Linke Koalition in Graz: Fortschritt nur oberhalb der Wurzel

Michael Märzen, Infomail 1173, 19. Dezember 2021

Nach dem jüngsten Wahlsieg der KPÖ in Graz steht nun die linke Koalition gemeinsam mit Grünen und SPÖ. Die Stadtregierung wurde am 17. November angelobt und Elke Kahr zur Bürgermeisterin gewählt. Das Arbeitsprogramm der Linkskoalition trägt den Titel „Gemeinsam für ein neues Graz. Sozial. Klimafreundlich. Demokratisch.“ Viele linke Kräfte in Österreich sehen in der Arbeit der KPÖ Graz nun ein mögliches Erfolgsmodell. Denn nicht nur der Wahlkampf war erfolgreich, der Koalitionspakt lässt auch einige Verbesserungen erhoffen. Es zeigt sich allerdings ebenfalls, dass diese Linksregierung keine Ansätze für radikale Veränderungen in Planung hält.

Regierungsprogramm

Das Arbeitsprogramm der neuen Grazer Stadtregierung liest sich eingangs durchaus positiv. So stellt sie sich in die Tradition des Antifaschismus, der Friedens-,

Frauen- und Umweltbewegung. Außerdem wird die Klimakrise als eine zentrale Herausforderung unserer Zeit bezeichnet. Das zeigt klar, wo sich die drei Parteien mit ihrer gemeinsamen Arbeit verorten. Weitere Bezüge auf eine Bewegung, eine wirkliche Einbindung der Bevölkerung oder gar eine Ermächtigung der Lohnabhängigen fehlen allerdings.

Für einen Eindruck vom Arbeitsprogramm der Koalition seien an dieser Stelle ein paar der 21 Schwerpunktprojekte genannt: An erster Stelle wird die Realisierung der Süd-West-Strecke genannt, einer Straßenbahnverbindung, die schon vor zwei Jahren im Grazer Gemeinderat beschlossen wurde. An zweiter Stelle steht die Schaffung leistbaren Wohnraums durch den Bau neuer Gemeindewohnungen, aber leider nicht, wie viele. An dritter Stelle kommt „jeden Tag einen Baum pflanzen“. Weitere nennenswerte Punkte sind die Reduktion der Kinderbetreuungsbeiträge, die Erhöhung des Zuschusses zur Jahreskarte Graz und zum Klimaticket Steiermark, ein Fahrrad für jedes Kind oder die Ausrichtung der Wirtschaftsförderung nach sozialen, regionalen und ökologischen Kriterien. Und – abseits von diesen Schwerpunkten – das Bekenntnis zu einem ausgeglichenen Budget.

Brisanz „Haus Graz“

Ein zentrales Anliegen im Wahlprogramm der KPÖ Graz war die „Wiedereingliederung aller ausgelagerten Betriebe in das Eigentum der Stadt und Rückführung der Grazer Linien in einen städtischen Eigenbetrieb“. Dabei ging es insbesondere um das „Haus Graz“, also um die direkten und indirekten Beteiligungen der Stadt, denn die Ausgliederungen brächten keine Einsparungen und der Gemeinderat habe keine Entscheidungsbefugnis über Leistungen, Tarife und Personalpolitik mehr. Nach der Wahl war das Thema schnell vom Tisch.

Laut KP-Klubobmann Manfred Eber habe man sich das genauer angesehen und festgestellt, dass man bei einer Rekommunalisierung unter den Abteilungen keine Gegenrechnungen mehr anstellen könnte und man Körperschaftssteuer zahlen müsse. Das würde Belastungen in Höhe von einem bis zu zweistelligen Millionenbetrag jährlich bedeuten. Stattdessen findet sich im Koalitionspakt nur noch die Sicherstellung von Plätzen in den Aufsichtsräten für alle im Stadtsenat (= Proporzregierung) vertretenen Parteien. Das Argument ist schwer nachvollziehbar, denn immerhin müssten sich über Zusammenführungen und die Abschaffung von teuren Managergehältern deutliche Einsparungen bewirken lassen. Und wenn nicht, könnte man es sich oder die Reichen ruhig auch ein bisschen kosten lassen. Denn die Überführung von zentralen Unternehmen in öffentliches Eigentum ist wohl das wichtigste Anliegen kommunistischer Politik, weil sie den Weg aus der Profitlogik ebnet und demokratische Kontrolle bis zur Verwaltung durch die ArbeiterInnen selbst ermöglicht und damit die Durchsetzung der Interessen jener, welche die notwendige Arbeit in unserer Gesellschaft leisten.

Kommunismus und Kommunalregierung

Überhaupt zeichnet sich die Linkskoalition nicht gerade durch eine Konfrontation mit dem Kapital aus. In einem Bündnis mit den Grünen und der Sozialdemokratie ist das auch nur schwer vorstellbar. Zugegeben, die Möglichkeiten einer Stadtregierung hierfür sind durchaus begrenzt und die Stimmung der Massen ist nicht unbedingt revolutionär.

Aber trotzdem wäre es Aufgabe einer linken Regierung unter Führung von KommunistInnen, in Worten und Taten die Widersprüche zwischen den Klassen für alle sichtbar zu machen und zuzuspitzen. Als Stoßrichtung wäre es ratsam, sich die Worte der Kommunistischen Internationale von 1920 aus den Leitsätzen über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus in Erinnerung zu rufen. Dort heißt es unter anderem, dass KommunistInnen die „Mehrheit in Kommunaleinrichtungen nutzen sollen, um revolutionäre Opposition gegen die bürgerliche Zentralgewalt“ zu treiben, „die Schranken (zu) zeigen, die die bürgerliche Staatsgewalt wirklich großen Veränderungen entgegensetzt“ und „auf dieser Grundlage schärfste revolutionäre Propaganda (zu) entwickeln“.

Statt sich aber darauf zu konzentrieren, betont die KPÖ lieber die Arbeit auf Augenhöhe selbst mit den reaktionären bürgerlichen Kräften ÖVP und FPÖ. Wenn sie sich nicht auf die Enge des Stadtbudgets einschränken würde, könnte sie weitreichende Sozialmaßnahmen einleiten und einen politischen Kampf um deren Finanzierung führen. Und zumindest über die Rekommunalisierung könnte sie mit demokratischen Kontrollmechanismen in den Betrieben gewisse Möglichkeiten zur Ermächtigung der arbeitenden Menschen aufzeigen. Im Gegensatz dazu ist lediglich der Aussage des Klubobmanns der SPÖ-Graz beizupflichten, dass der Regierungspakt sehr viele sozialdemokratische Themen beinhalte. Und was das in der Realität bedeutet, haben Jahrzehnte sozialdemokratischer, bürgerlicher Reformpolitik zur Genüge bewiesen.




Ampelkoalition: Transformation fürs Kapital

Jürgen Roth, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nun ist es amtlich: Seit dem Nikolaustag steht die Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Die Grünen hatten als letzte Partei gleichfarbiges Licht gegeben und der neue Kanzler, Olaf Scholz, präsentierte die MinisterInnenriege seiner Partei. Ob und welche Geschenke seine Riege auf den Gabenteller legen wird, wollen wir im Folgenden untersuchen.

Rahmenbedingungen

Eines drängt sich bereits jetzt auf: Dass es auf Bundesebene – erst zum 2. Mal, nach dem Kabinett Adenauer I -, jetzt einer Dreierkoalition zum Regieren bedarf, ist an sich schon ein Zeichen für die schwindende Stabilität der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie. Dahinter steckt der schwere Seegang einer immer rauer werdenden Konkurrenz um Weltmarktanteile.

Dieser wird erst recht Flutwellen zeitigen im Fall einer künftigen Rezession in Kombination mit den Rechnungen, die Klima- und Coronakrise, die Krise der EU und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ebenso unerbittlich für die arbeitenden Klassen ausstellen werden. Wir können also damit rechnen, dass das Regierungsschiff alles andere als eine klare See durchqueren muss und dabei auch vom Kentern bedroht ist. Ein Überdauern der Legislaturperiode kann daher keineswegs als sicher vorausgesetzt werden.

Von einem klaren Kurs ist die Scholz-Crew kaum weniger weit entfernt als die geschäftsführende Bundesregierung. Zwar wurde die Frist für Notmaßnahmen über den 15. Dezember hinaus verlängert, wird über eine Impfpflicht vermehrt nachgedacht, aber grundsätzlich wird an der Erwartung eines baldigen Endes der Pandemie festgehalten. Die Strategie schlingert zwischen Impfkampagnen und bewusster Durchseuchung der jungen Bevölkerung (siehe dazu den Artikel von Christian Gebhardt in dieser Ausgabe) hin und her.

Die oberste Maxime bildet die Abwendung eines Lockdowns für das Großkapital, gefolgt von einer Vermeidung der Überlastung von Intensivstationen und Krankenhäusern.

Queerpolitischer Aufbruch?

In der Geschlechter- und Familienpolitik kündigt das Koalitionspapier umfassende Reformen an. Vorweg: Es handelt sich hierbei tatsächlich um das fortschrittlichste Kapitel. Bis 2030 soll die Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht sein. Frauen sollen besser vor Gewalt geschützt werden und der Gender Pay Gap, die geschlechtlich geprägte Lohndifferenz soll überwunden werden. Dazu will man das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln und den Klageweg vereinfachen. Warum das reichen soll, um diesen Ausdruck systematischer Frauenunterdrückung zu überwinden, steht in den Sternen. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird jedenfalls nicht angekratzt. Eher ist das Gegenteil zu erwarten.

Der neue und alte Arbeitsminister, Hubertus Heil, will Familien, die „AlltagshelferInnen“ in Anspruch nehmen, 40 % Zuschuss gewähren. Dies dürfte v. a. GutverdienerInnen zugutekommen, die noch zusätzlich durch die Erhöhung der Minijobobergrenze (siehe unten) in die Lage versetzt werden, die Hausarbeit auf schlecht bezahlte migrantische Frauen abzuwälzen.

Das Werbeverbot für Abtreibungen (§ 219a) soll abgeschafft, Schwangerschaftsabbruch in die ärztliche Ausbildung aufgenommen werden. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen zahlen. Ob das dazu beitragen wird, dass nicht wie bisher nur wenige ÄrztInnen Abtreibungen durchführen, bleibt indes fraglich, wenn weiterhin § 218 solche Eingriffe verbietet.

Das reaktionäre Transsexuellengesetz wird durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt, dem zufolge Selbstauskunft für eine Änderung des Eintrags im Personenregister genügt. Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen bezahlt die GKV. Trans- und Interpersonen, die aufgrund früheren Rechts von Zwangsoperationen betroffen waren, sollen entschädigt, Schutzlücken im OP-Verbot bei intergeschlechtlichen Kindern geschlossen werden.

Diese Verbesserungen sind zweifellos zu begrüßen. Mit Ausnahme der genannten Mängel stellen auch die anderen geschlechter- und familienpolitischen Reformen einen Fortschritt dar. Deren Finanzierung steht aber auf einem anderen Blatt (vgl. Sparmaßnahmen bei Frauenhäusern) und wird ein notwendiges Kampffeld für die Umsetzung der fortschrittlichen Regeln für die ArbeiterInnenklasse und geschlechtlich Unterdrückten markieren.

Bürgerrechte

Dieser Abschnitt klingt besser, als er ist. Dahinter verbergen sich schließlich auch Fragen der Überwachungsbefugnisse des Staates – also eigentlich die Einschränkung von Bürgerrechten.

Die Sicherheitsgesetze sollen bis Ende 2023 überprüft werden („Überwachungsgesamtrechnung“). Eine „Freiheitskommission“ wird verantwortliche Stellen bei Gesetzesvorhaben beraten. Videoüberwachung soll nur an „Kriminalitätsschwerpunkten“ stattfinden – deren Festlegung unterliegt jedoch weiter dem Staat. Sowohl Vorratsdatenspeicherung als auch Bundestrojaner werden weiter mit zusätzlichen geringfügigen Auflagen („Login-Falle“) zum Einsatz kommen dürfen. Das Demokratieförderungsgesetz soll bis 2023 eine Stärkung der „Zivilgesellschaft“ bewirken. Doch das Zwangsbekenntnis zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als möglicher Einstieg zu einer „Extremismusklausel“ (z. B. Antisemitismusvorwürfe ggü. BDS). Mit keinem Wort geht das Koalitionspapier auf die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses ein.

Die letzten 30 Jahre waren durch ungebremste Verschärfung der Kriminalitätspolitik geprägt. Die angekündigte „Effizienzsteigerung“ in Strafverfahren lässt die Fortführung dieser Kontinuität vermuten. Die Koalition will indes den Eigengebrauch von Cannabis vorsichtig legalisieren und die Sicherheitsgesetze auf Vereinbarkeit mit den Bürgerrechten prüfen. Insgesamt dürfen aber solche kleinen Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kurs auf eine Ausweitung der staatlichen Repressionsrechte fortgesetzt wird, wenn auch von einigem konservativen Ballast entrümpelt.

Mindestlohn und BürgerInnengeld

Er soll auf 12 Euro/Stunde steigen. Das stellt zwar einen nicht zu unterschätzenden Schritt nach vorn dar und eine materielle Verbesserung für Millionen. Lt. Hans-Böckler-Stiftung verdienen zur Zeit 8,6 Millionen Beschäftigte weniger als 12 Euro/Stunde. Aber es bleibt ungewiss, ob die Anhebung schnell eingeführt wird. Sollte er lt. Sondierungspapier noch im 1. Jahr erhöht werden, schweigt sich der Koalitionsvertrag über Fristen aus. Ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens wird allerdings auch die Minijobobergrenze von 450 auf 520 Euro steigen.

Die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gibt es aber gerade hier, sagen ArbeitsmarktforscherInnen. So erhalten MinijobberInnen meist keinen bezahlten Urlaub, keine Lohnfortzahlung bei Krankheit. 77 % bekamen zuletzt weniger als 11,50 Euro Stundenlohn. Lt. IAB-Studie vom Oktober 2021 verdrängen sie in Kleinbetrieben bis zu 500.000 sozialversicherungspflichtige Stellen. Für Arbeitslose bilden diese eher ein Ghetto als eine Brücke zur Sozialversicherungspflicht.

Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld. Forderten die Grünen noch im Wahlkampf einen um 50 Euro höheren Regelsatz und ein Ende der Sanktionen, so bleibt es bei 3 Euro ab 2022. Mitwirkungspflichtig und bürokratischer Schikane ausgesetzt bleiben auch die BürgergeldbezieherInnen.

