SDAJ-Konferenz: Kein Schritt zur Antikriegsbewegung

Jonathan Frühling, REVOLUTION, ursprünglich veröffentlicht auf http://onesolutionrevolution.de/,Infomail 1185, 25. April 2022

Am Samstag, den 23. April 2022, lud ein von der SDAJ geführtes Bündnis, bestehend aus u. a. DIDF, [‚solid], ver.di Jugend, GEW Jugend und Naturfreundejugend zu einer Antikriegskonferenz von Jugendlichen ein. Revolution beteiligte sich mit Genoss_Innen aus verschiedenen Städte daran, auch wenn wir – wie eine Reihe anderer linker Gruppen – nicht in die Vorbereitung involviert worden waren.

Da die SDAJ ihre gesamte Mitgliedschaft mobilisierte, waren ca. 250 Leute anwesend, was sehr beachtlich war. Insgesamt begrüßen wir diesen Vorstoß und haben uns deshalb gerne daran beteiligt. Allerdings hat die Konferenz am Ende mehr den desaströsen Opportunismus der SDAJ zur Schau gestellt, als dass sie die Antikriegsbewegung praktisch oder theoretisch vorangebracht hätte.

Expert:innenvorträge und Workshops

Zu Beginn gab es sogenannte „Expert:innenvorträge“ z. B. von der LINKEN und einem ehemaligen IG Metall-Vorstandsmitglied. Das war zwar zum Teil interessant, allerdings konnten uns diese Leute mit ihrem lauwarmen Reformismus keine Antworten auf Krieg, Aufrüstung und imperialistische Unterdrückung liefern. Es schloss sich eine Workshopphase an, in der relativ frei diskutiert werden konnte. Allerdings war auch hier der Fokus vor allem auf Deutschland gerichtet. Dort brachten unsere Genoss_Innen ein, dass wir uns unbedingt zur NATO und zum Krieg in der Ukraine positionieren müssen, was von der SDAJ kategorisch zurückgewiesen wurde. Am Ende kam eine Frau aus dem Vorstand der SDAJ sogar auf uns zu und hat gesagt, es wäre unsolidarisch, wenn wir das vor dem großen Podium ansprechen würden, weil sich ja die Organisator_Innen im Vorfeld schon geeinigt hatten, dazu zu schweigen!

Die Resolution

Zum Schluss wurde eine Resolution verabschiedet. Sie war allerdings politisch extrem schwach. Es gab KEINE (!) Einschätzung der aktuellen (Welt-)Lage, sondern nur ein paar antimilitaristische Forderungen. Diese sind zwar unterstützenswert, aber fokussieren sich nur auf Deutschland. Zudem reichen sie nicht dazu aus, einer Antikriegsbewegung der Jugend Handlungsorientierung zu geben, zumal sie sich um alle internationalen Fragen drücken. Folgende Worte fanden überhaupt keine Erwähnung: Arbeiter_Innenklasse, Gewerkschaft, Streik, NATO, Russland, (Anti-)Kapitalismus, Imperialismus. Das alleine sollte Beweis genug dafür sein, wie unzureichend die Resolution ist.

Aufgrund unserer Intervention in der Workshopphase fühlte sich der Vorstand der SDAJ dazu genötigt, vor der Diskussion zur Resolution anzukündigen, dass man bitte nichts zu dem Ukrainekrieg sagen soll! Es gebe dazu keine Einigung unter den Gruppen und deshalb hätten die Organisator:innen im Vorfeld beschlossen, die Frage auszuklammern! Als von uns und der MLPD-Jugendorganisation Rebell Anträge zu den Themen imperialistische Aggression, NATO und einem Bezug zur Arbeiter:innenklasse eingebracht wurden, wurde einem unserer Genoss:innen sogar kurzzeitig das Mikrophon aus der Hand gerissen! Die Anträge wurden dann von der Protokollantin zum Teil gar nicht notiert oder mit der Begründung „Es hat ja jemand dagegen gesprochen“ einfach nicht in die Resolution aufgenommen. Eine demokratische Abstimmung zu den gestellten Anträgen fand einfach nicht statt! Diese bürokratische Vorgehensweise war wirklich eine Schande. Da das beschämende Verhalten der SDAJ-Führung offen vor dem gesamten Plenum passiert ist, bleibt zu hoffen, dass das nicht nur uns übel aufgestoßen ist.

Auch praktisch sah es nicht rosiger aus. Die beachtliche Größe dieser Konferenz wurde nicht dazu genutzt, Aktionen wie z. B. dezentrale Aktionen an dem Tag, an dem im Bundestag über den 100-Mrd.-Sonderetat der Bundeswehr abgestimmt wird, zu planen. Stattdessen blieb es bei einem folgenlosen „Beteiligt euch an Aktionen zum 8. Mai (Tag der Befreiung) und zum 1. September (Antikriegstag)!“

Die Tatsache, dass für dieses zentrale Papier nur 20 Minuten für Diskussion, Anträge und Abstimmung geplant waren, zeigt, dass ein demokratischer Prozess zur Erstellung einer Resolution von Anfang an nicht gewünscht war.

Fazit

Die Konferenz hätte dazu genutzt werden können, um die drängenden Fragen zum Thema Krieg und Frieden unserer Zeit zu diskutieren. Es ist so wichtig, dass wir unsere Analysen und Forderungen austauschen und diskutieren. Nur wenn wir verstehen, was gerade passiert und wieso, können wir programmatische Antworten finden und um dieses Programm eine schlagkräftige Bewegung formieren.

Das Argument, dass man alle strittigen Punkte ausklammert und z. B. nicht die NATO kritisiert, damit ver.di die Resolution unterstützt, ist feiger Opportunismus und blockiert den Aufbau einer kämpferischen Antikriegsbewegung. Wie sollen wir die Millionen Gewerkschaftsmitglieder und Jugendlichen von unseren Positionen überzeugen, wenn wir sie ihnen nicht mitteilen und einladen, darüber zu diskutieren?

Leider bleibt zu sagen, dass die Konferenz keinen Schritt in Richtung einer Jugendbewegung gegen Krieg setzte. Am Ende sind wir alle nach Hause gefahren und konnten uns nicht einmal denken: „Schön, dass wir mal drüber geredet haben.“ Denn selbst das war von den Organisator_Innen nicht gewünscht.




[’solid] Berlin: Was tun mit dem ersten Schritt nach Links?

Lukas Resch, REVOLUTION, Infomail 1174, 21. Dezember 2021

Ein Beschluss gegen den RGR-Koalitionsvertrag, ein Antizionist im LandessprecherInnenrat (LSPR) und ein „Nein zur EU der Banken und Konzerne“, ein klares Bekenntnis zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“: Diese und weitere Entwicklungen in [’solid] Berlin sorgen seit der letzten Wahl für Aufsehen, bis in die bürgerlichsten Teile der Presse hinein. Einige Reaktionen aus der eigenen Organisation und der Mutterpartei lassen es scheinen, als hätte man das rote Berlin ausgerufen. Von ewig gestrigen StalinistInnen ist die Rede, öffentliche Hetzkampagnen gegen eigene Mitglieder lassen nicht lang auf sich warten. Was ist los in [’solid] Berlin?

The way so far …

Spricht man mit Mitgliedern, zeigt sich ein positiv gestimmtes Bild: Bei der Wahl zum LSPR schafften es die linkeren Basisorganisationen, diesen gemeinsam mit einigen neuen und vielversprechenden Gesichtern zu besetzen. Auch auf der letzten Landesvollversammlung zeichnete sich ein deutlich linkeres Bild ab als in der Vergangenheit. Unter anderem wurde beschlossen:

Eine Aufforderung an die Linkspartei Berlin, die Koalitionsverhandlungen abzubrechen, und an die Mitglieder, gegen den Vertrag und die Koalition mit den Grünen und der SPD zu stimmen; ein Beschluss gegen die alleinige Zusammenarbeit mit Jusos und grüner Jugend, um nicht als RGR-Jugend zu erscheinen. Eine Zusammenarbeit in größeren Bündnissen wird damit nicht ausgeschlossen.

Dies stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, auch wenn es weiter notwendig sein wird, die Jusos als die Massenjugendorganisation einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei (1) zu gemeinsamen Mobilisierungen aufzufordern. Diese Notwendigkeit stellt sich auch bezüglich der Grünen Jugend, die trotz ihrer ökobürgerlichen Mutterpartei über eine Verankerung in der Umweltbewegung verfügt.

Eine Einschätzung der „EU der Banken und Konzerne“, die ersetzt werden soll durch „die Vereinigung europäischer Staaten“ (auch wenn unklar ist, wie diese  erreicht werden und wie sie aussehen soll), suggeriert immerhin einen „Bruch mit der EU“ (wobei aufgepasst werden muss, dass nicht einfach für einen „linken“ Austritt Deutschlands aus der EU eingetreten wird, sondern für eine sozialistische Vereinigung Europas).

Trotz allem: eine willkommene Entwicklung, die einige Mitglieder von [’solid] bereits von einem Linksrutsch sprechen lässt. Diese Entwicklungen sind, immerhin, ein frischer Wind, erst recht nach der zerschmetternden Wahlniederlage der Linkspartei bei der Bundestagswahl.

Grenzen

Deswegen wollen wir die Situation nutzen, um uns zu positionieren und zur Diskussion über das weitere Vorgehen etwas beizutragen.

Die neue Zusammenstellung des LSPR ist sicher ein Schritt nach vorne, auch wenn dieser noch in der kommenden Zeit beweisen muss, ob der radikale Ruf der ihm vorauseilt, auch entsprechende Taten mit sich bringt.

Die Ergebnisse der Landesvollversammlung sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Man stellt sich entschieden gegen die Ausrichtung der Berliner Linkspartei und erhebt den Anspruch, eine eigene, sozialistische Perspektive dagegenzuhalten.

Der erste Dämpfer ist da natürlich, die Abstimmung gegen die RGR-Koalition verloren zu haben. Von den 50 % der teilnehmenden Linksparteimitglieder haben 75 % für diese gestimmt.

Wie geht es jetzt also weiter für alle, die sich eine linkere, antikapitalistische Politik und Linkspartei wünschen und dafür im Jugendverband kämpfen?

Wir wollen uns auf zwei Punkte konzentrieren: die Grenzen, an die revolutionäre Jugendliche in der Linkspartei und [’solid] stoßen, und die Taktik, mit der sie kämpfen können.

Zunächst das Ernüchternde: Das, was in [’solid] Berlin passiert – ebenso die gewisse Bewegung in der Basis der Linkspartei –, stehen einer bundesweit gegenläufigen Tendenz gegenüber. Real sind die Linkspartei und ihr Jugendverband in den letzten Jahren nach rechts gegangen. Auch wenn sich in den letzten Wochen eine linke Opposition in Berlin gebildet hat und im Landesverband Nordrhein-Westfalen nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahlen ein linker Landesvorsitzender gewählt wurde, so ändert das noch nicht das Gesamtbild. Ramelows Regierungspolitik stellt keine Ausnahme dar. Für alle Landesregierungen mit LINKE-Beteiligung gilt: Mitgehangen, mitgefangen – mit kapitalistischer Realpolitik. Und das gilt auch für Berlin.

Das ist auch kein Zufall oder einfach eine Schwäche gegenüber der größeren SPD, sondern das Interesse der Linksparteiführung . Sie betreibt reformistische Politik, die immer nur den Kompromiss mit dem Kapitalismus sucht, mit dem Leute wie Klaus Lederer an sich ganz gut leben können. Daher ist es für ihn auch kein Problem gewesen, DWe fallen zu lassen.

An die Grenzen dieses Führungsapparates werden alle RevolutionärInnen, die gern eine andere Linkspartei und ein antikapitalistisches [’solid] hätten, irgendwann stoßen, solange dieser Apparat die Partei und ihre Strukturen kontrolliert – so, dass der Apparat die Kontrolle gut behalten kann. Das muss sich auch in [’solid] niederschlagen, und wenn es der Geldhahn ist, an dem die Mutter vielleicht mal dreht.

