BRD und Frankreich: Kampf um das Abtreibungsrecht

Jürgen Roth, Neue Internationale 282, Mai 2024

Am 1. März nahm der französische Kongress, die gemeinsame Tagung beider Parlamentskammern, mit deutlich mehr als der nötigen Dreifünftelmehrheit das Recht auf Abtreibung in die Verfassung auf. Auch in Deutschland empfahl eine von der Ampelkoalition eingesetzte Kommission am 15. April die Straffreiheit und damit Streichung des § 218 aus dem BGB. Doch die Ampel zögert, dieser längst überfälligen Reform zu folgen.

Rechtslage in der BRD

Erinnern wir uns: In der DDR galt ab den 1970er Jahren ein Recht auf Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche (Fristenlösung). Nach der Wiedervereinigung erstreckte sich eine Übergangsfrist im Beitrittsgebiet bis Ende 1994. Ab 1995 galt dann für die gesamte Bundesrepublik die heutige Regelung mit Zwangsberatung.

Abtreibung war damit weiterhin bzw. wieder illegal, allerdings blieben Schwangere und Ärzt:innen bei Einhaltung dieser Bedingungen – Zwangsberatung, Abbruch bis zur 12. Woche – von Strafverfolgung verschont. Für Frauen in der ehemaligen DDR stellte die Reform einen Rückschritt dar, für die in der alten BRD eine, wenn auch eng begrenzte, Verbesserung.

Kommissionsvorschläge und die Ampel

Die von der Ampelkoalition eingesetzte 18-köpfige Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin legte Mitte April ihre Empfehlungen vor. Zu diesen gehört, dass sie unter bestimmten Umständen auch Eizellspenden und Leihmutterschaft für zulässig hält. Ihr Mitglied, Frauke Brosius-Gersdorf, bemängelte zu Recht, dass Abtreibung immer noch Unrecht sei. Eine Änderung der Rechtslage sei für betroffene Frauen alles andere als eine Formalie, zumal die auch Auswirkungen auf die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen habe. Die Expert:innenkommission empfahl auch eine Ausweitung der Frist über 3 Monate hinaus in Fällen von auf Sexualdelikte zurückgehenden Schwangerschaftsabbrüchen. Ihren Vorschlägen können revolutionäre Kommunist:innen in allen Fällen – einschließlich Eizellspenden und Leihmutterschaft – nur beipflichten, auch wenn sie insgesamt nicht weit genug gehen.

Doch die Ampel schaltet auf Gelb, auf Abwarten. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz nach Vorlage des Kommissionsgutachtens mit Justizminister Buschmann (FDP), Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) und Familienministerin Paus (Grüne) zog diese kleine Ampel vorsorglich die Bremse an. Lauterbach meinte, man brauche erstmal einen breiten gesellschaftlichen wie parlamentarischen Konsens vor der Umsetzung. Der Justizminister betonte, für Aussagen zur Umsetzung der Empfehlung sei es noch zu früh. In dieser Legislaturperiode wird es also wohl nichts mehr mit der Streichung des Paragraphen aus dem Gesetzbuch, wenn zuvor die Zustimmung mindestens der Union eingeholt werden muss. DIE LINKE wird sich ja sicher nicht querstellen.

Rote Karte von der Bischofskonferenz

Frauenverbände und Initiativen begrüßten die Kommissionsempfehlungen. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz äußerte dagegen Besorgnis über deren Umgang mit dem Recht des Ungeborenen auf Leben und Menschenwürde. Das ist sicher keine Überraschung, stellen doch diese klerikalen Heuchler das Leben des Ungeborenen stets über das der Lebenden, das Recht des Patriarchats über jenes der Frauen, besonders das Recht auf Menschenwürde und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Auch eine zukünftige kommunistische Gesellschaft muss Letzteres uneingeschränkt akzeptieren. Alles andere liefe auf Gebärzwang hinaus.

Übrigens: 72 % der Bundesbürger:innen – im Osten 81 % – befürworten eine vollständige Legalisierung von Abbrüchen innerhalb der ersten 12 Wochen!

Fazit: In Deutschland läuft selbst diese bürgerlich-demokratische Minireform Gefahr zu versanden, obwohl es eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung dafür gäbe. Doch statt wenigstens einmal eine wirklich populäre und fortschrittliche Reform zu beschließen, nimmt die Bundesregierung auf Kosten der Frauen Rücksicht auf die reaktionärsten Kräfte in der Gesellschaft. Das bildet einen grundlegenden Charakterzug der Bundesregierung.

Verfassungsrecht in Frankreich: ein Teilsieg

Ein ganzes Stück weiter auf der Skala bürgerlichen Rechts ist der westliche Nachbar gerückt. Frankreich ist das erste Land in der EU, das den Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert hat. Das ist nicht geringzuschätzen und stellt einen wohltuenden Kontrast zur Entwicklung in den USA, in Italien, Polen und Ungarn dar.

Letztere hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Frauenverbände und linke Parteien das Recht auf Schwangerschaftsabbruch praktisch unumkehrbar durch Dekrete oder Gesetze gestaltet haben. 8 von 9 Franzosen und Französinnen befürworteten unter dem Eindruck o. a. jüngster Entwicklungen die Verankerung in der Verfassung.

Der Druck der mobilisierten Bevölkerung war so stark, dass Präsident Macron bereits auf einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag 2023 verlauten ließ, die Regierung werde ein Gesetz zur „Konstitutionalisierung“ vorlegen.

Senatsbremse gelöst

Von da an schien es allerdings, als würde er selbst nicht an die Erfolgsaussichten glauben. Die Gesetzesvorlage fand zwar schnell in der Nationalversammlung eine große Mehrheit, doch in der 2. Kammer, dem Senat, spielten sich erbitterte Auseinandersetzungen ab. Senatspräsident Gérard Larcher und die rechte Oppositionspartei „Les Républicains“ wollten das Projekt mit der Begründung zu Fall bringen, eine Verfassungsänderung sei angesichts verbreiteter Praxis des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch unnötig. Außerdem dürfe man das Grundgesetz nicht zu einem „Katalog von gesellschaftlichen Ansprüchen“ werden lassen. Zu was denn sonst, möchte man fragen, zumal sich in einem solchen „Katalog“ „nur“ gesellschaftlich gängige Praxis abbildet!

Doch in monatelangen Auseinandersetzungen bröckelte die Ablehnungsfront. Angeblich hatten die Töchter mehrerer Senator:innen angedroht, nicht mehr mit ihnen zu reden, sollten sie gegen den Vorschlag stimmen. Schließlich rückte selbst Larcher öffentlich von seinem früheren Standpunkt ab und im Senat stimmten von früher 150 jetzt nur noch 50 Abgeordnete dagegen.

Das Ende der republikanischen Fahnenstange

Anlässlich der Abstimmung im Kongress am 1. März fand auf dem Pariser Trocadéroplatz eine riesige Freudenfeier, organisiert von Frauenverbänden, statt. Als nächstes Ziel setzten sie sich die EU-weite Durchsetzung des Abbruchrechts per Europaparlament und EU-Rat. So sehr das auch zu begrüßen ist, so sehr verlagert es den Kampf ums Abtreibungsfreiheit auf die parlamentarisch-konstitutionelle Ebene und ignoriert damit die entscheidenden Mobilisierungen bei deren Zustandekommen im eigenen Land. Es war die Straße, nicht der Sitzungssaal oder das Kommissionshinterzimmer, der die Französ:innen eine bedeutende demokratische Reform zu verdanken haben. Das hehre Ziel der Feiernden droht mit dieser Einstellung, auf dem langen Marsch durch die Institutionen ebenso steckenzubleiben wie im oben geschilderten Fall des östlichen Nachbarn.

Auch in Fragen der Abtreibung reicht die beste bürgerlich-demokratische Reform außerdem nicht aus, um das Leben der breiten, arbeitenden Masse der Bevölkerung nachhaltig zu verändern. Nehmen wir zur Einfachheit der Erläuterung als Beispiel – Frankreich!

Um das garantierte Recht für besagte überwältigende Mehrheit nicht zum wertlosen Fetzen Verfassungspapier geraten zu lassen, muss die Regierung zu seiner praktischen Umsetzung gezwungen werden. Es müssen Einrichtungen geschaffen und finanziert werden, wo eine ausreichende Zahl von Mediziner:innen diese Eingriffe sachgerecht und kompetent vornimmt. Die psychologische Betreuung der Schwangeren bzw. Abtreibenden in Vor- wie Nachsorge sei hier nicht an letzter Stelle genannt.

Die einschlägigen Berufsverbände verweisen jedoch darauf, dass der Zug in umgekehrte Richtung fährt. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden in den letzten Jahren in Frankreich 130 solcher Zentren geschlossen! Deshalb – und weil viele Ärzt:innen die gesetzliche Gewissensklausel in Anspruch nehmen – fehlt es vielerorts an Personal, das diese Eingriffe sicher und schonend vornehmen kann. Wenn die Lohnarbeiter:innenklasse in ihrem eigenen und dem Interesse v. a. aller anderen Werktätigen handeln will, muss sie also über die bürgerlich-demokratische Fahnenstange hinauslangen.

Deren Ende ist der Beginn einer materiellen Absicherung dieses Rechts für alle, also auch aller lohnabhängigen Frauen. Heute heißt das: für eine frei zugängliche und kostenfreie Abtreibung für alle zu kämpfen, für ausreichend personell ausgestatte staatliche Einrichtungen unter Arbeiter:innenkontrolle. Finanziert werden müssen diese entweder durch eine Progressivsteuer auf Einkünfte, Vermögen und Gewinne bzw. durch gesetzliche Krankenversicherungspflicht für alle.

Der 3. und entscheidende Schritt: Sozialisierung der Haus- und Sorgepflichten!

Selbst die radikale Linke geht zum Großteil nicht über das Vehikel bürgerlich-demokratischer Reform hinaus. Doch genau das ist notwendig, wenn das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zur Realität werden soll, auch für die lohnabhängigen und rassistisch unterdrückten Frauen. Denn wie frei kann die Entscheidung einer Frau in einer Gesellschaft ausfallen, die nicht nur die private Verrichtung von Haus- und Sorgearbeit duldet, sondern auf ihr ebenso fußt wie auf der Lohnarbeit? Vergesellschaftung kennt die bürgerliche Gesellschaft nur indirekt, in der Warenproduktion für einen anonymen Markt.

Eine sozialistische Umwälzung wird vordringlich den Sektor der scheinbar nicht zur ökonomischen Sphäre gehörenden vier Wände gründlich umkrempeln müssen. Sie gehört ebenso direkt und von vonherein geplant vergesellschaftet wie die der ehemaligen Warenproduktion! Erst dann kann eine Frau wirklich frei entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringt oder nicht, wenn sie nicht allein aufgrund biologischer Mutterschaft zur alleinigen Sorge um es verdammt ist, es quasi als leibliches Privateigentum zu betrachten und behandeln hat. Den Kampf dafür können und dürfen wir jedoch nicht auf eine zukünftige Gesellschaft aufschieben, sondern müssen wir vielmehr jetzt – siehe oben entwickelte Forderungen – aufnehmen.




Neue Konflikte zwischen Kosovo und Serbien

Frederik Haber, Infomail 1243, 24. Januar 2024

In den letzten zwölf Monaten haben sich die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo mehrfach verschärft, nachdem sich die Lage über viele Jahre hinweg beruhigt zu haben schien. Diese Spannungen entstanden vor allem wegen drei Themen. Die Medien und Politiker im Westen gehen nur selten auf die Einzelheiten ein, sondern ziehen es vor, immer wieder das gleiche Narrativ zu verbreiten: Die Serb:innen wollen nur Ärger machen. Sie können immer noch nicht akzeptieren, dass der Kosovo für sie verloren ist, das Ergebnis der Kriege der 1990er Jahre, der Nato-Intervention und der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von 2008. Die Botschaft der Medien lautet, dass hinter all dem Ärger die Russ:innen stecken, die immer bereit sind, einen Krieg anzuzetteln. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Dinge alles andere als einfach sind und die gegensätzlichen Rechte und Interessen der Kosovar:innen und der serbischen Minderheiten schwer zu lösen sind. Darüber hinaus sind die Ziele und Maßnahmen der EU und der USA in keiner Weise geeignet, dem Balkan Frieden und Fortschritt zu bringen.

November und Dezember 2022: Straßensperren, Nummernschilder und Kommunalwahlen

Letztes Jahr begannen militante Aktivist:innen aus Serbien, drei Grenzübergänge zu blockieren, darunter auch Merdare, einen wichtigen Transitknotenpunkt. Dabei wurden sie offensichtlich von der Regierung in Belgrad unterstützt, denn die serbische Polizei griff in keiner Weise ein. Die Regierung in Pristina schloss daraufhin im Gegenzug die Grenzen.

Hintergrund ist die Tatsache, dass die Bewohner:innen der Städte und Dörfer mit serbischer Bevölkerungsmehrheit noch immer die alten serbischen Nummernschilder verwenden. Der Kosovo hatte dies bisher geduldet. Serbien hingegen hatte die kosovarischen Nummernschilder toleriert, wenn sie durch eine zusätzliche befristete Papplizenz zum Preis von 2 Euro abgedeckt waren.

Am 22. Dezember erklärte der Premierminister des Kosovo, Albin Kurti, dass die serbischen Nummernschilder nicht mehr akzeptiert würden. Serbien reagierte sofort und ließ keine Fahrzeuge mit kosovarischen Kennzeichen mehr über die Grenze. Neben den gegenseitigen Straßensperren wurden die Armeen in Alarmbereitschaft versetzt und die EU und die USA entsandten ihre Diplomat:innen dorthin.

Die EU zwang Kurti zum Rückzug

Bei den Kommunalwahlen in Bezirken mit serbischer Mehrheit, die am 18. Dezember 2022 stattfanden, rief die nationalistische serbische Partei zum Boykott auf, was von den serbischen Wähler:innen weitgehend befolgt wurde. Dies führte dazu, dass Albaner:innen in Städten und Dörfern, in denen sie eine kleine Minderheit darstellen, gewählt wurden. Außerdem traten alle öffentlichen Bediensteten wie Richter:innen und Polizeichef:innen von ihren Ämtern zurück. Die Regierung in Pristina reagierte darauf, indem sie sie durch staatstreue Personen albanischer Abstammung ersetzte. Ein ehemaliger Polizist wurde wegen eines Angriffs auf die Wahlkommission verhaftet.

Im Frühjahr kam es erneut zu Zusammenstößen, doch die schwersten Auseinandersetzungen fanden im September 2023 statt, als rund 30 schwer bewaffnete Kämpfer:innen aus Serbien ein Kloster in der Nähe von Mitrovica besetzten. Die kosovarische Polizei und serbische Truppen schalteten sich ein und 4 Menschen wurden getötet.

All diese Spannungen haben sich entwickelt, während die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern unter Kontrolle der EU fortgesetzt wurden.

Abkommen von Ohrid

Bereits im Januar 2023 verpflichteten die EU-Staats- und Regierungschefs Kurti und den serbischen Staatspräsidenten Vucic in dem berühmten Badeort Ohrid im Süden Nordmazedoniens, ein Abkommen zu akzeptieren, das ihre Diplomat:innen bereits ausgearbeitet hatten.

Das „Abkommen über den Weg zur Normalisierung zwischen Kosovo und Serbien“, kurz Ohrid-Abkommen genannt, wurde laut EU (und Wikipedia) von der Europäischen Union „vermittelt“. Vermittlung ist per Definition ein Prozess, in dem ein oder mehrere „Vermittelnde“ versuchen, einen Konflikt zu lösen, indem sie beide Seiten eines Konflikts herausfinden lassen, was für sie am wichtigsten ist, und sie so bereitmachen, die Ziele ihrer Gegner:innen teilweise zu akzeptieren. Vermittelnde sollten natürlich neutral sein und keine eigenen Interessen hegen.

In Ohrid waren weder die EU-Führer:innen neutral noch wollten Kurti und Vucic dieses Abkommen. Obwohl beide versprachen, es am 27. Februar 2023 mündlich zu akzeptieren, wurde das Abkommen bis heute nicht unterzeichnet.

Dahinter steckt ein Manöver beider Seiten. Vucic hat mündlich zugestimmt, aber nie ein Papier unterzeichnet. Kurti sagte und sagt, er würde unterschreiben, um seinen guten Willen gegenüber der EU und den USA zu zeigen, verließ sich aber auf die Weigerung von Vucic, dies zu tun, um es nicht selber tun zu müssen.