Außer der Tariftreue für öffentliche Aufträge hat sich die Ampeltroika darüber hinaus wenig vorgenommen. Eine einfachere Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge ist nicht geplant. Die Talfahrt bei der Tarifbindung wird sich fortsetzen. So droht selbst die Anhebung des Mindestlohns – des einzigen handfesten Versprechens für die Lohnabhängigen -, durch weitere Deregulierung, Umstrukturierung und Inflation aufgefressen zu werden. Das BürgerInnengeld entpuppt sich schon jetzt als Mogelpackung.

Wohnungsbau

Die Bundesampel will das vom Bundesverwaltungsgericht gekippte kommunale Vorkaufsrecht nur prüfen. Auch eine Öffnungsklausel, die den Bundesländern die Einführung eines Mietendeckels erlauben würde, ist nicht vorgesehen. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Mietenregulierung des Landes Berlin jüngst abgelehnt. Die weitgehend wirkungslose Mietpreisbremse wird nicht nachgezogen. Erhöhungsmöglichkeiten für bestehende Mietverhältnisse werden geringfügig von 15 % auf 11 % für einen Zeitraum von 3 Jahren beschnitten. Die geplante Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit bleibt einziger Trost. SPD und Grüne hatten noch im Wahlkampf für „Mietenstopp“ geworben. Ein neoliberaler Kurs im Wohnungsbausektor wird allenfalls notdürftig durch das Beschwören – vor allem privaten! – Neubaus übertüncht. Der Ampelvertrag enthält fast ausschließlich Verschlechterungen.

Gesundheit und Pflege

Lauterbachs Posten ist der ungeliebteste in  der Regierung. Eine paar Verbesserungen werden versprochen. So soll in den Krankenhäusern kurzfristig eine verbindliche Personalbemessung, zunächst in Gestalt der von ver.di, Deutschem Pflegerat und Krankenhausgesellschaft erarbeiteten Pflegepersonalregelung 2.0, gelten. Ferner soll die Grenze zwischen ambulantem und stationärem Sektor durchlässiger werden. Der Bund wird allerdings die Länder bei ihren Investitionen im Rahmen der dualen Finanzierung nicht unterstützen.

Aufzupassen gilt es vor allem bei 2 Punkten: Die Herausnahme der Pflege aus den Fallpauschalen seit Januar 2020 führte nicht zum automatischen Personalaufbau. 2021 gibt es sogar deutschlandweit 4.000 Intensivbetten weniger als 2020. Die Pflegekräfte werden seitdem zusehends mit Aufgaben belastet, die vorher sog. Hilfskräfte ausübten. So sehr ein integriertes und durchlässiges Gesundheitssystem an sich erstrebenswert ist, so muss bei der neuen Koalition davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um Vorhaben zur Stärkung des öffentlichen auf Kosten des privaten Bereichs handelt.

Vor allem aber: Alles steht letztlich unter Finanzierungsvorbehalt. Im Gesundheitswesen fehlt es an 130.000 Beschäftigten. Zu den notwendigen Mitteln, um den Pflegenotstand und die Überlastung der Krankenhäuser zu beenden, finden sich allenfalls vage Zusagen. Die Fortsetzung der Misere ist solcherart vorprogrammiert.

Migration

Auch hier finden sich einige an sich begrüßenswerte Absichtserklärungen. Geduldete mit stets nur kurzfristig verlängerten Aufenthaltsgenehmigungen („Kettenduldungen“) sollen mehr Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Geflüchtete mit Schutzstatus dürfen ihre Angehörigen nachholen.

So weit einige Versprechungen. Die Einführung eines Punktesystems („Chancenkarte“) soll im Einwanderungsrecht eine 2. Säule etablieren. Wird nett verpackt, soll aber letztlich vor allem dazu beitragen, die Anwerbung jener migrantischen Arbeitskräfte zu erleichtern, die vom Kapital gebraucht werden – und im Umkehrschluss die Abweisung jener, die nicht verwertet werden können. Letztlich wird also nur die Segregation unter MigrantInnen im Interesse der Wirtschaft neu organisiert.

Zugleich plant die neue Bundesregierung eine „Rückführungsoffensive“, also beschleunigte Abschiebungen abgelehnter AsylbewerberInnen, neben einer Reduzierung „irregulärer Migration“. Die Außenfestung der EU wird so weiter gestärkt.

Finanz-, Steuer- und Verteidigungspolitik

Nicht zufällig bekleidet FDP-Chef Lindner den Posten des Finanzministers. Die Schuldenbremse soll ab übernächstem Jahr wieder eingeführt werden. Steuererhöhungen soll es nicht geben. Alles Gerede über Reichensteuer bei Grünen und insbes. SPD, seien es Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Vermögensteuer usw., erweist sich als Makulatur. Woher die nötigen Investitionen in z. B. Energiewende und Digitalisierung kommen sollen, wird die Masse der Bevölkerung recht bald im eigenen Portemonnaie merken.

Angesichts der Corona- und Umbaukosten befindet sich die Ampel in einer Zwickmühle, also folgerichtig auf Gelb: Das Gesamtkapital gilt es zu erneuern bei gleichzeitigem Sparzwang. Während die Koalition das große Kapital und dessen Restrukturierung im Namen von Modernisierung, Digitalisierung und ökologischer Wende fördern wird, werden mit der Schuldenbremse im öffentlichen Sektor die Daumenschrauben angezogen. Wie soll der Ausbau von Bildung, Schulen und Unis so erreicht werden? Durch private InvestorInnen. Die neoliberale Seite der Ampel lässt grüßen.

Im Koalitionsvertrag findet sich kein wörtliches Bekenntnis zum Ziel, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben. Doch der Beschaffung bewaffneter Drohnen – nur für garantiert demokratische Tötungen zugelassen – wird ebenso zugestimmt, wie der Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotentials – inkl. nuklearer Teilhabe Deutschlands, versteht sich -, weltweiten Militäroperationen und Beteiligung an der Konfrontationspolitik der USA das geschriebene Wort gegönnt wird. Unter Außenministerin Baerbock werden die transatlantische Waffengeschwisterschaft und Aggressionsdrohungen bekräftigt. Auch wenn das Bundesverteidigungsministerium in die Hände der SPD fällt – Struck lässt von der „Verteidigung am Hindukusch“ aus grüßen.

Diese Kernressorts der Regierung offenbaren, was droht – Verschlechterungen auf ganzer Linie.

Umweltpolitik

Apropos Wärme: Da war doch was mit der Erde? Wird der wackere Ritter Robert Habeck mit seinem neuen Superministerium für Wirtschaft und Umwelt eine Lanze für die Natur brechen? Antwort: eher einen Zahnstocher! Beim Kohleausstieg ist die schwammige Formel des Sondierungspapiers übernommen worden: „idealerweise bis 2030“ statt 2038. Der CO2-Zertifikatepreis – eine „sozial ungerechte“, indirekte, nicht progressive Massensteuer – soll nicht unter 60 Euro/t sinken.

Die Kohlekraftwerke laufen indes munter weiter. Ihr Strom wird nämlich zuerst abgerufen, da das in der Treibhausgasbilanz günstigere Erdgas teurer ist. Bis 2030 sieht der Koalitionsvertrag einen Anteil erneuerbarer Energien auf dem Strommarkt von 80 % vor. In 9 Jahren müsste die Erzeugung von Ökostrom dann aber verdoppelt werden. Am ehrgeizigsten fallen die Ziele bei der Windenergie auf See aus. Hier mischen ja auch die großen Konzerne am meisten mit.

Vor allem im Verkehr, der in der BRD zu mehr als 1/5 zur Treibhausgasemission beiträgt, sieht’s noch finsterer aus. Ein Ende der Steuerfreiheit für Kerosin und der Subventionen für Diesel ist außer Sicht. Neuer Autominister wird der FDPler Wissing.

Fazit

„Mehr Fortschritt wagen“, „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“: Diese süffisanten Formeln aus dem Arsenal der Volksverdummungsindustrie namens Werbung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Masse der Lohnabhängigen gerade angesichts der eingangs geschilderten internationalen Rahmenbedingungen sich nachhaltig warm anziehen muss. Das Geschenkpaket, das Ersatznikolaus Onkel Olaf seinen Untertanenkindern aus dem Schuh gezaubert hat, erweist sich in großen Teilen als vergifteter Köder.

Vor allem Fortschrittlichen steht stets Lindner, der das nötige Kleingeld für die Blütenträume unserer bunten Dreifaltigkeit genehmigen muss. Der hat die Hand an einem entscheidenden Machthebel. Das rechtfertigt das Urteil, das letztlich die rechteste Partei in der VorturnerInnenriege, die FDP, sich am besten bei den Koalitionsverhandlungen in Szene setzen konnte. Schritte zur Rentenfinanzierung, mehr private Investitionen, Lockerungen der Arbeitszeitregeln untermauern diese Einschätzung. Schließlich sei noch angemerkt: Ostdeutschland mit seinen speziellen Problemen wird nur einmal auf 178 Seiten erwähnt.

Beinahekanzlerin Annalena Baerbock wird als Außenministerin in die ausgetretenen Fußstapfen ihres grünen Vorgängers, „Jugoslawienbomber“ Joschka Fischer, treten und in transatlantischer Nibelungentreue einen verschärft konfrontativen Kurs gegen China und Russland (Ukraine, Gaspipeline Nord Stream 2) mitfahren.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen. Das Zerbröckeln des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der 3-Parteien-Regierung. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen wird, sie sich zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe aufschwingt. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen oder die riesigen Demonstrationen der Umweltbewegung und antirassistische Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen, dass auch neue Potentiale des Widerstandes entstanden sind.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den Angriffen von Rot-Grün-Gelb und des Kapitals gemeinsam entgegenzutreten.




Ampelkoalition: rechts abbiegen erlaubt!

Jürgen Roth, Infomail 1172, 8. Dezember 2021

Nun ist es amtlich: Seit dem Nikolaustag steht die Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Die Grünen hatten als letzte Partei gleichfarbiges Licht gegeben und der neue Kanzler, Olaf Scholz, präsentierte die MinisterInnenriege seiner Partei. Ob und welche Geschenke seine Riege auf den Gabenteller legen wird, wollen wir im Folgenden untersuchen.

Rahmenbedingungen

Eines drängt sich bereits jetzt auf: Dass es auf Bundesebene – erst zum 2. Mal nach dem Kabinett Adenauer I – jetzt einer Dreierkoalition zum Regieren bedarf, ist an sich schon ein Zeichen für die schwindende Stabilität der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie. Dahinter steckt der schwere Seegang einer immer rauer werdenden Konkurrenz um Weltmarktanteile.

Dieser wird erst recht Flutwellen zeitigen im Fall einer künftigen Rezession in Kombination mit den Rechnungen, die Klima- und Coronakrise, die Krise der EU und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ebenso unerbittlich für die arbeitenden Klassen ausstellen werden. Wir können also damit rechnen, dass das Regierungsschiff alles andere als eine klare See durchqueren muss und dabei auch vom Kentern bedroht ist. Ein Überdauern der Legislaturperiode kann daher keineswegs als sicher vorausgesetzt werden.

Bewährungsprobe Coronavirus

Von einem klaren Kurs ist die Scholz-Crew kaum weniger weit entfernt als die geschäftsführende Bundesregierung. Zwar wurde die Frist für Notmaßnahmen über den 15. Dezember hinaus verlängert, wird über eine Impfpflicht vermehrt nachgedacht, aber grundsätzlich wird an der Erwartung eines baldigen Endes der Pandemie festgehalten. Die Strategie schlingert zwischen Impfkampagnen und bewusster Durchseuchung der jungen Bevölkerung (siehe dazu den Artikel „Mit der Impfpflicht gegen die vierte Welle?“ von Christian Gebhardt in dieser Ausgabe) hin und her.

Die oberste Maxime bildet die Abwendung eines Lockdowns für das Großkapital, gefolgt von einer Vermeidung der Überlastung von Intensivstationen und Krankenhäusern. Eine irrsinnig umständliche Logistik führt zur Impfstoffknappheit. Vor gerade eben erst geschlossenen Impfzentren formen sich jetzt lange Schlangen in der Kälte Wartender. Ebenfalls verlässt man sich auf weltweite Lieferketten im Fall der Testkits. Eigene Kapazitäten wurden trotz negativer Erfahrungen seit 2020 nicht aufgebaut. Resultat auch hier: Es herrscht Knappheit. Dem Wirrwarr unterschiedlicher und sich widersprechender Regelungen arbeitet bisher auch kein zentralisierter Krisenstab aus ExpertInnen entgegen. Coronapolitik findet v. a. in Talkshows statt.

Queerpolitischer Aufbruch?

In der Geschlechter- und Familienpolitik kündigt das Koalitionspapier umfassende Reformen an. Vorweg: Es handelt sich hierbei tatsächlich um das fortschrittlichste Kapitel. Bis 2030 soll die Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht sein. Frauen sollen besser vor Gewalt geschützt werden und der Gender Pay Gap, die geschlechtlich geprägte Lohndifferenz soll überwunden werden. Dazu will man das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln und den Klageweg vereinfachen. Warum das reichen soll, um diesen Ausdruck systematischer Frauenunterdrückung zu überwinden, steht in den Sternen. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird jedenfalls nicht angekratzt. Eher ist das Gegenteil zu erwarten.

Der neue und alte Arbeitsminister, Hubertus Heil, will Familien, die „AltagshelferInnen“ in Anspruch nehmen, 40 % Zuschuss gewähren. Dies dürfte v. a. GutverdienerInnen zugute kommen, die noch zusätzlich durch die Erhöhung der Minijobobergrenze (siehe unten) in die Lage versetzt werden, die Hausarbeit auf schlecht bezahlte migrantische Frauen abzuwälzen.

Unter „Gleichstellung“ werden zwar nur Frauen und Männer angesprochen, doch enthält wohl zum 1. Mal ein Koalitionsvertrag ein Unterkapitel „Queeres Leben“. Ein „Nationaler Aktionsplan“ soll für Akzeptanz und Schutz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt sorgen. Hasskriminalität aufgrund des Geschlechts und gegen queere Personen soll zukünftig separat erfasst werden.

Das Werbeverbot für Abtreibungen (§ 219a) soll abgeschafft, Schwangerschaftsabbruch in die ärztliche Ausbildung aufgenommen werden. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen zahlen. Ob das dazu beitragen wird, dass nicht wie bisher nur wenige ÄrztInnen Abtreibungen durchführen, bleibt indes fraglich, wenn weiterhin § 218 solche Eingriffe verbietet.