 … and the way ahead

Ohne über diese Grenzen Gedanken anzustellen, wird jeder Versuch, [’solid] revolutionär umzugestalten, in blindem Aktivismus und Selbstverbrauch oder aber Anpassung an den erwähnten Apparat enden. Unserer Meinung nach sollte sich daher jede//r klar machen, dass es bei der Konfrontation mit der reformistischen Mehrheit und dem Apparat um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht. Letztlich vertritt der Reformismus nicht den Klassenstandpunkt der Lohnabhängigen, sondern ordnet vielmehr deren Interessen jenen der herrschenden Klasse unter.

Trotzdem kann sich das Ringen mit dem Apparat lohnen und unzufriedene Jugendliche in (und außerhalb von) [‚solid] um revolutionäre oder wenigstens eine alternative Politik zu RGR sammeln. Dazu sollten die vorhandenen Ansätze der letzten Wochen vertieft werden. Konkret sollten sich alle Jugendlichen zu einer Opposition organisieren – einer Fraktion.

Die angepeilte Taktik, um die eigene Mutterorganisation mittels einer digitalen Kampagne wieder auf die eigenen Werte zu besinnen, begleitet von Veranstaltungen, kann das nur begrenzt leisten, ist sie doch dazu verurteilt, vor allem einen Nachhall im eigenen Kreis hervorzurufen.

Darüber hinaus braucht es ein Sammeln um Aktionen wie Demonstrationen bis hin zu Streiks in Schule und Betrieb und mehr – wenigstens braucht es jetzt die Debatte darum. Und für sich alleine bringen solche Aktionen auch noch nichts. Es sollte sich auf einige Forderungen verständigt werden, die für Jugendliche gerade akut sind, um die mobilisiert werden kann und mit denen auch andere – Jusos, Grüne Jugend, Gewerkschaftsjugendliche, DWe usw. angesprochen werden können. Beispiele?

  • Sofortige Umsetzung des DWe-Volksentscheids! Gerade Jugendliche können sich das Wohnen ohne (reiche) Eltern nicht leisten! Dazu braucht es eine Massenbewegung und die Unterstützung der Gewerkschaften und MieterInnenverbände, um die Vergesellschaftung durch politische Streiks und Mietboykotts durchzusetzen!
  • Für eine echte Verkehrswende in Berlin – keine S-Bahn-Zerschlagung, dafür massive Einschränkung des Straßenverkehrs, Ausbau von S-Bahn und Tram, kostenloser ÖPNV!
  • Für die Kontrolle über coronabedingte Schulöffnungen und -schließungen durch demokratische Komitees der SchülerInnen und LehrerInnen selbst!

Das sind nur mal drei Beispiele. Der Kampf um solche Forderungen ist einer gegen die RGR-Regierung, und damit gegen Lederer und Co! Völlig richtig ist deshalb, dass [’solid] am kommenden Dienstag zu Protesten gegen RGR aufruft.

Aber es sind die nächsten Monate, die durchscheinen lassen werden, ob die gewisse Dynamik in [’solid] (und Linkspartei) nach links weitergetrieben werden kann oder im Treibsand reformistischer Realpolitik ausgebremst wird. Denn trotz aller positiven Berliner Entwicklungen der letzten Monate im Windschatten der Wahlen – DWe, Krankenhausstreik oder eben auch ein gewisser Linksdrall in DIE LINKE – gegen die Regierung zu kämpfen wird eine andere Nummer, in der das Überwinden der defensiven Position mit davon abhängen wird, ob sich revolutionäre, antikapitalistische Kräfte sammeln können und in [’solid], Jusos usw. reinwirken können.

Daher sollten sich AntikapitalistInnen ernsthaft überlegen, inwieweit sie in ihrem Kampf auf die LINKE setzen wollen, die die nächsten fünf Jahre Verrat schon ab Tag 1 beginnt, oder ob ein revolutionärer Bruch mit der Partei sinnvoller ist. Früher oder später wird dieser unserer Meinung nach unausweichlich. So oder so sind wir für die Debatte mit Euch offen.

Übrigens: Vor sieben Jahren hat die Jugendorganisation REVOLUTION eine umfassende Broschüre rausgebracht, die [’solid] kritisch beleuchtete und RevolutionärInnen im Jugendverband einen Handlungsvorschlag zur Sammlung ihrer Kräfte machte … immer noch aktuell: http://onesolutionrevolution.de/wp-content/uploads/2011/04/Solid-Polemik_Lukas_Müller_2014.pdf

Endnote

(1) Unter einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verstehen wir eine bürgerliche Partei, die sich jedoch über historische Verbindungen, über Gewerkschaften, proletarische Mitgliedschaft und WählerInnen auf die Klasse der Lohnabhängigen stützt, mit dieser organisch verbunden ist.




Stoppt den Putsch im Sudan!

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1168, 26. Oktober 2021

Am Morgen des 25. Oktober kam es in Khartum zu einem Staatsstreich. General Abdel Fattah Abdelrahman Burhan, Vorsitzender des Souveränen Rates, der die Macht zwischen Militär und ZivilistInnen teilt, kündigte die Verhaftung von Premierminister Abdalla Hamdok und seines Kabinetts an. Hamdok, ein Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger hoher UN-Beamter, der 2019 zum technokratischen Premierminister ernannt wurde, befindet sich derzeit an einem unbekannten Ort, nachdem er sich geweigert hatte, den Putschversuch zu unterstützen.

Widerstand

Tausende von DemonstrantInnen gingen sofort auf die Straße, wie bei der Revolution 2019. Sie marschierten, um das Hauptquartier des Militärs in der Hauptstadt zu belagern, wurden aber von den SoldatInnen unter Beschuss genommen. Zur Speerspitze der Konterrevolution gehören die Truppen der Rapid Support Forces (Schnelle Unterstützungskräfte; RSF), einer Einheit, die aus den Milizen hervorgegangen ist, die während des Krieges in Darfur und später während der Revolution 2019 mörderische Verbrechen verübt haben.

Unterdessen rief die Sudanese Professionals Association (Sudanesische Vereinigung der professionellen Berufe; SPA), eine der HauptorganisatorInnen der Revolution 2019, zum Widerstand auf:

„Wir rufen die Massen auf, auf die Straße zu gehen und sie zu besetzen, alle Straßen mit Barrikaden zu sperren, einen allgemeinen Arbeitsstreik durchzuführen und nicht mit den Putschisten zu kooperieren und ihnen mit zivilem Ungehorsam entgegenzutreten.“

Auch die Sudanesische Kommunistische Partei rief die ArbeiterInnen zum Streik und zum massenhaften zivilen Ungehorsam gegen den Putsch auf. Die KP hatte seit einem gescheiterten Putsch am 21. September vor der drohenden Gefahr gewarnt, als sie erklärte: „Wir brauchen ernsthaftere Maßnahmen, um die Säulen des früheren Regimes zu beseitigen, insbesondere in den Streitkräften, dem Sicherheitsdienst und der Polizei.“

Bei dieser Gelegenheit eilten Hemeti (Mohammed Hamdan Dagalo; Vizechef des Militärrates und Oberbefehlshaber der RSF) und Abdel Fattah Burhan in die Kasernen, die damit beschäftigt waren, den Putsch zu unterdrücken, und letzterer beruhigte die Soldaten: „Die Streitkräfte führen den Wandel an und bringen ihn dorthin, wo sie wollen“. Jetzt wissen wir genau, wohin sie wollen.

Die Machtübernahme durch das Militär erfolgte nach einem Putschversuch im September und einer Blockade der Häfen des Landes am Roten Meer, die von Kräften geschürt wurde, die der ehemaligen Diktatur von Umar al-Baschir treu ergeben sind.

Darüber hinaus hatten in den letzten Wochen knüppelschwingende Banden von AnhängerInnen des früheren Regimes mobilisiert und LoyalistInnen unter dem Schutz des Militärs zu einem Sitzstreik aufgerufen, bei dem sie offen einen Staatsstreich forderten. Diese wurden von Zehntausenden von DemonstrantInnen beantwortet, die das Primat ziviler Herrschaft verteidigen wollen, was von der Polizei mit Gewalt beantwortet wurde.

Es ist wahrscheinlich, dass die ominösen Ereignisse der letzten Wochen eine Vorbereitung der Generäle und konterrevolutionären Rebellen auf einen Staatsstreich darstellten. Gleichzeitig geriet die amtierende Regierung unter zunehmenden Druck der Bevölkerung, Schritte in Richtung einer stärkeren zivilen Kontrolle zu unternehmen, verbunden mit Frustrationen über die wirtschaftliche und soziale Leistung des Regimes.

In den Städten kam es zu einer zunehmenden Lebensmittelknappheit, die durch die Zustimmung der Hamdok-Regierung zu Preiserhöhungen bei Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern, die der IWF als Bedingung für einen Schuldenerlass für den Sudan gestellt hatte, noch verstärkt wurde und zu einer galoppierenden Inflation führte. Aus Angst vor einer fortschrittlichen Lösung der gegenwärtigen Krise durch eine Welle sozialer Mobilisierungen haben sich die Militärs offenbar zum Handeln entschlossen.

Inzwischen haben die EU und die USA den Putsch verurteilt und sich für die Demokratie ausgesprochen. Aber es waren Institutionen unter ihrer Kontrolle, die zu dieser Situation beigetragen haben, sei es durch die Finanzierung der schnellen Eingreiftruppen im Rahmen des Khartum-Prozesses der EU, der darauf abzielt, Flüchtlinge zu stoppen, oder durch die Wirtschaftspolitik des IWF.

Dies zeigt die Gefahr der imperialistischen Mächte als Verbündete im Streben nach Demokratie. Ihre Demokratie fordert immer einen hohen Preis von den ArbeiterInnen und Armen. Ein Drittel der Bevölkerung leidet bereits unter schwerer Nahrungsmittelknappheit. Da die Regierung in ihrem Sinne gehandelt hat, haben die USA und die EU den Staatsstreich in diesem Fall scharf verurteilt. Ein US-Gesandter hatte Hamdok sogar gerade besucht.

Revolutionäre Aufgaben

Die Zukunft der 2019 errungenen begrenzten Demokratie hängt nun von der Macht der ArbeiterInnenklasse und der Jugend ab, um das Land zum Stillstand zu bringen, die einfachen SoldatInnen für sich zu gewinnen und die Revolution, die durch die Vereinbarung mit dem Militär über ein gemeinsames Regime bis zu den Wahlen im Jahr 2023 gestoppt wurde, fortzuführen. Die 2019 gebildeten Widerstandskomitees bestehen weiter und müssen zu Räten gestärkt werden, die alle ArbeiterInnen, Frauen, StudentInnen und SoldatInnen vertreten, die auf die Seite der Massen übergehen. Der Putsch beweist, dass die Teilung der Macht mit den Generälen des alten Regimes eine gefährliche Illusion war und bestätigt den Ausspruch des französischen revolutionären Jakobiners Saint Just: „Wer die Revolution nur halb macht, schaufelt sich sein eigenes Grab“.

Wir haben immer argumentiert, dass jedes stehende Heer – solange es unter dem Kommando der Generäle und des Offizierskorps steht – eine tödliche Waffe gegen das Volk bildet. Eine wesentliche frühe Aufgabe jeder echten Volksrevolution ist es, ihnen die Herrschaft über den Repressionsapparat zu entreißen, die einfachen SoldatInnen vom Kommando der Offiziere zu brechen und sie auf die Seite der Massen, insbesondere der ArbeiterInnen, zu bringen und ein revolutionäre Selbstverteidigungskräfte unter der demokratischen Kontrolle der ArbeiterInnen- und Volksräte zu bilden.