Das Abkommen verpflichtet Serbien nicht ausdrücklich, den Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen, aber es hindert es daran, sich dem Zugang des Kosovo zu internationalen Organisationen wie dem Europarat, der Europäischen Union oder der NATO zu widersetzen. Außerdem muss Serbien die nationalen Symbole, Pässe, Diplome und Kfz-Kennzeichen des Kosovo anerkennen.

Das Kosovo muss ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmigen Einwohner:innen gewährleisten. Eine solche Gemeinschaft oder Assoziation sollte 2015 offiziell im Rahmen des kosovarischen Rechtsrahmens eingerichtet werden, aber ihre Gründung wurde wegen Konflikten über den Umfang ihrer Befugnisse verschoben. Im Rahmen eines von der Europäischen Union vermittelten Normalisierungsabkommens, das von den Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens im März 2023 angenommen wurde, sollte das Kosovo unverzüglich in einen Dialog mit der EU eintreten, um ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für seine serbischstämmige Gemeinschaft zu gewährleisten.

Als die Verhandlungen und Kämpfe weitergingen, waren es die Staats- und Regierungschef:innen der EU selbst, die am 26. Oktober 2023 einen Entwurf für ein Statut zur Bildung eines Verbands der Gemeinden mit serbischer Mehrheit im Kosovo vorlegten, und die Staats- und Regierungschefs des Kosovo und Serbiens erklärten sich bereit, ihre Verpflichtungen umzusetzen. Aber wieder einmal scheiterte es. Noch ist nichts unterschrieben. Die Formulierungen des Textes sind immer noch von keiner Seite veröffentlicht worden.

Grundlegende Konflikte

Die Position Vucics ist klar: Nach internationalem Recht ist die einseitige Abtrennung eines Staatsgebiets illegal und das Kosovo gehört letztlich zu Serbien. Dabei wird Serbien von Spanien und anderen Ländern unterstützt, die befürchten, dass sich Regionen abspalten und für unabhängig erklären könnten, wie Katalonien oder Euskadi (das Baskenland) im Falle Spaniens.

Serbien wird auch von Ländern wie Russland aus geostrategischen Gründen unterstützt. In der Frage des Selbstbestimmungsrechts vertritt Russland im Falle der Krim, die 2014 ein Referendum zur Loslösung von der Ukraine abhielt, oder der Donbass-Republiken genau das Gegenteil. Es erübrigt sich zu sagen, dass die USA, Deutschland und die meisten anderen westlichen Imperialist:innen das Selbstbestimmungsrecht im Falle der Krim oder des Donbass grundsätzlich ablehnen, nicht nur mit der Begründung, dass die Referenden demokratisch waren oder nicht.

Die zweite Frage ist, was eine solche Gemeinschaft von Gemeinden mit serbischer Mehrheit bedeutet. Kosovo befürchtet, dass sie eine fortgesetzte serbische Einmischung in die nationale Politik bedeutet, indem sie die serbischen Minderheiten als ihre Werkzeuge benutzt. Beispiele dafür liegen nicht weit entfernt. In Bosnien und Herzegowina werden der kroatische und serbische Teil der Bevölkerung von nationalistischen Parteien geführt, die direkt von Kroatien und Serbien kontrolliert werden. Aber auch die Aufteilung Bosniens in ethnische Einheiten und die Föderation durch EU und USA im Dayton-Abkommen ermöglicht es diesen imperialistischen Mächten, das Land dauerhaft wie eine Kolonie zu kontrollieren. Generell ist die Taktik der Instrumentalisierung von Minderheiten in vielen Ländern immer wieder angewandt worden.

Lulani i medvegjes, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Ein Blick auf die Karte der vorgeschlagenen Assoziation im Kosovo zeigt, dass sie aus dem Norden des Landes besteht, wo die Serb:innen eine starke Mehrheit haben, und einigen unzusammenhängenden Regionen im Süden, wo es keine klare Mehrheit gibt. Die Karte wurde auf Grundlage einer Volkszählung im Jahr 2011 erstellt, die weitgehend boykottiert wurde, sowie Annahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die einzige halbdemokratische Abstimmung bzw. das einzige Referendum war eine Abstimmung der Goran:innen-Minderheit, einer slawischsprachigen muslimischen Bevölkerungsgruppe, im November 2013, in der der Wille zum Ausdruck gebracht wurde, der vorgeschlagenen Gemeinschaft serbischer Gemeinden beizutreten. Dies war jedoch die einzige Ausnahme von der Regel.

Die andere offene Frage in Bezug auf diese Struktur ist ihr Zweck. Dient sie dem kulturellen Austausch oder soll sie eine offizielle staatliche Struktur sein? Es sind nicht viele Informationen verfügbar, aber die EU plant, dass diese Vereinigung für Bildung, Kultur und Gesundheit zuständig sein soll. Da die kleinste dieser Regionen jedoch weniger als 2.000 Einwohner:innen zählt, bestehen Zweifel an der Realisierbarkeit einer solchen Einrichtung. Sie könnte immer noch zu einem Weg für die Teilung des Kosovo werden.

Das Projekt der EU, das auch von den USA und der NATO unterstützt wird, ist für die Nationalist:innen auf beiden Seiten mehr oder weniger unannehmbar: Für die serbischen Nationalist:innen würde es bedeuten, dass sie die Illusion aufgeben müssten, Kosovo sei eine „Provinz Serbiens“. Für das Kosovo würde es bedeuten, einige Enklaven in seinem Land zu haben, die außerhalb der Gesetzgebung und der Herrschaft der staatlichen Exekutive stehen und jederzeit für Provokationen genutzt werden könnten.

Vucic und Kurti haben den EU-Machthaber:innen gegenüber immer wieder Ja gesagt, aber gehofft, dass der andere Nein sagen wird. Vucic steht in seinem Land unter großem Druck, er kann es sich nicht leisten, die Unterstützung der nationalistischen Rechten zu verlieren. In Belgrad gab es in den letzten Monaten zahlreiche Proteste, und er setzt bewusst auf die nationalistische Agenda, um seinen Posten zu retten.

Deshalb rief Vucic zu Neuwahlen auf, die am 17. Dezember stattfanden. Vucics Partei gewann diese Wahlen und besiegte die liberale Opposition. Es gibt Behauptungen über Unregelmäßigkeiten, aber das Wahlergebnis ist eindeutig. Die Position von Vucic ist jetzt stärker.

Kurti hat die meisten der von ihm versprochenen sozialen Leistungen nicht erbracht, und die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich aufgrund der weltweiten Krisen. Natürlich ist er auch ein erbitterter Nationalist, aber als Teil seines „linken Bonapartismus“ befürwortet er nicht nur die „Unabhängigkeit“ von Serbien, sondern gibt auch vor, von der imperialistischen Vorherrschaft der USA und der EU unabhängig zu sein, und sein Widerwille, sich dem Diktat der EU zu unterwerfen, hat seine Unterstützung im Kosovo erhöht.

Imperialistische Interessen

Der gesamte Prozess macht auch deutlich, wo die Interessen der USA und der EU liegen. Die USA wollen ein Abkommen, das dem Kosovo den Beitritt zur NATO ermöglicht. Sie unterhalten bereits einen großen Militärstützpunkt im Kosovo in der Nähe der Stadt Ferizaj. Der Stützpunkt ist eine Art „Forward Operating Site“, die quer durch den vom US-Geheimdienst so bezeichneten Bogen der Instabilität verläuft und bis zu 7.000 Soldat:innen für direkte Interventionen in der Region aufnehmen kann.

Die EU will keinen Krieg in der Region, aber auch keinen stabilen Frieden. Das jahrhundertealte Konzept der imperialistischen Mächte, die Völker des Balkans in einem Dauerkonflikt zu halten und sie gegeneinander auszuspielen, funktioniert für sie auch heute noch. In der gegenwärtigen Situation konzentrieren sich die EU-Führer:innen ganz auf die Ukraine, Moldawien (Republik Moldau) und den Krieg gegen Russland. Sie wollen sich einfach nicht um den Balkan kümmern und werden das Ergebnis der serbischen Wahl sicher als Ausrede dafür nehmen.

Ein geringeres Interesse besteht darin, die beiden Politiker loszuwerden. Die USA haben Kurti immer gehasst, weil er nicht so einfach zu handhaben war wie seine Vorgänger, und haben bereits einen parlamentarischen Putsch organisiert, um ihn loszuwerden oder zumindest zu zähmen. Die EU würde sich sehr gerne Vucics entledigen. Daher sind beide beteiligten Mächte froh, sie vor ihrem Volk zu demütigen.

Demokratie und Sozialismus

Ein unterdrücktes Volk oder eine nationale Minderheit hat das Recht auf Selbstbestimmung. Dies ist die einzige Garantie gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Das gilt für die Albaner:innen im Kosovo, die das Recht hatten, sich von Serbien abzuspalten, genauso wie für die Krim, den Donbass, Katalonien oder Tschetschenien. Die Frage, ob das unterdrückende Land (oder seine Verfassung) dies anerkennt, ist irrelevant. Im Gegenteil: Die Nichtgewährung des Selbstbestimmungsrechts stellt bereits eine Form der Unterdrückung dar. Dieses demokratische Grundrecht muss vor allem von der Arbeiter:innenklasse und der marxistischen Linken verteidigt werden. Sie können sich von den Interessen der nationalen Bourgeoisie in jedem Land oder jeder Nationalität befreien, die letztlich immer versucht, ein gewisses Maß an Kontrolle und Ausbeutung zu etablieren. Alle nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Republiken liefern den Beweis dafür, einschließlich der Gründung des Kosovo selbst und der Entwicklung der UCK-Führer:innen von „Freiheitskämpfer:innen“ zu Mafiabossen im Dienste der USA und EU.

Dies zeigt, dass die rein demokratische Forderung nach Selbstbestimmung und dem Recht auf Abspaltung keine endgültige Lösung verkörpert, solange Ausbeutung und Unterdrückung fortbestehen, und dies wird der Fall sein, solange Kapitalismus und Imperialismus die Welt beherrschen. In der gegebenen Situation verteidigen wir das Recht der Mitrovica-Region, sich vom Kosovo abzuspalten, angesichts der Diskriminierung, der Serb:innen und andere Minderheiten heute im Kosovo ausgesetzt sind. Aber weder für die Wirtschaft noch irgendeinen anderen Aspekt der Gesellschaft ist ein solcher Zersplitterungsprozess für sich genommen eine dauerhafte, längerfristige Perspektive. Unter einer bürgerlich-nationalen Führung in Serbien würde sich die nationale Unterdrückung höchstwahrscheinlich wieder gegen die albanische Minderheit richten.

Deshalb müssen Sozialist:innen den Kampf gegen nationale Unterdrückung mit einem Programm für die Zukunft des gesamten Balkans verbinden, das letztlich mit dem Sturz des Kapitalismus und der Ausbeutung verbunden ist. Seit mehr als hundert Jahren wird dies in der Losung einer „Föderation der sozialistischen Balkanstaaten“ ausgedrückt.

Heute müssen Sozialist:innen im Kosovo, in Serbien und im Rest der Welt das Recht der Kosovar:innen verteidigen, ihren eigenen, von Serbien unabhängigen Staat zu gründen, sollten aber gleichzeitig gegen jede Diskriminierung von Serb:innen, Roma/Romnja und anderen Minderheiten in diesem Staat kämpfen. Ebenso sollten sie sich gegen die Diskriminierung von Albaner:innen, Bosnier:innn usw. in Serbien wenden. Es ist besonders notwendig, die Arbeiter:innenklasse für diese Ziele zu gewinnen, denn alle Unterdrückung, Diskriminierung und nationalen Konflikte dienen letztlich der herrschenden Klasse für ihre Ausbeutung und politischen Manöver.

Sozialistische Föderation der Balkanstaaten

Selbst die demokratischsten Forderungen können angesichts der katastrophalen Lage in allen Ländern des Balkans und ihrer totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom ausländischen, vor allem EU-Kapital, keine positive soziale und wirtschaftliche Perspektive bieten.

Es ist notwendig, dass Sozialist:innen aus allen Balkanländern die nationalistischen Ansichten, die die letzten Jahrzehnte dominiert haben, überwinden und ein Programm für die Region und alle ihre Völker entwickeln, das politische und wirtschaftliche Perspektiven verbindet.

Schlüsselelemente eines solchen Programms müssen sein:

  • Recht auf Selbstbestimmung. Gleiche Rechte für alle Völker, Anerkennung der vollen demokratischen Rechte aller Minderheiten (z. B. Verwendung ihrer Muttersprache in Schulen oder öffentlichen Einrichtungen).

  • Kostenlose und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und Bildung für alle, Verstaatlichung aller betroffenen Einrichtungen.

  • Renten, die einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Für ein Programm öffentlicher Arbeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen für alle zu einem von der Arbeiter:innenbewegung festgelegten Lohnsatz, der an die Inflation gekoppelt ist.

  • Um die Produktivität der Landwirtschaft nachhaltig zu steigern, sind Bäuer:innenkooperativen mit staatlicher Unterstützung notwendig.

  • Nein zu jeder imperialistischen Einmischung und Ausplünderung; Streichung der Schulden der Länder.

  • Enteignung des gesamten Großkapitals, ob ausländisch oder einheimisch, um die Infrastruktur zu entwickeln und die Produktion zu planen. Wiederverstaatlichung aller privatisierten Dienstleistungen unter Arbeiter:innenkontrolle, nicht in den Händen von Staatsbürokrat:innen.

  • Für Arbeiter:innenregierungen, die sich auf Räte der werktätigen Massen und eine bewaffnete Miliz stützen. Für eine Sozialistische Föderation auf dem Balkan.

  • Für revolutionäre Parteien der Arbeiter:innenklasse und eine Internationale, die für ein solches Programm der permanenten Revolution kämpft.

Der andauernde Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien und die Unfähigkeit der nationalen Regierungen und der ausländischen Imperialist:innen, eine zufriedenstellende Lösung voranzutreiben, könnte eine gute Gelegenheit für Sozialist:innen bieten, sich mit ihren Vorschlägen auf einer solchen internationalistischen Grundlage Gehör zu verschaffen.




Bergkarabach: Nein zur Vertreibung der Armenier:innen!

Lina Lorenz, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit eroberte Aserbaidschan innerhalb weniger Wochen die seit Jahren umkämpfte armenische Enklave Bergkarabach im Südkaukasus. Damit endet ein seit Jahrzehnten andauernder Konflikt zwischen den beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan mit einer blutigen Niederlage der Armenier:innen.

Innerhalb von nur zwei Wochen besiegte Aserbaidschan die Truppen der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Arzach, die 1994, nach dem ersten Krieg, von den armenischen Bewohner:innen Bergkarabachs proklamiert worden war.

Angriff und Eroberung

Am 19. September startete Aserbaidschan einen großangelegten Angriff auf die Region und griff die Stellungen der ethnisch-armenischen Kräfte in Bergkarabach an. Innerhalb weniger Tage  wurden die Streitkräfte der Republik Arzach geschlagen, ihre Stellungen vernichtet und die Übergabe ihrer Waffen erzwungen. Weder der Staat Armenien noch die 2.000 Personen starke russische „Friedenstruppe“ kamen ihnen zu Hilfe.

Dem vorausgegangen war eine monatelange Blockade des Latschin-Korridors. Dieser stellt die einzige Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien dar und ist die einzige Möglichkeit, die in Bergkarabach lebenden Armenier:innen mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Dies war durch die Blockade über Monate nicht mehr möglich. Die Bevölkerung in Bergkarabach wurde quasi ausgehungert.

Bei der militärischen Auseinandersetzung waren die Karabacharmenier:innen nicht nur dramatisch in der Unterzahl, sondern auch durch die vorangegangenen Blockaden unterversorgt und geschwächt. Daher waren sie und ihre international nicht anerkannte Republik Arzach nach nur einem Tag zur Aufgabe gezwungen. Der aserbaidschanische Präsident Alijew verkündete, dass die angeblichen „Antiterrormaßnahmen“ gegen die armenischen Separatist:innen erfolgreich beendet seien und, die Souveränität des Landes wiederhergestellt zu haben. In einer Rede an die Nation ließ er verlauten, Bergkarabach sei komplett unter seiner Kontrolle.

Bei den Angriffen wurden hunderte Menschen umgebracht, darunter auch viele Zivilist:innen. Rund 85.000 Menschen – etwa zwei Drittel der Einwohner:innen Arzachs – sind mittlerweile geflohen, zum größten Teil nach Armenien. Das Regime von Aserbaidschan setzt auf diese ethnische Säuberung, um nicht nur Bergkarabach voll in das Staatsgebiet zu integrieren, sondern auch um durch die Vertreibung der armenischen Bevölkerung jeden zukünftigen Widerstand zu unterbinden.