Das reaktionäre Transsexuellengesetz wird durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt, dem zufolge Selbstauskunft für eine Änderung des Eintrags im Personenregister genügt. Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen bezahlt die GKV. Trans- und Interpersonen, die aufgrund früheren Rechts von Zwangsoperationen betroffen waren, sollen entschädigt, Schutzlücken im OP-Verbot bei intergeschlechtlichen Kindern geschlossen werden.

Das neue Familien- und Abstammungsrecht bringt auch Fortschritte bei Kindern in Ehen von 2 Frauen, die jetzt beide automatisch als Eltern anerkannt werden. Vorher galt das nur für Ehen unter Männern. Elternschaftsanerkennung außerhalb der Ehe und unabhängig vom Geschlecht soll ebenso möglich sein, wie das „kleine Sorgerecht“ auf bis zu 2 Personen neben den rechtlichen Eltern erweitert wird. Eine „Verantwortungsgemeinschaft“ jenseits von Liebe und Ehe von 2 oder mehr Personen soll rechtliche Kindesverantwortung übernehmen können.

Diese Verbesserungen sind zweifellos zu begrüßen, sprengen sie doch die an biologische Abstammung gekoppelte Sorge für die nachwachsende Generation, tragen somit ein Stück weit zur Sozialisierung dieser Art bisher intimer Nahbeziehungen bei. Diese sollte auch zur Erleichterung von Adoptionen führen, die in der BRD unnötig schwer gestaltet werden. Mit Ausnahme der genannten Mängel stellen auch die anderen geschlechter- und familienpolitischen Reformen einen Fortschritt dar. Deren Finanzierung steht aber auf einem anderen Blatt (vgl. Sparmaßnahmen bei Frauenhäusern) und wird ein notwendiges Kampffeld für die Umsetzung der fortschrittlichen Regeln für die ArbeiterInnenklasse und geschlechtlich Unterdrückten markieren.

Gemeinnützigkeits- und Bürgerrecht

Dieser Abschnitt klingt besser, als er ist. Dahinter verbergen sich schließlich auch Fragen der Überwachungsbefugnisse des Staates – also eigentlich die Einschränkung von Bürgerrechten.

Innerhalb ihrer steuerbegünstigten Zwecke sowie tagespolitisch gelegentlich darüber hinaus sollen gemeinnützige Organisationen agieren dürfen, ohne ihr Steuerprivileg (Abzugsfähigkeit von Spenden) zu verlieren. Transparenzpflicht und Regeln zur Offenlegung der Spendenstruktur und Finanzierung sollen handhabbar gemacht werden. Das klingt zwar gut, aber wenn zugleich die staatliche Überwachung zunimmt und die Gemeinnützigkeit linker Vereine weiter kassiert wird?

Weitere Themen aus dem Katalog der Bürgerrechte und Demokratieförderung drehen sich um die Überwachungspraktiken. Die Sicherheitsgesetze sollen bis Ende 2023 überprüft werden („Überwachungsgesamtrechnung“). Eine „Freiheitskommission“ wird verantwortliche Stellen bei Gesetzesvorhaben beraten. Videoüberwachung soll nur an „Kriminalitätsschwerpunkten“ stattfinden – deren Festlegung unterliegt jedoch weiter dem Staat. Sowohl Vorratsdatenspeicherung als auch Bundestrojaner werden weiter mit zusätzlichen geringfügigen Auflagen („Login-Falle“) zum Einsatz kommen dürfen. Das Demokratieförderungsgesetz soll bis 2023 eine Stärkung der „Zivilgesellschaft“ bewirken. Doch das Zwangsbekenntnis zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als möglicher Einstieg zu einer „Extremismusklausel“ (z. B. Antisemitismusvorwürfe ggü. BDS). Mit keinem Wort geht das Koalitionspapier auf die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses ein.

Die Bundespolizei soll einer Kennzeichnungspflicht für ihre BeamtInnen unterliegen. Beschwerden nimmt ein/e beim Bundestag angesiedelte/r Polizeibeauftragte/r entgegen.

Die letzten 30 Jahre waren durch ungebremste Verschärfung der Kriminalitätspolitik geprägt. Die angekündigte „Effizienzsteigerung“ in Strafverfahren lässt die Fortführung dieser Kontinuität vermuten. Die Koalition will indes den Eigengebrauch von Cannabis vorsichtig legalisieren und die Sicherheitsgesetze auf Vereinbarkeit mit den Bürgerrechten prüfen. Noch im November 2020 hatte die Große Koalition die seit 2002 geltenden Terrorismusbekämpfungs- und Überwachungsgesetze, die auf den damaligen Innenminister Otto Schily („Otto-Katalog“) zurückgehen, entfristet. Eine Überarbeitung des Strafrechtssystems (Ersatzfreiheitsstrafe, Maßregelvollzug) und seine Entrümpelung in puncto Entkriminalisierung von Bagatelldelikten (Schwarzfahren, Cannabisnutzung, Ladendiebstahl, Unterschlagung geringwertiger Sachen) und Abschaffung von Sonderregeln (gegen Genitalverstümmelung, die sowieso als schwere Körperverletzung gilt) stehen an.

Insgesamt dürfen aber einige kleine Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kurs auf eine Ausweitung der staatlichen Repressionsrechte fortgesetzt wird, wenn auch von einigem konservativen Ballast entrümpelt.

Mindestlohn

Er soll auf 12 Euro/Stunde steigen. Das stellt zwar einen nicht zu unterschätzenden Schritt nach vorn dar und eine materielle Verbesserung für Millionen. Lt. Hans-Böckler-Stiftung verdienen zur Zeit 8,6 Millionen Beschäftigte weniger als 12 Euro/Stunde. Aber es bleibt ungewiss, ob die Anhebung schnell eingeführt wird. Sollte er lt. Sondierungspapier noch im 1. Jahr erhöht werden, schweigt sich der Koalitionsvertrag über Fristen aus. Ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens wird allerdings auch die Minijobobergrenze von 450 auf 520 Euro steigen.

Die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gibt es aber gerade hier, sagen ArbeitsmarktforscherInnen. MinijobberInnen erhalten meist keinen bezahlten Urlaub, keine Lohnfortzahlung bei Krankheit. 77 % bekamen zuletzt weniger als 11,50 Euro Stundenlohn, ohne dass berücksichtigt wird, dass sie keinen bezahlten Urlaub genießen. Der Staat subventioniert diesen prekären Sektor zudem. Insgesamt fallen nur 28 % statt 40 % Sozialbeiträge an. 2014 belief sich der geschätzte Ausfall für die Sozialversicherungen auf 3 Mrd. Euro. 6,9 Millionen Menschen hatten im Frühjahr einen Minijob – 18 % aller abhängig Beschäftigten! Lt. IAB-Studie vom Oktober 2021 verdrängen sie in Kleinbetrieben bis zu 500.000 sozialversicherungspflichtige Stellen. Für Arbeitslose bilden diese eher ein Ghetto als eine Brücke zur Sozialversicherungspflicht. In der Pandemie wurden viele entlassen. Anspruch auf KurzarbeiterInnengeld haben sie nicht. StudentInnen, RentnerInnen, Beschäftigte mit Zweitjobs bessern so ihre Einkünfte auf. Leben kann man davon nicht. Insbesondere verheiratete Frauen mit einem/r berufstätigen PartnerIn müssten brutto doppelt so viel verdienen, um netto auf gleiche Einkünfte zu kommen – Ehe förderndem Steuerrecht und Minijobsubvention durch den Staat sei Dank.

Außer der Tariftreue für öffentliche Aufträge hat sich die Ampeltroika darüber hinaus wenig vorgenommen. Eine einfachere Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge ist nicht geplant. Die Talfahrt bei der Tarifbindung wird sich fortsetzen. So droht selbst die Anhebung des Mindestlohns – des einzigen handfesten Versprechens für die Lohnabhängigen – durch weitere Deregulierung, Umstrukturierung und Inflation aufgefressen zu werden.

MieterInnenschutz

Die Bundesampel will das vom Bundesverwaltungsgericht gekippte kommunale Vorkaufsrecht nur prüfen. Auch eine Öffnungsklausel, die den Bundesländern die Einführung eines Mietendeckels erlauben würde, ist nicht vorgesehen. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Mietenregulierung des Landes Berlin jüngst abgelehnt. Die weitgehend wirkungslose Mietenbremse wird nicht nachgezogen. Erhöhungsmöglichkeiten für bestehende Mietverhältnisse werden geringfügig von 15 % auf 11 % für einen Zeitraum von 3 Jahren beschnitten. Die geplante Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit bleibt einziger Trost. SPD und Grüne hatten noch im Wahlkampf für „Mietenstopp“ geworben. Ein neoliberaler Kurs im Wohnungsbausektor wird allenfalls notdürftig durch das Beschwören – vor allem privaten! – Neubaus übertüncht. Der Ampelvertrag enthält fast ausschließlich Verschlechterungen.

Gesundheit und Pflege

Lauterbachs Posten ist der ungeliebteste in  der Regierung. In der Altenpflege sollen die Eigenanteile der Pflegebedürftigen gesenkt und die Soziale Pflegeversicherung von „versicherungsfremden Leistungen“ entlastet werden. In den Krankenhäusern soll kurzfristig eine verbindliche Personalbemessung, zunächst in Gestalt der von ver.di, Deutschem Pflegerat und Krankenhausgesellschaft erarbeiteten Pflegepersonalregelung 2.0, gelten. Ferner soll die Grenze zwischen ambulantem und stationärem Sektor durchlässiger werden (Hybridpauschalen, niedrigschwellige Präventions- und Behandlungsangebote in der Fläche, finnisches Modell Gesundheitskiosk, GemeindepflegerInnen, GesundheitslotsInnen). Der Bund wird allerdings die Länder bei ihren Investitionen im Rahmen der dualen Finanzierung nicht unterstützen, wie es vor und im Wahlkampf hier und da aus den Reihen von SPD und Grünen noch anklang.

Aufzupassen gilt es vor allem bei 2 Punkten: Die Herausnahme der Pflege aus den Fallpauschalen seit Januar 2020 führte nicht zum automatischen Personalaufbau. 2021 gibt es sogar deutschlandweit 4 000 Intensivbetten weniger als 2020. Die Pflegekräfte werden seitdem zusehends mit Aufgaben belastet, die vorher sog. Hilfskräfte ausübten. Auf deren Kosten erfolgt also z. T. die Finanzierung dieses an sich begrüßenswerten Schritts. Insbesondere sind wir aber misstrauisch ggü. den Plänen zur Verzahnung des ambulanten Sektors mit dem stationären. So sehr ein integriertes und durchlässiges Gesundheitssystem an sich erstrebenswert ist, so muss bei der neuen Koalition davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um Vorhaben zur Stärkung des öffentlichen auf Kosten des privaten Bereichs der niedergelassenen ÄrztInnen handelt. Es gilt, vor Plänen in der Schublade zu warnen, die eine weitere Ausdünnung der Krankenhäuser anstreben, die auf dem Land zum Wegfall der stationären, flächendeckenden Grundversorgung durch schäbigen ambulanten Ersatz führen könnten.

Vor allem aber: Alles steht letztlich unter Finanzierungsvorbehalt. Im Gesundheitswesen fehlt es an 130 000 Beschäftigten. Zu den notwendigen Mitteln, um den Pflegenotstand und die Überlastung der Krankenhäuser zu beenden, finden sich allenfalls vage Zusagen. Die Fortsetzung der Misere ist solcherart vorprogrammiert.

Migration

Auch hier finden sich einige an sich begrüßenswerte Absichtserklärungen. Geduldete mit stets nur kurzfristig verlängerten Aufenthaltsgenehmigungen („Kettenduldungen“) sollen mehr Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Geflüchtete mit Schutzstatus dürfen ihre Angehörigen nachholen. Nicht straffällige, Deutsch lernende, abgelehnte AsylbewerberInnen mit Arbeitseinkommen sollen dauerhaftes Bleiberecht erlangen können. Erleichterungen wird es auch für Menschen ohne Papiere geben (eidesstattliche Versicherung über die eigene Identität), folglich eine Bleibeperspektive.

So weit die Versprechungen. Die Einführung eines Punktesystems („Chancenkarte“) soll im Einwanderungsrecht eine 2. Säule etablieren. Wird nett verpackt, soll aber letztlich vor allem dazu beitragen, die Anwerbung jener migrantischen Arbeitskräfte zu erleichtern, die vom Kapital gebraucht werden – und im Umkehrschluss die Abweisung jener, die nicht verwertet werden können. Die Segregation unter MigrantInnen wird also neu organisiert – nicht zuletzt, um so eine langjährige Forderung der Unternehmerverbände nach mehr Fachkräften zu befriedigen.

Zugleich plant die neue Bundesregierung eine „Rückführungsoffensive“, also beschleunigte Abschiebungen abgelehnter AsylbewerberInnen, neben einer Reduzierung „irregulärer Migration“. Die Außenfestung der EU wird so weiter gestärkt.

Finanz-, Steuer- und Verteidigungspolitik

Nicht zufällig bekleidet FDP-Chef Lindner den Posten des Finanzministers. Die Schuldenbremse soll ab übernächstem Jahr wieder eingeführt werden. Steuererhöhungen soll es nicht geben. Alles Gerede über Reichensteuer bei Grünen und insbes. SPD, seien es Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Vermögensteuer usw., erweist sich als Makulatur. Woher die nötigen Investitionen in z. B. Energiewende und Digitalisierung kommen sollen, wird die Masse der Bevölkerung recht bald im eigenen Portemonnaie merken.

Die Schuldenbremse ist ein Erbe der Finanzkrise und wurde 2009 in der BRD eingeführt, 2012 über den EU-Fiskalpakt ausgeweitet. Durch drastische Sparsamkeit sollte die Eurozone wieder zu einem attraktiven Ziel für die Finanzmarkthaie werden. In den letzten 10 Jahren stiegen die deutschen Staatsausgaben stärker als in deren Rest. Gleichzeitig diente der Fiskalpakt als Hebel, um den Druck auf die Partnerstaaten aufrechtzuerhalten.

Angesichts der Corona- und Umbaukosten befindet sich die Ampel in einer Zwickmühle, also folgerichtig auf Gelb: Das Gesamtkapital gilt es zu erneuern bei gleichzeitigem Sparzwang. Auf nationaler Ebene sollen es kreative Maßnahmen richten: mehr Kredite durch die Förderbank KfW und mehr Schulden für staatliche Gesellschaften wie die DB AG, Rückzahlungen werden gestreckt. Der EU-Aufbaufonds NGEU gilt zwar als zeitlich und in der Höhe befristet, aber das ist ja etwas anderes als eine einmalige Sache.