Entscheidend ist, dass der Generalstreik und der Massenwiderstand auf der Straße wirksam sind und die einfachen SoldatInnen sowie die UnteroffizierInnen und niederen Offiziersränge dazu bringen, zum Volk überzulaufen. Die aktuelle Widerstandsbewegung muss sich insbesondere auf die Stärke der revolutionären Frauen und Jugendlichen stützen, die bei der Revolution 2019 eine führende Rolle gespielt haben. Und wenn dies geschieht, darf die Revolution dieses Mal nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Sie darf sich auch nicht mit einer Regierung aus zivilen TechnokratInnen zufrieden geben, die Hand in Hand mit dem IWF, den USA, der EU und den anderen imperialistischen Mächten arbeiten.

Was die gegenwärtige Krise auf soziale, demokratische und nachhaltige Weise lösen kann, ist eine Regierung, die sich voll und ganz der Revolution verschrieben hat, eine Regierung, die sich auf ArbeiterInnen- und Volksräte stützt und in der Lage ist, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen, um die dringenden Bedürfnisse der Land- und Stadtbevölkerung zu erfüllen.

In anderen Ländern müssen sich SozialistInnen und GewerkschafterInnen mit den Exil-SudanesInnen zusammentun, um gegen den Putsch zu demonstrieren und Nahrungsmittel- und medizinische Hilfe zur Bekämpfung von COVID und der Wirtschaftskrise sowie ein Ende des Diktats des IWF zu fordern.




Weil die Welt krankt, brennt und strauchelt. Heraus zum 1. Mai!

Liga für die Fünfte Internationale, Neue Internationale 255, Mai 2021

Die Dreifachkrise von globaler Rezession, Pandemie und Umweltzerstörung prägt die Lage der ArbeiterInnenklasse und aller Unterdrückten. Millionen starben im letzten Jahr an den Folgen einer Coronavirus-Infektion. Abermillionen haben ihre Jobs und Einkommen verloren. Die Menschen in den Ländern des globalen Südens, Frauen, Jugendliche und Alte, national und rassistisch Unterdrückte werden von der Krise besonders hart getroffen. Sie sind es, die die Hauptlast von Überausbeutung, kaputtgesparten oder fehlenden Gesundheitssystemen, von privater Reproduktionsarbeit, von Umweltkatastrophen, Kriegen und Besatzung tragen.

Historische Krise, historische Herausforderungen

Gleichzeitig werden viele von uns zur Zielscheibe des Rechtspopulismus und Faschismus auf der Straße, von zunehmend autoritären und repressiven Regimen und Diktaturen, von rassistischen Grenzabschottungen und Angriffen durch Polizei und reaktionäre Kräfte. Femizide, häusliche Gewalt, Angriffe auf das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und LGBTIAQ-Personen nahmen weltweit zu und erreichten noch erschreckendere Ausmaße.

Die Rezession und Krise trifft jedoch nicht nur die große Masse der überausgebeuteten ArbeiterInnen und sozial Unterdrückten. Sie erfasst auch mit voller Wucht Millionen der bessergestellten Beschäftigten in  Großkonzernen und im öffentlichen Dienst. Ganze Branchen stehen vor Umstrukturierungen und Massenentlassungen in historischem Ausmaß, um die Profite zu steigern, Märkte zu erobern und in der globalen Konkurrenz zu siegen.

Die Rezession von 2020 wird durch keinen lang anhaltenden Aufschwung abgelöst werden. Vielmehr werden sich die Wachstumsraten der Weltwirtschaft als Strohfeuer milliardenschwerer Konjunkturpakete entpuppen. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte werden sich weiter verschärfen, denn es sind vor allem die Länder des globalen Südens die sich auch in diesem Jahr weiter im Würgegriff von Pandemie und Krise befinden. Während die Bevölkerung in den imperialistischen Staaten wenigstens auf Impfungen gegen Corona hoffen kann, müssen Milliarden Menschen in armen Ländern ohne Impfstoff und soziale Sicherungen auskommen.

Die andere große und langfristig für die Menschheit viel bedrohlichere Krise, die Umweltkatastrophe, schreitet trotz Video-Klimagipfeln und vollmundigen Ankündigungen eines „Green New Deal“ ebenfalls weiter voran. Die zunehmende globale Konkurrenz lässt eine international koordinierte Umweltpolitik nicht zu. Angekündigte Investitionen wie zum Beispiel in die Auto-E-Mobilität werden das Problem nicht lösen, sondern nur seine Form verändern, es teilweise sogar verstärken.

Die Zeichen der Weltwirtschaft und Globalpolitik zeigen eindeutig in Richtung verschärfter Konkurrenz. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den USA und China sowie den anderen, schwächeren Mächten und Blöcken wie der von Deutschland geführten EU, Japan oder Russland verschärft sich. Unter dem neuen US-Präsidenten Biden nimmt dieser Kampf lediglich eine „neue“ Form an. Auf den populistischen und unilateralen Abenteurer Trump soll nun die Wiederbelebung des transatlantischen Bündnisses der „Demokratien“ unter US-Führung folgen. Die Kriegsgefahr wird damit nicht gebannt, vielmehr droht auch militärisch ein verschärfter Wettlauf zwischen alten und neuen Großmächten. Die allgemeine Aufrüstung sowie die Kriege in Syrien, der Ukraine oder im Kaukasus könnten sich schon in einigen Jahren als Vorspiele des nächsten Weltenbrands herausstellen.

Die herrschende Klasse hat keine Lösung

Die Strategien der herrschenden Klassen erweisen sich als Scheinlösungen auf unsere Kosten und sind unfähig, eine Antwort auf die großen Fragen unserer Zeit zu geben. Auf die globale Krise des Kapitalismus antworten die Herrschenden mit unterschiedlichen, letztlich aber nationalen Formen der Krisenbewältigung.

Die neuen, rechten Bewegungen und populistischen Kräfte antworten darauf auf ihre Weise. Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus sind für sie unersetzbare Mittel, um kleinbürgerliche Schichten, aber auch rückständige ArbeiterInnen im Namen der „Nation“, im Namen eines pseudoradikalen Kampfes des „Volkes“ gegen die „Elite“ vor den Karren einer Fraktion der herrschenden Klasse zu spannen. Gezielt und bewusst schüren sie nationale, religiöse, rassistische und sexistische Ressentiments, befördern Rückständigkeit und Irrationalismus und formieren sie zu einer Bewegung gesellschaftlicher Verzweiflung mit aggressivem Rollback auf allen Ebenen. Wo sie an die Regierung kommen, befeuern sie diese, um demokratische und soziale Errungenschaften, demokratische Bewegungen, die Unterdrückten und die ArbeiterInnenklasse einerseits anzugreifen, andererseits, um die Klasse und die Unterdrückten selbst zu spalten.

Nationalismus und Konkurrenz

Doch auch die vorgeblichen DemokratInnen aus dem bürgerlichen Lager, die Liberalen, moderaten Konservativen oder Grünen setzen auf die nationale Karte. Während der eine Flügel des Kapitals einmal mehr neoliberale Angriffe und Kürzungen fordert, setzt der andere auf verstärkte staatliche Intervention. Aber auch der Green New Deal und die keynesianischen Reformversprechungen sind untrennbar mit einer Wirtschaftspolitik verbunden, die auf Marktbeherrschung durch die „eigenen“ Konzerne und die Sicherung der Weltherrschaft im Namen der „Demokratie“ zielt.

So entpuppt sich der Nationalismus als die unvermeidliche Folge der imperialistischen Konkurrenz, des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Für die ArbeiterInnenklasse bedeutet dies, dass sie beide politische Lager, die alten wie die neuen Imperialismen bekämpfen muss, dass sie die „eigene“ herrschende Klasse als Hauptfeind erkennen muss.

Die globalen Krisen – Wirtschaft, Pandemie, Umwelt – können nur international gelöst werden. Doch genau dazu erweist sich der Kapitalismus seinem Wesen nach als unfähig. So wichtig es ist, den Kampf für einen solidarischen Lockdown und gegen Sparprogramme, Betriebsschließungen, Umweltzerstörung sowie gegen Angriffe auf demokratische Rechte lokal oder national aufzunehmen, so kann dies nur der Anfang sein. Die Ursachen der Pandemie, des Klimawandels und der globalen Wirtschaftskrise können  nicht in einem Land oder gar nur einem Betrieb überwunden oder beseitigt werden. Die Lösung kann nur eine internationale sein.

Widerstand und Klassenkampf

Die globale Defensive und der Vormarsch reaktionärer Kräfte nährt auch bei vielen ArbeiterInnen und Linken die Vorstellung, dass wir in der aktuellen Lage nur zwischen zwei bürgerlichen Lagern, zwischen dem der pseudo-radikalen, populistischen Reaktion und dem der „demokratischen“ Mitte wählen könnten. Eine eigenständige Klassenpolitik scheint für viele nur als erträumtes Ziel in einer unbestimmten Zukunft. „Zuerst“ müssten wir die Übel des Rechtspopulismus und Bonapartismus, ja müssten wir Trump, Bolsonaro, Modi, Orbán, Le Pen, Putin oder das Pekinger Regime im Bündnis mit dem demokratischen Flügel der Bourgeoisie bekämpfen. „Realistisch“ wären allenfalls eine anti-neoliberale Reformpolitik oder eine linkere Version des Green New Deal. Eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses wäre nur im Bündnis mit einem Flügel der herrschenden Klasse möglich – sei es mit der liberalen Bourgeoisie oder mit den vorgeblich „sozialeren“ und „antiimperialistischen“ Großmächten wie China und Russland.

Aber alle diese Strategien führen in die Sackgasse. Sie ordnen die Interessen der ArbeiterInnenklasse und der unterdrückten Massen dem Interesse des einen oder andere Flügels der Bourgeoisie unter.

Fatale Rolle der Bürokratie

Eine besonders erbärmliche Rolle spielen dabei die großen Apparate der ArbeiterInnenbewegung, die bürokratisierten, von oben kontrollierten Gewerkschaften, die reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wie auch linkspopulistische Regime und Bewegungen in den Ländern des globalen Südens.

Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und  SozialpartnerInnenschaft in den Betrieben hinaus. Unter bürokratischer Kontrolle können diese Organisationen, die trotz Mitgliederverlusten weiter Millionen und Abermillionen Lohnabhängige umfassen, ihr Potential nicht realisieren. Im Gegenteil, die bürokratischen Führungen fungieren als Hindernis, als Bremse, oft sogar als direkte GegnerInnen jeder Massenmobilisierung. Sie verfolgen nicht nur eine verfehlte Politik, sie verbreiten auch falsches Bewusstsein in der Klasse.

Eine Spielart dieser Abhängigkeit von den liberalen imperialistischen Mächten und Parteien ist der weit verbreitete Versuch, eine radikale Version der Sozialdemokratie wiederzubeleben, entweder durch die Gründung neuer Parteien auf der Grundlage eines radikalen keynesianischen Programms, das soziale Bewegungen mit Elektoralismus kombiniert, oder durch die versuchte Übernahme bürgerlich-liberaler oder tradierter sozialdemokratischer Parteien. Tatsächlich haben wir Ersteres im Fall von Syriza und Podemos scheitern sehen und Letzteres in Form des Corbynismus in der britischen Labour Party. Ehemalige stalinistische „Linksparteien“ haben lange mit der gleichen Methode experimentiert.

Heute sehen wir eine Mischung aus beidem im Fall der Demokratischen SozialistInnen von Amerika und ihrem sogenannten „schmutzigen Bruch“ mit der Partei von Joe Biden und Hillary Clinton. IdeologInnen dieses Neoreformismus versuchen, einen seiner revolutionären Essenz entledigten Marxismus mit Hilfe eines wiederbelebten Luxemburgismus, Gramscianismus oder Kautskyianismus in ihre Politik zu inkorporieren. „TrotzkistInnen“, die sich dem anpassen, beschreiten einfach den Weg des ursprünglichen Revisionismus und Eurokommunismus und sind ein Teil des Problems der ideologischen Verwirrung, nicht von dessen Lösung.