Das Alijew-Regime lässt keinen Zweifel daran, dass es die Armenier:innen loswerden möchte. Im Staatsfernsehen wird von ihnen als „Ungeziefer“ gesprochen und Politiker:innen erklärten während des zweiten Bergkarabachkonflikts, man müsse Armenier:innen wie Hunde aus Bergkarabach verjagen. Auch die aserbaidschanischen Soldat:innen, die sich nun dort befinden, sind mit antiarmenischem Hass aufgewachsen. Ein brutales Vorgehen der aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach könnte dem Alijew-Regime sogar nutzen, sich innenpolitisch zu festigen.

Unter diesem Druck sahen sich die Behörden Bergkarabachs zur vollständigen Kapitulation gezwungen. Am 28. September 2023 erklärten sie die vollständige Auflösung der Republik Arzach bis zum 1. Januar 2024.

Derweil sieht die „Weltgemeinschaft“ tatenlos zu. Die „Schutzmacht“ Russland wäscht ihre Hände in Unschuld, die Türkei feiert den Sieg der „Brüder“ und legt mit der Forderung nach einem Korridor zwischen Aserbaidschan und der azerischen Enklave Nachitschewan nach.

Das verdeutlicht, dass die Eroberung Bergkarabachs längst nicht das Ende der nationalen Gegensätze bedeutet und weitere Kriege folgen könnten. Der Kaukasus gleich dabei dem Balkan, wo sich Konflikte zwischen den Staaten und ihren nationalistischen Führungen mit dem Kampf zwischen Groß- und Regionalmächten um geostrategischen und ökonomischen Einfluss verbinden. Vor diesem Hintergrund muss auch die Geschichte des Konflikts betrachtet werden.

Hintergrund des Konflikts

Nach Ende der Sowjetunion wurde Bergkarabach Aserbaidschan zugesprochen und wird auch international als dessen Teil anerkannt. Die armenische Bevölkerung war aber schon damals nicht einverstanden damit. In den Jahren 1992 – 1994 spitzte sich der Konflikt zu und es kam zu einem offenen Krieg. Dabei gelang es den militärischen Verbände Bergkarabachs, unterstützt von Armenien, die Enklave zu verteidigen und zusätzliche Gebiete Aserbaidschans zu erobern. Die von Armenier:innen kontrollierten Gebiete vergrößerten sich also, sodass eine Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach entstand. Diese Gebiete wurden damals nicht nur annektiert, sondern auch viele Azeris vertrieben. Die Unabhängigkeitserklärung der Republik Bergkarabach, die später in Republik Arzach umbenannt wurde, erfolgte schon 1991, also vor dem Krieg. Seit dem Ende des ersten Krieges war Arzach dann auch de facto selbstständig. Seither wurde eine eigene Regierung gewählt und die Region über 30 Jahre unabhängig verwaltet.

Als es 2020 zum zweiten Krieg kam, wendete sich das Blatt. Die Republik Arzach erlitt dabei trotz Unterstützung durch Armenien große Gebietsverluste. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und konnte die durch den Export eingenommenen Devisen für Rüstungsausgaben verwenden. Diese übertrafen die Armeniens in den letzten Jahren um ein Vielfaches. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Aserbaidschan einen großen Teil Bergkarabachs und angrenzender Gebiete zurückeroberte, die zuvor von armenischen Streitkräften gehalten worden waren. Russland vermittelte damals einen Waffenstillstand und nutzte die Gelegenheit, eine Friedenstruppe von mehreren tausend Soldat:innen in der Gegend zu stationieren. Diese blieben aber sowohl bei der monatelangen Blockade des Latschin-Korridors als auch beim aktuellen militärischen Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach untätig. Dabei hätten die russischen Friedenstruppen dafür sorgen sollen, dass das 2020 ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen eingehalten wird. Neben dem armenischen und aserbaidschanischen Staatsoberhaupt hatte es damals auch der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. Das Abkommen sollte die Existenz der Republik Arzach sichern.

Kräfteverhältnis im Südkaukasus

Für Armeniens Regierung unter Premierminister Nikol Paschinjan könnte die aktuelle Lage zu einer Zerreißprobe werden. Viele Armenier:innen protestieren gegen ihn und werfen ihm vor, dass die Regierung Armeniens Bergkarabach hätte schützen können. Sie sind wütend, dass Paschinjan sich aus den Kämpfen raushielt und erklärte, sich nicht einmischen zu wollen. Der weitere Umgang mit der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach wird zeigen, ob er sich im Amt halten kann. Am 23. September verkündete er, dass 40.000 Plätze für Geflüchtete aus Bergkarabach vorbereitet seien. Eine komplette Evakuierung der Karabacharmenier:innen würde aber sicherlich eine große Herausforderung darstellen.

Die Proteste in der armenischen Hauptstadt Jerewan (Eriwan) richten sich auch gegen Russland, das lange Zeit als Schutzmacht Armeniens galt. Jetzt fühlen sich viele Armenier:innen im Stich gelassen. Russland hat nicht nur die Blockade des Latschin-Korridors zugelassen, sondern auch beim Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach tatenlos zugesehen, obwohl Armenien Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist – von Russland dominierten wirtschaftliche, politischen und militärischen Bündnissen.

Dass Russland Arzach fallengelassen hat, kann sicherlich zum Teil mit seiner Fokussierung auf den Krieg in der Ukraine erklärt werden. Daneben hängt das Vorgehen aber auch mit veränderten Interessen in der Region zusammen. Russland unterhielt schon lange enge wirtschaftliche Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan. Es verkaufte an beide Seiten Waffen und fungierte als Vermittler zwischen ihnen. Momentan scheint es zu einer Verschiebung in dieser Konstellation zu kommen. Im autoritären Präsidenten Alijew scheint Putin zunehmend einen gewinnbringenden Verbündeten gefunden zu haben, um neue Transportwege zu erschließen und wirtschaftliche Beziehungen zu dem heute wesentlich reicheren Aserbaidschan zu pflegen. Formell ist Russland zwar immer noch Verbündeter Armeniens, de facto scheinen sich aber die Beziehungen zu Aserbaidschan zu vertiefen.

Doch nicht nur Russland, auch die Türkei und zunehmend auch westliche imperialistische Mächte verfolgen wirtschaftliche Interessen im Südkaukasus. Die Türkei ist für Aserbaidschan langjährige Verbündete, liefert ausschließlich an Aserbaidschan Waffen und unterstützte den Einmarsch in Bergkarabach. Der türkische Präsident Erdogan machte in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die armenische Regierung für die Eskalation des Konflikts verantwortlich, da diese die Chance für Verhandlungen nicht genutzt habe.

Die Türkei unterstützt also nach wie vor die von ihr als legitim erachteten Schritte Aserbaidschans gegen Bergkarabach, das als aserbaidschanisches Territorium angesehen wird. Allerdings könnte sie auch versucht sein, die Lücke, die Russland in Armenien hinterlässt, mit ihrem Einfluss zu füllen. Sicherlich wäre die Öffnung der Grenze zu Armenien auch für die Türkei wirtschaftlich gewinnbringend und würde die Möglichkeit für vermehrte Exporte bieten. Doch Armenien und die Türkei verbindet eine Geschichte lange Feindschaft. Bis heute weigert sich Erdogan, die Massaker an der armenischen Bevölkerung durch das Osmanische Reich während des ersten Weltkrieges als Völkermord anzuerkennen. Für die Beziehungen bezeichnend ist das Monument der „Mutter Armenien“, das auf einem Hügel über der armenischen Hauptstadt Jerewan thront. Es zeigt eine heroische Frauenstatue, die von Panzern flankiert ist und mit festem Griff um ihr Schwert und entschlossenem Blick Richtung Türkei, deren Grenze sich in Sichtweite des Monuments befindet, schaut. Zugleich gab es auch immer wieder Versuche, die Beziehung beider Länder zu normalisieren und Schritte in Richtung Öffnung der Grenze zu gehen. So gratulierte Paschinjan auf Twitter zur Wiederwahl Erdogans und betonte seinen Wunsch nach Normalisierung der Beziehungen und weiterer Zusammenarbeit.

Im Vergleich zu Russland und der Türkei hat die EU im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan bislang nur eine recht geringe Rolle gespielt. Anfang diesen Jahres richtete sie eine zivile Mission in Armenien ein. Dann sprachen sich die EU sowie die Bundesregierung für diplomatische Verhandlungen aus. So ließ Bundesaußenministerin Baerbock in einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York zur Lage in Bergkarabach verlauten, dass jetzt die Zeit zur Deeskalation gekommen sei. Andererseits unterzeichnete die EU im vergangenen Jahr ein Gasabkommen mit Aserbaidschan, wobei dieses von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als „entscheidender Partner“ bei der Bewältigung der Energiekrise bezeichnet wurde.

Wie sich die politische Lage in der Südkaukasusregion verändert, wird sich zeigen. Fakt ist aber, dass sowohl Russland, die Europäische Union, die USA, die Türkei und der Iran Interessen in der Region verfolgen. Auch ist gewiss, dass es eine Verschiebung der bisherigen Beziehungen gibt. Armeniens Ministerpräsident Paschinjan bedauert, sich allein auf Russlands Unterstützung verlassen zu haben. „Armeniens Sicherheitsarchitektur war zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden“, äußerte er Anfang September. Er bezeichnete dies als strategischen Fehler und will nun ein gemeinsames Militärmanöver mit den USA abhalten.

Angesichts des erneut eskalierenden Konflikts in Bergkarabach wird deutlich, dass auch der Südkaukasus einen Schauplatz imperialistischer Machtinteressen darstellt. Wie sich diese zukünftig verschieben und ob sich das Eskalationspotenzial auch auf andere Regionen ausdehnt, wird sich zeigen. So gibt es beispielsweise mit Abchasien und Südossetien zwei unabhängige Regionen auf dem Gebiet Georgiens, deren Souveränität zwar von den wenigsten Staaten international anerkannt wird, die sich allerdings mit Hilfe russischer Truppen der Kontrolle von Georgien entziehen und damit de facto unabhängige Republiken darstellen. Der Konflikt um diese Regionen ist somit zwar momentan eingefroren, schwelt aber sicherlich immer noch.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns klar gegen die Einflussnahme imperialistischer Mächte, die bestehende Konflikte für die Durchsetzung ihrer Interessen nutzen, stellen. Das bedeutet, dass wir uns auch gegen geostrategische Interventionen der Türkei und Russlands stellen müssen, aber natürlich auch gegen die der EU und unserer eigenen Regierung, die schon seit Jahren versuchen, in Georgien Einfluss zu nehmen. So ist es seit 2014 Teil der Vertieften und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area; DCFTA) und plant langfristig einen Beitritt zur EU. Wir müssen hier klar eine Antikriegsperspektive aufzeigen und der Arbeiter:innenklasse verdeutlichen, dass sie in der Zusammenarbeit mit imperialistischen Mächten nichts als Abhängigkeit gewinnen kann. Nur eine unabhängige Arbeiter:innenklasse, die sich international organisiert, kann die Konflikte in der Region langfristig befrieden.

Lage in Armenien und Aserbaidschan

Den Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach müssen wir eindeutig als reaktionär charakterisieren. Die armenische Bevölkerung Bergkarabachs ist eine unterdrückte Nation, deren Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten wird. Und sie hat zweifellos ein Recht auf Selbstbestimmung und -verteidigung und sollte selbst entscheiden können, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien bzw. Aserbaidschan anschließen möchte.

Wir müssen die Proteste gegen den reaktionären Angriff Aserbaidschans also unterstützen, sollten aber gleichzeitig deren nationalistischen Charakter kritisieren. Die momentanen in der armenischen Hauptstadt Jerewan richten sich hauptsächlich gegen den amtierenden Premierminister Paschinjan und gegen seine regierende Partei „Zivilvertrag“. Die Proteste werden u. a. vom Oppositionsblock „Mutter Armenien“ dominiert, dessen Vorsitzender Andranik Tewanjan am vergangenen Freitag bei den Protesten vorübergehend festgenommen wurde. Dieser fordert den Rücktritt des amtierenden Premierministers. Er stellet aber selbst ebenso wenig eine fortschrittliche Alternative dar und umfasst armenisch-nationalistische bis liberale Kräfte. Teile der Opposition unterstützen auch den ehemaligen Premierminister Robert Kotscharjan, der als Spitze des nationalkonservativen Bündnisses „Armenien“ wieder zu Wahlen antritt.

Wir müssen diesem Nationalismus entschieden entgegentreten. Denn wozu dieser führen kann, zeigte sich während des zweiten Bergkarabachkrieges. In den 1990er Jahren wurden vom armenischen Nationalismus aserbaidschanische Gebiete brutal erobert, was in Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Auch hier kam es zu Vertreibung und ethnischen Säuberungen aserbaidschanischer Siedlungsgebiete. Die armenische Arbeiter:innenklasse und die Linke müssen somit das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen, sie dürfen sich aber nicht vor den Karren des Nationalismus oder imperialistischer „Freund:innen“ Armeniens spannen lassen.

Doch nicht nur die armenische Arbeiter:innenklasse, vor allem auch jene in Aserbaidschan steht vor großen Aufgaben. Sie muss sich klar gegen die Eroberungspolitik „ihrer“ Regierung und den nationalistischen Siegestaumel im Land stellen. Die Eroberung Azachs und die Vertreibung der Armenier:innen müssen als das angeprangert werden, was sie sind: ein brutaler Eroberungskrieg der herrschenden Klasse, der nur zur Festigung ihres Regimes dienen wird. Nur wenn die Arbeiter:innen klar für das Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung der Armenier:innen eintreten, können sie auch einen eigenen Klassenstandpunkt gegen „ihre“ Bourgeoisie und deren russischen, türkischen und europäischen Verbündeten einnehmen.

Nur wenn dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan ein Programm, das eine Lösung der drängenden sozialen Fragen bereithält, entgegengestellt wird, kann der Arbeiter:innenklasse aufgezeigt werden, dass der Nationalismus keine zufriedenstellenden Antworten für sie bereithält. Wir müssen also für den Aufbau von Arbeiter:innenparteien eintreten, die für das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen kämpfen, dies aber im Kontext des Internationalismus tun. Dabei muss klar sein, dass die nationale nur im Zusammenhang mit der Klassenfrage gelöst werden kann. Denn im Kapitalismus, der immer wieder zu Krisen, Arbeitslosigkeit und Armut führt, können nur reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen gefunden werden. Daher treten wir für die Bildung einer sozialistischen Föderation der Staaten des Kaukasus ein, die offene Grenzen und die Rückkehr aller Vertriebenen ermöglicht. Denn nur sie ist in der Lage, dem Kapitalismus seine Grundlagen zu entreißen, die Produktivkräfte zu enteignen und unter Arbeiter:innenkontrolle demokratisch zu planen.




Runter mit der CDU vom CSD!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1228, 20. Juli 2023

Klar, der Christopher Street Day ist schon seit Jahren eine einzige Kommerzveranstaltung. Einmal im Jahr packen Konzerne und Politiker:innen die Regenbogenfahne aus und spendieren einen Truck, von dem lauthals Musik tönt, während man die restlichen 364 Tage dann recht wenig im Betrieb von queerer Akzeptanz spürt. Beschwerdestellen, eigenständige Schulung zur Sensibilisierung der Mitarbeiter:innen und Auflösung des Gender Pay Gaps gibt’s nicht oder sind eine Seltenheit. Und das enttarnt dann meistens auch den Charakter der Beteiligung: Es ist eine Imagefrage, denn aktuell gehört es noch zum guten Ton, sich solidarisch zu zeigen. Queerness ist cool, ist in und größtenteils akzeptiert. Und solange man nicht ernsthaft was dafür machen muss und auch noch Geld daran verdienen kann, ist man eben gerne dabei.

Ein Schritt vorwärts?

Ja, es ist natürlich ein Schritt vorwärts, dass der CSD so groß ist, auch wenn’s eine riesige Party ist. Aber während einige die Party genießen und danach die Pridefahne wieder einrollen, wenn sie nach Hause gehen, klappt das nicht für alle. Dies wird vor allem sichtbar außerhalb der Großstädte. Beispielsweise in Bautzen, wo dieses Jahr die erste Pride stattgefunden hat – unter aktiven Drohungen durch Faschist:innen, während sich kurz vorher der Lesben- und Schwulenverband in Freiburg und die IG CSD in Stuttgart von Symbolen der Antifaschisten Aktion distanzierten. Darüber hinaus klappt es auch nicht für jene, die Angst haben müssen, wenn sie im eigenen Kiez Hand in Hand spazieren gehen wollen. Es klappt nicht für die, die immer „witzige“ Kommentare auf der Arbeit oder im eigenen Heterofreundeskreis hören. Es klappt nicht für alle, die sich überlegen müssen, ob es wirklich sicher ist oder sie die Blicke ertragen können beim Rausgehen, wenn sie sich schminken und ein Kleid anziehen. Und schon gar nicht klappt es für die, die der Hetze voll ausgeliefert sind.