Während die Koalition das große Kapital und dessen Restrukturierung im Namen von Modernisierung, Digitalisierung und ökologischer Wende fördern wird, werden mit der Schuldenbremse im öffentlichen Sektor die Daumenschrauben angezogen. Wie soll der Ausbau von Bildung, Schulen und Unis so erreicht werden? Durch private InvestorInnen. Die neoliberale Seite der Ampel lässt grüßen.

Im Koalitionsvertrag findet sich kein wörtliches Bekenntnis zum Ziel, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben. Doch der Beschaffung bewaffneter Drohnen – nur für garantiert demokratische Tötungen zugelassen – wird ebenso zugestimmt, wie der Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotentials – inkl. nuklearer Teilhabe Deutschlands, versteht sich –, weltweiten Militäroperationen und Beteiligung an der Konfrontationspolitik der USA das geschriebene Wort gegönnt wird. Außenministerin-Baerbock-Grün oder Kanzler-Adenauer-Schwarz, die transatlantische Waffengeschwisterschaft wird mit Aggressionsdrohungen bekräftigt. Auch wenn das Bundesverteidigungsministerium in die Hände der SPD fällt – Struck lässt von der „Verteidigung am Hindukusch“ aus grüßen.

Diese Kernressorts der Regierung offenbaren, was droht – Verschlechterungen auf ganzer Linie.

Grundsicherung und Umweltpolitik

Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld. Forderten die Grünen noch im Wahlkampf einen um 50 Euro höheren Regelsatz und ein Ende der Sanktionen, so bleibt es bei 3 Euro ab 2022. Mitwirkungspflichtig bleiben auch die BürgergeldbezieherInnen. Winzige Brosamen stellen dar: befristeter Bonus für Teilnahme an Fördermaßnahmen; Sanktionen, die einen Fall unters Existenzminimum zur Folge hätten, werden 1 Jahr ausgesetzt; Prüfung von Schonvermögen und  Wohnung entfällt, aber nur in den ersten 2 Jahren nach Antragstellung; das Schonvermögen fällt nach 2 Jahren höher aus als bisher; übersteigt die Wohnung eine „angemessene“ Größe, muss der Umzug nicht mehr sofort erfolgen; Einkommen und Verdienste von Kindern neben Studium oder Schule sowie von Pflege- und Heimkindern werden nicht mehr angerechnet. Als Pferdefüße könnten sich pauschale, regionalspezifische Auszahlungen der Kosten für Unterkunft und Heizung sowie die Einführung der Kindergrundsicherung erweisen. Bei Letzterer würden Regelsatz, kostenfreies Mittagessen und Zuschüsse für Schulbedarf und Klassenfahrten wegfallen. Erstere würde Menschen mit alten Heizungsanlagen und in Wohnungen mit schlechter Wärmedämmung benachteiligen. Zudem will Rot-Grün-Gelb den einzelnen Jobcentern mehr „Gestaltungsspielräume“ dadurch verschaffen. Im nicht heuchlerischen normalen Sprachgebrauch bedeutet das: Arme Gemeinden werden ihre Bürgergeldklientel mehr schurigeln!

Apropos Wärme: Da war doch was mit der Erde? Wird der wackere Ritter Robert Habeck mit seinem neuen Superministerium für Wirtschaft und Umwelt eine Lanze für die Natur brechen? Antwort: eher einen Zahnstocher! Beim Kohleausstieg ist die schwammige Formel des Sondierungspapiers übernommen worden: „idealerweise bis 2030“ statt 2038. Der CO2-Zertifikatepreis – eine „sozial ungerechte“, indirekte, nicht progressive Massensteuer – soll nicht unter 60 Euro/t sinken. Seit August 2021 liegt er im EU-Emissionshandel über dieser magischen Grenze. Die Kohlekraftwerke laufen munter weiter. Ihr Strom wird nämlich zuerst abgerufen, da das in der Treibhausgasbilanz günstigere Erdgas teurer ist. Bis 2030 sieht der Koalitionsvertrag einen Anteil erneuerbarer Energien am Strommarkt von 80 % vor. In 9 Jahren müsste die Erzeugung von Ökostrom dann aber verdoppelt werden. Am ehrgeizigsten fallen die Ziele bei der Windenergie auf See aus. Hier mischen ja auch die großen Konzerne am meisten mit. Im gewerblichen Neubau soll eine Solardachpflicht kommen, bei neuen Privathäusern sollen Solarzellen zur Regel werden. Neue Gaskraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung werden forciert. Sinn machen diese aber v. a. erst dann, wenn sie von durch erneuerbare Energien produziertem Erdgas betrieben werden. Letzteres könnte auch einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Speicherproblematik leisten. Dafür hat das Flickwerk, das sich Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) nennt, aber keinen Plan. Vor allem im Verkehr, der in der BRD zu mehr als 1/5 zur Treibhausgasemission beiträgt, sieht’s noch finsterer aus. Ein Ende der Steuerfreiheit für Kerosin und der Subventionen für Diesel ist außer Sicht. Neuer Autominister wird der FDPler Wissing.

Fazit

„Mehr Fortschritt wagen“, „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“: Diese süffisanten Formeln aus dem Arsenal der Volksverdummungsindustrie namens Werbung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Masse der Lohnabhängigen gerade angesichts der eingangs geschilderten internationalen Rahmenbedingungen sich nachhaltig warm anziehen muss. Das Geschenkpaket, das Ersatznikolaus Onkel Olaf seinen Untertanenkindern aus dem Schuh gezaubert hat, erweist sich in großen Teilen als vergifteter Köder.

Vor allem Fortschrittlichen steht stets Lindner, der das nötige Kleingeld für die Blütenträume unserer bunten Dreifaltigkeit genehmigen muss. Der hat die Hand an einem entscheidenden Machthebel. Das rechtfertigt das Urteil, das letztlich die rechteste Partei in der VorturnerInnenriege, die FDP, sich am besten bei den Koalitionsverhandlungen in Szene setzen konnte. Schritte zur Rentenfinanzierung, mehr private Investitionen, Lockerungen der Arbeitszeitregeln untermauern diese Einschätzung. Schließlich sei noch angemerkt: Ostdeutschland mit seinen speziellen Problemen wird nur einmal auf 178 Seiten erwähnt.

Beinahekanzlerin Annalena Baerbock wird als Außenministerin in die ausgetretenen Fußstapfen ihres grünen Vorgängers, „Jugoslawienbomber“ Joschka Fischer, treten und in transatlantischer Nibelungentreue einen verschärft konfrontativen Kurs gegen China und Russland (Ukraine, Gaspipeline Nord Stream 2) mitfahren.

Der unmittelbar größte Druck auf die neue Regierung wird angesichts der Schwäche der organisierten ArbeiterInnenschaft, insbesondere der Linkspartei, eindeutig von rechts ausgeübt werden. Grüne und SPD drohen, sich zu verschleißen angesichts hoher Ansprüche (Grüne) bzw. deren Gegenteils (SPD). Die FDP könnte sich als Gewinnerin erweisen: Sie kann sich mit gewissen fortschrittlichen Regelungen (Senkung des Wahlalters, Cannabislegalisierung, Abschaffung des § 219a), aber auch Klima- und Umweltfragen sowie der Digitalisierung) freiheitlich-modern schmücken, ohne gegen ihren neoliberalen Kern zu verstoßen.

Darum: Kein Vertrauensvorschuss für die Ampel! Bereitet den Widerstand gegen die zu erwartenden Angriffe vor, beginnend mit einer Aktionskonferenz aller Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung! Dafür müssen wir auch alle von SPD und Grünen enttäuschten Teile der Krankenhaus- und Umweltbewegung, der MigrantInnen und gesellschaftlich Unterdrückten mit an Bord holen.




Mitgliederentscheid Berliner Linkspartei: Nein zu Rot-Grün-Rot!

Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Bis zum 17. Dezember sollen die Mitglieder der Berliner Linkspartei in einer Urabstimmung entscheiden, ob ihre Koalition mit SPD und Grünen fortgesetzt werden soll oder nicht.

Für alle, die den Koalitionsvertrag einigermaßen nüchtern lesen, ist die Sache klar. Das Papier trägt die Handschrift des rechten Flügels der SPD, garniert mit allerlei bürgerlich-grünen Elementen. Giffey und Jarasch, SPD und Grüne, stehen politisch eng zusammen. Die Linkspartei sorgt für etwas Sozialschaum, Bewegungsberuhigung und eine Flankendeckung nach links, mit denen die FDP natürlich nicht dienen kann. Außerdem stellt die DIE LINKE allein schon durch das Mitmachen die linken Flügel von SPD und Grünen ruhig. Dafür werden diesmal giftige Kröten geschluckt, die selbst für sie, über Jahre im parlamentarischen Opportunismus erprobt, schwer verdaulich werden dürften.

Die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne soll trotz klarer Mehrheit in eine sog. „Expertenkommission“ politisch entsorgt, der Wille von einer Million WählerInnen ignoriert werden. Das Bauressort geht, durchaus folgerichtig, an die SPD. Die Räumung besetzter Häuser wird ebenso fortgesetzt wie die von MieterInnen, die ihre Mieten nicht mehr zahlen können.

Auch wenn viel von einem Rückkauf der S-Bahn durch die Stadt erzählt wird, bleibt es weiter bei Ausschreibungen an private AnbieterInnen. Dass die rassistische Abschiebepraxis und „racial profiling“ nicht nur in sog. Problemgebieten weiter fortgesetzt werden, dafür steht nicht nur SPD-Innensenator Geisel. Die Befugnisse der Polizei werden ausgeweitet, ihre Kräfte aufgestockt und aufgerüstet.

Die Beschäftigten in den Krankenhäuser, in den Bezirken und bei den Ländern können weiter auf die Erfüllung sozialer Versprechungen warten. Im Bildungsbereich soll das reaktionäre Berufsbeamtentum wieder gestärkt werden.

Man muss schon zu den SchönrednerInnen aus der Spitze der Berliner Linkspartei gehören, um bei so viel Schatten auch noch Licht ausmachen zu können und unverdrossen an der Koalition festzuhalten.

Opposition

Doch erstmals seit die PDS und später die Linkspartei in Regierungen mit SPD bzw. SPD und Grünen eintraten, hat sich eine größere innerparteiliche Opposition gebildet, die sich gegen die weitere Regierungsbeteiligung wendet. So erzwang eine Gruppe von 47 Delegierten die Einberufung eines Landesparteitages zur Diskussion des Koalitionsvertrags für den 4. Dezember, ein erstes öffentliches Kräftemessen zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Fortsetzung des alten Senats als Rot-Grün-Rot (unter geänderten Kräfteverhältnissen).

Die GegnerInnen der Parteispitze reichen von grundsätzlichen KritikerInnen einer solchen Regierung bis hin zu deren ehemaligen UnterstützerInnen, für die jedoch eine Fortsetzung der Senatsbeteiligung auf Basis des Koalitionsvertrags einem politischen Selbstmord gleichkommt (und die damit einen gewissen Realismus an den Tag legen).

Erstere Parteilinkeströmung ist vor allem in der Plattform Zusammen für eine linke Opposition vertreten, die sich vor allem auf die linken Bezirksverbände Neukölln und Mitte stützt. Etliche ihrer bekannteren AnhängerInnen sind bei marx21 sowie AKL, SoL und SAV organisiert. Darüber hinaus unterstützen Linksjugend [’solid] und SDS Berlin die Plattform.

Ehemalige SenatsbefürworterInnen sind um linke Abgeordnete wie Katalin Gennburg gruppiert. Gennburg und andere Delegierte repräsentieren eine breitere Schicht von Mitgliedern und FunktionärInnen der Linkspartei, die zwar die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen nicht grundsätzlich ablehnen, den bestehenden Koalitionsvertrag aber schlichtweg für eine politische Zumutung und einen Ausverkauf aller linksreformistischen Versprechungen der Partei halten.

Insgesamt umfassen die beiden Strömungen rund ein Drittel der Delegierten zum Berliner Parteitag. Dass sich diese offene, bis hinein in Teile des Funktionärskörpers reichende Opposition bildet, hat wohl mehrere, miteinander verbundene Gründe:

a) Die desaströse Wahlniederlage der Linkspartei bei den Bundestags- und die Verluste bei den Berliner Wahlen. Diese haben den bestehenden Apparat geschwächt und damit auch den Kredit des Berliner Parteivorstandes und seiner KoalitionsmacherInnen.

b) Der Druck, den Bewegungen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die Krankenhausbewegung und antirassistische Mobilisierungen auf die Partei ausüben.

Gerade weil die Berliner Linkspartei mit diesen zumindest teilweise verbunden ist, zeichnet sich deutlich ab, dass sie mit ihnen in Konflikt geraten wird, sollte sie die Beschlüsse des Senats umzusetzen müssen.

c) Die Wahlniederlage hat auch das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Strömungen durcheinandergebracht, die sich seit dem 26. September faktisch paralysieren.

Das Wagenknecht-Lager bewegt sich weiter nach rechts und arbeitet an seiner Selbstentsorgung, die RegierungssozialistInnen verfügen außer über die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen über kein Konzept. Eine starke Opposition gegen eine neuerliche Senatsbeteiligung und erst recht die Verhinderung der Koalition würden ebenso wie die Wahl von Jules El-Khatib zum neuen Landessprecher in Nordrhein-Westfalen die Bewegungslinke stärken.

Berliner Landesparteitag und die Taktik der Spitze

Der Landesparteitag vom 4. Dezember stellte ein erstes Kräftemessen zwischen der Berliner Parteiführung und der Opposition dar. Vorweg: Wer die rund sechsstündige Übertrag miterlebte, konnte unschwer feststellen, dass zwischen den beiden Flügeln keine wirkliche Waffengleichheit besteht. Wie in reformistischen Parteien üblich, führte die Parteispitze auch gleich Parteitagsregie.

Das erste Drittel der Versammlung wurde von SprecherInnen der Führung, SenatorInnen, VerhandlerInnen und VertreterInnen der Bundespartei bestimmt, die sich fast ausschließlich für eine Fortsetzung der Koalition aussprachen.

Katina Schubert und Klaus Lederer präsentierten mit ihren Reden gewissermaßen das Skript für alle anderen UnterstützerInnen einer Koalitionsregierung.