Mobilisierungen

Trotz dieser mächtigen Hindernisse, trotz Pandemie und Krise, regte sich auch im letzten Jahr ein beeindruckender Widerstand auf der ganzen Welt. Die Revolution in Myanmar, die Streikbewegung der indischen ArbeiterInnen und BäuerInnen sind beeindruckende Höhepunkte demokratischer und sozialer Kämpfe. Sie stellen die Frage, wie der Kampf um grundlegende demokratische und soziale Forderungen mit dem für die sozialistische Revolution verbunden werden kann, sie zeigen: es braucht ein Programm der permanenten Revolution.

In Belarus, im Libanon, in Nigeria und vielen anderen Ländern mobilisierten Massenbewegungen gegen reaktionäre Regime und die soziale Misere, sodass sich vorrevolutionäre Situationen und Krisen entwickelten. Die explosive Lage in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika und großen Teilen Asiens bedeutet, dass Massenkämpfe auch in der kommenden Periode weiterhin wahrscheinlich sind und zu revolutionären Situationen eskalieren können. Wie in den Arabischen Revolutionen nach 2011 stellt sich dann die Frage, wie diese Bewegungen zum revolutionären Sieg gelangen können.

In den imperialistischen Ländern wiederum – allen voran in den USA – mobilisierten riesige Massenbewegungen, allen voran Black-Lives-Matter, Millionen Menschen und inspirierten die rassistisch unterdrückte Jugend auf der ganzen Welt. Ähnliche Ansätze eines spontanen Internationalismus zeigen auch die Frauenstreikbewegung  und wichtige Teile der Umweltbewegung,  die beide selbst in der Pandemie  weltweit wieder Millionen mobilisierten. Auf der Ebene gewerkschaftlicher und betrieblicher Kämpfe erlebten wir Ansätze länderübergreifender, koordinierter Aktionen in einzelnen Konzernen wie z. B. bei Amazon.

Führungskrise

Doch trotz einer historischen Krise und drohender tiefer Einschnitte blieben die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse v. a. in den imperialistischen Ländern oft am Rande dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Die betrieblichen Abwehrkämpfe gegen Schließungen und Massenentlassungen waren zwar durchaus zahlreich, aber blieben in der Regel voneinander isoliert und unter fester Kontrolle von Gewerkschaftsbürokratie und betrieblichen FunktionärInnen.

Diese bremsende Stillhaltepolitik der reformistischen Apparate und Parteien erklärt auch, warum die ArbeiterInnenklasse in den meisten Bewegungen keine führende Rolle einnehmen konnte. Die Führung von Widerstandsbewegungen fiel dann fast unwillkürlich politisch kleinbürgerlichen Kräften und solchen Ideologien zu. Die Dominanz dieser Ideologien – z. B. Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postkolonialismus, Feminismus, Linkspopulismus – in den Bewegungen der letzten Jahre ist selbst ein Resultat der vorherrschenden bürgerlichen Politik und des damit verbundenen verbürgerlichten Bewusstseins in der ArbeiterInnenklasse. Dass viele AktivistInnen in radikalen kleinbürgerlichen Theorien und Programmen eine Alternative erblicken, ist die zwangsläufige Strafe für die sozialpartnerschaftliche und sozialchauvinistische Politik der Gewerkschaftsbürokratien und reformistischen Parteien sowie die Duldung dieser Hoheit durch viele Kräfte, die sich links von ihnen wähnen.

AktivistInnen der kleinbürgerlich geführten Bewegungen können nur für eine revolutionäre ArbeiterInnenpolitik gewonnen werden, wenn RevolutionärInnen die Kämpfe um Befreiung ohne Wenn und Aber unterstützen, wenn sie ihre Kritik an deren Programmen und Theorien geduldig erklären und einen schonungslosen Kampf gegen die bürokratischen und reformistischen Führungen in der ArbeiterInnenklasse selbst führen.

Konkret heißt das, dass sie um die klassenkämpferische Erneuerung der Gewerkschaften kämpfen müssen und oppositionelle demokratische Basisbewegungen gegen die Bürokratie aufzubauen haben. Um deren Vormacht zu brechen, müssen sie Forderungen an eben diese Führungen stellen, ohne ihre Kritik zu verschweigen. Sie müssen für den Bruch aller ArbeiterInnenorganisationen mit der Bourgeoisie kämpfen. Das heißt in Ländern wie den USA in der DSA, für die konsequente Abkehr von der Demokratischen Partei und für den Aufbau einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse einzutreten. Das heißt in anderen Ländern wie Deutschland, für die Schaffung einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei einzutreten.

Einheitsfront

In allen Fällen müssen RevolutionärInnen eine Einheitsfront aller Parteien, Organisationen und Bewegungen der ArbeiterInnenklasse sowie der Unterdrückten auf der Basis eines Aktionsprogramms gegen Krise, Pandemie, Umweltzerstörung, Rassismus und Sexismus vorschlagen. Ein solches Programm muss z. B. Forderungen gegen drohende Entlassungen, gegen Arbeitslosigkeit, Mietpreiserhöhungen und für den freien Zugang zu einem Gesundheitssystem für alle, für einen solidarischen Lockdown umfassen. Das bedeutet auch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln in Frage zu stellen, indem wir z.B. die Enteignung der Pharmaindustrie und einen globalen Plan zur Produktion und kostenlosen Verteilung von Impfstoffen für alle fordern. Es geht um die entschädigungslose Enteignung aller privaten Konzerne im Gesundheitssektor unter ArbeiterInnenkontrolle;  die Enteignung aller Konzerne, die mit Massenentlassungen und Kürzungen drohen.

Diese und alle anderen großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können nur gewonnen werden, wenn sie sich auf Massenmobilisierungen der ArbeiterInnenklasse stützen. Daher müssen alle ihre Organisationen dazu aufgefordert werden, sich am gemeinsamen Kampf zu beteiligen, um so die großen Massenorganisationen in Bewegung zu bringen und zugleich deren Führungen dem Test der Praxis auszusetzen.

Ein solcher Kampf erfordert demokratische Strukturen: er muss sich auf Versammlungen in den Betrieben und Stadtteilen, auf gewählte Aktionskomitees und Ausschüsse stützen.  Schließlich muss eine Massenbewegung auch Selbstverteidigungsorgane aufbauen, die sie vor den Angriffen von StreikbrecherInnen, rechten Banden oder der Polizei schützen können.

Internationalismus und Internationale

Um den Widerstand auf kontinentaler und globaler Ebene zu verbinden, braucht es eine internationale Bewegung, eine Wiederbelebung der Sozialforen, die jedoch nicht nur Organe zur Diskussion, sondern beschlussfähige Koordinierungen des gemeinsames Kampfes sein sollen.

Aber dies alleine wird nicht reichen, denn notwendig ist eine politische Antwort auf die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse selbst:  neue revolutionäre Parteien und eine neue, Fünfte Internationale, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen für die sozialistische Revolution stützen; eine Weltpartei, die eine wirklich internationale, globale Antwort auf die Dreifachkrise der Menschheit vertritt.




Schulen und Corona: Jugend plant Aktionstag

Lukas Resch, Neue Internationale 254, April 2021

Monate des Online-Unterrichts verdeutlichen, wie weit Deutschland in Sachen Digitalisierung zurückhängt. Das Homeschooling schwankte zwischen Extremen: Entweder wurden SchülerInnen mit Aufgaben überschüttet oder sie fehlten. Gleichzeitig wurden die Unterrichtsstunden oft nur genutzt, um neue Aufgaben zu stellen, oder sie fielen gleich ganz aus. Nie gab es eine einheitlich durchdachte Strategie zur Gestaltung des Unterrichts während der Pandemie. Was wie umgesetzt wird, müssen LehrerInnen im Alleingang und zusätzlich zum schon bestehenden Aufgabenberg entscheiden. Nun heißt die neue Hoffnung: In die Schule und testen, testen, testen (und was, wenn die Corona-Tests nicht da sind?).

SchülerInnen leiden unter diesen Zuständen. Monatelang zu Hause bei der Familie eingesperrt mit miserablen Unterrichtsmodellen. Dann zurück in die Schule mit vollkommen unzureichenden Hygienemaßnahmen und obendrein Leistungsabfragen und unter diesen Umständen kaum zu schaffende Prüfungen. Währenddessen bleibt zuhause die Stimmung oft angespannt, da auch für die Eltern die Krise noch lange nicht überwunden ist.

Schon früh regte sich Widerstand gegen das Vorgehen der Bundes- und Landesregierungen. Immer wieder kam es online zu Petitionen und Initiativen. Eine generelle Änderung der Politik wurde dabei jedoch nicht erwirkt. Das lag vor allem an drei Punkten:

  • Es wurde verpasst, die Forderungen nach Öffnungen oder Schließungen der Schulen mit der dahinter liegenden sozialen Frage zu verbinden, statt nur die jeweils akutesten Probleme anzusprechen. Das ist durchaus wichtig, aber leider nicht genug, denn die Lage von Pandemie und Politik ändert sich fast täglich.
  • Eine bundesweite Vernetzung unterblieb. Zwar ist Bildung Ländersache, aber eine der größten Schwächen ist eben das unkoordinierte Vorgehen der Länder. Der Bund greift, bis eine Obergrenze für „die Notbremse“ überschritten ist, nicht ein.
  • Die Initiativen verblieben im virtuellen Raum. Nur vereinzelt konnte lokal mediale Aufmerksamkeit erreicht werden, die in keinster Weise die eigentliche Anzahl derer repräsentiert, die sich nicht einverstanden mit der Schulpolitik erklären.

Für gerechte Bildung

Den Missständen in den Schulen hat das Bündnis „Für gerechte Bildung“ (gerechtebildung.org) den Kampf angesagt. Frei nach dem Motto „Wer 7 Mrd. für die Lufthansa hat, hat auch genug Geld für gute Bildung!“ geht es unter anderem um die Finanzierung von kostenloser Nachhilfe und digitaler Lernausstattung. Weitere Forderungen sind bessere Hygienekonzepte, Durchschnittsabschlüsse und sichere Lernräume für SchülerInnen, die diese nicht zuhause haben.

Am 23. April plant es einen zweiten bundesweiten Aktionstag gegen die menschenverachtende Corona-Politik. Es geht also endlich raus aus dem virtuellen Raum! Allerdings sind für einen erfolgreichen Kampf noch Hindernisse zu überwinden. Zwar gibt es eine bestehende bundesweite Vernetzung und Zuspruch von vielen Gruppen – darunter Internationale Jugend, Young Struggle, SDAJ, Solidaritätsnetzwerk, DIDF, Sozialistische SchülerInnengewerkschaft Deutschland und REVOLUTION.

Allerdings unterschätzen einige im Bündnis die Notwendigkeit, „Für gerechte Bildung“ zu mehr als einem Zusammenschluss kleiner, sich sozialistisch nennender Gruppen auszuweiten. Dazu muss es auch Massenorganisationen und Vertretungsstrukturen der SchülerInnen offensiv ansprechen und in die Aktion zu ziehen versuchen: Organisationen wie die Jusos, Linksjugend [’solid] zählen tausende Jugendliche in ihren Reihen. Sie sollten aufgefordert werden, für den Aktionstag zu mobilisieren und die Forderungen zu unterstützen. Selbiges gilt für die SchülerInnenvertretungen (SV). Nur wenn wir diese Kräfte gewinnen, kann eine Bewegung mit Massenanhang entstehen, die das Kräfteverhältnis wirklich verändern kann.

Im nächsten Schritt kommt es außerdem darauf an, dass alle Gruppen einen praktischen Beitrag leisten, was vor allem heißt: Mobi, Mobi und noch mal Mobi! Wenn am 24. April Tausende SchülerInnen auf die Straße gebracht sein sollen, haben alle Gruppen reichlich Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Politik und wir können zugleich den Druck auf größere Organisationen erhöhen, sich anzuschließen.