Deswegen hilft eine Pride nicht viel, die solche Themen mittlerweile wenig zur Sprache bringt, während zeitgleich Firmen, die in Ländern, wo LGBTIA+ umgebracht werden, stummen Wortes produzieren, um ihre Profite zu sichern. Da helfen auch nicht die aktuellen Ermittlungen gegen Teile des Berliner CSD-Vorstands unter anderem aufgrund von Veruntreuung sowie Einbehaltung von Bargeldeinnahmen vom CSD 2022.

Vielmehr macht das nur deutlich, dass die Diskriminierung von LGBTIA+ zwar alle Queers trifft, aber halt nicht alle gleich. Neben der Tatsache, dass trans Menschen es in der Gesellschaft wesentlich schwerer haben, ist es auch eine Klassenfrage. Das ist keine Nebensache. Wer sich keine Gedanken machen muss, wie man sich in öffentlichen Verkehrsmitteln (nicht) verhalten oder (nicht) kleiden sollte, weil mensch doch auch einfach mit dem eigenen Auto umherfahren kann, dem sind halt andere Dinge wichtiger. Wer homosexuell, aber reich ist, der ist bereit, zugunsten der eigenen ökonomischen Lage „Kompromisse“ einzugehen. Oder anders gesagt: Der wählt halt CDU, weil das politische Programm die eigene Lage besser absichert, unabhängig davon, was das für die eigene Sexualität bedeutet. Deutlicher als an der Person von Alice Weidel, die nix Besseres zu tun hat, als als Lesbe ständig gegen das „Gender-Gaga“ zu reden, weil’s in die eigene Agenda passt, kann man es selten machen.

Ja, es ist nichts Schlimmes daran, wenn die Pride Spaß macht. Aber man sollte halt nicht vergessen, dass sie vor allem politisch ist. Oder sein sollte. Nicht nur, weil die erste Pride ein Riot gewesen ist, sondern aufgrund der aktuellen politischen Lage.

Kein Schritt zurück!

Eine der ersten Amtshandlungen der CDU im Berliner Senat ist es gewesen, das Gendern in den Berliner Behörden rückgängig zu machen. Rückschrittlich, bringt niemandem/r irgendetwas, aber man hat halt einen populistischen Wahlkampf gemacht und will zeigen, dass man auch liefert. Das Behördenchaos in Berlin gibt’s natürlich weiterhin, nur halt ohne :*_.  Hilft auch super bei der Wohnungskrise – oder nicht?

Das Ganze ist kein Ausrutscher von Kai Wegner, sondern fester Bestandteil der Politik der CDU, bedenkt man beispielsweise den Tweet von Frontmann Friedrich Merz. Dieser will dem Satz „Und rechts von uns ist nur die Wand!“ wieder neue Bedeutung geben und so hat er es geschafft, pünktlich zum Pridemonth einen Tweet in die Welt hinauszuposten, der vieles war: eine bewusste Provokation, ein „Mal beim AfD-Milieu“-Abgreifen und dazu noch strunzdumm. Das erste, was einem/r durch den Kopf geschossen ist, war: Nehmt dem alten, verwirrten Mann das Handy weg und lasst dessen Hirngespinste mal besser medizinisch abchecken. Doch leider ist das kein verwirrter Einzelfall, sondern die neue Masche der CDU unter Friedrich Merz. Denn auf den Tweet folgte nun die Ausweitung des Verbots von Gendern in sächsischen Schulen auf Kooperationspartner:innen und die Hetze der CSU in München gegen einen Vorleseabend der Münchner Stadtbibliothek, bei dem eine Dragqueen sowie ein Dragking geladen wurden.

Doch was bedeutet das für die Praxis? Angelehnt an die aktuelle Debatte in den USA um trans Rechte, versuchen nun auch hier Konservative queeres Leben und Selbstbestimmung weiter anzugreifen. Die CDU hetzt gegen Queers und die Berliner SPD trägt diese Koalitionspartnerin mit. Ganz einfach. Statt diese Kräfte ihre Regenbogenfahne am CSD auspacken und Wegener auch noch bei der Eröffnung reden zu lassen, sollten diese nicht die Möglichkeit bekommen, ihre Doppelmoral zur Schau zu stellen! Die Hetze von CDU und CSU zu dulden und sie dann in den eigenen Reihen mitlaufen zu lassen, ist wie, dem Wolf schon freiwillig den Schafspelz zu geben. Wir sind in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Akzeptanz ziemlich schnell drohen kann zu kippen – und es sind neben der AfD diese Kräfte, die ihr Bestes dafür tun, queeres Leben aus der Öffentlichkeit zu drängen, zu verurteilen und auch einen Anstieg von Gewalt gegen LGBTIA+ damit begünstigen. Ansonsten bedeutet das, in der Realität Politik gegen trans Menschen, gegen alle Non-Binaries und Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlecht einordnen lassen wollen, mitzutragen und zu unterstützen. Die Pride gibt’s dann nur noch für Cis-Männer und -Frauen, Jens Spahn und Alice Weidel Hand in Hand, die geben bestimmt viel Geld und einen aus.

Statt so zu tun, als ob es was Gutes ist, dass sich augenscheinlich alle mit der Prideflag schmücken können, muss klar gemacht werden, dass Parteien, die aktiv gegen Queers hetzen, nichts auf der Pride zu suchen haben. Gleiches gilt für Institutionen und Firmen, die das aktiv mittragen oder finanzieren. Deswegen ist die Initiative des Hamburger CSD zu begrüßen, der die CDU aktiv ausgeladen hatte, nachdem deren lokale Parteigliederung der Initiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ 3.000 Unterschriften übergab, bei der Anfang des Jahres die Initiatorin Homosexuelle pauschal zur Gefahr für die menschliche Evolution erklärte (queer.de berichtete).

  • Lasst uns deswegen gemeinsam ein lautstarkes Zeichen gegen die CDU setzen!



Wie queere Identitäten immer noch durch den Staat unterdrückt werden

REVOLUTION, zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1223, 16. Mai 2023

Wirft man einen Blick in die meisten Kindergärten, so stellt man schnell fest, dass die Existenzen von trans Personen, Geschlechtern jenseits des binären Systems und nicht-heterosexuelle Beziehungen keinen Platz finden. Seien es Spielzeug, Bücher oder Gruppenaktivitäten: Diversität sucht man darin meist vergeblich.

Auch in der Grundschule im Sachkundeunterricht wird meist gelehrt, dass es lediglich Frau und Mann gebe und im Gymnasium wird im Biologieunterricht alles auf die Spitze getrieben. Oft wird die Klasse zur „Aufklärung“ in zwei geteilt – Menschen die sich keinem der binären Geschlechter zuordnen, werden außer Acht gelassen und auch der Biologieunterricht an sich ist zu vielen Teilen immer noch cis- und heteronormativ.

Und das nicht ohne Grund!

Woher kommt Queerunterdrückung?

Besonders im Kindes- und Jugendalter soll das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie gefestigt werden, denn Kapitalist:nnen profitieren finanziell von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit, die Frauen als natürlich zugeschrieben wird. Durch die Auslagerung der Reproduktion der Arbeitskraft ins Private kann diese überhaupt erst tagtäglich für die Ausbeutung durch die Kapitalist:innen zur Verfügung stehen.

Innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie sollen Frauen im Stillen Arbeitskraft reproduzieren – unbezahlt und in den eigenen vier Wänden. Dazu zählen alle Arbeiten, die nötig sind, damit Arbeiter:innen am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen können. Beziehungsmodelle, welche weder monogam noch heterosexuell sind und Identitäten jenseits des cis-binären Spektrums stellen das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie in Frage, da sie das Konzept „Vater, Mutter, Kind“ unterlaufen und somit nicht mehr klar ist, wer welche Rolle in der Familie einnimmt.

Es ist somit auch kein Zufall, dass der bürgerliche Staat nicht nur im Bildungs-, sondern auch im Gesundheitssektor und am Arbeitsplatz queere Personen benachteiligt und unterdrückt.

Geschlechtsangleichende Operationen werden immer noch nicht vollständig finanziert und sind nicht ohne bürokratischen Aufwand möglich, für Jugendliche nicht einmal ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten!

Queerfeindliche Gewalt

Immer wieder führt diese durch den bürgerlichen Staat forcierte Unterdrückung zu queerfeindlichen Übergriffen und Gewalttaten. Und wenn dies nicht bereits durch die Organe des bürgerlichen Staates selbst geschieht, sondern durch Faschist:innen und andere queerfeindliche reaktionäre Gruppen, wird dabei meist weggesehen, denn diese Taten werden in den meisten Teilen Deutschlands nicht einmal dokumentiert. Berlin ist das einzige Bundesland, das ein Monitoring zu queerfeindlicher Gewalt erstellt. Im Jahr 2021 wurde mit 456 gemeldeten Fällen – davon 23 % teils schwerer körperlicher Gewalt – der höchste Wert seit Aufnahme der themenspezifischen Erfassung dokumentiert. Das sind knapp 100 Fälle mehr als im Vorjahr und dabei muss bedacht werden, dass bei weitem nicht alle gemeldet werden.

Im Rahmen einer Umfrage der EU im Jahr 2020, an der ca. 2.750 trans Personen aus Deutschland teilgenommen haben, gaben 66 % der Befragten an, in mehr als acht Lebensbereichen in den letzten 12 Monaten aufgrund ihres Trans-Seins diskriminiert worden zu sein. 90 % von ihnen haben den letzten Vorfall nicht gemeldet.

Aber gibt es nicht auch Fortschritte?

Es zeigt sich also, dass queere Personen in allen Lebensbereichen durch den bürgerlichen Staat unterdrückt werden. Doch dieser ist besonders in den letzten Jahren immer mehr bemüht, Illusionen zu schaffen, queere Befreiung sei innerhalb des Kapitalismus zu lösen.

So bestehen die gleichgeschlechtliche zivile Ehe und die mögliche Eintragung von „inter“ und „divers“ im Geburtenregister seit 2017 und jüngst wurde durch die Ampelregierung, die sich Progressivität auf die Fahne schreibt, das reaktionäre „Transsexuellengesetz“ (TSG) abgeschafft, welches durch ein neues Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden soll. Dieses soll trans, inter und nicht-binären Personen künftig die Möglichkeit geben, ihren Geschlechtseintrag sowie ihren Vornamen im Personenstandsregister durch eine Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen.

Dies alles sind zwar durchaus positive Entwicklungen, wir müssen uns dabei aber klarmachen, dass diese Fortschritte immer mit Vorsicht zu genießen sind. Der bürgerliche Staat möchte mit solchen Maßnahmen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen und so etwas wie den CSD (Christopher Street Day) zu einer mehr oder weniger staatstragenden Party verkommen lassen.

Für uns als Revolutionär:innen ist klar, dass wir uns nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen dürfen, wenn wir die Unterdrückung von queeren Personen ernsthaft bekämpfen wollen. Denn im Kapitalismus steht er im Dienste der herrschenden Klasse, deren Profit auf die Unterdrückung von Frauen, queeren und migrantisierten Menschen angewiesen ist. Deshalb muss dieser Kampf zwangsläufig auch einer gegen den Kapitalismus sein. Hierfür schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Inklusive Bildung und Mitspracherecht der Schüler:innen über Inhalte der Lehrpläne!
  • Für das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!
  • Antisexistische Komitees an Schulen, Unis und in Betrieben sowie Selbstverteidigungskomitees in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung!
  • Intersex vollständig legalisieren! Medizinische, kosmetische Eingriffe z. B. zur Geschlechtsangleichung nur mit Zustimmung der betroffenen Person!
  • Kampf gegen die transphobe Hetze der Rechten und selbsternannten Radikalfeminist:innen!
  • Gegen die Pflicht, das eigene Geschlecht in offiziellen Dokumenten anzugeben! Für den Ausbau von Unisex-Orten im öffentlichen Raum wie Toiletten oder Umkleiden!



Ukraine: Auf dem Weg zum endlosen Stellungskrieg?

Markus Lehner, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der Krieg in der Ukraine nimmt immer mehr der fürchterlichen Merkmale des Ersten Weltkriegs an. Die Masse an eingesetzter Artillerie, Panzern, Drohnen, Munition und sonstiger militärischer Ausrüstung frisst ganze Industrieproduktionen auf. Ganz zu schweigen von den Soldat:innen, die zu zehntausenden im Stellungskrieg zermürbt, verwundet, getötet oder in der Schlacht um Bachmut wie einst in Verdun für kleinste Geländegewinne zu tausenden geopfert werden. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Zivilist:innen, die ums Leben kamen.

Kriegsindustrie

Auch die „Munitionskrise“ erinnert an eine ähnliche Entwicklung 1915, als die Produktion nicht mehr mit dem Bedarf der „industriellen Kriegsführung“ Schritt halten konnte. An die 6.000 Artilleriegeschosse, die alleine die Ukraine am Tag verbraucht, führten im Februar zu Berechnungen, dass dem Land im Mai die Munition ausgehen könnte – und zwar, obwohl ihre westlichen Verbündeten schon liefern, was sie haben, sondern weil der Bedarf am Rande der Produktionskapazität selbst der USA liegt.

Dies führte dazu, dass für bestimmte Munitionsarten nicht nur eine Vervielfachung der Produktion stattfindet, sondern dass ganze neue Werke errichtet werden. Während dies für die USA oder Deutschland bekannt ist, gilt dies für die Art und Weise, wie Russland seine Munitions- und Waffenproduktionsengpässe löst, weniger. Jedenfalls hat das Land schon aufgrund des westlichen Sanktionsregimes längst auf Kriegsökonomie umgestellt bzw. dürfte, auf welchen Wegen auch immer, aus Zentralasien, China, Nordkorea oder dem Iran Nachschub erhalten.

Diese Art der „konventionellen“ Kriegsführung, die auf einer sich ständig steigernden industriellen Nachschubproduktion und gleichzeitig immer mehr modernster Waffentechnologie beruht (z. B. was Informations- und elektronische Steuerungstechnologie betrifft), macht diesen Krieg zu etwas anderem als die meisten militärischen Auseinandersetzungen, die wir seit 1945 kennen. Die Art der industriellen Kriegsführung gleicht tatsächlich mehr der globalen Konfrontation von imperialistischen Armeen und unterscheidet sich deutlich von anderen Kriegen zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie (z. B. USA – Irak).

Dies deutet auf den schon vielfach besprochenen vielschichtigen Charakter des Ukrainekrieges hin. Ohne Zweifel begann er mit dem imperialistischen Überfall Russlands, gegen den sich die Ukraine zu Recht verteidigt, gegen den sich auch die Masse der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen mit Recht zur Wehr setzt.

Vorgeschichte

Andererseits hatte der Krieg eine lange Vorgeschichte, die sich im Kontext einer immer mehr zuspitzenden Konfrontation neu sich bildender Blöcke imperialistischer Großmächte abspielte – ähnlich wie der Balkan am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die schwächer werdende Hegemonie der USA über die imperialistische Weltordnung wird spätestens seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 vom Aufstieg Chinas herausgefordert. Russland und die EU-Großmächte versuchten, sich zunächst dazwischen aufzustellen, wurden aber immer mehr in Richtung USA bzw. China gedrängt – nicht zuletzt durch die Frage der Blockbindung der Ukraine.

Diese schwankte nach dem Ende der Sowjetunion zwischen Aufrechterhaltung der ökonomischen, kulturellen und politischen Verbindungen zu Russland und einer Orientierung Richtung EU und NATO. Mit der „Euro-Maidan-Bewegung“ und dem Sturz des eher prorussischen Präsidenten Janukowytsch war dies jedoch innenpolitisch gegen Russland entschieden. Andererseits ist die Ukraine in ihren bestehenden Grenzen ein relativ junges Gebilde, ein Vielvölkerstaat mit vielen Minderheiten und umstrittenen Grenzen – aber mit einer nationalistischen Elite an der Macht, die von einer eindeutigen nationalen Identität gerade in diesen Grenzen träumt.

Der Konflikt mit den Minderheiten war vorprogrammiert und ließ sich von Russland, gerade was die ethnischen oder sprachlichen russischen Minderheiten auf der Krim und im (Süd-)Osten der Ukraine betrifft, leicht ausnützen. Auf die Annexion der Krim und die Assimilierung der 2015 gebildeten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk muss hier nicht weiter eingegangen werden. Andererseits begannen vor allem die USA und Britannien mit einem massiven Aufrüstungs- und Ausbildungsprogramm in der Ukraine, das aus der maroden ukrainischen Armee, die zunächst gegen die zusammengeschusterten Verbände der „Volksrepubliken“ nur mit Hilfe von extrem nationalistischen Freiwilligenverbänden bestehen konnte, eine tatsächlich starke und moderne Streitmacht formte.