Es gebe viel Schatten, vor allem den bitteren Verlust des Stadtentwicklungs- und Wohnungsressorts, aber eben auch viel Licht, das nicht übersehen werden dürfe. Außerdem existiere auch viel Gestaltungsspielraum in den Ressorts der Linkspartei.

Vor allem aber: Opposition führe zu Isolation und nicht zur Verankerung in außerparlamentarischer Opposition, die dann ja keine Ansprechpartnerin in der Regierung mehr hätte und für die es dann noch schlimmer käme. Die Partei dürfe nicht an Befindlichkeiten hängen und in die „Wohlfühlzone“ Opposition zurückziehen, sondern müsse für die Menschen da sein. Elke Breitenbach, die scheidende Sozialsenatorin, bemühte gar Bertolt Brecht. Wer im Senat kämpfe, könne verlieren, wer nicht kämpfe, also in die Opposition gehe, habe schon verloren. Wo DIE LINKE eigentlich in Jahren ihrer Regierungsbeteiligung wirklich gesiegt hat, verschwieg Breitenbach geflissentlich.

Schließlich wurde von der Parteispitze auch noch die FDP als mögliche alternative Regierungspartnerin von SPD und Grünen ins Spiel gebracht. Wer die Koalition ablehne, würde objektiv nur Giffey helfen, doch noch die Ampel durchzusetzen. Da macht die Linkspartei die Ampelpolitik, natürlich mit einigen nebensächlichen Verbesserungen, gleich selbst und verhindert so die FDP.

Auch während der weiteren Stunden sprach sich eine Mehrheit der Delegierten für die Fortsetzung der Koalition aus. Zusätzlich gestützt wurde dies durch etliche, wenn nicht alle VertreterInnen von Gewerkschaften, Bündnissen wie DWe und der sog. Stadtgesellschaft. Die meisten waren für eine rot-grün-rote Koalition trotz ihrer Schattenseiten. Einige warnten jedoch auch recht deutlich davor. So enthielt sich Rouzbeh Taheri von DWe zwar einer direkten Empfehlung zum Nein, stellte aber die Frage in den Raum, wie die Linksparteispitze eigentlich auf die Idee komme, dass sie politisch geschwächt all das im Senat durchsetzen könne, was ihr vier Jahre nicht gelang.

Interessant war auch, dass sich Tom Erdmann von der GEW trotz Vorbehalten für einen rot-grün-roten Senat aussprach, weil sonst die FDP drohe. Die ver.di-Vertreterin Jana Seppelt erklärte hingegen, dass die Aktiven der Krankenhausbewegung enttäuscht und sauer auf die Koalitionsregierung seien und ihr Fachbereich keine eindeutige Position zu deren Fortsetzung einnähme.

GegnerInnen

Die GegnerInnen der Koalition waren unter den SprecherInnen eindeutig in der Minderheit, was aber auch der Parteitagsregie selbst geschuldet war. Dies machte Lucia Schnell in ihren Beiträgen und einem Geschäftsordnungsantrag deutlich, als sie aufzeigte, dass sich unter den RednerInnen relativ wenige Personen befanden, die „nur“ Delegierte zum Landespartei waren und keine BerichterstatterInnen von Verhandlungsgruppen, SenatorInnen oder Gäste.

GegnerInnen der Weiterführung der Koalition wie Katalin Gennburg verwiesen darauf, dass das Gerade von Licht und Schatten banal sei und von der eigentlichen Frage nur ablenke, nämlich war am Schalter einer rot-grün-roten-Regierung säße – und das wären alle anderen, nur nicht die Linkspartei.

Ferat Koçak, einer der bekanntesten GegnerInnen der Fortsetzung der Koalition, kritisierte, dass die Linkspartei nicht nur ein paar Kröten, sondern einen Elefanten schlucken müsse, wenn sie in die neoliberale Regierung mit „racial profiling“, Abschiebungen und Wohnungsräumungen eintrete. Er machte auch deutlich, dass er in jedem Fall bei der Wahl des neuen Senats im Abgeordnetenhaus mit Nein stimmen werde.

Keine Abstimmung

All das wird die Spitze der Linkspartei, deren Opportunismus nur durch schier endlosen Selbstbetrug übertroffen wird, nicht weiter jucken. Sie wird vielmehr alle Mittel, die dem Apparat zur Verfügung stehen, dafür einsetzen, dass bei der Urabstimmung ein Ja rauskommt. Dies hätte für die Parteiführung den zusätzlichen Wert, die politische Verantwortung für die Senatsbeteiligung im Krisenfall der Basis zuzuschieben, die ihr ja in dieser Form von plebiszitärer Demokratie den „Auftrag“ erteilt hätte.

Auf welche Kniffe die Parteiführung dabei zurückgreift, zeigt schon der Parteitag. Nach sechs Stunden Debatte stand ein Antrag von Katalin Gennburg und anderen Delegierten zur Abstimmung, der folgende Empfehlung enthielt: „Der Landesparteitag von DIE LINKE Berlin empfiehlt den Mitgliedern des Landesverbands, beim Mitgliederentscheid den Koalitionsvertrag abzulehnen und entsprechend mit ‚Nein’ zu stimmen.“

Zur Abstimmung gelangte dieser jedoch nicht. Die Parteivorsitzende brachte einen Antrag auf Nichtbefassung ein, der mit 82 Für- bei 57 Gegenstimmen und drei Enthaltungen angenommen wurde.

Schubert begründete ihren Antrag auf Nichtbefassung damit, dass die Mitglieder das Recht haben müssten, eigenständig zu entscheiden. Eine Empfehlung würde den Mitgliederentscheid konterkarieren. Klingt demokratisch, ist es aber nicht. Schließlich gibt es eine faktische Empfehlung, für eine Fortsetzung der Koalition zu stimmen – durch das Verhandlungsteam und die Parteiführung. Dass der Parteitag über eine Empfehlung erst gar nicht abstimmen durfte, heißt nur, dass er kein Votum darüber abzugeben ermächtigt wurde, ob er die Position der Spitze und der Verhandlungsführung annimmt.

Nein zu Rot-Grün-Rot!

Die Bedeutung der Urabstimmung der Berliner Linkspartei sollte in den kommenden Wochen nicht unterschätzt werden. Schließlich bildet ihr Ausgang, selbst wenn sich die Parteiführung durchsetzen sollte, einen Gradmesser für das Kräfteverhältnis. Nicht minder wichtig ist jedoch, wie die Opposition oder, genauer, die verschiedenen Oppositionskräfte handeln werden, um sich als organisierte politische Kraft in der Linkspartei zu formieren. Gelingt ihnen das nicht, stellt die ganze Ablehnung der Giffey-Regierung wenig mehr als Schall und Rauch –  einen Theaterdonner, ein reformistisches Trauerspiel dar. Entscheidend ist daher, mit welcher Perspektive, mit welchen Initiativen sich eine solche Opposition nicht nur innerparteilich, sondern auch in den Mobilisierungen gegen den nächsten Senat formiert. Dazu braucht die Opposition in der Linkspartei freilich mehr als warme Worte für Initiativen wie DWe, die Krankenhausbewegung oder antirassistische Mobilisierungen. Sie muss gemeinsam mit anderen eine Aktionskonferenz organisieren zum Kampf für die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne, gegen den Pflegenotstand, Abschiebungen und „racial profiling“, die Pseudoumweltpolitik des Senats, für die Rekommunalisierung der S-Bahn und im Widerstand gegen die anderen rot-grün-roten Schweinereien.




Ampelkoalitionsverhandlungen: Drei Mal freie Fahrt fürs Kapital

Leo Drais, Neue Internationale 260, November 2021

Die Ampelregierung von SPD, Grünen und FDP kommt wohl. Entgegen der Regierungsbildung von 2017 scheint es dieses Jahr eine schnelle und reibungslose Einigung zu geben.

Die Grünen mit dem geplatzten Kanzlerintraum und die FDP preschten vor und verkündeten Selfie postend, dass sie gemeinsam auf die Kanzlersuche gehen. Sie entschieden sich für Scholz, Jamaika war angesichts der inneren Krise der Union schnell vom Tisch. Dabei war dieses Manöver kein zufälliges: Nach der Wahl war klar, dass Grüne und FDP die Königsmacherinnen spielen, die zwar in manchem wie der Klimafrage einiges trennt, aber beide bedienen wichtige Teile der Mittelschichten und sind im Gegensatz zur SPD rein bürgerliche Parteien ohne enge Verbindung zu den Gewerkschaften.

Die SPD wiederum steht im Gegensatz zur Union wie auferstanden und einig wie lange nicht da. Zettelte Kevin Kühnert als Juso-Vorsitzender 2017 noch einen Minibasisaufstand gegen die Große Koalition an, ist er als Vizeparteichef mittlerweile fein ins sozialdemokratische Dasein integriert und bringt wie zum Lohn für den Gehorsam auch gleich 49 seiner Juso-FreundInnen mit ins Parlament. Vergessen ist, dass man mal BMW enteignen wollte. Derweil räumt Norbert Walter-Borjans vom linken Flügel das Feld. Den Platz neben Saskia Esken werden wohl – wenn sie denn an der Parteispitze bleibt – Lars Klingbeil vom Seeheimer Kreis oder Hubertus Heil einnehmen. Es kann ja nicht sein, dass ein Kanzler Olaf Scholz einer rein „linken“ Parteiführung gegenübersteht.

Sondierungsergebnisse

In die Sondierung gingen die drei zur Zeit innerlich stabilsten Bundestagsparteien und präsentierten rund vier Wochen nach der Wahl ein zwölfseitiges Ergebnis. Neben dem üblichen Gelaber von Innovation, Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit bürgerlicher Berufspolitik boten die Gespräche doch einen gewissen Aufschluss darüber, was wohl kommt, was nicht, wo es präsentierbare Einigkeit oder unerwähnte Kontroversen gibt.

Ein paar kleine Reförmchen enthält natürlich auch das Sondierungspapier. So wird wohl die Cannabis-Legalisierung in der einen oder anderen Form beschlossen werden. Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 soll kommen, vielleicht auch eine verbesserte staatliche Anerkennung der Rechte nicht-binärer Menschen. Alles unzureichend, aber immerhin.

Von der SPD wird vor allem die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro zum Jahrhundertereignis hochstilisiert. Dabei reichen diese schon heute nicht. Die Steuern reduzieren sie weiter und schließlich wird sie großteils, ohne zu kauen, von der Inflation gefressen werden. Darüber hinaus ist unklar, ob der Mindestlohn für alle sofort erhöht oder das, wie in der Vergangenheit, für ganze Branchen stufenweise über mehrere Jahre umgesetzt werden soll.

An die Stelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld treten, das Betroffenen gewiss nicht aus der Armut helfen wird. Ein bundesweiter Mietendeckel kommt nicht, stattdessen soll mehr und schneller gebaut werden, was zwar die Wohnungskrise nicht löst und hohe Mieten auch nicht senkt, dem Kapital aber nach wie vor satt Profite bringt.

Zumutungen

Die Coronapandemie scheint für die SondiererInnen um Scholz, Baerbock und Lindner auf dem Papier zumindest schon nicht mehr zu existieren. Booster-Impfung und Herdenimmunität werden’s für den Standort BRD und Europa wohl schon richten. Dafür werden die Überlastung des Gesundheitssystems und der Tod Tausender letztlich billigend in Kauf genommen.

Ausgebaut und aufgerüstet sollen dafür Polizei und Überwachung werden. Gegen alles, was als politisch extrem betrachtet wird, soll ein „Demokratieförderungsgesetz“ kommen, was auch immer das mit sich bringen wird.

Was das grüne Steckenpferd des Pseudoklimaschutzes angeht, wurde das Autobahntempolimit entsorgt, das passioniert-religiöse Rasen bleibt den Deutschen dank der FDP bewahrt. Der Kohleausstieg wird vielleicht doch schon 2030 kommen, vielleicht aber auch nicht. Ansonsten ist die sogenannte Klimapolitik der Ampel eigentlich ein Investitionsprogramm: Unternehmen sollen bei der „sozialökologischen Transformation“ gefördert werden, ansonsten heißt es: mehr Ökostrom, mehr Ökolandbau, mehr E-Mobility – auf der Straße natürlich. Das 1,5 °C-Ziel steht auch auf dem Papier, wenigstens dort, denn Realität wird es mit der Ampel sicher nicht.

Auch abgesehen davon will man viel investieren: Digitalisierung und Bildung sollen dem deutschen Kapital konkurrenzfähige Infrastruktur und Fachkräfte schaffen.

Wie, als würde das alles nichts kosten, bekennen sich die SondiererInnen zur Schuldenbremse. Steuererhöhungen soll’s keine geben, schon gar nicht auf große Vermögen und hohe Einkommen – vor der Wahl noch gegen die FDP kämpferisch angekündigt, hat die SPD es nun, wenn auch etwas kontrovers, vergessen.

Hier zeichnet sich schon jetzt ab: Die Finanzierung der Erneuerung des deutschen Kapitals wird bezuschusst, öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen fehlt es an Mitteln. Abhilfe schaffen soll dabei wohl ein erneuter Privatisierungsschub – sei es durch Verkauf oder durch „Partnerschaften“ von öffentlichen Einrichtungen und privaten AnlegerInnen.

Konkurrenz als Rahmen

Außenpolitisch scheint die Ampel den bisherigen Kurs fortsetzen zu wollen: klares Bekenntnis zur EU, NATO und transatlantischen PartnerInnenschaft. Abseits aller Beschwörungsformeln zeichnet sich aber ab, dass die rassistische Abschottung der EU fortgesetzt wird und die Bundeswehr massiv aufgerüstet werden soll, inklusive der Anschaffung neuer Waffensysteme (Drohnen für Angriffe) für den Cyberwar und weitere Auslandseinsätze. Offengehalten wird die Suche nach alternativen Verbündeten mit dem Willen zum Multilateralismus.

Zugleich drückt sich in den, öffentlich wenig umstrittenen Bestimmungen der Außenpolitik auch schon das Dilemma der nächsten Regierung wie überhaupt des deutschen Imperialismus aus. Einerseits drängt die starke Exportwirtschaft dazu, vehement beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt mitzuspielen, andererseits ist man politisch und militärisch alleine zu schwach dafür. Das nächste Außenministerium wird weiter zwischen Kooperieren und Konfrontieren lavieren, im Gravitationsfeld zwischen den beiden Hauptpolen China und USA versuchen müssen, irgendwie den marodierenden EU-Hinterhof beisammen zu halten, um zumindest halbwegs eigenständig auftreten zu können.