Schlussendlich fehlt es dem Bündnis auch an einer Perspektive für die Zusammenarbeit mit ArbeiterInnen, insbesondere jenen in Bildungs- und Erziehungssektor. Eine Chance dafür wäre die Zusammenarbeit mit der Basisinitiative der GEW. Diese erfolgte bereits in Berlin in Kooperation mit der Jungen GEW, um so die Gewerkschaft insgesamt in die Aktion zu ziehen.

„Für gerechte Bildung“ will ein Schulsystem, indem SchülerInnen mitentscheiden können. Doch wenn die Forderungen nach gerechten Lern- und besseren Hygienebedingungen Wirklichkeit werden sollen, braucht es mehr: eine demokratische Kontrolle des Bildungssystems! Maßnahmen an jeder einzelnen Schule wie auch bundesweit müssen durch Komitees aus SchülerInnen, Lehrkräften und Eltern beschlossen werden. Genau deshalb sollte das Bündnis auf die GEW, aber auch auf kämpferische ArbeiterInnen überhaupt zugehen und den gemeinsamen Kampf suchen. Immerhin sind es die Kinder und Jugendlichen aus ArbeiterInnenfamilien, die am meisten unter dem bisherigen Corona-Schulchaos leiden!

Bundesweiter Aktionstag




Myanmar: Der Widerstand gegen den Putsch geht weiter – Solidarität mit den ArbeiterInnen und der Jugend!

Dave Stockton, Infomail 1142, 11. März 2021

Der März eskalierte die Repression durch das Militär Myanmars – die Tatmadaw – gegen völlig friedliche und unbewaffnete DemonstrantInnen massiv. Neben Gummigeschossen und scharfer Munition werden auch Splittergranaten eingesetzt, die einen Kugelhagel ausstoßen, der schwere Verletzungen verursacht.

In der nördlichen Stadt Myitkyina haben Scharfschützen wahllos von Gebäuden entlang der Demonstrationsrouten geschossen. In Yangon (Rangun) und anderen Städten werden bei nächtlichen Razzien Hunderte von Menschen aufgegriffen, die Zahl der Festgenommenen liegt nach den Angaben der Menschenrechtsorganisationen des Landes inzwischen bei weit über tausend.

Ein FunktionärIn der National League for Democracy, NLD, deren Präsidentin Aung San Suu Kyi inhaftiert ist, ist im Gewahrsam gestorben, es ist der zweite innerhalb von zwei Tagen.

Angesichts der immer massiver werdenden Demonstrationen setzt Min Aung Hlaing, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, zunehmend tödliche Gewalt ein, um den Aufstand niederzuschlagen. Wie Macbeth in Shakespeares Drama denkt er zweifelsohne: „Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen / Dass, wollt‘ ich nun im Waten stille stehn / Rückkehr so schwierig wär‘, als durch zu gehn.“

Nach UN-Quellen hat die Zahl der Todesopfer seit dem 1. Februar inzwischen die 50 überschritten. Allein am 28. Februar gab es 18 Tote und über 30 Schwerverletzte. Dann, am 3. März, tötete die paramilitärische Polizei mit Sturmgewehren mindestens 38 Menschen. Das Töten und Verstümmeln fand in Yangon, der größten Stadt und dem Industriezentrum des Landes, in Mandalay und vielen anderen Städten des Landes statt. Aber die Niederschlagung der landesweiten Revolte wird ein weit tieferes Waten im Blut erfordern.

Dennoch hat die massive Zunahme von Tötungen und Massenverhaftungen die Proteste bisher nicht beenden können. Vielmehr haben sie die DemonstrantInnen gezwungen, defensive Maßnahmen zu ergreifen. Während sie immer noch völlig friedlich bleiben, haben junge Leute Reihen von „VerteidigerInnen“ mit Helmen und improvisierten Schilden organisiert und Barrikaden errichtet, um die Durchfahrt von Militärfahrzeugen zu verhindern.

Zunehmende Rolle der ArbeiterInnenklasse

Ein entscheidender Faktor für die Niederschlagung des Putsches ist die zunehmende Rolle, die die ArbeiterInnen bei den Protesten und wiederholten Streiks spielen. Die IndustriearbeiterInnen-Föderation von Myanmar, IWFM, und neun Einzelgewerkschaften riefen am 22. Februar und am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, zu eintägigen Generalstreiks auf, bei denen Fabriken, Geschäfte, Regierungsbüros, Banken und Eisenbahnen bestreikt wurden. Die Föderation der BekleidungsarbeiterInnen von Myanmar, FGWM, die aus 20 lokalen Gewerkschaften besteht, hat eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Fabriken produzieren für internationale Marken wie The North Face und H&M.

EisenbahnerInnen, BekleidungsarbeiterInnen, BeamtInnen, Beschäftigte im Gesundheitswesen und KupferminenarbeiterInnen haben sich wiederholt den Protesten angeschlossen. Streikende ArbeiterInnen der Eisenbahn sind in ihren Wohnanlagen vom Militär belagert worden, welches sie mit Verhaftungen bedrohte. Eine prominente Organisatorin, Moe Sandar Myint, erklärte: „Die ArbeiterInnen sind bereit für diesen Kampf. Wir wissen, dass sich die Situation unter der Militärdiktatur nur verschlechtern wird, deshalb werden wir als Einheit bis zum Ende kämpfen“. Kein Wunder also, dass alle unabhängigen Gewerkschaftsverbände Ende Februar verboten wurden.

Die städtische ArbeiterInnenklasse Myanmars ist seit der Öffnung des Landes für ausländische Investitionen vor zehn Jahren gewachsen, besonders in der größeren Industrieregion Yangon. Die ArbeiterInnen in der Textilindustrie, meist sehr junge Frauen, kommen vom Land und haben mit den patriarchalischen Traditionen, in denen sie aufgewachsen sind, gebrochen. Sie organisierten sich und kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Jetzt wurden Haftbefehle gegen zwanzig GewerkschaftsführerInnen ausgestellt, darunter die Vizepräsidentin der IWFM, Soe Lay. Ihre Präsidentin, Khang Zar, hat einen Appell an die Menschen in aller Welt gerichtet:

„Durch zivilen Ungehorsam, Proteste und Streiks melden sich die Menschen in Myanmar klar und lautstark zu Wort. Wir brauchen die internationale Gemeinschaft, um das Gleiche zu tun. Wir brauchen Sie, um an unserer Seite zu stehen, damit dieser Putsch zusammenbricht.“

Stellung des Militärs

Es ist jetzt klar, dass die Generäle nicht einfach durch den wiederholten Beweis, dass die Bevölkerung in Myanmars Städten sie hasst und ihre Diktatur ablehnt, von der Macht verdrängt werden. Schließlich hat die Tatmadaw seit 1962 auch niemals wirklich die Macht an eine gewählte zivile Regierung abgetreten. Ihre Geschichte ist geprägt von Korruption, wirtschaftlicher Kontrolle und einem nicht enden wollenden Krieg gegen die ethnischen Minderheiten des Landes (Kachin, Karen, Kayin, Mon, Rohingya usw.), die 32 % der Bevölkerung ausmachen, aber seit langem von der Bamar-Mehrheit unterdrückt werden.

Obwohl es klar ist, dass der Widerstand der jugendlichen DemonstrantInnen nichts an der Mentalität der Generalität geändert hat, die in ihren luxuriösen, mit Teakholz ausgekleideten Villen mit privaten Golfplätzen in Sonderzonen fernab der Städte leben, gibt es Anzeichen von Unzufriedenheit unter der Polizei. Bislang haben sie die Hauptlast der Drecksarbeit der Tatmadaw getragen. Einige haben den Befehl, auf unbewaffnete DemonstrantInnen zu schießen, verweigert und sind ins benachbarte Indien geflohen. In einer gemeinsamen Erklärung an die Polizei im indischen Mizoram erklärten vier OffizierInnen:

„Als die Bewegung des zivilen Ungehorsams an Fahrt aufnahm und in verschiedenen Orten Proteste von Anti-Putsch-DemonstrantInnen stattfanden, wurden wir angewiesen, auf die Protestierenden zu schießen. In einem solchen Szenario besitzen wir nicht den Mut, auf unsere eigenen Leute zu schießen, die friedliche DemonstrantInnen sind.“

Nur wenn die ArbeiterInnenklasse die Wirtschaft zum Stillstand bringen kann und AktivistInnen die Moral der „Ordnungskräfte“ untergraben können, nur wenn die namenlosen VerteidigerInnen sich bewaffnen, kurz, nur wenn die Proteste zu einer Revolution und einem Aufstand entwickelt werden, kann gesiegt werden. Das ist die zentrale Lektion des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren.

Imperialistische Heuchelei

US-Präsident Joe Biden hat den Putsch verurteilt und die USA haben begrenzte Sanktionen gegen Mitglieder des militärischen Oberkommandos verhängt. Australien hat die Anwendung von tödlicher Gewalt gegen ZivilistInnen, die ihre Rechte ausüben, verurteilt und sein Verteidigungskooperationsprogramm mit der Tatmadaw ausgesetzt. Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Josep Borrell, verurteilte ebenfalls die „gewaltsame Unterdrückung friedlicher DemonstrantInnen durch das Militär in Myanmar“ und forderte „eine Rückkehr zur Demokratie“.

Noch im April und November des vergangenen Jahres wurde Min Aung Hlaing in Brüssel von den ChefInnen der NATO gefeiert. Er besuchte auch Deutschland, Österreich und Italien, um Hightech-Waffen und gepanzerte Fahrzeuge für seine Streitkräfte in ihrem Krieg gegen die ethnischen Minderheiten Myanmars zu kaufen. Diese Beziehung kam trotz der Vertreibung von 750.000 Rohingya im Jahr 2017 zustande, die der General gegenüber der NATO-Spitze zu verteidigen wagte. Tatsächlich beläuft sich der Verteidigungshaushalt des Landes bereits auf mehr als das Gesundheits- und Bildungsbudget zusammen. Doch jede Hoffnung, dass die westlichen imperialistischen Demokratien irgendetwas Entscheidendes unternehmen werden, ist vergebens.

Noch unwahrscheinlicher ist ein Wort des Widerstandes seitens des neuen imperialistischen Aufsteigers, dem „kommunistischen China“. Peking ist damit beschäftigt, seine neue Seidenstraße (One Belt, One Road) durch das Land zu bauen, um wichtige Häfen am Indischen Ozean zu erreichen. Diese Route ist von massiver strategischer Bedeutung für China, weil sie es der Schifffahrt und damit dem Handel erlauben würde, die Straße von Malakka zu umgehen, ein Engpass und potentieller „Abschnürungspunkt“ Chinas durch die USA und ihre Verbündeten.

Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass ein Regime, das 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen-Platz) Tausende seiner eigenen DemonstrantInnen abschlachtete, gegenwärtig einen kulturellen Völkermord an einer Million UigurInnen begeht und gegen den demokratischen Widerstand in Hongkong vorgeht, einen solchen Aufstand in Myanmar auch nur verbal unterstützen wird.

Solidarität

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Europa nicht nur ihre Solidarität mit den jungen DemonstrantInnen und ArbeiterInnen in Myanmar zeigen, sondern auch ihre Regierungen zwingen, die Waffenlieferungen an die Tatmadaw einzustellen. GewerkschafterInnen und SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen schnell reagieren, indem sie Waren, die aus Myanmar kommen oder für Myanmar bestimmt sind, blockieren. Länder, die Waffen an das Militär in Myanmar liefern, müssen unter Druck gesetzt werden, dies sofort zu beenden. In der Tat müssen alle Verbindungen mit der illegitimen Junta aufgedeckt und gekappt werden.