Die Versuche der EU, insbesondere von Frankreich und Deutschland, mit den Minsker Abkommen einen Ausgleich zustande zu bringen, indem etwa Autonomie und Minderheitenrechte zu einer Lösung der Grenzkonflikte hätten führen können, wurden von den USA, der Ukraine und den nationalistischen Hardliner:innen sowohl in Russland als auch in den Volksrepubliken von vornherein torpediert. Seit 2015 schwelte so ein mehr oder weniger lauwarmer Krieg entlang der Demarkationslinien. Mit der Erstarkung der ukrainischen Armee und der aufgrund der wirtschaftlichen Probleme immer stärker werdenden Abhängigkeit der Ukraine vom Westen war für den russischen Imperialismus klar, dass es nur noch ein geringes Zeitfenster gab, um die Ukraine nicht gänzlich aus ihrem Einflussgebiet zu verlieren.

USA und China

Gleichzeitig führte die wachsende ökonomische „Eindämmungspolitik“ der USA gegenüber China (Zölle, Investitionsbeschränkungen, Technologie-Exportverbote, Maßnahmen gegen bestimmte chinesische Großkonzerne etc.) dazu, dass auch dieses in eine wachsende Konfrontation mit „dem Westen“ gerät, der es und Russland vermehrt in die Ecke der „antidemokratischen Revisionist:innen“ stellt. Das führte nicht nur zu einer weiteren Annäherung dieser beiden Staaten, sondern auch zu einer Art neuer Blockbildung, die sich seit dem Ukrainekrieg auch mehr und mehr verdeutlicht.

Sowohl die Rückendeckung aus Peking (Staatsbesuch während der Olympischen Spiele) als auch die vermeintliche Schwäche der USA im Zusammenhang mit dem Rückzug aus Afghanistan führten die russische Führung wohl zum Fehlschluss, dass ein Blitzkrieg gegen die Ukraine eine machbare Sache wäre, die dann bald zu einer Hinnahme der „Macht des Faktischen“ auch im Westen führen würde. Bekanntlich ging das gründlich schief. Die ukrainische Armee erwies sich als sehr viel stärker, die russische Kampfkraft als sehr viel schwächer, als viele vorher vermutet hatten. Dies führte nicht nur zu einem schnellen Scheitern der „Blitzkriegs“strategie, sondern auch zu einer stärkeren Einigkeit im „westlichen Lager“, insbesondere was das Ausmaß der ökonomischen Sanktionen auch in Bezug auf Energielieferungen betraf, als dies wohl Russland und China erwartet hatten. Inzwischen wurde die Ukraine mit einem beständigen Strom an militärischen Lieferungen und Krediten aus dem Westen bedacht, die im ersten Kriegsjahr in etwa die Höhe eines Vorkriegsbruttosozialprodukts des Landes ausmachen. Obwohl die Ukraine mit ihren an sich schwachen Finanz- und Waffenproduktionskapazitäten dem russischen Militärkomplex um ein Vielfaches unterlegen wäre, kann sie so standhalten und sogar von Zeit zu Zeit effektive Gegenoffensiven starten.

Verschiedene Charaktere

Mit der wachsenden Abhängigkeit von westlichen Waffen- und Munitionslieferungen wie auch ökonomischer „Hilfe“ wird der Charakter des berechtigten nationalen Verteidigungskrieges von Seiten der Ukraine immer deutlicher von dem eines Stellvertreterkrieges zwischen den Blöcken der Großmächte überlagert. Wir haben es mit einer Verquickung zweier Kriege zu tun.

Der Aspekt der innerimperialistischen Konkurrenz drückt sich dabei nicht nur in dem immer furchtbarer werdenden Ausmaß an Vernichtung von Menschen und Material aus, sondern auch darin, dass die Perspektive der Ukraine in jedem Fall immer prekärer wird. Auch im Fall eines militärischen Erfolges wäre nicht nur das Ausmaß der Zerstörungen für eine tatsächlich unabhängige, sich selbständig entwickelnde Ukraine eine kaum zu meisternde Bürde, sondern kommen die westlichen „Hilfen“ mit einem Preis. Rund um den letzten Megakredit (17 Milliarden US-Dollar) des Internationalen Währungsfonds (IWF) im März wurde sehr offen davon gesprochen, dass dieser die zentrale Institution der wirtschaftlichen Neugestaltung der Ukraine sein wird – mit allen bekannten Folgen vor allem für die Arbeiter:innen und die arme Landbevölkerung (so wie sich dies schon in den extrem neoliberalen Arbeitsrechtsänderungen der Regierung Selenskyj erkennen lässt). Eine „siegreiche“ Ukraine wird unter diesen Bedingungen ihre Rohstoffe und ihren wertvollen Agrarsektor an ausländische Investor:innen verscherbeln, vor allem aber ihre Arbeiter:innenklasse noch mehr als bisher schon als billiges Ausbeutungsmaterial für westliche Konzerne bereitstellen müssen.

Die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen müssen daher vor jeglichen Illusionen in ihre „westlichen Wohltäter:innen“ und ihr Stellvertreterregime in Kiew gewarnt werden. Natürlich bildet für sie derzeit die Bedrohung durch die russische Mordmaschinerie und die mögliche nationale Unterjochung die unmittelbare Gefahr. Doch sollten sie sich schon jetzt so weit wie möglich unabhängig organisieren und für eine Auseinandersetzung mit den westlichen Ausbeuter:innen und den prowestlichen Oligarch:innen und der Regierung wappnen.

Getreu der Lenin’schen Position zum Kampf in Halbkolonien gegen imperialistische Aggression erkennen wir daher die Legitimität des Kampfes der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen gegen die Invasion an – trotz des Charakters seiner Führung. Ob dies in Verbänden der ukrainischen Armee, der territorialen Selbstverteidigung oder eigenen Milizen geschieht, ist eine Frage der konkreten Umstände (mit Ausnahme natürlich von faschistischen oder extrem nationalistischen Einheiten). Natürlich sind wir auch dafür, jegliche Waffen anzunehmen und einzusetzen, die man erhalten kann.

Gleichzeitig müssen immer die eigentlichen reaktionären Ziele der eigenen Führung und ihrer Hinterleute in den westlichen Regierungen offengelegt und kritisiert werden. Insbesondere fordern wir mit den ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen die Streichung aller Schulden, die aus den westlichen „Hilfen“ entstanden sind, die Offenlegung aller Pläne für die Nachkriegsordnung von IWF & Co und die Kontrolle Ersterer über Waffen und die knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Dies kann ohne Konflikt mit den Herrschenden nicht abgehen. Daher treten wir für die Bildung demokratisch gewählter Komitees der Arbeiter:innen, Soldat:innen und Bauern/Bäuerinnen ein. Dies kann auch den Beginn markieren, dass aus der nationalen Selbstverteidigung gegen den russischen Imperialismus ein Kampf um ein auch von westlicher Ausbeutung befreites Land unter der wirklichen Demokratie der arbeitenden Bevölkerung wird.

Ausverkauf

Dies ist umso wichtiger, als ein Ausverkauf des Kampfes der Ukrainer:innen immer wahrscheinlicher wird. Abgesehen von den menschlichen Kosten des fortgesetzten Abnutzungskrieges sind es für die westlichen Imperialist:innen vielmehr die ökonomischen Folgen, die auf ein Ende des Krieges drängen. Die Belastungen einer sich ständig steigernden Kriegsökonomie, die auch Tendenzen zur weltweiten Verstetigung der Inflation verstärkt, aber auch die Folgen für die Weltwirtschaft durch die Belastungen der Blockbildung z. B. für Lieferketten und den Energiemarkt gemahnen zu einer Lösung.

Dass der Generalstabschef der USA für „realistische Kriegsziele“ plädiert, hängt wohl damit zusammen, dass das Pentagon auch noch für andere Konfliktherde Ressourcen braucht, nicht zuletzt mit China – und auch die notwendige Haushaltseinigung mit der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus nicht unbegrenzte Mittel für den Ukrainekrieg verheißt. Nicht erst seit den US-Geheimdienstleaks ist klar, dass die Vereinigten Staaten nicht nur sporadische Hilfe in der elektronischen und informationstechnischen Kriegsführung liefern, sondern dabei auch beträchtliche operationelle Kräfte aus dem „Tagesgeschäft“ im Einsatz sind.

Zugleich hegen sie kein Interesse, in eine direkte Konfrontation mit Russland über den NATO-Artikel zu geraten bzw. gar den Einsatz nuklearer Waffen zu riskieren. Angesichts der logistischen Probleme, z. B. im Munitionsbereich, ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Ukraine in den nächsten Monaten zu einer Form der Beendigung des Krieges gedrängt wird. Insofern ist zu erklären, welche Bedeutung der wohl kommenden „Frühjahrsoffensive“ beigemessen wird, sowohl von ukrainischer Seite wie von den westlichen Verbündeten. Es geht wohl darum, vor einem möglichen Waffenstillstand und kommenden Verhandlungen noch so viel Boden wie möglich gutzumachen (wahrscheinlich im Südosten) und Russland sowenig wie möglich an „Erfolg“ zu lassen. Klar ist, dass dabei letztlich ein „Frieden“ herauskommt, der weit davon entfernt sein wird, die Frage der Selbstbestimmung im Südosten und auf der Krim demokratisch zu lösen – und eine weitere Ausdehnung der NATO bedeuten wird. Eine freie und unabhängige Ukraine sieht so jedenfalls nicht aus.

Daher müssen wir hier im Westen die Kriegsziele unserer Herrschenden hinter der Fassade des „Kampfes um die Demokratie“ und für eine „freie Ukraine“ kritisieren und bekämpfen. Das Ziel  ist die Stärkung der eigenen Großmachtinteressen in Washington, London, Berlin oder Paris. Und das schließt den Ausverkauf der ukrainischen Reichtümer und die unbeschränkte Ausbeutbarkeit der ukrainischen Arbeiter:innen, die jetzt schon Billigarbeitskräfte im Pflegebereich in Masse stellen bzw. in osteuropäischen Niederlassungen des deutschen Kapitals für Hungerlöhne schuften dürfen, ein. Insofern müssen wir auch die Hilfeleistungen der Regierungen an die Ukraine kritisieren, die letztlich zu einer langfristigen Abhängigkeit und Unterordnung dieses Landes dienen. Daher fordern wir auch z. B. DIE LINKE und SPD im Bundestag dazu auf, gegen die Sanktionen und Waffenprogramme (ob für die eigene Aufrüstung oder für „Hilfslieferungen“) zu stimmen. Alles andere würde unwillkürlich einer Zustimmung zu den Kriegszielen des deutschen Imperialismus gleichkommen.

Gleichwohl erkennen wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung an – und darauf, sich dafür auch die nötigen Mittel zu beschaffen. Der legitime Widerstand gegen den russischen Imperialismus  schließt allerdings nicht die Eroberung der Krim und der Donbasrepubliken ein.

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden. Dies müsste folgende Eckpunkte inkludieren: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum innerimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbasrepubliken. Dies muss verbunden werden mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.

  • Für die Niederlage der russischen Aggression! Russische Truppen raus aus der Ukraine!

  • Für eine wirklich unabhängige Ukraine – auch frei von westlicher Ausbeutung und politisch-militärischer Bevormundung!

  • Nein zur Intervention der NATO und des Westens! Nein zu einem imperialistischen Frieden!

  • Für die Umwandlung des Krieges in den Kampf um soziale Befreiung in der Ukraine und Russland unter Führung einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung!



Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Seit mehr als einem Jahr bestimmt der Ukrainekrieg die Schlagzeilen. Im Folgenden wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Situation anfertigen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die aktuelle Situation auf Frauen auswirkt, um schließlich allgemein Kriegsfolgen für Frauen zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz Stellung zum Konflikt beziehen.

Vom Angriffskrieg zum Stellungskampf

Klar ist, dass der Angriff seitens des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verurteilen und der Wille zur Selbstverteidigung seitens der ukrainischen Bevölkerung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig muss das Geschehen auch im internationalen Kontext betrachtet werden. Es spielt sich nicht im luftleeren kraRaum ab, sondern vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und eines Kampfs um die Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten.

Somit ist es auch nicht irgendeine Auseinandersetzung, die zufällig mehr Aufmerksamkeit bekommt als der Bürger:innenkrieg im Jemen, weil der bewaffnete Konflikt im Westen stattfindet. Er ist auch Ausdruck einer zugespitzten globalen Weltlage und trägt in sich das Potenzial, mehr Kräfte in kriegerische Auseinandersetzungen zu ziehen. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung zwar augenscheinlich nur zwischen der Ukraine und Russland statt. Doch das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und prorussischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine und der Ausgleich zwischen ihren Nationalitäten wurde mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwandte zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und ihren Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war letztlich auch der bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedroht fühlenden Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine vorprogrammiert und Russland nahm den inneren Bürger:innenkrieg zum Vorwand für die Inkorporation der Krim, wo jedoch schon länger eine prorussische Mehrheit lebte.

Weder Putin noch NATO!

Somit geriet das Gebiet der Ukraine zum Zankapfel zwischen russischem Imperialismus und der NATO. Wirkliche Verbesserung für alle Teile der Bevölkerung kann es nicht geben, wenn man sich einer dieser Kräfte politisch unterordnet. Dabei sind die von Putin angegebenen Gründe für seine „Militäroperation“ mehr als scheinheilig. Ihm geht es nicht um eine Denazifizierung, sondern darum, den seit 2014 stärker gewordenen Einfluss des westlichen Imperialismus zurückzudrängen. Dieses Interesse ist vor allem durch die Zunahme der internationalen Konkurrenz seit der Wirtschaftskrise um die Pandemie stärker geworden und auch durch die wirtschaftliche Schwäche Russlands bedingt.

Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass sowohl die massive finanzielle Unterstützung sowie die Waffenlieferungen seitens der NATO-Verbündeten nicht aus reiner Selbstlosigkeit erfolgen, weil man die ukrainische Bevölkerung nicht leiden sehen kann, sondern das Ziel anpeilen, die Ukraine als geostrategische Einflusssphäre zu festigen sowie den russischen Imperialismus zu schwächen und seine Fähigkeit, als Weltmacht zu agieren, massiv zu reduzieren, wenn nicht zu verunmöglichen. Natürlich agiert der Westen dabei nicht als geschlossener, einheitlicher Block. Vielmehr erweisen sich die USA als eindeutige Führungsmacht auch über ihre europäischen Verbündeten, für die jede stärkere ökonomische Durchdringung Russlands in weite Ferne gerückt ist.

Auswirkungen weltweit

Bevor wir zur Situationen in der Ukraine kommen, wollen wir uns den internationalen Folgen des Krieges widmen. Neben einer verstärkten Militarisierung haben der Krieg und vor allem die massiven Sanktionen nicht nur den Wirtschaftskonflikt mit Russland zugespitzt, sondern auch die Inflation befeuert und Energiepreise in die Höhe schnellen lassen. Die steigenden Kosten für Öl und Gas haben erhebliche Auswirkungen auf die Energiearmut von Frauen und Mädchen und den ohnehin schon ungleichen Zugang dazu. Dieser wurde vor allem durch die Pandemie drastisch verschlechtert, da so jene, die erst vor kurzem Zugang zu Energie erhalten hatten, diesen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit verloren, darunter 15 Millionen Afrikaner:innen südlich der Sahara. Der Krieg verschärft dies nun, da der sprunghafte Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren der stärkste ist seit der Ölkrise von 1973. Darüber hinaus verursacht der Krieg eine Lebensmittelkrise. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war der höchste seit 2008, was daran liegt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine zentrale Getreideproduzent:innen sind. So importieren Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Eritrea oder Somalia über 90 % des Getreides aus diesen beiden Ländern. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine wichtige Weizenlieferantin des Welternährungsprogramms (WFP) dar, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt.

Situation vor dem Krieg

Auch wenn es nicht möglich ist, hier ein komplettes Bild der Situation von Frauen zu zeichnen, wollen wir einen kurzen, allgemeinen Überblick geben. Vor dem Krieg machten Frauen 54 % der Gesamtbevölkerung aus und etwa 48 % aller Erwerbstätigen. Eine genaue Aufschlüsselung, wie hoch die Arbeitsbeteiligung von Frauen in unterschiedlichen Industrien ausfällt, ist nicht verfügbar. Jedoch lieferte die ILO 2008 einen groben Überblick, aus dem hervorgeht, dass Frauen vorwiegend im Caresektor sowie in der industriellen Produktion tätig waren (https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Country_Report_No8-Ukraine_EN.pdf, S. 31).