Für die Einschätzung der künftigen Scholz-Regierung ist es zentral, diese Erfordernisse der globalen Konkurrenz im Blick zu behalten. Sie bilden letztlich auch den Rahmen für die Innenpolitik und den Verteilungsspielraum insbesondere gegenüber der ArbeiterInnenklasse. Ohne eine politische oder militärische Strategie, die sie auch nur ansatzweise allein und eigenständig international durchsetzen könnten, auch wenn hier sicher mehr Aggression unter dem Mantel der Verantwortungsübernahme zu erwarten ist, müssen Regierung und Kapital vor allem auf das stärkste Moment des BRD-Imperialismus setzen: die Industriekonzerne und dabei nicht zuletzt auf die AutoherstellerInnen.

Schon am Tag nach der Wahl hat VW 10 Punkte für die Koalitionsbildung gefordert, die klar darauf abzielten, dass der Staat bitteschön die E-Mobilität auf der Straße ordentlich bezuschussen soll, Stichworte: Ladesäulen und Kaufprämien. Auch sonst zieht sich der Tenor des subventionierten Klimaschutzes, der keiner ist, sowie der Digitalisierung durch die Forderungen diverser Unternehmensverbände. Unter grünem Label soll mit massiver Investition das Kapital erneuert werden, um ihm auf dem Weltmarkt neue Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen. Gleichzeitig bedingt die globale Konkurrenz aber eben auch, das Kapital steuerlich nicht groß zu belasten sowie die Staatsverschuldung einzudämmen – womit wir wieder bei der Schuldenbremse sind.

Bleibt also die Frage: Wer zahlt das Ganze? Einerseits soll es natürlich die Konkurrenz tun, andererseits die überausgebeutete halbkoloniale Welt im EU-Hinterhof oder dort, wo das Lithium für die E-Autos herkommt. Letztlich stellen sich Regierung und Konzerne gerade dafür auf, dass auch die hiesige ArbeiterInnenklasse dafür aufkommt.

Angriff auf die Lohnabhängigen

Auch wenn unmittelbar keine politisch geführten Großangriffe anstehen wie die Agenda 2010, von der die deutschen Konzerne gerade jetzt massiv profitieren, so werden der von der Ampel angestrebte Umbau der Industrie und die Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse ohne ausbleibende Gegenwehr weiter abgewälzt werden.

Vor dem Hintergrund einer volatilen globalen Wirtschaftslage, einer gebremsten Konjunktur, einer weltweit weiter grassierenden Pandemie und Krise werden sich die Konjunkturprogramme der USA und der EU wahrscheinlich als unzureichend erweisen, längerfristig die Weltwirtschaft zu beleben. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass sie nach einer gewissen konjunkturellen Sonderwirkung rasch verpuffen, weil die grundlegenden Krisenmomente – fallende Profitraten, Überakkumulation von Kapital und damit verschärfte globale Konkurrenz – durch diese nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, dass die Ampelkoalition im Laufe der Legislaturperiode auf ein größeres, grundlegendes Angriffsprogramm umschaltet. Die sog. Rentenreform zeigt, wohin die Reise dabei gehen könnte. Die Deutsche Rentenversicherung soll auf dem Kapitalmarkt die Rente bei 48 % des Einkommens sichern. Eine solche weitere Privatisierung und Finanzialisierung bedeutet natürlich auch, dass die Altersversorgung selbst an die krisenhaften Zyklen des Finanzkapitals gekoppelt wird.

Ebenso wenig wird der Inflation entgegengesetzt, die Mieten bleiben exorbitant, viele durch Corona zerstörte Jobs wohl verloren, Niedriglohnsektor und Prekarisierung wachsen, verdächtig oft spricht das Sondierungspapier von Flexibilisierung am Arbeitsplatz. Proletarische Frauen und rassistisch Unterdrückte werden davon üblicherweise Hauptbetroffene sein, von allem Diversitätsbekenntnis und Gerechtigkeitsgerede der Ampel haben sie so gut wie nichts.

Sämtliche Versprechungen von mehr soziale Gerechtigkeit werden an der kapitalistischen Realität verbogen oder brechen an ihr, die Abkehr der SPD von einer Vermögenssteuer ist Teil davon.

Großangriff auf Jobs

Der angestrebte Umbau der Industrie bedeutet aus Kapitalsichtweise, Arbeitskräfte einsparen zu können. Genau darauf zielt die Digitalisierung zu einem Gutteil ab. Hier läuft der Großangriff bereits. In der Autoindustrie ist der Stellenabbau längst eine Realität und wird weitergehen: Mit über 170 000 Stellenstreichungen wird für die nächsten Jahre gerechnet.

Die Rolle der SPD als führende Regierungs- und bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist hierbei nicht zu unterschätzen. Sie macht Politik für das Kapital, hat aber noch immer soziale Wurzeln in den schweren Bataillonen der deutschen IndustriearbeiterInnenschaft – um deren Arbeitswelt und -platz es in den nächsten Jahren gehen wird. Einerseits muss die SPD dem Kapital irgendetwas abringen und der ArbeiterInnenklasse anbieten, das Sterbebett der Sozialdemokratie ist immerhin noch warm. Gerade im gemeinsamen Regieren mit der FDP liegt hier Sprengstoff, selbst wenn die Vermögenssteuer vom Tisch ist. Andererseits bietet die SPD in ihrer engen Verbindung mit der DGB-Bürokratie und der dadurch ausgeübten Kontrolle über zentrale Sektoren der Klasse dem deutschen Kapital auch einen Vorteil in der Durchsetzung der geplanten „Transformation“.

Und der DGB?

Dazu passt, dass der DGB im Grunde kaum was zu den Verhandlungen der letzten Wochen gesagt hat. Er setzt damit auf seine Weise den Kurs des Burgfriedens mit dem Kapital fort. Die IG Metall und ihre Betriebsräte begleiten den Jobkahlschlag, der durch Investitionen der Ampelregierung mitfinanziert wird – Gelder, die letztlich über Steuern ebenfalls zu großen Teilen von der ArbeiterInnenklasse kommen. Anstatt den Abwehrkampf anzugehen, wird mitgestaltet und die Beschäftigten werden ruhig gehalten, Lohnkämpfe, die die Inflation ausgleichen, gibt es nicht – über die unmittelbar tariflichen Fragen hinausgehende politische Streiks, die z. B. die Wohnungsfrage oder den Klimaschutz zum Thema machen, schon mal gar nicht. Es liegt hier schon der Verweis darauf verborgen, wie wichtig der Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition zu den Gewerkschaftsapparaten gerade wird.

Natürlich werden die Koalitionsverhandlungen nicht ohne Kontroversen ablaufen. Die Frage der Investitionsfinanzierung und die Begleichung der Coronaschulden ist noch nicht abschließend geklärt. Die Möglichkeiten zur Investition sind begrenzt. Worauf wird sich also konzentriert? Auf das E-Auto oder doch auf die Bahn? Gibt’s 5G nur für die Stadt oder auch auf dem Land? Wie hoch wird das Bürgergeld? Und: Wer besetzt welches Ministerium?

Wie auch immer diese Fragen von Scholz und Co beantwortet werden: Für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten gibt’s in der kommenden Periode nicht viel mehr als ein paar Krümel. Sie sind gut beraten, sich auf Abwehrkämpfe vorzubereiten.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen, die Zerbröckelung des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der ersten 3-Parteien-Regierung seit Adenauer. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen, sie zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe wird. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die riesigen Demonstrationen von Fridays for Future, die zahlreichen Waldbesetzungen und eine Reihe anderer großer Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen nicht nur, dass neue Bewegungen entstanden bzw. im Entstehen begriffen sind, sie verweisen auch auf ein Potential des Widerstandes.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Wie können wir Enteignungen wirklich durchsetzen? Wie können wir Massentlassungen und Privatisierungen stoppen? Wie können wir verhindern, dass Inflation und Preissteigerungen mühsam erkämpfte Lohnerhöhungen gleich wieder wegfressen? Wie können wir der imperialistischen Außenpolitik und der rassistischen Abschottung Deutschlands und der EU entgegentreten? Wie können wir den Kampf für reale, sofortige Verbesserungen mit dem um eine andere Gesellschaft verbinden?

Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Das aber fällt nicht vom Himmel. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte nicht aus einem linken Für-sich-Selbst bestehen, sondern im Gegenteil größtmöglich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse einbeziehen, allen voran die Gewerkschaften oder jedenfalls deren oppositionelle Kräfte, Linkspartei und SPD-Linke oder mindestens alle, die nicht stramm hinter Scholz oder der Koalitionspolitik der Realos in der Linkspartei stehen.

Eine solche Aktionskonferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den wichtigsten Angriffen gemeinsam auf der Straße und im Stadtteil, in den Betrieben und Büros, an Schulen und Unis entgegenzutreten. Wir schlagen vor, sie Anfang 2022 Spektren übergreifend zu organisieren und dort einen bundesweiten Mobilisierungsplan zu beschließen und überall Bündnisse aufzubauen, die diesen Kampf koordinieren.




Linkspartei und Rot-Grün-Rot – Mitregieren um jeden Preis

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 260, November 2021

In Berlin haben die Koalitionsverhandlungen am 22. Oktober begonnen. SPD, Grüne und DIE LINKE tagen über den Rahmen kommender Landespolitik. Am 15. Oktober hatten die drei Parteien ihre Sondierungsergebnisse vorlegt. Am 5. Dezember hat die Berliner SPD angekündigt, auf einem Landesparteitag über den Vertrag und somit die Regierungsbildung abzustimmen.

Der Autor selbst ging vor der Wahl davon aus, dass die Orientierung Giffeys (SPD) und ihrer VerhandlungsführerInnen auf eine Deutschland- und nach der Wahl auf eine Ampelkoalition gerichtet ist. Jedoch ließ sich dies innerhalb der Berliner SPD angesichts des Wahlergebnisses und des Drucks der Grünen für eine Fortsetzung der bisherigen Koalition (R2G), unter geänderten Mehrheitsverhältnissen als Rot-Grün-Rot (RGR), nicht durchsetzen.

Doch nicht die Form, sondern der Inhalt ist entscheidend. Hier konnte Giffey durch ihre Drohgebärde, DIE LINKE jederzeit durch die FDP ersetzen zu können und zu wollen, punkten. Dieses Vorgehen reichte aus, um DIE LINKE zu prinzipienlosen Zugeständnissen zu bewegen. In den Sondierungsergebnissen steht beispielsweise zum Volksentscheid Folgendes: „Die neue Landesregierung respektiert das Ergebnis des Volksentscheides und wird verantwortungsvoll damit umgehen. Sie setzt eine Expertenkommission zur Prüfung der Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen der Umsetzung des Volksbegehrens ein.“ (Sondierungspapier Berlin, S. 2). Es wird deutlich, dass viele hohle Phrasen und nicht die Frage des „Wie“, sondern des „Ob“ der Enteignung hier formuliert wurden. Dafür soll eine ExpertInnenkommission eingesetzt werden, die ein Jahr prüfen soll, um dann dem Abgeordnetenhaus einen Vorschlag vorzulegen. Wie das Abgeordnetenhaus im Allgemeinen und RGR im Speziellen damit beabsichtigen umzugehen, wird nicht erwähnt. Diese Durchsetzung trägt Franziska Giffeys Handschrift – in „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ deshalb auch Dolores Umbridge genannt. Dies gleicht einer Verschleppungstaktik, die darauf wettet, dass die MieterInnenbewegung bis dahin aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und unfähig ist, der Blockade etwas entgegenzusetzen.

Anstelle dessen spricht das Sondierungspapier von Baubündnissen und von „Kooperation statt Konfrontation“ (ebd.) – was angesichts bestehenden Leerstandes, drohender Inflation, auslaufender Sozialbindung von Wohnraum, explodierenden Bodenpreisen, Luxussanierungen und -neubau nichts weiter als eine Nebelkerze ist. Deutsche Wohnen hatte schon vor dem Volksentscheid niedrigpreisige Bauprojekte versprochen. Diese werden nun verspätet fertiggestellt und „müssen“ doch hochpreisig vermietet werden. Von öffentlichen Bauvorhaben wird nicht gesprochen, sondern von Aufstockung im urbanen Bauen, also teuren Dachgeschosswohnungen in den Innenstädten durch zumeist Private.

DIE LINKE – regieren um jeden Preis?

DIE LINKE wurde also durch die Sondierungstaktik von SPD und in gewisser Form den Berliner Grünen weichgeklopft, sodass sie ihre roten Haltelinien zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ aufgab – hier nur als ein Beispiel. Der außerordentliche Delegiertenparteitag der Berliner Linken am 19.10. stimmte zuerst über die grundsätzliche Frage der Bereitschaft zur Teilnahme an einer Koalition mit SPD und Grünen ab, bevor die inhaltlichen Linien der Koalitionsverhandlungen festgelegt wurden. So erschien der Antrag, dass die Integration eines Vergesellschaftungsgesetzes in einen Koalitionsvertrag Vorbedingung zur Beteiligung der Linken an einer Koalition sei, als reine Makulatur. Darüber hinaus wurde der Antrag durch den geschäftsführenden Landesvorstand so abgeändert, dass eine Ablehnung eines Vergesellschaftungsgesetzes durch SPD und Grüne kein Grund zum Bruch der Koalition sei. Über den Originalantrag wurde nicht mehr abgestimmt.

Dies zeigt mindestens zweierlei. Einerseits versucht die Führung der Linken, um jeden Preis Teil der Regierung zu werden, anstatt sich auf den konsequenten Kampf zur Umsetzung der Interessen ihrer sozialen Basis zu orientieren (Krankenhausbewegung, Mietenvolksentscheid, S-Bahn). Andererseits ist die Opposition innerhalb der Berliner Linken zwar vertreten und sichtbar, stellt jedoch keinen organisierten Pol dar. Die Möglichkeiten dazu sind jedoch gegeben.

Enteignung oder Opposition!

Am 20. Oktober legten Teile der Linkspartei-Basisorganisation (BO) Wedding ein Statement gegen den Ausverkauf des Volksentscheids durch ihre Partei vor. Darin steht unter anderem: „Für uns ist klar: Die ins Abgeordnetenhaus gewählten Parteien sind mehrheitlich gegen eine Umsetzung von DWe. Das muss für uns als LINKE bedeuten: Wir müssen aus der Opposition im Schulterschluss mit der Bewegung, für eine Umsetzung der Vergesellschaftung kämpfen“. Auch die Landesvollversammlung der Linksjugend [’solid!] hat sich mehrheitlich gegen eine Fortsetzung dieser Dreierkoalition ausgesprochen.