Wenn es den ArbeiterInnen Myanmars gelingt, die Streiks zu einem Generalstreik auszuweiten, könnte dies zu Spaltungen in der Armee führen, besonders zwischen der Basis und der Offizierskaste. Es sind die SoldatInnen und PolizistInnen, die die Waffen besitzen, und selbst die stärkste Volksbewegung wird immer besiegt werden, wenn sie unbewaffnet bleibt.

Denn letztlich wird die Verwandlung des Massenprotests in eine erfolgreiche Revolution nur dadurch möglich sein, indem die Disziplin der einfachen SoldatInnen aufgebrochen wird und sie auf die Seite des Volkes gezogen werden. Dann wäre es möglich die MörderInnen von der Macht zu vertreiben und sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Um dies zu beschleunigen, sollten Gewerkschaften und sozialistische Organisationen auf der ganzen Welt dringend praktische Schritte unternehmen, um den ArbeiterInnen und der Jugend Myanmars Solidarität entgegenzubringen.




#wirsinddiezukunft – Bildung für uns, nicht fürs System!

Jan Hektik, Infomail 1138, 6. Februar 2021

Am 5. Februar fand auf dem Berliner Alexanderplatz unter dem Motto „Bildung für uns, nicht fürs System!“ eine Auftaktdemonstration gegen die überhastete Öffnung von Schulen und Kitas inmitten der Pandemie statt. Vor Ort versammelten sich etwa 100 SchülerInnen und UnterstützerInnen, darunter unter anderem AktivistInnen von REVOLUTION, der SDAJ, [‘solid!] Kreuzkölln, der DIDF-Jugend, Sol, der Gruppe ArbeiterInnenmacht und der im Aufbau befindlichen Berliner Ortsgruppe der #ZeroCovid-Initiative.

Die Stimmung war positiv und kämpferisch, trotz des Versuchs einer Schikane der Polizei gegenüber TeilnehmerInnen. So hielt sie zu Beginn der Aktion Menschen mit Schildern zur Sichtbarmachung des gestrigen #ZeroCovidDays fest. Ihr Vorwurf bestand darin, dass diese angeblich im Vorfeld an einer Fotoaktion vor dem Sitz des Bundesverbandes der Deutschen Industrie teilgenommen hätten. In der #ZeroCovid-Berlin-Gruppe hieß es dazu korrekterweise: „Wären die AktivistInnen in einer Polonaise durch Geschäfte gestürmt oder hätten den Reichstag gestürmt, so wären sie glimpflicher davongekommen.“

Wir verurteilen diese Schikane. Sie zeigt uns, dass die Initiative gegen übereilte Öffnungen richtig und wichtig ist. Egal ob in der Frage der Schul- oder Werksöffnungen, Ziel des Kapitals ist der Profit, dafür gehen Konzerne notfalls über Leichen. Die gestrigen Aktionen stellen sich diesem Programm offen in den Weg.

Aufgerufen zur SchülerInnendemonstration wurde von der Antikapitalistischen SchülerInnen Truppe (AkST). Hervorheben wollen wir auch die Kampagne für ein Durchschnittsabitur, die vor Ort eine Rede hielt. Die Aktion war ein guter erster Schritt für den Auftakt eines Protestes gegen die Gesundheits- und Krisenpolitik der Regierung von links. Sowohl die Beteiligung von #ZeroCovid und die Diskussionen um einen dortigen Aufbau als auch das Engagement der anderen linken Gruppen und die Breite der Aktion bieten hierfür eine gute Chance.

Jetzt ist es wichtig, den Kampf gegen die Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft und nicht unserer Gesundheit zu vertiefen! Wir rufen alle Beteiligten und alle anderen linken Organisationen, welche sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen, sowie die Gewerkschaften dazu auf, sich am Aufbau einer Bewegung um #ZeroCovid gegen die Krise zu beteiligen.

Lasst uns gemeinsam eine Bewegung gegen Pandemie und Krise aufbauen!

Am 07.02.2021 um 15 Uhr findet ebenso ein Bündnistreffen für weitere Aktionen statt.




Thailand: Die Monarchie wankt, wie kann sie gestürzt werden?

Robert Teller, Infomail 1126, 18. November 2020

Es gibt viele Länder, die sehr gut, wenn nicht besser, ohne König auskommen. Und es gibt Thailand, wo bereits der Hashtag #WhyDoWeNeedAKing als Majestätsbeleidigung gilt. Die Protestbewegung der vergangenen Monate hat sich in dieser Frage zu einem Punkt zugespitzt, wie es in früheren Jahren (etwa bei den Rothemden-Protesten) nicht denkbar war. In Bangkoks Schulen wird nach Anordnung des Militärs jeden Morgen die Hymne des Königshauses gesungen. Aber die Monarchie stellt in Thailand keine Folklore dar, sie ist aufs Engste verknüpft mit dem herrschenden politischen und wirtschaftlichen System. Das Königshaus ist der größte Grundbesitzer im Land, hält Unternehmensanteile mit Milliardenwert und unterstützte die beiden Militärputsche 2006 und 2014 gegen demokratisch gewählte Regierungen. Dieses Bollwerk der Reaktion ist nun ins Gerede gekommen und zum Gegenstand von Massenprotesten geworden – drakonischen Strafvorschriften zum Trotz, mit denen es sich gegen jede Kritik abschirmt.

Auslöser

Die aktuelle Protestwelle wurde ausgelöst durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 23. Februar, die bürgerlich-liberale „Future Forward Party“ (FFP; Partei Neue Zukunft) zu verbieten, die bei den Parlamentswahlen 2019 die drittmeisten Stimmen erhalten hat, aber nicht an der Regierung beteiligt wurde. Das Verbot wurde von dem Militär nahestehenden RichterInnen mit einer angeblich rechtswidrigen Parteispende des Unternehmers und Parteigründers Thanathorn Juangroongruangkit in Höhe von 191 Millionen Baht (ca. 5,3 Millionen Euro) begründet. Ähnliche Vorwürfe wurden schon oft von Militär und Staatsapparat gegen oppositionelle oder missliebig gewordene bürgerliche Parteien erhoben, die von Militär und Königshaus als Bedrohung ihrer Privilegien wahrgenommen werden. Das Verbot der FFP zeigt auf, wie sehr sich die herrschende Clique vor populären Oppositionskräften fürchtet – selbst wenn diese ein rein bürgerliches Programm vertreten und auf Grundlage des derzeitigen undemokratischen, pseudodemokratischen Systems auch kaum eine Aussicht auf die Regierungsmehrheit haben.

Die ersten Proteste wurden im Februar von StudentInnen der Thammasat-Universität in Bangkok organisiert. Andere Universitäten und Schulen schlossen sich rasch an. Die Aktionen fanden jedoch unter erheblich erschwerten Bedingungen zu Beginn der Pandemie statt und konnten nach Verhängung eines strikten Lockdowns mit Schließung der Universitäten und Schulen nicht aufrechterhalten werden.

Die Proteste flammten im Juli jedoch wieder auf, mit den größten Demonstrationen seit dem Putsch von 2014. Sie fanden an symbolträchtigen Orten und an bekannten Universitäten statt, aber sie beschränken sich nicht auf die Hauptstadt, sondern breiteten sich auf mindestens 20 Regionen des Landes aus. In ihnen drückt sich eine Wut aus über diktatorische Maßnahmen gegen die Meinungsfreiheit und andere bürgerliche Freiheiten, wie sie die Junta seit 2014 nicht nur gegen „Rothemden“, sondern gegen alle anwendet, die den Umbau des Landes unter der Herrschaft des Militärs offen kritisieren. Einer von vielen solchen Fällen stellt der eines Mannes aus Khon Kaen dar, der ein T-Shirt mit folgendem Aufdruck trug: „Ich habe den Glauben in die Monarchie verloren“. Er bekam ungebetenen Besuch von der Polizei, und als er sich weigerte, das T-Shirt abzulegen, wurde er am 9. Juli in Khon Kaen zwangsweise in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Die Student Union of Thailand initiierte Proteste und einen Aufruf, dem sich viele andere anschlossen.

Forderungen

DemonstrantInnen forderten die Auflösung des 2019 neu zusammengesetzten Parlaments, ein Ende von Schikanen gegen RegierungsgegnerInnen und eine neue Verfassung, um die unter der Militärjunta 2016 ausgearbeitete zu ersetzen. Doch die Bewegung wirft mehr auf als nur bestimmte bürgerlich-demokratische Grundrechte. SchülerInnen protestieren an ihren Schulen gegen körperliche Züchtigung und Demütigungen durch ihre LehrerInnen, StudentInnen an den Universitäten gegen die geltenden Haarschnitt- und Kleidungsvorschriften. LGBTIAQ-AktivistInnen fordern die Gleichstellung homosexueller PartnerInnenschaften, die Überarbeitung von Lehrbüchern und die Anerkennung ihrer sexuellen Identität in den Schulen und in der Öffentlichkeit. Frauen fordern die Legalisierung der Abtreibung. Alle diese Themen waren bislang tabuisiert. Sie in Frage zu stellen, dazu gab es unter der Herrschaft des Militärs keinen Zentimeter Raum. Diesen hat sich die Bewegung genommen, und so scheint auch die Unantastbarkeit der Monarchie mittlerweile nicht mehr als etwas „Heiliges“. Dabei haben die DemonstrantInnen die Beseitigung der Monarchie ursprünglich gar nicht offen auf die Tagesordnung gesetzt. Es war zu einem guten Teil die Reaktion der Regierung, die sie in diese Richtung gedrängt hat, indem sie die AktivistInnen, die sich für beschränkte demokratische Reformen ausgesprochen haben, pauschal beschuldigte, GegnerInnen der Monarchie zu sein.

Reaktion

Die Regierung antwortet mit Repression, aber auch mit Angeboten an die parlamentarischen Kräfte in der Opposition, sich an Konsultationen mit der Regierung um mögliche Reformen zu beteiligen. Am 15. Oktober wurde der Ausnahmezustand verhängt und alle Versammlungen mit mehr als 5 Personen waren untersagt, was Erinnerungen an den Putsch von 2014 weckte. Viele bekannte AnführerInnen der Bewegung wurden verhaftet. Am folgenden Tag wurde an der Pathumwan-Kreuzung in der Nähe des zentralen Siam-Platzes in Bangkok eine friedliche Demonstration von 2.000 DemonstrantInnen mit Wasserwerfern aufgelöst, wobei Reizstoffe und blaue Farbe zum Einsatz kamen, wie Videos belegen. Die Protestbewegung reagierte mit unangekündigten dezentralen Demonstrationen, um die Repression der Bullen zu erschweren.

Trotz Ausnahmezustand und Stilllegung der Metro gingen am 17. Oktober insgesamt 23.000 Menschen auf die Straße. Die Repression hatte ihren Zweck verfehlt und nur die Liste der Forderungen verlängert, die gegen die Regierung gerichtet wurden. So forderten sie als Reaktion auf den Ausnahmezustand den sofortigen Rücktritt von Premierminister Prayut Chan-o-cha. Die Demonstrationen hielten an, und nach wenigen Tagen musste Prayut den Ausnahmezustand aufheben. Das zeigt zwar, dass die Regierung in der Defensive ist und planlos agiert. Aber eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, und die Regierung hat zumindest auch noch Reserven in der Schublade, so die Mobilisierung von rechten, royalistischen Kräften, die für die alte „Ordnung“ eintreten, Chaos stiften und das Militär zum Eingreifen auffordern – zur „Rettung von Monarchie und Ordnung“.

Am 17. November kam es zu neuerlichen Zusammenstößen zwischen Protestbewegung und Polizei vor dem Parlament in Bangkok anlässlich einer Debatte um die Verfassung. Auf der Tagesordnung stand der Vorschlag, hinkünftig die Mehrheit des Senats, also der zweiten Kammer, vom Volk wählen zu lassen und nicht mehr vom Militär zu ernennen. Im Abgeordnetenhaus verfügen die dem Militär und der Monarchie nahestehenden Parteien aufgrund des undemokratischen Wahlrechts freilich über eine klare Mehrheit, so dass die Chancen auf eine legale Reform praktisch null sind. Kein Wunder also, dass es zu Protesten kam und DemonstrantInnen versuchten, vor das Parlament zu gelangen, das mit Stacheldraht, Barrikaden und Wasserwerfern geschützt wurde. Mindestens 40 Demonstrierende wurden dabei verletzt. 5 erlitten laut Aussagen von Menschenrechtsorganisationen Schusswunden. Am Rande der Aktionen kam es auch zu Auseinandersetzung mit AnhängerInnen der Monarchie, die jede Verfassungsänderung ablehnen.

