uns im 2. Teil des Artikels beschäftigen.