In der Berliner Linkspartei heißt es derweilen seitens des Vorstands, dass man den Koalitionsvorschlag abwarten solle, da dieser erneut durch einen Landesparteitag bestätigt werden müsse. Die perfiden bürokratischen Manöver auf dem Kleinen Parteitag am 19.10 zeigen, dass das eine Finte ist. Die Linkspartei ist strategisch auf die Regierungspolitik orientiert. Linke in DER LINKEN müssen bereits jetzt gegen eine Regierungsbeteiligung ohne das Ziel der Enteignung großer privater Immobilienkonzerne mobilmachen und sich in der Partei und öffentlich darum organisieren.

Neue Regierung – alte, aber verschärfte Probleme

Doch nicht nur auf dem Wohnungsmarkt brennt es. Dämmern doch angesichts des Fortbestands der Schäuble’schen schwarzen Null mitten in der dreifachen Krise aus drohendem wirtschaftlichen Kollaps, ökologischer Katastrophe und weltweiter Pandemie andere Problemfelder. Die fiskalpolitischen Spielräume werden immer kleiner. Doch DIE LINKE hält sehenden Auges auf diese Probleme zu, anstatt sich auf die Seite des Widerstandes gegen drohende soziale Kahlschläge zu stellen. An der Landesregierung befände sie sich hier notwendig in einem Widerspruch, einerseits von kapitalistischen Sachzwängen geleitet, das Elend der Krise mitzuverwalten, und andererseits, dem sozialen Widerstand dagegen dadurch das Wasser abzugraben. Und das fortan unter verschärften Bedingungen.

Bereits in der vergangenen Legislatur wurde dieses Problem sichtbar. So „erkämpfte“ DIE LINKE im letzten Koalitionsvertrag, dass die Situation in den kommunalen Krankenhäusern verbessert werden solle, was nur durch eine Streikbewegung in Teilen erkämpft werden konnte. Andererseits setzte sie im Jahr 2020 3.111 Zwangsräumungen mit durch, schob 968 Menschen ab, räumte linke Hausprojekte und Jugendzentren wie u. a. die Liebig34, den Köpi-Wagenplatz, den Drugstore, brachte die Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn und Schulen voran. Die Liste ist unvollständig, zeichnet aber ein beachtliches Bild an bereits erfolgreichen sozialen Angriffen von R2G.

Auch für die Umweltbewegung bleibt nicht viel Hoffnung in die neue Regierung, baut diese doch weiter an der A100 oder überlässt die Einhaltung von Klimazielen Förderpaketen für energetische Sanierungen, während die landeseigenen Unternehmen künftig als CO2-neutrale Vorbilder gegenüber der Wirtschaft agieren sollen.

Die Linken in DIE LINKE werden sich fragen müssen, wie weit sie noch den Niedergang ihrer Partei „kritisch“ begleiten wollen. Den Widerspruch, die Parlamentspartei zu verkörpern, die sich am meisten auf solche sozialen Bewegungen stützt, und letztere stets durch die Politik des vermeintlich kleineren Übels vor den Kopf zu stoßen, können sie nur positiv lösen, indem sie nicht weiter immer giftigere Kröten im Interesse der Parteieinheit schlucken. Sie müssen vielmehr einen offenen Kampf gegen die RegierungssozialistInnen führen und dürfen dabei auch vor einem politischen und organisatorischen Bruch nicht weiter zurückschrecken.




Landesparteitag DIE LINKE Berlin: mit gebührender Begleitmusik

Jürgen Roth, Infomail 1167, 21. Oktober 2021

Wenig überraschend hat DIE LINKE Berlin auf ihrem außerordentlichen Landesparteitag am 19.10.2021 mit deutlicher Mehrheit der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen zugestimmt. Das 6-seitige Sondierungspapier, das eine Kommission aus den 3 Parteien vorgelegt hat, stellt damit kein Hindernis für die Fortführung der alten Senatskoalition (R2G) – unter geänderten Kräfteverhältnissen aufgrund des Wahlergebnisses als RGR – mehr dar.

Umstrittene Sondierungsergebnisse

Es blieben im Wesentlichen zwei: die von der scheidenden grünen Verkehrssenatorin forcierte Ausschreibung der S-Bahn und damit ihre Zerschlagung und forcierte Privatisierung sowie der Umgang mit dem Volksentscheid für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne mit mehr als 3.000 Wohneinheiten. Innensenator Geisel (SPD) darf es beruhigen, dass das von ihm verlangte neue Landespolizeigesetz von keiner der 3 Parteien mehr infrage gestellt wird.

In der Wohnungsfrage setzte sich im Sondierungspapier die Handschrift der designierten Regierenden Bürgermeisterin, Franziska Giffey, durch. Der Schwerpunkt liegt demnach auf dem Neubau von angestrebten 20.000 Wohnungen pro Jahr. Ein Bündnis für bezahlbaren Neubau mit der renditehungrigen privaten Immobilienlobby soll es also richten. Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, hält das Ziel von 200.000 bezahlbaren Wohnungen bis 2030 für unrealistisch. Für ihn bleibt unklar, wer die denn bauen soll. Dem schließt sich auch der Berliner BUND-Landesgeschäftsführer, Tilmann Heuser, an: „Es ist relativ klar, dass zu den aktuellen Baukosten kein bezahlbarer Wohnraum entstehen kann.“ (NEUES DEUTSCHLAND, 19.10.2021, S. 9)

Wild hält zudem die Einstellung, dass man über den Markt, über die Neubaumenge die Preise im Bestand beeinflussen könne, für problematisch. Linksfraktionsmitglied Katalin Gennburg bemängelt, dass das Verhältnis von einem Prüfauftrag für den klaren Volksentscheid zur reinen Orientierung auf ein Neubaubündnis der Realität und der eingeleiteten stadtpolitischen Wende nicht standhalte.

Gedämpfte Begleitmusik im Saal …

Spitzenkandidat der Linkspartei, Klaus Lederer, hatte im Vorfeld des Parteitags die Einsetzung einer ExpertInnenkommission zur Ausarbeitung eines Enteignungsgesetzes empfohlen. Von der Kontrolle der Umsetzung durch die von der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWe) mobilisierte Volksentscheidsmehrheit und MieterInnenbasis insbes. in der Frage der Entschädigungshöhe und Betriebsführung der verstaatlichten Wohnungen redet dieser auf den parlamentarischen Kuhhandel fixierte Reformist also erst gar nicht.

Das tut auch die innerparteiliche Opposition um Landesvorstand Moritz Warnke und die 3 Abgeordneten Elif Eralp, Katalin Gennburg und Niklas Schenker leider nicht. Doch immerhin formulierte sie einen Antrag an den Landesparteitag, dass die Verpflichtung zur Vorlage eines vom zukünftigen Senat erstellten Enteignungsgesetzes im Abgeordnetenhaus im Koalitionsvertrag verankert und dies zur zwingenden Voraussetzung gemacht werden soll, um in eine Koalition mit SPD und Grünen einzutreten. Damit steht sie deutlich links von Lederer. Es versprach also, ein lebhafter Parteitag zu werden, auch wenn die AntragstellerInnen grundsätzlich eine Koalition mit einer offen bürgerlichen Partei wie den Grünen für möglich halten.

Natürlich wurde auch diese Opposition im Vorfeld unter Druck gesetzt und die Abstimmung über den Antrag von Warnke und anderen wurde erst abgehandelt, nachdem über die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen entschieden worden war. Dies geschah mit einer deutlichen Mehrheit, eine Auszählung der Gegenstimmen und Enthaltungen gab es nicht.

Schließlich wurde der Antrag abgestimmt, die Erstellung eines Enteignungsgesetzes zur Bedingung für eine Koalition zu machen. Er selbst kam jedoch nie zur Abstimmung, weil unter diesem Punkt zuerst ein Ergänzungsantrag der Mehrheit des Landesvorstandes behandelt wurde, der zwar das Ziel eines Enteignungsgesetzes bekräftigte, aber dies nicht zur Bedingung für eine Koalition macht.

Diese Ergänzung, die den Antrag praktisch in sein Gegenteil verkehrte, wurde mit 86 Ja- bei 53 Nein-Stimmen und einer Enthaltung angenommen. Damit war die Opposition geschlagen.

Katina Schubert, die für den Antrag des Parteivorstandes eintrat, stellte die Sache so dar, als ginge es nur um eine taktische Frage, wie das gemeinsame Ziel – die Fortsetzung der Koalition und die Verhinderung einer Ampel – erreicht werden könne.

Hier handelt es sich jedoch keineswegs bloß um ein untergeordnetes Manöver. Vielmehr wird darin deutlich, dass die Linkspartei und besonders deren Führung eine Koalition mit SPD und Grünen, also die Bildung eines linksbürgerlichen Senats, zum Credo „linker“ Politik macht, dem alles andere – auch die Reformsprechen der Linkspartei, auch die Umsetzung einer klaren demokratischen Entscheidung von über einer Million BerlinerInnen – untergeordnet wird.

Der ansonsten gern beschworene Dialog mit den sozialen Bewegungen, als deren parlamentarische Vertretung sich die Linkspartei gern darstellt, fand auf dem außerordentlichen Parteitag daher erst gar nicht statt. Die VertreterInnen von DWe, Gemeingut in BürgerInnenhand (GIB) und die Streikenden der Vivantes-Töchter durften unter dem fadenscheinigen Vorwand des Hygieneschutzes keine Delegation auf den Parteitag entsenden.

… lautstarkes Open-Air-Konzert davor

Das sahen gut 100 AktivistInnen vor dem ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz, in dem die Linksparteidelegierten tagten, anders. Sie rekrutierten sich überwiegend aus DWe, GIB, das u. a. gegen die Zerschlagung der S-Bahn und Schließungen von Krankenhäusern eintritt, und zahlreichen Streikenden aus den Tochterunternehmen des kommunalen Krankenhauskonzerns Vivantes, die sich weiterhin im Ausstand befinden. Letztere nehmen es dem Senat übel, dass er in der abgelaufenen Legislaturperiode sein Versprechen, die Töchter wieder unterst Dach der Landesunternehmensmütter zurückzuführen, nicht wahrmachte, sondern auch als quasi Eigentümervertretung für ihren Kampf um eine demgegenüber bescheidene Forderung nach Angleichung an den TVöD bisher keinen Finger krummgemacht hat.

„TvöD – für alle an der Spree!“, „S-Bahn für alle – jetzt!“ und „Vonovia & Co. enteignen – jetzt!“ waren denn folgerichtig auch die am meisten und lautesten gebrüllten Parolen. Welch herzerfrischender Kontrast zur üblichen Konzentration aufs parlamentarische Gerangel!

Die Mehrheit der Delegierten scheint das kaltgelassen zu haben.

Doch es ist dieses Potenzial, auf dem sich ein zukünftiges Antikrisenbündnis gegen die zu erwartenden Angriffe der nächsten Bundesregierung aufbauen lässt. Die Linken in DIE LINKE werden sich fragen müssen, wie weit sie noch den Niedergang ihrer Partei „kritisch“ begleiten wollen. Den Widerspruch, die Parlamentspartei zu verkörpern, die sich am meisten auf solche sozialen Bewegungen stützt, und letztere stets durch die Politik des vermeintlich kleineren Übels vor den Kopf zu stoßen, können sie nur positiv lösen, indem sie nicht weiter immer giftigere Kröten im Interesse der Parteieinheit schlucken. Sie müssen vielmehr eine einen offenen Kampf gegen die RegierungssozialistInnen führen und dürfen dabei auch vor einem politischen und organisatorischen Bruch nicht weiter zurückschrecken.




Rücktritt von Kurz: Abfuhr für Bürgerliche – Chance für Linke!

Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1166, 14. Oktober 2021

Nicht einmal eine Woche, nachdem es zu Hausdurchsuchungen bei der ÖVP in der Parteizentrale sowie im Bundeskanzleramt gekommen war, war Sebastian Kurz schon nicht mehr Kanzler. Nach dem kometenhaften Aufstieg war das sein bisher größter Rückschlag.  Ob er dabei verglühen oder wieder wie eine Bombe einschlagen wird, wird sich noch zeigen. Fest steht: Die politischen Karten werden neu gemischt!

Projekt Ballhausplatz

Am gleichen Tag wie die Hausdurchsuchungen kam auch die Anordnung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) an die Medien. In ihr ist dargelegt, was für Vorwürfe gegen Sebastian Kurz und enge Vertraute von ihm vorliegen. Als schon davor bekanntes „Projekt Ballhausplatz“ wurde der mehrstufige Plan von Sebastian Kurz bezeichnet, von seinem Amt als Außenminister und Zukunftshoffnung der ÖVP aus, zuerst in einem Putsch die Partei und später das Bundeskanzleramt zu übernehmen. Neu ist die strafrechtlich relevante Dimension. In mehreren Stufen wurden offenbar frisierte Umfragen an Medien verteilt, insbesondere an die der Fellner-Gruppe (Österreich, oe24.at).

Zu einer Zeit, als Kurz noch Außenminister war, sollte die ÖVP – damals noch geführt von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner – in den Umfragen schlecht dargestellt werden. Als dann Sebastian Kurz die ÖVP übernahm, sollte sich das Blatt wenden. Dafür soll mit der Meinungsforscherin Beinschab zusammengearbeitet worden sein, die teilweise durch Pseudoprojekte des Finanzministeriums und später durch die Fellner-Gruppe bezahlt worden sein soll. Das Wesentliche dabei war, dass es zwar durchaus echte Rohdaten für die Umfragen gegeben haben dürfte, diese aber zugunsten von Sebastian Kurz gewichtet und teilweise frisiert wurden. Schon 2016 hatte Kurz ein Netzwerk an loyalen UnterstützerInnen in der ÖVP sowie in unterschiedlichen Ministerien aufgebaut. Thomas Schmid und Johannes Frischmann waren im Finanzministerium tätig, Sophie Karmasin war Familienministerin, Stefan Steiner war Generalsekretär der ÖVP – sie alle und noch mehr sind als Beschuldigte in der Anordnung für die Hausdurchsuchungen aufgeführt.