Die letzten Monate verdeutlichen einerseits das Durchhaltevermögen der Protestbewegung und ihre Popularität, andererseits schafft sie bisher auch nicht, die Konfrontation weiterzutreiben. Dies ist aber notwendig, soll sie nicht wie frühere Bewegungen enden. Bevor wir uns mit der Perspektive der Opposition beschäftigen, müssen wir uns zuerst aber vor Augen halten, gegen welches System sie antritt und wie dieses mit dem Kapitalismus im Land verbunden ist.

Regierung, Militär, Monarchie, Kapital

Premierminister Prayut Chan-o-cha regiert Thailand seit dem letzten Putsch im Mai 2014. Seitdem hat die Militärjunta daran gearbeitet, eine bürgerlich-demokratische Fassade aufzubauen, die die Macht des Regimes nicht zu berühren imstande ist. Die ersten 5 Jahre nutzte Prayut als Kopf der Militärjunta u. a., um die Wahlen im März 2019 so „vorzubereiten“, dass er wieder eine Regierung bilden kann, ohne auch nur annähernd über eine demokratische Mehrheit zu verfügen, die aus allgemeinen, geheimen und gleichen Wahlen hervorgegangen wäre. Nach der 2016 in Kraft getretenen Verfassung wird das gesamte Oberhaus des Parlaments vom Militär ernannt, während zuvor zumindest die Hälfte der Sitze in Wahlen bestimmt wurden. Das heißt, die Streitkräfte können jeden Beschluss des Unterhauses blockieren.

Thailands herrschende Klasse ist in sich zerstritten und unfähig, ihre Interessen in einer „demokratischen“ Form zum Ausdruck zu bringen. Ein wichtiger Teil unterhält enge Verbindungen mit der Staatsbürokratie und dem Militär, einschließlich des staatlichen und vom Militär kontrollierten industriellen Sektors. Andere Teile haben sich wiederholt vom staatlich-militärischen Apparat distanziert und bei den Massenprotesten von 2009 und 2013/2014 gegen die Regierung gestellt. Der herrschende militärisch-monarchistische Block dagegen hat selbst außerhalb des Staatsapparates und eines gewissen Klientelismus keine soziale starke Basis. Die mit ihm verbundenen Parteien fürchten selbst „normale“, also nicht von Militär und Monarchie kontrollierte und eingehegte bürgerliche Verhältnisse.

Den städtischen und ländlichen Massen vermögen sie kein glaubwürdiges Programm zu präsentieren, das diese einbindet und ihre soziale Krise aufgreift. Daher ist das Militär darauf angewiesen, das Königshaus in Anspruch zu nehmen, um seinen Machtanspruch zu legitimieren. So hängt die Regierung von der Unterstützung des Militärs und der Staatsbürokratie ab. Das Militär sieht seine Macht mit dem Weiterbestehen der Monarchie verknüpft und es scheint unmöglich, das eine ohne das andere haben zu wollen. Ein Bestandteil der politischen Krise ist also die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, ihre politische Herrschaft so zu gestalten, dass ihre verschiedenen Flügel ebenso wie die Massen demokratisch integriert werden. Während sich in der bürgerlichen Demokratie der „demokratische Wille“ wie von selbst scheinbar über die Klassen erhebt, bleibt die herrschende Fraktion der thailändischen Bourgeoisie an eine vormoderne Monarchie im Bündnis mit der Militärbürokratie gebunden, und damit an ganz rustikale polizeistaatliche Methoden, dem Volk seine Herrschaft zu „vermitteln“.

Einen zweiten Bestandteil der Krise bildet eine soziale Verwerfung, die in den Städten wie auf dem Land Millionen in Armut gestürzt hat. Thailands Regierung lässt sich für ihr erfolgreiches Management der Pandemie feiern, aber dieser „Erfolg“ lastet hart auf den Schultern der Bevölkerung. Obwohl die Regierung umfassende Lohnersatzleistungen gewährt hat, zeigen Umfragen, dass die Hälfte der Haushalte massive Einkommensverluste erleiden mussten und eine Mehrheit der informell beschäftigten ArbeiterInnen keine Unterstützung erhält. Der Tourismus ist auf null geschrumpft und das Bruttoinlandsprodukt wird 2020 um 8 % zurückgehen.

Massenbewegung und bürgerliche Führung

Als StudentInnen der Thammasat-Universität am 10. August ihr 10-Punkte-Programm verlasen, war dies zweifellos ein sehr mutiger, und für viele auch ein radikaler Schritt. Sie forderten die Abschaffung des Strafrechtsparagraphen, der Majestätsbeleidigung sanktioniert; außerdem Offenlegung und Kontrolle der Finanzen des Königshauses, die Auflösung diverser Staatsinstitutionen der Monarchie und ihre „Entpolitisierung“, also deren Trennung vom Militär und seinen Parteien.

All das geht in die richtige Richtung, aber jeder dieser Schritte stößt auf starken Widerstand von Staat und Militär. Die entscheidende Frage ist, wie dieser überwunden werden kann. Dadurch, dass grundlegendste demokratische Forderungen in diesem Land sehr radikal wirken, können auch bürgerliche Parteien, die vom Militär unterdrückt oder weggeputscht werden, in Massenbewegungen eine populäre Rolle einnehmen. Aber der Konflikt etwa zwischen den Shinawatras oder Thanathorn Juangroongruangkit und dem Militär ist nur ein relativer, nicht einer von unterschiedlichen Klasseninteressen. Beide – der ehemalige, weggeputsche Ministerpräsident Shinawatra wie auch der liberale Oppositionspolitiker Thanathorn Juangroongruangkit – stammen direkt aus den Kreisen des thailändischen Großkapitals. Thanathorn hat nicht die Massen mobilisiert, die jetzt auf der Straße sind, und er verfügt auch über keine Strategie, wie die Bewegung die Macht des Militärs brechen kann. Er warnt vielmehr vor einer Zuspitzung und vor einer offenen Konfrontation mit dem herrschenden Regime. Er appelliert an die Verantwortlichen, auf die Bewegung zuzugehen. Das ist keine Perspektive, mit der die Bewegung vorankommt, mit der sie auch nur ihre demokratischen Forderungen konsequent durchsetzen kann. Kurz gesagt, die Bourgeoisie ist keine revolutionäre Klasse, und ihre politischen Parteien können diese Krise nicht lösen. Sie wollen allenfalls eine Neuverteilung der Macht und der Pfründe im Staatsapparat innerhalb der KapitalistInnenklasse.

Die Bewegung braucht hingegen ein Programm, mit dem sie die Macht des Militärs herausfordern kann, indem sie die Proteste der StudentInnen und der städtischen Jugend mit der ArbeiterInnenklasse und den ländlichen Massen vereint und sie in Aktionskomitees und -räten organisiert. Sie sollte für eine verfassunggebende Versammlung kämpfen, die nicht durch den bürgerlichen Staat, sondern durch Komitees der Massen vorbereitet und kontrolliert wird. Um der Gefahr eines Putsches entgegenzuwirken, sollte die ArbeiterInnenbewegung unter den SoldatInnen für ihre Ziele werben und sie auffordern, im Falle des Falles mit der militärischen Führung zu brechen. Falls es zum Putsch kommt, sollte ein unbefristeter Generalstreik ausgerufen werden. Diese Maßnahmen müssen jetzt vorbereitet werden – und dafür ist es notwendig, dass SozialistInnen um die Führung der Bewegung kämpfen, um zu verhindern, dass sie von ihren bürgerlichen FührerInnen in einem Deal mit dem staatlich-militärischen Establishment geopfert wird. Das erfordert aber zugleich selbst eine politische Kraft, eine ArbeiterInnenpartei, gestützt auf ein revolutionäres Programm aufzubauen, dass den Kampf um demokratische Rechte, den Sturz der Monarchie mit dem für die sozialistische Revolution verbindet.




Ende Gelände und Fridays for Future: Fight the Crisis – Wenn nicht mit Bitten, dann mit Enteignung!

Aufruf von REVOLUTION, Neue Internationale 249, September 2020

Diesen Herbst erwarten uns nicht nur neue Temperaturrekorde, sondern auch internationale und bundesweite Mobilisierungen gegen die aktuelle Umwelt- und Energiepolitik.

Am 25.9. wollen wir uns in vielen Städten am globalen Klimastreik beteiligen und am 26. und 27.9. das rheinische Braunkohlerevier blockieren!

 Denn gigantische Buschbrände, Hitzerekorde, Gletscherschmelzen und Naturkatastrophen machen keine Pause, nur weil gerade eine weltweite Pandemie ausgebrochen ist. Vielmehr sehen wir, dass Klima-, Gesundheits- und Wirtschaftskrise untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist die Art und Weise, wie wir produzieren und wer die Produktion kontrolliert, die darüber bestimmt, ob wir in der Lage sein werden, diese Krisen zu bewältigen.

Eine Produktionsweise, die sich am Profit und nicht an der Befriedigung der Bedürfnisse von Mensch und Natur orientiert, wird nur weitere Krisen auslösen und ihre Kosten auf den Schultern der Jugend, der ärmeren Länder und der Lohnabhängigen abladen. Kapitalismus macht krank und zerstört Klima und Gesundheit!

Und was ist die Antwort der Regierung? Während bei der Deutschen Bahn Massenentlassungen drohen und die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland allein im März um 33 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist, pumpt die Bundesregierung Milliarden in klimaschädliche Konzerne wie die Lufthansa. Gleichzeitig werden Corona-Leugner_Innen und Regenwaldkiller_Innen wie Bolsonaro hofiert, während es in Brasilien zu einem Massensterben aufgrund von Covid-Infektionen kommt. Den Gipfel der Ignoranz stellt das neue sogenannte „Kohleausstiegsgesetz“ dar und ist eine Beleidigung für alle von uns, die im letzten Jahr ernsthaft für Klimagerechtigkeit gekämpft haben. Von Ausstieg ist dort keine Rede, sondern lediglich von einem milliardenschweren 18-jährigen Stützungsprogramm. Ganz nebenbei wurde dann heimlich mit Datteln 4 noch ein weiteres Kohlekraftwerk eröffnet. Ob’s nun darum geht, unsere Erde zu retten oder den Schaden von Corona klein zu halten: Wir sehen, dass die Profite weniger immer über dem Interesse der Mehrheit stehen.

Obwohl die Klimabewegung international riesige Menschenmassen hinter sich vereinigen konnte, hat sie außer medialer Aufmerksamkeit kaum etwas erreicht. Wir können also nicht weiter machen wie bisher. Wir haben keine Illusionen in das Parlament und wollen auch nicht bei der nächsten Wahl in den Bundestag einziehen um dann Lobbyist_Innen anzubetteln, dass sie unsere Erde retten. Wir wollen das Problem an der Wurzel packen! Wenn Bitten an Politik und Wirtschaft nichts bringen, können wir nicht einfach selber zu denen werden, die das System mit verwalten. Stattdessen müssen wir durch Streiks Druck aufbauen und zum Mittel der Enteignung unter Arbeiter_Innenkontrolle greifen, da unsere Forderungen nicht gehört werden.