Rechtliche Gleichstellung existierte zwar formal auch in Bezug auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch gab es ein recht hohes Gender Pay Gap von 27 – 33 % im Zeitraum 2003 – 2012. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen oftmals in den schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Doch auch innerhalb von Berufsgruppen gab es Unterschiede. So wurden die größten geschlechtsspezifischen bei den Gehältern im Finanzsektor festgestellt, während die geringsten in der Landwirtschaft bestehen, wo die Löhne jedoch im Allgemeinen viel niedriger ausfallen als in allen anderen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft.

Flucht

Im Krieg sind Frauen besonders Gewalt ausgesetzt, neben Bomben, ausländischen Armeen direkt vor der Haustür, Angst und Engpässen bei der Strom- oder Nahrungsmittelversorgung. Kein Wunder also, dass mehrere Millionen Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, seit Beginn des Krieges geflohen sind. Laut Angaben der UN sind davon 5,3 Millionen Binnenvertriebene, also innerhalb des Landes geflohen. Dies verschärft die Situation, da bereits seit 2014 aufgrund des Konflikts in der Ostukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen gezwungen wurden umzusiedeln. Zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder, die seitdem unter dem erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie Beschäftigung leiden.

Darüber hinaus sind im Februar 2022 rund 8 Millionen Menschen über die ukrainischen Landesgrenzen geflohen. Davon sind über 80 % Frauen und Kinder, was unter anderem daran liegt, dass die Ausreise von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seitens der ukrainischen Regierung verboten wurde. Frauen sind dabei auf der Flucht besonders sexueller Gewalt ausgesetzt. So stiegen die Suchanfragen nach Schlüsselwörtern wie „Escort“, „Porno“ oder „Vergewaltigung“ in Verbindung mit dem Wort „ukrainisch“ um 600 %, während sich „Ukraine refugee porn“ laut OSZE-Büro der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels in Wien als Trendsuche herauskristallisierte. (https://www.euronews.com/2023/01/17/ukraine-refugee-porn-raises-risks-for-women-fleeing-the-war).

Zwar ist noch unklar, inwiefern ukrainische Frauen stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere Gruppen weiblicher Geflüchteter. Klar ist jedoch, dass rassistische Stereotype, die innerhalb der EU existieren und osteuropäische Frauen sexualisieren, dies mitverursachen. Die Gefahr, sexuellen Missbrauch zu erleben oder Opfer von Menschenhandel zu werden, wird durch unsichere Fluchtrouten oder die Praxis z. B. in Großbritannien, wo 350 Pfund für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten gezahlt werden, begünstigt.

Um die Situation für Geflüchtete zu verbessern, müssen wir für Folgendes eintreten:

  • Offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

  • Statt Behausung in Lagern: Dezentrale Unterbringung durch die Enteignung von leerstehendem Wohnraum, Hotels sowie Spekulationsobjekten!

  • Nein zur Spaltung: Anerkennung der Bildungsabschlüsse sowie das Recht, die Muttersprache bei Ämtern zu benutzen, für alle Geflüchteten!

Auch wenn die letzte Forderung für ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, größtenteils Realität ist, muss sie aufgestellt werden, um eine weitere Spaltung zwischen ukrainischen und anderen Geflüchteten zu verhindern. Dass die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen etc. für Ukrainer:innen so rasch passierte, zeigt nur, was eigentlich möglich ist, wenn die eigene Regierung ein unmittelbares Interesse dabei verfolgt. Deswegen sollte dies genutzt werden, um die Rechte anderer Geflüchteter anzugleichen.

Situation der Daheimgebliebenen

Jedoch konnten nicht alle fliehen. Alter, persönliche Fitness, Kontakte in anliegenden oder anderen europäischen Ländern sind weitere Faktoren, die es realistischer erscheinen lassen, sich mittel- oder langfristig ein „neues Leben“ aufzubauen. Wer hingegen pflegebedürftig ist oder selber jemanden pflegt, gehört zu den Gruppen, die es besonders schwer haben, das Land zu verlassen. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten von Gruppen wie bspw. von etwa 180 Gehörlosen, die es nach Berlin geschafft haben. Doch wer ans Bett gefesselt oder auf fremde Hilfe angewiesen ist, hat schlechte Chancen.

Hier tragen auch vor allem Frauen die Hauptlast. Bereits vor der Eskalation der Feindseligkeiten im Februar 2022 führte die unbezahlte Hausarbeit in der Ukraine zu einer massiven Mehrbelastung. Frauen brachten im Schnitt 24,6 Stunden pro Woche für reproduktive Tätigkeiten auf, während es bei Männern 14,5 waren. Laut UN-Bericht „Rapid Gender Analyses in Ukraine“ geben die Befragten durchweg an, dass seit dem Beginn des Krieges der Umfang der unbezahlten Arbeit sowohl für Männer als auch für Frauen zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass Sozialdienste, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie Kinderbetreuung durch den Krieg eingestellt oder reduziert wurden.

Das Wegbrechen dieser Infrastrukturen führt dementsprechend auch zu Verschlechterungen in allen diesen Bereichen. So sind beispielsweise Schwangere durch den Wegfall medizinischer Versorgung einer Lage ausgesetzt, die auch den Kindstod begünstigt. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu machen, treten wir ein für:

Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein!

So kann flächendeckend verhindert werden, dass Lebensmittel unterschlagen werden, wie beispielsweise durch zwei führende Ministeriumsbeamte, die Ende Januar dafür entlassen wurden. Das ist keine Kleinigkeit, denn über ein 1/3 der ukrainischen Bevölkerung ist von starken Nahrungsmittelengpässen betroffen. Viele Teile der Bevölkerung sind bereits in Hilfsstrukturen integriert – und sie sollten diese auch selber kontrollieren.

Denn zum einen kann durch die Verteilungskomitees überprüft werden, in welchen Regionen nicht nur mehr Hilfsgüter benötigt werden, sondern auch, wo es noch anderer Strukturen wie beispielsweise Kantinen oder anderer Hilfe bedarf. Diese sollten zum anderen als Momente kollektiver Reproduktionsarbeit nach dem Krieg erhalten bleiben und flächendeckend ausgeweitet werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also der Aufteilung der Sorge- und Carearbeit auf alle Hände – kann die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.

Arbeitsrechte

Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass unter der Regierung von Selenskyj seit Beginn des Krieges massive Angriffe auf die Arbeitsrechte vorgenommen wurden. Am 24. März 2022 trat das Gesetz Nr.-2136-IX Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht in Kraft, was unter anderem die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche auf 60 hochsetzt, Arbeit an Wochenenden, Feiertagen und arbeitsfreien Tagen nicht mehr verbietet und Betrieben ermöglicht, die Auszahlung des Gehalts zu verzögern, wenn nachgewiesen werden kann, dass Krieg oder „höhere Gewalt“ eine solche Verzögerung verursacht haben. Das Ganze wird begleitet vom Verbot von Oppositionsparteien, die Verbindungen nach Russland haben, sowie einer Degradierung von Gewerkschaften zu Organen der „Bürgerkontrolle“, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen.

Diese Verschärfungen sind dabei nur eine zugespitzte Fortführung Selenskyjs neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Bereits 2020 gab es den Versuch eines reformierten Arbeitsgesetzes, welches eine massive Aufweichung der Arbeits- und Tarifrechte enthielt. Durch Proteste seitens der Gewerkschaften konnte damals verhindert werden, was nun Praxis ist.

Was das für praktische Auswirkungen hat, skizziert Bettina Musiolek (Clean Clothes Campaign; Kampagne für Saubere Kleidung) in einem Interview mit der GEW. Zwar ist der Anteil der Textilindustrie innerhalb der Ukraine am BIP gering. Laut Angaben von Ukraine Invest existieren jedoch rund 2.500 Textilbetriebe mit mehr als 200.000 Mitarbeiter:innen innerhalb des Landes, von denen zwischen 80 und 90 % der gesamten Erzeugnisse für den Export bestimmt sind. Die überwiegende Mehrheit ihrer Beschäftigten ist weiblich. Produziert wird unter anderem für Marken wie Adidas, Benetton, Boss, S.Oliver, Tommy Hilfiger, Zara oder Handelskonzerne wie Picard oder Aldi. Diese nutzen die Not brutal aus, wie Musiolek erklärt:

 „Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. [ … ] Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hungerloehne-unter-dem-deckmantel-des-kriegsrechts)

Das bedeutet praktisch, dass wir uns gegen diese Angriffe wehren müssen, was leichter geschrieben als getan ist. Es verdeutlicht, dass die herrschende Klasse der Ukraine nicht nur eine enge Verbündete der NATO ist, sondern – wie jede andere – auch im Krieg ihre Klasseninteressen vertritt.

Das Kriegsrecht richtet sich hier ganz konkret gegen die Lohnabhängigen und muss bekämpft werden. Die Aufgabe von Revolutionär:innen und fortschrittlichen Kräften muss darin bestehen aufzuzeigen, dass der Krieg alleine nicht den Klassencharakter aufhebt, nicht alle Ukrainer:innen vor ihm gleich werden und dieselben Interessen verfolgen dürfen. Deswegen muss gesagt werden:

  • Nein zu den Angriffen des Arbeitsrecht! Für die sofortige Rücknahme der Verschärfungen wie des einseitigen Kündigungsrechts oder der Ausweitung der Arbeitszeit!

  • Statt Arbeitslosigkeit und mehr Stunden braucht es Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation!

  • Entschädigungslose Enteignung aller Kriegsgewinnler:innen, ukrainischer wie imperialistischer Unternehmen, die sich auf Kosten der Massen bereichern, unter Arbeiter:innenkontrolle!

Gewalt

Dass Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Krisen zunimmt, ist spätestens seit der Coronapandemie kein Geheimnis mehr. Aktuelle offizielle Zahlen sind nicht verfügbar, jedoch gaben laut einer vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Jahr 2019 veröffentlichten Studie etwa 75 Prozent der ukrainischen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben. Eine von drei Frauen berichtete, dass sie körperliche Formen von sexueller Gewalt erleiden musste.

Durch die verschlechterte ökonomische Situation kann sich dies verschlimmern, und da darüber hinaus in Konflikten sexuelle Gewalt und Vergewaltigung häufig als Kriegswaffe eingesetzt werden, um Macht über den Feind zu demonstrieren, sind die ukrainischen Frauen – inmitten der militärischen Invasion Russlands in ihrem Land – einem erhöhten Risiko sexueller und körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter ausgesetzt. Um sich gegen die zunehmende Gewalt zu wehren, treten wir ein:

  • Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees der Bevölkerung, die auch Zugang zu Waffen haben!

  • Für Entschädigungszahlungen an Betroffene von Gewalt sowie kostenlosen Zugang zu therapeutischen Angeboten auch nach dem Krieg!

Militär

Doch es wäre falsch, die Rolle von ukrainischen Frauen derzeit auf Care- und Hilfsarbeit zu reduzieren. In der ukrainischen Armee dienen schätzungsweise zwischen 15 – 22 % Frauen. Manche kehren sogar aus den sicheren Ländern, in die sie geflohen waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Dies ist jedoch eine neuere Entwicklung. Seit 2014 sind Frauen Teil der ukrainischen Armee. Seit 2016 ist auch erlaubt, dass sie nicht nur klassische Hilfskraftjobs wie medizinische Versorgung oder Kochen ausüben. Dass sie nun auch an der Front kämpfen dürfen, heißt jedoch nicht, dass das Militär sich in einen Ort der Gleichberechtigung verwandelt. So hat die Zahl der Soldatinnen zwar zugenommen, aber ihre Mobilisierung erfolgte eher unregelmäßig. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die klassische Arbeitsteilung in Armeen (Fokus der Frauen auf Hilfsjobs) trotz ihrer höheren Beteiligung erhalten bleibt, was begleitet wird durch Berichte über sexistische Kommentare oder die Tatsache, dass Frauen Uniformen wesentlich schlechter angepasst werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Männer mittels Kriegsrecht hat darüber hinaus verfestigt, dass es Frauen sind, die außerhalb der Armee die Last der Betreuung von Kindern und älteren Menschen tragen müssen. Um die tatsächliche Gleichstellung in der Armee zu gewährleisten, treten wir ein:

  • Für die Wähl- und Abwählbarkeit von Offizier:innen durch Soldat:innenräte sowie deren Kontrolle über Ausbildung und Waffen!

  • Für eine Kampagne innerhalb der Armee für Gleichstellung, aber auch gegen Nationalismus und Chauvinismus! Recht der Frauen auf gesonderte Treffen!

Zentral ist es darüber hinaus, dass Soldat:innen auch dafür argumentieren, den Krieg nur solange zu führen, wie er zur Selbstverteidigung dient, und beispielsweise gegen die Rückeroberung der Krim oder der Volksrepubliken auftreten. Vielmehr sollte die dort lebende Bevölkerung entscheiden, wo sie zukünftig leben und welchem Staat sie angehören möchte. Alles, was darüber hinausgeht, führt zu einer weiteren Verlängerung des Krieges, ohne seine tatsächliche Ursache zu bekämpfen.

Perspektiven

Die reaktionäre Invasion des russischen Imperialismus stellt bekanntlich nicht den einzigen Faktor im Krieg dar. Es wäre vielmehr verkürzt, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO auf internationaler Ebene selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklassen in Russland wie auch in den NATO-Staaten vor allem für den Kampf gegen die Kriegsziele ihrer eigenen Bourgeoisien gewonnen und mobilisiert werden müssen. Dort steht der Hauptfeind eindeutig im eigenen Land.

In der Ukraine ist die Lage differenzierter zu betrachten. Hier sind die Massen Opfer der russischen imperialistischen Invasion. Einerseits spielt der innerimperialistische Konflikt eine prägende Rolle, andererseits existiert auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, verteidigen müssen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

In der Ukraine bildet daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Invasion ein Element revolutionärer Politik, doch für den Fall des Rückzugs von russischen Truppen sollte klar sein, dass der Kampf danach weitergeht. Jedoch nicht mit dem Ziel, Vergeltung gegen Russland als Aggressor auszuüben, sondern in dem Wissen, dass NATO & Co. ihre Unterstützung nicht zugesagt haben, damit sie dann ebenfalls die Ukraine in Ruhe lassen, sondern sie als ausgebeutete Halbkolonie in ihren Machtbereich integrieren werden.

Neben stärkerer militärischer Präsenz ist es wahrscheinlich, dass westliche Firmen sich freuen, die ukrainische Infrastruktur wieder aufzubauen – auf dem Rücken der Bevölkerung vor Ort, die als billige Arbeitskräfte überausgebeutet werden kann. Die rechtlichen Grundlagen wurden ja bereits geschaffen. So ein Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn bereits im Hier und Jetzt Strukturen aufgebaut werden, die sich der prowestlichen und neoliberalen Politik Selenkyjs nicht unterordnen wollen, aber auch kein Interesse hegen, sich an Putins Regime zu verkaufen. In Regionen wie der Krim, Donezk oder Luhansk sollten Referenden durch die Bevölkerung organisiert werden – nicht durch irgendeine Großmacht.

Im Westen, in der EU und den USA muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet ein Nein zur jeder Aufrüstung, zu Waffenlieferungen und vor allem zu Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe. Hier gilt es, Solidarität und Widerstand aufzubauen, die die objektiven Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse unterstützen, und nicht mit den Machtinteressen der jeweils eigenen Regierung zu paktieren.




USA: Anstieg von Femiziden nach Verschärfung von Abtreibungsgesetzen

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 11, März 2023

Die Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, Grund- und Bürgerrechte im Zuge des Aufstiegs von Rechtspopulist:innen weltweit gehen weiter – und erste Folgen sind jetzt schon spürbar. Trotz der Abwahl von Donald Trump und der neuen Bundesregierung unter Joe Biden erleben wir in den USA einen enormen Angriff auf Frauenrechte.

Insbesondere reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen werden immer häufiger infrage gestellt. Damit wird Frauen der Zugang zu Beratung sowie Abtreibung im Falle ungewollter Schwangerschaften bewusst erschwert oder gleich gänzlich kriminalisiert, was neben finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken im Falle nun illegal durchgeführter Abbrüche weitere Auswirkungen mit sich führt: In den USA lässt sich bereits ein deutlicher Anstieg von Femiziden feststellen, insbesondere an schwangeren Frauen.

Hintergründe

Der Begriff Femizid (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag) benutzt. Die feministische Soziologin Diana Russell definiert Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann auf Grund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt auch die Tötung von Kindern mit ein. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer erleiden. Der Femizid stellt, noch vor der Vergewaltigung, die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau und eine extreme Form patriarchaler Gewalt dar.