Wir fordern Organisationen wie die Linkspartei, SPD und Gewerkschaften auf, ihre gesamte Mitgliedschaft für die Aktionen zu mobilisieren und sich gegen die kommenden Angriffe zu wehren. Denn wir brauchen keine Predigten für „nationale Einheit“, wir brauchen keinen Kuschelkurs mit dem Kapital. Stattdessen gibt es mit der Perspektive, die zentralen gesellschaftlichen Sektoren wie Gesundheitssystem, Industrieproduktion, Energie und Bildung unter demokratische Kontrolle zu bringen und nicht der kapitalistischen Profitlogik zu überlassen, einen Weg, wie wir kollektiv und solidarisch gegen Klimawandel, Wirtschaftskrise und Pandemie kämpfen können.

 Lasst uns als Klimabewegung voranschreiten und Kämpfe miteinander verbinden, um erfolgreich zu sein! Lasst uns für eine globale Antikrisenbewegung kämpfen, die uns als Jugendlichen, Lohnabhängigen und Migrant_Innen eine unabhängige Stimme verleiht und die kommenden Angriffe auf Klima, Löhne, Bildung und Sozialsysteme abwehren kann – eine Antikrisenbewegung, die international und antirassistisch ist, sonst kann sie keinen Erfolg haben! Internationale Krisen lassen sich nicht von einem Land aus bekämpfen und nationale (Schein-)Lösungen bedeuten letztlich nur, dass andere Länder stärker ausgebeutet werden, um kleine Verbesserungen vor der eigenen Haustür zu schaffen. Unsere Partner_Innen sind dabei nicht die Grünen oder die NGOs, die durch ihre Beteiligung am Kohle„kompromiss“ die Klimabewegung verraten haben. Vielmehr ist es die organisierte Arbeiter_Innenklasse, die durch ihr Mobilisierungspotential und ihre Stellung in der kapitalistischen Produktionsweise zusammen mit uns das System aus den Angeln heben kann. Dafür müssen wir ihr zum Beispiel in den Tarifrunden im ÖPNV solidarisch zur Seite stehen und unsere Kämpfe verbinden!

  • Schließt Euch unserem Block im globalen Klimastreik und bei Ende Gelände an, wenn Ihr auch der Meinung seid, dass wir Wirtschafts- und Klimakrise nicht durch Bitten, sondern nur durch Enteignungen stoppen können!
  • Für ein Mindesteinkommen, kostenlosen Nahverkehr und umfangreiche Gesundheitsversorgung für alle, bezahlt aus der Besteuerung von Profiten und Vermögen!
  • Für die Vergesellschaftung von Energie, Verkehr und Produktion unter demokratischer Kontrolle der Produzent_Innen und Verbraucher_Innen! Gegen jede einzelne Entlassung!
  • Für eine klimafreundliche Umgestaltung von Produktion, Energie und Verkehr, kostenlose Umschulung der Beschäftigten und einen gemeinsamen Branchentarifvertrag!
  • Anerkennung von Klimakrise und Corona-Pandemie als Fluchtgründe! Für offene Grenzen und volle Staatsbürger_Innenrechte für alle! Kampf gegen den Rassismus! Selbstverteidigungsstrukturen in Betrieben, Kiezen und überall, wo es notwendig ist!
  • Lasst uns diese sozialistische Perspektive der kommenden Krise und dem/den mit ihr wachsenden Rassismus, Militarismus und Verschwörungstheorien entgegenstellen!

Wenn ihr den Aufruf oder den Block unterstützen wollt, wendet Euch an:

germany@onesolutionrevolution.de




6 Monate nach den Morden von Hanau: Kein Vergessen!

Martin Suchanek, Infomail 1115, 25. August 2020

Zehntausende solidarisierten sich am 19. und 22. August mit den 9 Opfern des rassistischen Mordes vom 19. Februar in Hanau. Damals wurden Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu bei Anschlägen in einer Shisha-Bar in der Hanauer Innenstadt und rund um einen Kiosk mit angeschlossener Shisha-Bar im Stadtteil Kesselstadt brutal durch einen Akt faschistischer Barbarei aus dem Leben gerissen. Weitere Personen wurden verletzt. Schließlich erschoss der Mörder sich selbst und seine Mutter.

Sein Bekennerschreiben lässt keine Zweifel übrig. Er betrachtete sich als Teil eines erz-reaktionären, faschistischen „Krieges“, der das Blutbad – ähnlich wie der norwegische Attentäter Breivik oder der Massenmörder von Christchurch – als Fanal zum Pogrom an „fremden Rassen“ und „VolksverräterInnen“ betrachtete.

Die Aktionen und Demonstrationen am 19. August, die von breiten Bündnissen antirassistischer, migrantischer, linker und gewerkschaftlicher Organisationen getragen wurden, wie auch das Gedenken am 22. August setzten hier nicht nur ein Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls. Sie setzten vor allem auch ein Zeichen gegen den grassierenden, weit verbreiteten Rassismus in Deutschland. Dieser hat in den letzten Jahren im Zuge des Rechtsrucks weiter zugenommen – nicht bloß bei Nazis, Pegida oder AfD, sondern, wie wir an der Forderung nach härteren Grenzkontrollen und repressiver Flüchtlingspolitik sehen können – auch bis tief in die „Mitte der Gesellschaft“.

Allein am 19. August wurden in mindestens 40 Städten Demonstrationen und Kundgebungen organisiert, die größten mobilisierten mit mehrere tausend TeilnehmerInnen.

Am 22. August wurde die für Hanau geplante bundesweite Demonstration jedoch abgesagt, nachdem der SPD-Oberbürgermeister Claus Kaminsky am Abend des 21. August die Versammlung mit Verweis auf steigende Corona-Infektionen verbot.

Statt der Demonstration fand eine bewegende Kundgebung mit den Angehörigen, FreundInnen, Familien der Opfer und BewohnerInnen des Hanauer Stadtteils Kesselstadt statt. Diese wurde in 30 Städte als Stream übertragen. In vielen gab es mehrere solcher Live-Übertragungen gleichzeitig, so dass es bundesweit wohl an die 100 Kundgebungen gab. Darüber hinaus verfolgten wohl weit über 100.000 Menschen die Reden der Betroffenen online. Die gesamte Kundgebung und die ergreifenden Beiträge können auch weiter auf dem YouTube-Kanal der „Initiative 19. Februar“ gehört werden.

So wurde der 22. August trotz Demonstrationsverbots in Hanau zum deutlichen, ermutigenden politischen Zeichnen. Das ist vor allem den vielen lokalen UnterstützerInnen und AktivistInnen zu verdanken, die im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht die Technik, Infrastruktur und Bewegung für die Kundgebungen stellten.

Auf uns selbst vertrauen!

Wir müssen an dieser Stelle aber auch einen kritischen Punkt ansprechen, der uns und wohl auch Tausende andere, die nach Hanau fahren wollten und sich an den Kundgebungen im ganzen Bundesgebiet beteiligten, wütend gemacht und verärgert hat. Wie Tausende andere erfuhren wir am Abend vom 21. zum 22. August, dass der Hanauer SPD-Oberbürgermeister, der ursprünglich als Redner bei der Abschlusskundgebung vorgesehen war, die Demo kurzerhand verboten hatte.

Wir wollen die Gefahr einer 2. Corona-Welle keineswegs leugnen. Wir halten ein Demonstrationsverbot aber für absolut falsch und unangebracht. Es stellt eine inakzeptable und gefährliche Einschränkung demokratischer Rechte dar, auch wenn es mit dem Hinweis auf Schutz vor Corona begründet wurde. Erstens hatte das Demo-Bündnis über Wochen in Verhandlungen mit der Stadt Hanau ein Hygienekonzept ausgearbeitet. Zweitens ist es – anders als bei den rechten 20.000 – 30.000 Corona-SpinnerInnen, die am 1. August anstandslos durch Berlin marschieren durften – bei allen antirassistischen Demos und Kundgebungen üblich, dass die TeilnehmerInnen Masken tragen und auf gegenseitigen Schutz achten. Natürlich kann das Virus, wie bei jeder Begegnung von Menschen auch auf Demonstrationen übertragen werden. Aber es ist zynisch und verlogen, so zu tun, als gingen angesichts von brummender Party-Gastronomie, Besäufnissen, angesichts der vom Kapitalinteresse diktierten Öffnung der Betriebe – beispielhaft sei hier auf die Zustände in den Schlachthöfen verwiesen – und Schulen ausgerechnet von politischen Demonstrationen Ansteckungsgefahren aus.

Außerdem fragt sich doch, warum die Absage erst wenige Stunden vor Beginn erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, der eine Durchsetzung der Aktion vor Gericht innerhalb kurzer Fristen extrem erschwerte.

Wir wollen dem SPD-Oberbürgermeister gar nicht absprechen, dass er ganz gerne vor tausenden Menschen gesprochen hätte und im Allgemeinen auch antirassistisch eingestellt ist. Doch was nützt das, wenn er in einer Nacht- und-Nebel-Aktion die Absage einer konkreten Demonstration erzwingt. Wahrscheinlich ist auch ihm klar, dass diese nicht der „Super-Spreader“ des Virus gewesen wäre.

Aber offenkundig hatte er vor der demagogischen „Kritik“ und Hetze aus rechten Kreisen Angst, die im Falle einer großen und kämpferischen Gedenkdemonstration unvermeidlich von der AfD und anderen offenen RassistInnen, aber auch von „respektablen“ Bürgerlichen wie CDU und FDP sowie von einigen Grünen und selbst sozialdemokratischen ParteifreundInnen gekommen wäre. Alle jene, die den Rassismus in der Gesellschaft, vor allem aber bei Polizei, Bundeswehr und staatlichen Behörden verharmlosen, die MörderInnen gern als „EinzeltäterInnen“ hinstellen, hätten sicher die „Gelegenheit“ ergriffen, allen, die zum Gedenken an 9 Ermordete und unzählige weitere Opfer rassistischer Anschläge auf die Straße gehen, „Verantwortungslosigkeit“ vorzuwerfen.

Dabei hätten solche rechten „KritikerInnen“ und ihre FreundInnen in der politischen Mitte allerdings nur getan, was sie immer tun: Die TäterInnen und den Nährboden des Rassismus relativieren, verharmlosen – und gleichzeitig die Trauer, Wut, Angst der Betroffenen ignorieren und die reale Gefahr für MigrantInnen herunterspielen. Die Absage der Demo hat unserer Meinung nach nichts mit Gesundheitsschutz zu tun, sondern stellt ein Einknicken vor der zu erwartenden Verleumdung durch Rechte und bürgerliche Kräfte dar. In Wirklichkeit wird die Kapitulation diese nicht beschwichtigen, sondern nur ermutigen, jeder anderen linken Großdemo „Verantwortungslosigkeit“ vorzuwerfen – schon allein in der Hoffnung, dass deren OrganisatorInnen ihre Aktionen gleich freiwillig absagen.

Mit dem Untersagen der Demonstration wurden zugleich die Rechte tausender Anti-RassistInnen beschnitten – eine Einschränkung, die uns auch bei anderen antifaschistischen, antirassistischen oder antikapitalistischen Mobilisierungen droht.

Wir halten daher auch das Akzeptieren des Demo-Verbotes durch das Hanauer Bündnis „Initiative 19. Februar“ für politisch falsch. In Zukunft sollten wir versuchen, unsere Aktionen auch gegen einknickende und feige sozialdemokratische Stadtoberen durchzusetzen. Die GenossInnen der Frankfurter internationalistischen und antirassistischen Linken, die nach der Übertragung der Gedenkkundgebung eine Spontandemonstration mit hunderten TeilnehmerInnen durchführten und durchsetzten, agierten in diese Situation vorbildlich. GenossInnen von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION beteiligten sich an der Aktion. Vielen Dank an die OrganisatorInnen der Initiative! Hoch die internationale Solidarität! One solution – Revolution!

Link zum Flugblatt von ArbeiterInnenmacht und Revolution zu den Demos und Aktionen am 19. und 22. August:

Kein Vergessen! Beteiligt Euch an den Demonstrationen im Gedenken an die Ermordeten von Hanau!