Auch wenn Boulevardmedien mit reißerischen Schlagzeilen das Gegenteil suggerieren, so sind Femizide keine rein individuellen Tragödien. Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext zwar einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie [beim Feminizid, dem organisierten, massenhaften Femizid] eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung.

Die gesellschaftliche Dimension von Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, erfordert eine Betrachtung der Ursachen für die Zunahme dieser Gewalttaten.

Der von konservativen Richter:innen dominierte Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA hatte im Juni 2022 das fast 50 Jahre geltende Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aufgehoben. Dieses garantierte bisher das landesweite Grundrecht auf Abtreibung. Durch die Entscheidung des Supreme Court können Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nun einschränken oder gänzlich verbieten, was mehrere konservativ regierte bereits getan haben. Das Urteil wurde deshalb nicht nur in den USA von Abtreibungsgegner:innen als Sieg gefeiert.

Betroffen sind rund 40 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, die in US-Bundesstaaten leben, in denen Abtreibungen entweder bereits verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmefällen möglich sind bzw. in absehbarer Zeit verboten oder stark eingeschränkt werden.

Zunahme von Femizide an Schwangeren

Bereits Ende 2021, noch vor dem Urteil des Supreme Court und den darauffolgenden Restriktionen, gab es Bedenken bezüglich einer Zunahme von partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden als mögliche Folgen: „Einige Experten befürchten, dass die Einschränkung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch gefährdete Frauen noch mehr in Gefahr bringen könnte.“ So hatten Studien ohnehin belegt, dass partnerschaftliche Gewalt durch bzw. während Schwangerschaften zunimmt. Frauen war es oft nicht möglich, ihre Schwangerschaft fortzusetzen, und sie entschieden sich aufgrund häuslicher Gewalt zur Abtreibung. Die USA hatten demnach bereits eine sehr hohe Rate an Müttersterblichkeit: „Im Jahr 2018 kamen in den USA auf 100.000 Lebendgeburten 17 Müttersterblichkeitsfälle – mehr als doppelt so viele wie in den meisten anderen Ländern mit hohem Einkommen.“

Forscher:innen der Harvard School of Public Health kommen zu dem Ergebnis, dass es in den USA für Schwangere oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, wahrscheinlicher ist, ermordet zu werden, als durch schwangerschafts- oder geburtsbedingte Komplikationen zu sterben. Tötungsdelikte an Schwangeren sind somit häufiger als solche Todesfälle durch Bluthochdruck, Blutungen oder Sepsis, wie die Forscher:innen in einem Leitartikel beschreiben.

Die Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft ist in den USA ohnehin höher als in vergleichbaren Ländern. Die Gewalt endet oft tödlich und häufig sind Schusswaffen im Spiel. Eine weitere Studie der Tulane University bestätigt diesen Trend, wonach Tötungsdelikte eine der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren und Wöchnerinnen in den USA sind.

Die genannten Studien können durch Zahlen belegen, dass neben schwangeren Jugendlichen insbesondere schwarze Schwangere ein wesentlich höheres Risiko hatten, getötet zu werden, als weiße oder hispanische. Dies verwundert nicht, da schwarze Arbeiter:innen in den USA auch heute noch strukturell benachteiligt sind, schlechter bezahlte Jobs haben, oft in beengten Wohnsituationen leben und seltener krankenversichert sind. Die ökonomischen Bedingungen wirken sich daher für diese Bevölkerungsgruppe besonders negativ aus.

Ähnliche Entwicklungen konnten auch in Deutschland im Zuge der Lockdowns der Coronapandemie beobachtet werden, wo aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage und der erzwungenen Nähe auf engstem Raum partnerschaftliche Gewalt um ein Vielfaches zugenommen hat.

Somit war bereits vor den Verschärfungen und Verboten, die auf das Grundsatzurteil des Supreme Court in einigen US-Bundesstaaten folgten, die Ausgangslage für Schwangere alles andere als sicher. Gesetze, die den Zugang von Frauen zu Abtreibung einschränken, können sie weiter gefährden, da die Kontrolle über die reproduktiven Entscheidungen einer Frau oft eine Rolle bei Gewalt in der Partnerschaft spielt. Die Autor:innen der Studie der Harvard School of Public Health weisen explizit darauf hin, dass schwangerschaftsbedingte Tötungsdelikte vermeidbar sind, z. B. indem im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren gewaltgefährdete Frauen identifiziert und Hilfestellungen angeboten werden können.

Arbeiter:inneneinheitsfront für freie Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung

Doch wie kann, gemessen an diesen permanenten Angriffen und vielfältigen Problemen, eine erfolgreiche Pro-Choice-Bewegung aufgebaut werden? Statt nur auf Verschlechterungen zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Wir dürfen nicht auf den Staat vertrauen oder Illusionen in die Demokratische Partei hegen. Diese konnte bzw. wollte die derzeitigen Angriffe auf bestehende Frauenrechte nicht verhindern. Daher müssen wir unabhängig von ihr gegen den Abbau von Frauenrechten kämpfen. Dabei kommt es auf den Kampf als Klasse an, was bedeutet, dass er durch die Arbeiter:innenklasse geführt und von ihren Organisationen unterstützt werden muss.

Wir fordern daher die Gewerkschaften auf, für eine gemeinsame Kampagne zu mobilisieren. Betriebsräte könnten beispielsweise Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Themen und Fragen diskutiert werden. Darüber hinaus können Gewerkschaften mit Streik als Kampfmittel, anders als Einzelpersonen oder andere Gruppen, ökonomischen und politischen Druck auf Kapital und Regierung aufbauen.

Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks wäre es außerdem wichtig, Streik- und Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren, kollektive Erfahrungen ermöglichen und auf diese Weise auch zur Stärkung und Demokratisierung des gemeinsamen Kampfes beitragen. Ebenso sind Gewerkschaften personell und finanziell in der Lage, internationale Kooperation und Koordination zu gewährleisten, z. B. durch die Organisation zentraler, internationaler Aktionstage zum Thema Abtreibungsrechte und Selbstbestimmung. Dies ist wichtig, da die Unterdrückung nicht nur in einem Land existiert und zusammen mehr Druck aufgebaut werden kann.

Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einbindung von Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich bringt. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, organisieren sich nur wenige Arbeiter:innen in ihnen. Ebenso agieren Gewerkschaften häufig reformistisch und beschränken sich auf die Besitzstandswahrung im eigenen Interesse, anstatt Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Es existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, die ihren Frieden mit dem jetzigen System geschlossen und ihre Rolle selbst auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen reduziert hat. Revolutionäre Kommunist:innen müssen sich deshalb für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die sich der bürokratischen Spitze entgegenstellt, um die Gewerkschaften zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Des Weiteren rufen wir alle bestehenden Pro-Choice-Bündnisse und -Bewegungen aktiv dazu auf, auch weiterhin gegen den bestehenden Abbau von Frauenrechten zu kämpfen und den Protest erneut auf die Straße zu tragen. Lasst uns die bisher bestehenden Bündnisse und Mobilisierungen bündeln und einen gemeinsamen Aktionstag für den Kampf für Frauenrechte ausrufen!

Gegenwehr

Zur Verhinderung von Femiziden ist der Aufbau von Organen der Gegenmacht erforderlich. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern und rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international:

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Das Leben einer Frau muss immer über dem eines ungeborenen Fötus stehen!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Ausbau von Kitas und Kinder-/Jugendbetreuungsangeboten, um Eltern zu entlasten!

  • Für viel mehr finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung von insbesondere (jungen) Frauen und Alleinerziehenden und dafür, dass minderjährige Frauen mit einer Schwangerschaft nicht alle Chancen auf eine gute Zukunft verlieren!

  • Langfristig: Für die Kollektivierung der Kindererziehung in der Gesellschaft!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!

Ärzt:innen dürfen die Entscheidung zur Geburtshilfe (Entbindung) bei überlebensfähigen Föten treffen. Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!

Quellen:

Baumgarten, Reinhard (2022): Weitere Rechte auf der Kippe?, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/abtreibung-usa-supremecourt-101.html

Chang, Leila (2020): Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/pro-choice-selbstbestimmung/

Chang, Leila (2022): Our bodies, our choice, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/14/our-bodies-our-choice/

Der Standard (2005): USA: Mord als eine der häufigsten Todesursachen für Schwangere, online unter https://www.derstandard.at/story/1962393/usa-mord-als-eine-der-haeufigsten-todesursachen-fuer-schwangere

Frühling, Jonathan (2020): Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/femizide-frauenmorde-international/

Harvard School of Public Health (2022): Homicide leading cause of death for pregnant women in U.S., online unter https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/homicide-leading-cause-of-death-for-pregnant-women-in-u-s/

Insider (2021): Homicide is the leading cause of death for pregnant women in the United States, a new study found, online unter https://www.insider.com/pregnant-women-in-the-us-homicide-leading-cause-of-death-report-says-2021-12

National Institute of Child Health and Human Development (2022): Science Update: Pregnancy-associated homicides on the rise in the United States, suggests NICHD-funded study, online unter https://www.nichd.nih.gov/newsroom/news/091622-pregnancy-associated-homicide

Sanctuary for Families (2022): The Silent Epidemic of Femicide in the United States, online unter https://sanctuaryforfamilies.org/femicide-epidemic/

Suchanek, Martin (2022): Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/femizide-feminizide-und-kapitalistische-krise/

The Guardian (2022): Estimated 45,000 women and girls killed by family member in 2021, UN says, online unter https://www.theguardian.com/global-development/2022/nov/23/un-femicide-report-women-girls-data




Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Martin Suchanek, Infomail 1205, 28. November 2022

Seit über einer Woche, seit der Nacht vom 19. zum 20. November, greift die türkische Armee die kurdische Region Rojava an – aus der Luft mit Flugzeugen und Drohnen oder durch massiven Beschuss mit Haubitzen, Panzern und Mörsern. Zudem überfallen Söldnertruppen im Dienste der Türkei kurdische Siedlungen.

Allein die erste Angriffswelle auf die kurdische selbstverwaltete Region Rojava forderte Duzende Menschenleben – und die Zahl der toten Kämpfer:innen und Zivilist:innen steigt täglich. Dabei könnten die massiven Bombardements nur das Vorspiel zu einer Offensive mit Bodentruppen und faktischen Besetzung weiterer Teile der kurdischen Gebiete durch die Türkei abgeben.

Den Angriff hat das Erdogan-Regime schon lange angekündigt und geplant. Es stieß dabei jedoch nicht nur auf Auflehnung des reaktionären despotischen syrischen Regimes und des russischen Imperialismus, sondern auch der USA, die den Luftraum über Rojava faktisch kontrollieren.

Vorwand

Der Anschlag in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal, bei dem am 13. November 6 Personen getötet und 81 weitere verletzt worden waren, bot dem türkischen Regime eine willkommene Gelegenheit. Ohne jeden Beweis wurde die Verantwortung für die Morde der PKK und der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava in die Schuhe geschoben. Dabei haben die kurdischen Kräfte diesen reaktionären Anschlag rasch und deutlich verurteilt.

Es fragt sich darüber hinaus aber auch, warum sie ausgerechnet eine Aktion durchgeführt haben sollen, die politisch vom Erdogan-Regime ausgeschlachtet wird, die dem kurdischen Befreiungskampf nur schadet und nicht nützt. Wer sich die Frage nach dem Cui bono (lateinisch: Wem zum Vorteil?) ernsthaft stellt, wird wohl dort eher nach Antworten suchen müssen, wo die politischen Profiteur:innen des Anschlags sitzen.

In jedem Fall hat die türkische Regierung nicht lange gezögert. Seit dem 19./20. November sind tausende Raketen, Drohnen, Bomben, Artillerie- und Panzergeschosse auf Rojava niedergegangen bzw. überflogen dieses Territorium. Die USA und ihre Verbündeten – darunter auch die Bundesregierung – übernehmen weitgehend die Propagandalügen Erdogans. Im Namen des sog. „Kampfs gegen den Terrorismus“, und um den NATO-Verbündeten Türkei im Kampf um die Ukraine bei der Stange zu halten, überlassen die USA ihm faktisch den Luftraum. Russland und das Assad-Regime kritisieren das zwar, waschen aber ansonsten ihre Hände in Unschuld. Schließlich wollen auch sie die Vernichtung kurdischer Selbstverwaltung. Umso besser also, wenn Erdogan die Drecksarbeit erledigt. Schließlich sind Assad mit der Stabilisierung seiner Diktatur und Putin mit mörderischen Bombardements auf ukrainische Städte beschäftigt.

Darüber hinaus berichten einige arabische Medien über Verhandlungen zwischen der Türkei und Syrien. Diesen zufolge wäre Erdogan zur Einstellung der Angriffe bereit, wenn das Assad-Regime die Kontrolle über Rojava übernimmt. Ein solcher Deal würde für die Kurd:innen den Anfang vom Ende ihrer Autonomie bedeuten. Ebenso wenig wie kurdische Selbstbestimmung unter der Herrschaft des türkischen Nationalismus und der NATO-Mächte realisiert werden kann, kann es sie unter der Diktatur des Schlächters Assad geben.

In dieser Lage gibt der Westen der Türkei nicht nur freie Hand. Die NATO-Staaten Westeuropas und die Anwärter Schweden und Finnland schweigen nicht nur zu den verbrecherischen Angriffen der Armee auf Rojava, sie gehen auch gegen die kurdischen Organisationen in ihren Ländern vor. In Deutschland und der EU sind die PKK und andere kurdische Organisationen weiter als „terroristische Organisationen“ verboten. Schweden und Finnland bescheinigt Erdogan großzügig „Fortschritte“ bei der Bekämpfung kurdischer politischer Flüchtlinge, nachdem der neue Premierminister Ulf Kristersson (Moderate Sammlungspartei) Anfang November die Umsetzung der von Erdogan geforderten Voraussetzungen für die NATO-Mitgliedschaft zugesagt hat.

Angriff an mehreren Fronten

Die Angriffe auf das kurdische Volk wurden zudem nicht nur in Rojava forciert. Seit Mitte November geht das türkische Regime unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ praktisch täglich gegen die kurdische Bevölkerung, wirkliche oder vermeintliche Aktivist:innen im eigenen Land vor. So finden in zahlreichen Städten Hausdurchsuchungen und Razzien statt. Hunderte Menschen wurden festgenommen, weil sie angeblich Mitglieder der PKK seien. Mit brutaler Härte geht die Polizei außerdem gegen Demonstrationen vor, die sich mit den Kurd:innen in Rojava solidarisieren, das Ende der Angriffe und willkürlichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen fordern.

Die türkische Regierung und der Staatsapparat verschärfen ihren Krieg gegen das kurdische Volk, gegen dessen demokratische Rechte, betreiben faktisch Staatsterrorismus unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung.

Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk zum Ausdruck bringen. In der Türkei gehen regelmäßig Tausende trotz massiver Repression auf die Straße. In Deutschland fanden in mehreren Städten wie z. B. Berlin, Frankfurt/Main und Hannover Solidaritätsdemonstrationen statt. Weitere sind für die nächsten Tage geplant. Doch diese Solidarität darf sich nicht auf die Teilnahme der kurdisch-migrantischen Bevölkerung, ihre Organisationen und linke Aktivist:innen und Gruppierungen beschränken. Die Gewerkschaften, die Linkspartei müssen ebenfalls ihre Mitglieder und Anhänger:innen mobilisieren. Dasselbe gilt für alle Sozialdemokrat:innen und Grünen, die den Schießkurs „ihrer“ Regierung nicht teilen.

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!

  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen!

  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Ein halbes Jahr Ukraine-Krieg: Putins Endspiel?

Martin Suchanek, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die massiven Geländeverluste der russischen Armee im September 2022 haben Putin und sein Regime auf die Verliererstraße gebracht. Innerhalb weniger Wochen musste sie mindestens 6.000 Quadratkilometer im Osten und Süden des Landes räumen. Der rasche Vorstoß der ukrainischen Armee, die mancherorts geradezu panikartige Flucht der russischen Einheiten und die weitere militärische und finanzielle Unterstützung des Kiewer Regimes haben im Kreml die Alarmglocken schrillen lassen – und zugleich eine weitere Runde der Eskalation eröffnet.

Verkalkuliert

Schon heute steht fest: Putin hat sich bezüglich der Invasion gleich in mehrfacher Hinsicht verkalkuliert. Das Ziel, das Land selbst unter Kontrolle zu bringen, Kiew zu erobern und einen prorussischen Regimewechsel zu erzwingen, scheiterte innerhalb weniger Wochen am entschlossenen Widerstand der ukrainischen Armee, die seit 2014 vom Westen umstrukturiert und massiv aufgerüstet worden war. Der reaktionäre Angriffskrieg und die brutale Vertreibung von Millionen Menschen, der Mord an tausenden Zivilist:innen und die Zerstörung ziviler Infrastruktur trieb die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Besatzer:innen.

Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass die Invasionsstreitmacht Russlands schlecht vorbereitet war. Sie überdehnte ihre Nachschublinien, kam nur in den südlichen Landesteilen rasch voran, während der Tross vor Kiew langsam zermürbt wurde. Darüber hinaus erwies sich bald, dass die russischen Soldat:innen in den ersten Wochen oft aus jungen Rekrut:innen bestanden, die meist selbst nicht wussten, wofür und wo sie eigentlich eingesetzt wurden.

Kurzum, die russische Führung hatte die ukrainische Armee ebenso unter- wie die eigenen Truppen überschätzt.

Darüber hinaus verkalkulierte sie sich bezüglich der Reaktion des Westens. Dabei hatte die russische Regierung seit Jahren den USA, den anderen westlichen imperialistischen Mächten und ihren osteuropäischen Vasall:innen vorgeworfen, die NATO und ihre Einflusssphäre immer weiter gegen Russland auszudehnen und die Ukraine spätestens mit dem Maidanputsch in ihren Orbit gebracht zu haben. Durchaus zurecht warf der russische Imperialismus dem Westen vor, in die von ihm beanspruchten halbkolonialen Einflussgebiete in Georgien oder eben in der Ukraine vorzudringen.

Ganz zu Unrecht, wenn auch nicht anders als z. B. andere imperialistische Mächte in ihrem „Hinterhof“, leitete Putin daraus ab, dass nur ein militärischer Präventivschlag, also eine Invasion, das ökonomisch und politisch ansonsten Unvermeidliche abwenden könnte, nämlich die Westintegration der Ukraine. Und ganz zu Unrecht spekulierte das russische Regime darauf, dass die „verweichlichten“ USA und EU keine signifikante Hilfe leisten würden.

Ironischer Weise hat Putins Angriffskrieg, der zuerst noch als „antifaschistische Spezialoperation“ verharmlost wurde, all das beschleunigt. In jedem Fall aber unterschätzte er, dass der Westen der Ukraine mit massiven ökonomischen und militärischen Hilfen beispringen und seinerseits einen Wirtschaftskrieg mit einschneidenden Sanktionen gegen Russland starten würde. Hätte die russische Armee, wie deren politische Führung erhofft hatte, rasch einen Sieg errungen, wäre Putins zynisches Kalkül vielleicht aufgegangen.

So aber nahmen die westlichen imperialistischen Mächte den Fehdehandschuh auf. Dies kam nicht von ungefähr. Schon seit der sog. orangenen Revolution 2004 und vor allem seit dem Maidanputsch 2014 stand die Ukraine im Zentrum des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen den USA, der EU und Russland.

Der reaktionäre Krieg Russlands eröffnete die Möglichkeit, der eigenen Machtpolitik demokratische Legitimation, die eigenen Ziele wie Osterweiterung der NATO, Ausweitung von Rüstungsbudgets und Sanktionen gegen Russland als quasi uneigennützigen Akt der Unterstützung von Demokratie und Selbstbestimmung hinzustellen.

Vor allem aber bot die Widerstandskraft der Ukraine die Chance, dem russischen Rivalen eine schwere Niederlage zu bereiten – sei es militärisch in der Ukraine, vor allem aber politisch und ökonomisch.

Dafür nahmen und nehmen die westlichen Mächte auch massive eigene Schäden und eine Verschärfung der Weltwirtschaftskrise, Inflation, Engpässe bei Energie und Lebensmittelversorgung für zahlreiche Länder in Kauf. Für die USA bot sich zusätzlich die Gelegenheit, selbst die Führungsrolle im westlichen NATO-Lager, die unter Trump massiv in Frage gestellt worden war, wieder herzustellen. Die EU und deren Hauptmächte Deutschland und Frankreich werden für die nächste Zeit eine weltpolitisch betrachtet untergeordnete Rolle spielen . Darüber hinaus tragen sie auch die Hauptlast des wirtschaftlichen Bruchs mit Russland und der Sanktionen.

Unter Führung der USA setzte der Westen auf eine nachhaltige Schwächung Russlands – und darüber vermittelt auch auf eine geostrategische Chinas.

Der Krieg mag zwar enorme Kosten verursachen – eine spätere Konfrontation wäre jedoch angesichts des seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltenden, stetigen Niedergangs der US-Hegemonie und der Dauerkrise der EU womöglich noch viel teurer.

Die Ukraine wurde und wird daher mit Milliarden gestützt und militärisch aufgerüstet, weil sie einen Stellvertreterkrieg für den Westen führt, der letztlich den Kampf um die Selbstverteidigung des Landes überlagert, ja den Charakter des Konflikts prägt. Wie weit sie dabei militärisch letztlich gehen kann, hängt folgerichtig nicht vom eigenen Regime, sondern vom Westen, genauer von den USA ab.

Die Niederlagen der russischen Armee im September haben dabei auch die Möglichkeit oder jedenfalls Drohung eines militärischen Sieges der Ukraine aufgeworfen.

Die Logik hinter der Eskalation

In jedem Fall haben sie den Kreml in Alarm versetzt. Von einer „Spezialoperation“ sprechen Putin und seine engsten Gefolgsleute schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: Der Krieg wird nun als solcher mit dem Westen, um die Weltordnung benannt. Außenminister Lawrow sieht das Land von Feinden umkreist, die Russland, seine Nation, seine Kultur, vor allem aber seine Stellung in der Welt zerstören wollen. Die Existenz einer ukrainischen Nation und deren Selbstbestimmungsrecht werden geleugnet und von Putin als bolschewistische Konstruktion „entlarvt“. Lassen wir den russisch-nationalistischen und völkischen Plunder beiseite, so tritt dahinter hervor, dass es um die Neuaufteilung der Welt geht. Und die will Russland zu seinen Gunsten verändern, auch wenn es dabei im Moment ziemlich schlechte Karten in der Hand hält.

Der Überfall auf die Ukraine erweist sich dabei schon jetzt als politisches Abenteuer, in das sich der Kreml nur noch tiefer zu verstricken droht. Um die Lage zu wenden, wird sie verschärft.

In den vier von Russland kontrollierten ukrainischen Verwaltungsbezirken Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson wurden Ende September Referenden über den Beitritt zu Russland durchgeführt. Im Land selbst ordnet das Regime eine Teilmobilmobilisierung von 300.000 Reservist:innen an.

Die Referenden im Donbass (Donezbecken) und im Südosten des Landes stellen dabei eine krude Mischung aus Symbolpolitik und Annexion dar. Die Symbolpolitik besteht darin, dass sich der russische Staat mit einer pseudodemokratischen Farce ein bisschen Legitimität für seine Eroberungen beim russischen Publikum erkaufen will. Mit der inszenierten Zustimmung von 90 – 100 %, die nach der Vertreibung Hunderttausender v. a. aus Saporischschja und Cherson mit vorgehaltenen Maschinengewehren erzwungen wird, mag vielleicht notdürftig ein nationaler Erfolg in Russland präsentiert werden. Ob dieser über die nationalistische Fangemeinde hinaus auf viel Zustimmung stößt, mag angesichts des massiven Unmuts über die Teilmobilmachung zur Verteidigung des neuen Staatsgebietes bezweifelt werden.

Mögen viele auch den Sieg und die Stärke Russlands wollen, so möchten sie dafür nicht mit ihrem Leben bezahlen. Die Teilmobilmachung hat dazu geführt, dass Zehntausende fluchtartig das Land in Richtung Georgien, Kasachstan oder Westen verlassen, weil sie für Putins Krieg verständlicherweise nicht krepieren wollen. Trotz der massiven Repression, trotz Prügelpolizei und tausender Verhaftungen hat allein schon die Ankündigung der Teilmobilmachung die größte Oppositionsbewegung seit dem Angriff entfacht.

Die Macht des scheinbar allmächtigen Putin gerät ins Wanken. Der reaktionäre Krieg mag populär oder wenigstens geduldet sein, solange er den Sieg verspricht. Doch worin soll der bestehen, zumal für die russische Bevölkerung? Zehntausende russische Soldat:innen sind für Nation und Weltmachtstellung draufgegangen, zehntausenden Reservist:innen droht bei einem möglichen lang anhaltenden Stellungskrieg gegen eine stärker werdende ukrainische Armee dasselbe.

Militärisch kann die russische Armee allenfalls noch halten, was sie am Beginn der Invasion erobert hat. Die gefakten Referenden erlauben dabei allenfalls die Legitimation des Krieges als Verteidigung des erweiterten „Vaterlandes“ und umso drastischere Drohgebärden gegenüber der Ukraine und der Welt, bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen zur vaterländischen Verteidigung.

Wirtschaftlich befindet sich Russland in einer tiefen Rezession. Dabei hat das Land schon in den letzten zehn Jahren gegenüber seinen imperialistischen Konkurrent:innen an Boden verloren. Die hohen Öl- und Gaspreise halten zwar den Staatshaushalt über Wasser, aber bedeutende Teile der industriellen Produktion stehen still oder arbeiten mit geringer Kapazitätsauslastung. Das BIP schrumpft seit dem 2. Quartal 2022 massiv und dürfte im Jahresdurchschnitt um mindestens 6 % einbrechen. Jedenfalls in dieser Hinsicht wirken die westlichen Sanktionen, die die Bevölkerung mit Einkommensverlusten und Knappheit an Konsumgütern zu tragen hat. Hinzu kommt, dass selbst ein Kriegsende keineswegs einen Stopp der Sanktionen und wirtschaftlichen Isolierung bedeuten würde.

Geostrategisch wird Russland ebenfalls geschwächt werden, selbst wenn es, was selbst überaus fraglich ist, alle vier annektierte Verwaltungsbezirke und die Krim halten und in den russischen Staatsverband einverleiben sollte. Schon jetzt hat sich Russland als unfähig erwiesen, in dem von ihm kontrollierten halbkolonialen Umfeld seine Ordnung durchzusetzen. Nicht nur in der Ukraine, auch im Kaukasus drohen Russland, wie der jüngste Ausbruch des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan zeigt, die Felle davonzuschwimmen. Natürlich versucht Russland, in Syrien oder Mali weiter seine Positionen zu halten, aber eine Niederlage in der Ukraine würde weltweit den russischen Imperialismus schwächen, gerade weil er auf ökonomischem Gebiet nicht viel zu bieten hat.

Während Russland seinen Einfluss in der Westukraine und Osteuropa vollständig an den Westen verloren hat, weitet der Verbündete China aufgrund seiner enormen ökonomischen Überlegenheit seinen Einfluss in den noch von Russland kontrollierten asiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan aus. Doch dieser Entwicklung muss der Kreml mehr oder weniger tatenlos zusehen, weil der Krieg Russland von China viel abhängiger gemacht hat als zuvor – und sollte das Regime Putin den Krieg überdauern, so wird dies umso größer werden.

Schwächstes Glied

In der imperialistischen Kette entpuppt sich Russland nicht nur als das zurzeit aggressivste, sondern auch schwächste Glied. Wie angeschlagene Boxer:innen einen Befreiungsschlag versuchen, so legt der russische Imperialismus seine Reserven in die Waagschale. Zweifellos verfügt das Land noch über weitere militärische Ressourcen.

Doch was nützt eine riesige Armee, was nützen riesige Reservist:innenzahlen, wenn die Menschen nicht in den Krieg ziehen wollen, wenn sie die Flucht aus dem Land oder gar den Widerstand vorziehen? Teilweise bewusst, teilweise instinktiv, teilweise aus dem „egoistischen“ Motiv, nicht sterben und morden zu wollen, verweigern größer werdende Teile der Bevölkerung den Waffengang.

Die „Pannen“ bei der Mobilisierung verschärfen den Unmut und die Angst, dass es wirklich jede/n treffen kann. Zugleich scheint sich auch das Regime bewusst zu sein, dass sich die Kriegsbegeisterung trotz medialer Indoktrination in Grenzen hält. Daher sollen die Reservist:innen auch nicht aus städtischen Zentren wie Moskau oder St. Petersburg rekrutiert werden, sondern vor allem aus Regionen wie Jakutien (Sacha; Nordostsibirien) oder Dagestan (Nordkaukasus). Das Kanonenfutter für die „russische Nation“ sollen vorzugsweise Angehörige nationaler Minderheiten liefern.

Auch das bringt den zutiefst reaktionären Charakter des Krieges auf Seiten Russlands und die von den Interessen des Finanzkapitals und der imperialistischen Weltmachtstellung diktierten Kriegsziele zum Ausdruck.

Mittlerweile flohen rund 250.000 Menschen vor der möglichen Einberufung vor allem nach Kasachstan und Georgien, aber auch nach Finnland, wobei andere europäische Länder diesen Menschen die Einreise verweigern. Darauf wird Russland wohl mit Ausreiseverboten und verschärften Grenzkontrollen reagieren.

Noch bedrohlicher könnte es für Putin werden, wenn sich der Widerstand gegen die Teilmobilmachung ausweitet, landesweit organisiert und mit der explosiven sozialen Frage verbindet. Während die Reservist:innen als Kanonenfutter ihren Kopf für ein Vaterland hinhalten sollen, das von einer kleinen oligarchischen und bürokratischen Elite mit dem Despoten Putin an der Spitze kontrolliert wird, verarmen die Arbeiter:innen in Stadt und Land, verlieren ihre Jobs, ihr Einkommen und, wenn es besonders dumm läuft, ihr Leben.

Schließlich ist schon jetzt absehbar, dass auch die aktuelle Teilmobilisierung nicht ausreichen wird. Hinzu kommt, dass sie auch die Stimmung an der Front nicht gerade hebt, besteht doch ein Effekt der Teilmobilisierung darin, dass jene kriegsmüden Soldat:innen in der Ukraine, deren Zeitverträge ablaufen, weiter an der Front bleiben müssen.

In dieser Situation muss sich die internationale Arbeiter:innenbewegung ohne Wenn und Aber mit den Protesten in Russland solidarisieren und die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern. Auch wenn wir dafür eintreten, dass Oppositionelle in Russland gegen das Regime in den Betrieben oder auch in der Armee politisch kämpfen, so fordern wir von den westlichen Regierungen die Öffnung der Grenzen für alle, die aus dem Reich Zar Putins fliehen wollen.

Wir lehnen die Pseudoreferenden in der Ukraine kategorisch ab, die nur eine Eroberung unter russischen Panzern und Maschinengewehren rechtfertigen sollen. Wir verteidigen das Selbstbestimmungs- und Existenzrecht der Ukraine ebenso wie das Recht der Donbassregion und anderer Bezirke, selbst darüber zu entscheiden, ob sie eigene Staaten bilden, Russland oder der Ukraine angehören wollen. Aber Referenden auf Basis von Vertreibung und Besatzung können nur eine Farce sein. Sie diskreditieren das Recht der russischen und russischsprachigen Minderheit in der Ukraine auf Selbstbestimmung, statt ihm zu helfen. In der Ukraine müssen Revolutionär:innen jedoch dafür eintreten, dass über das Schicksal der Krim und Donbassregion weder Russland noch die ukrainischen Nationalist:innen, sondern die dort lebende Bevölkerung entscheiden muss.

Eine solche freie Entscheidung setzt jedoch das Ende der Besatzung voraus und zugleich eine entschiedene Opposition gegen den ukrainischen Nationalismus und seine westlichen Geld- und Taktgeber:innen.

Im Westen, in der EU und den USA, muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet Kampf gegen Waffenlieferungen und vor allem Sanktionen, gegen den Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und Ressourcen.

Konkret findet dieser Kampf heute auf dem Boden der Mobilisierung gegen die Preissteigerungen, Kosten des Krieges und der Krise statt.

Konkret muss er aber auch die Solidarisierung mit der russischen Protestbewegung in den Vordergrund rücken. In Russland kann in den nächsten Monaten eine Bewegung entstehen, die das Regime Putin selbst von unten erschüttern, ja stürzen kann. Eine solche Entwicklung wird angesichts der zunehmend schwierigen Lage des russischen Imperialismus und eines drohenden Fiaskos in der Ukraine sogar wahrscheinlicher. Es ist dabei durchaus möglich, dass die Stützen des Regimes einem Sturz Putins zuvorkommen wollen und eine/n „moderatere/n“ Bonapart:in an seine Stelle setzen wollen. Auch darum wird es von entscheidender Bedeutung sein, sich mit der Protestbewegung in Russland zu solidarisieren und für den Aufbau einer politischen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei zu kämpfen.