Bürgerliche wie Boulevard

Die engste Zusammenarbeit dürfte die Kurz-Clique mit den Medien der Brüder Fellner getätigt haben. Die Meinungsforscherin Beinschab wurde laut Vorwürfen später von deren Seite bezahlt – im Gegenzug für die Inserate in der Höhe von mehr als einer Million Euro. Doch man sollte hier nicht den Fehler begehen zu glauben, dass sich nur das Boulevard einkaufen lassen würde. Vielmehr ist das nur eine Komponente der Vorwürfe, die im Raum stehen. Des Weiteren geht aus den Chatverläufen hervor, dass auch über Rainer Nowak, Chefredakteur der „Die Presse“, Umfragen platziert worden sein sollen. So schreibt Thomas Schmid: „Nowak macht Story Abgrenzung zu NEOS. Blümel spielt in Wien NEOS an die Wand. Rund um Parteitag spielen wir Umfragen groß. Macht er uns.“ Sebastian Kurz dazu: „Großartig!!! Du bist super!“ Nowak dürfte aber auch Umfragen an unterschiedliche Zeitungen in diversen Bundesländern vermittelt haben.

Was sich in den Chatverläufen gut zeigt, ist das, was für KommunistInnen zum politischen Einmaleins gehört, nämlich dass die bürgerlichen Medien alles andere als neutrale und objektive Berichterstattung leisten. Neben den natürlich existierenden unbewussten gesellschaftlichen Prägungen im Interesse des Kapitals, der Vorauslese gewisser bessergestellter Bevölkerungsschichten in den Reihen der JournalistInnen und natürlich noch mehr der RedakteurInnen und ChefredakteurInnen, gibt es noch die gute alte Korruption. Oder wie es Thomas Schmid zusammenfasst: „Hehe, Objektivität gibt es nicht im Journalismus“.

Bestechlichkeit und Bestechung

Von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wird eine ganze Reihe an Leuten für Tatbestände wie Bestechlichkeit, Untreue und Bestechung als Beschuldigte geführt. Was hierbei aber vor allem interessant ist, ist, dass sich diese Korruptionsaffäre vom typischen Schema der Bestechlichkeit von bürgerlichen PolitikerInnen abhebt. Zuerst einmal kurz zur Klarstellung der Begrifflichkeit. Im österreichischen Strafgesetzbuch werden diese Begriffe nämlich etwas anders verwendet als im normalen Sprachgebrauch. Normalerweise trifft Bestechlichkeit auf den passiven Part einer Bestechung zu. Kurz gesagt, wer sich für eine Gegenleistung zahlen lässt, ist bestechlich, wer zahlt, besticht. Im Strafgesetzbuch beziehen sich die Begriffe aber nicht auf einen etwaigen aktiven oder passiven Teil des Geschäfts, sondern hier wird danach unterschieden, welche Funktion der Personen jeweils existiert. Auf öffentliche AmtsträgerInnen trifft hier der Vorwurf der Bestechlichkeit zu, auf jene, die die AmtsträgerInnen bestechen, der der Bestechung. In weiterer Folge werden wir die geläufigen Begrifflichkeiten und nicht die juristischen verwenden.

Schon die Unterscheidung zwischen juristischen und geläufigen Begrifflichkeiten legt nahe, warum es sich hier um einen speziellen Fall von Korruption handelt. Denn die Rollenverteilung ist in diesem Fall eigentlich vertauscht. Die Kurz-Clique versuchte nicht, aus ihren Rollen als MinisterInnen und BeamtInnen zu profitieren, sondern ihre Posten dazu zu verwenden, um Geld aufzutreiben. Mit diesem sollten dann Bestechungen durchgeführt werden und zwar im Interesse ihrer eigenen Machtsteigerung. Das klassische Gegenbeispiel ist Karl-Heinz Grasser, der versuchte, aus seinem Amt (finanzielle) Vorteile zu ziehen.

Doch was sagt uns das über Sebastian Kurz als Politiker? Im Gegensatz zu einem passiven Gehilfen des Kapitals, der erst durch Bestechung gefügig gemacht werden muss, war (und ist) er entschlossen, die unterschiedlichsten Mittel einzusetzen, um in Machtpositionen zu kommen. Dieser persönliche Ehrgeiz war von ihm von Anfang an mit einer offensiven Politik im Interesse des Kapitals verbunden: Er brachte rassistische Spaltung, den 12-Stundentag und Steuergeschenke für Reiche und Unternehmen. Aber eben nicht primär aus einer passiven Rolle, wo von Seiten der KapitalistInnen (finanziell) nachgeholfen werden musste, sondern aus einer aktiven, eigenständigen Position heraus. Das ist einer der zentralen Gründe dafür, warum er nahezu alle relevanten Teile des Kapitals hinter sich versammeln konnte.

Schritt zur Seite?

Nachdem er 3 Tage lang einen Rücktritt ausgeschlossen hatte, wurde schließlich doch der Druck zu groß – vor allem wegen der Gefahr eines Koalitionsbruchs – und Sebastian Kurz zog die Konsequenzen –  so könnte man meinen. Er legte das Amt des Bundeskanzlers zurück, kehrte aber als Klubobmann in den Nationalrat als Abgeordneter zurück. Das Amt des ÖVP-Chefs behielt er gleichermaßen. Sein Nachfolger als Bundeskanzler wurde Außenminister Alexander Schallenberg.

Schallenberg selbst könnte kaum aus einem elitäreren Hintergrund stammen. Seine Familie ist ein Jahrhunderte altes Adelsgeschlecht, sein Vater war Botschafter und Generalsekretär im Außenministerium. Er selbst ist Berufsdiplomat. Wesentliche Fortschritte auf seiner Karriereleiter hat er Kurz zu verdanken. Nachdem Sebastian Kurz 2013 das Außenministerium übernahm, wurde Schallenberg zum Leiter der neu geschaffenen „Stabsstelle für strategische außenpolitische Planung“ und damit mehr oder weniger direkter Berater von Sebastian Kurz und prägend für seine außenpolitischen Positionen. Nachdem Kurz zuerst die ÖVP und kurze Zeit später das Bundeskanzleramt übernommen hatte, saß Schallenberg im Verhandlungsteam der ÖVP. Unter der Übergangsregierung von Brigitte Bierlein wurde er zum Außenminister bestellt – ein weiterer Beweis dafür, dass die damalige „ExpertInnen“-Regierung einen deutlichen Rechtsdrall aufwies. Unter der neuen türkis-grünen Regierung wurde er dann ebenfalls wieder Außenminister. Deutlich zeigt sich hier also, dass Alexander Schallenberg ganz klar dem Kurz-Flügel der Partei zuzuordnen ist und die wesentlichen Aufstiege in seiner Karriere – wie wohl auch den bisher letzten zum Bundeskanzler – Kurz zu verdanken hat.

Unmut in der ÖVP

Doch wir sollten uns nicht der verkürzten Analyse hingeben, dass mit dem Rücktritt von Kurz und der Ernennung Schallenbergs zum Kanzler sich überhaupt nichts geändert hätte. Unmittelbar ist Sebastian Kurz zumindest als Parteichef offensichtlich bestimmend in der ÖVP und darüber sollten wir uns nicht täuschen, aber gleichzeitig sollte man nicht den Beginn des Aufstiegs von Sebastian Kurz vergessen. Als er sich im Mai  2017 zum ÖVP-Chef krönen ließ, konnte er gleichzeitig wesentliche Vollmachten in der ÖVP durchsetzen, die sogar statutarisch verbrieft wurden. Das ging mit einer deutlichen Zentralisierung der traditionell föderalistisch und in Bünden aufgebauten ÖVP einher. Aber die laufenden Ermittlungen werden wohl oder übel weitere Offenbarungen über Sebastian Kurz und sein Umfeld zu Tage bringen und die teilentmachteten Bünde der ÖVP werden ihre Chance wittern, sich die Macht zurückzuholen. Schon jetzt wurde eine klare Diskrepanz zwischen Zentrum in Wien und den Bundesländern deutlich. Während Kurz von den Nationalratsabgeordneten der ÖVP mit 100 % zum Klubobmann gewählt wurde, gingen gleichzeitig einige ÖVP-Landeshauptleute auf Distanz. Platter (ÖVP-Landeshauptmann von Tirol) sagte von sich, dass er „ein Schwarzer“ (und damit kein Türkiser) sei, Mikl-Leitner (Landeshauptfrau Niederösterreichs) meinte, sie sei „allen voran Niederösterreich verpflichtet“ und die „Vorwürfe [müssen] aufgeklärt werden“ oder Wallner (Landeshauptmann Vorarlbergs) dazu: „Nicht unser Stil. Wo man’s kann, muss man es abstellen.“

Wir dürfen also davon ausgehen, dass in der ÖVP langsam aber sicher die uneingeschränkte Macht von Sebastian Kurz aufhören wird, gerade wenn es in den nächsten Wochen und Monaten neue Enthüllungen gibt. Damit ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen verbunden, auch wenn eine unmittelbare Aussicht darauf erstmal gebannt zu sein scheint.

Und die Linke?

Die Linke hat es zwar in Wien geschafft, durch spontane und kräftige Mobilisierungen einen gewissen öffentlichen Druck gegen Sebastian Kurz auszuüben, aber wie schon bei der Ibiza-Affäre zeigte sich, dass sie von sich aus nicht im Stande ist, einen (Vize)-Kanzler zu Fall zu bringen. Die offizielle ArbeiterInnenbewegung, organisierte in den Gewerkschaften und der SPÖ, blieb passiv. Letztere beschränkte ihren Misstrauensantrag sogar auf Finanzminister Blümel, statt ihn gegen die ganze Regierung zu richten. Gleichzeitig ist aber aktuell durch unterschiedliche Faktoren die Chance einer stärkeren linken Alternative bei durchaus wahrscheinlichen verfrühten Nationalratswahlen vor 2024 sehr groß. Vor nicht einmal einem Monat konnte die KPÖ in Graz zur stärksten Kraft aufsteigen und damit verbunden ist eine noch nie dagewesene Akzeptanz für kommunistische Politik – auch wenn die der KPÖ Steiermark mit klassisch sozialdemokratischer mehr gemein hat. Die unterschiedlichen linken Kräfte links der SPÖ und der Grünen sollten sich also heute schon darüber Gedanken machen, wie ein österreichweites Projekt für die nächsten Nationalratswahlen aussehen kann, um nicht – wie so oft – von den Ereignissen überrollt zu werden. Ein Wahlbündnis könnte den Weg zu einer neuen, linken Partei eröffnen, in der KommunistInnen für eine Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse und einen revolutionären Antikapitalismus kämpfen können.




Berlin: Giffey bereitet die Ampel vor

Martin Suchanek, Infomail 1166, 11. Oktober 2021

Bis Mitte Oktober soll die Berliner SPD entscheiden, mit wem über einen neuen Senat verhandelt werden soll. Die Signale stehen auf Ampel, daran lässt die SPD-Spitzenkandidatin und nächste Bürgermeisterin, Giffey, keinen Zweifel.

Nachdem sich die Berliner SPD im Wahlkampf noch offiziell bedeckt gehalten hatte, verkündet sie, dass die Partei eine Koalition mit Grünen und FDP gegenüber der Fortsetzung von Rot-Grün-Rot favorisieren würde.

Bemerkenswert daran: Ob eine Mehrheit der Berliner SPD hinter diesem Kurs steht, ist zumindest zweifelhaft. Warum aber die Mitglieder oder einen Parteitag fragen, wenn es mit einer Mehrheit im Vorstand auch geht und mit der von Giffey und dem rechten Parteiflügel geleiteten Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen schon mal Fakten geschaffen werden können?

Mit einem geschickten Manöver gelang es Giffey, die Grünen nicht nur als sicheren Koalitionspartner, sondern auch für parallele Sondierungen mit der FDP zu gewinnen, obwohl die Grünen die rot-grün-rote Regierung fortsetzen wollen. Die Linkspartei würde dabei wohl auch keine Probleme machen. Jedenfalls nach außen hin erklärt sie beständig, dass sie für eine „Reformkoalition“, also eine linke Flankendeckung eines von Giffey geführten Senats bereit wäre.

Doch die SPD-Rechte will offenbar nicht. Wie im Bund setzt sie auf eine Ampel-Koalition. Dass sich die Grünen darauf einließen, zeigt vor allem eines. Auch die angeblich linkere Berliner Partei ist nichts weiter als der lokale Ableger einer offen bürgerlichen Kraft, die für alle Koalitionen mit den sog. demokratischen Parteien offensteht und auf ihre Posten im Senat nicht verzichten will. Sicherlich spielte bei deren Zustimmung zur Sondierung mit der FDP auch mit, dass die SPD rein rechnerisch auch mit CDU und FPD eine Koalition bilden könnte. Letztlich zeigen die letzten Wochen, dass die Grünen auch in Berlin der Linkspartei keineswegs näher stehen als den Liberalen.

Ampel als Garant gegen Enteignung

Dass die SPD-Rechte nie glücklich über eine Koalition mit der Linkspartei war, stellt kein großes Geheimnis dar. Aber Giffey, Saleh, Geisel und Co. fürchten diesmal, dass sie in einer rot-grün-roten Koalition unter den Druck der Mitglieder und WählerInnenbasis aller Senatsparteien geraten könnten, den Volksentscheid zur Enteignung der großen privaten Immobilienhaie durchzusetzen.

Eine Bürgermeisterin Giffey würde dessen Umsetzung auch in einem rot-grün-roten Senat hinauszögern, verschleppen und verwässern. Die Grünen würden das Spiel auch mitspielen und versuchen, mit den Wohnungskonzernen eine freiwillige Begrenzung der Mieten zu verhandeln. Angesichts des Geschäftsmodells der Unternehmen würden sich alle diese Maßnahmen jedoch früher oder später als politische Placebos entpuppen und der Enteignungsforderung neue UnterstützerInnen zutreiben.

Auch wenn die Linkspartei die Enteignung wahrscheinlich nicht zur Koalitionsbedingung machen würde, so wäre es selbst für die Leute um Lederer schwer, ganze fünf Jahre alles für den Frieden mit der SPD-Rechten und den Konzernen zu verschleppen.

Bedenkt man außerdem, dass selbst in der Berliner SPD die Mehrheit auf einem Parteitag zugunsten einer Enteignung und der Umsetzung des Volksentscheides kippen könnte, dem die Mehrheit ihrer WählerInnen und Mitglieder zugestimmt hat, so wäre eine rot-grün-rote Koalition eine, bei der sie ständig erklären müsste, warum sie dem Willen der BerlinerInnen und auch der UnterstützerInnen der Koalitionsparteien nicht folgt.

In dieser „Not“ kommt die FDP gerade recht. Die Verteidigung des Privateigentums bildet schließlich den Kern ihres Kampfes um sog. Freiheitsrechte.

Für SPD und Grüne bildet eine FDP in der Koalition zugleich eine willkommene Ausrede dafür, warum eine Enteignung der Wohnungskonzerne nicht möglich ist. Zum Trost präsentiert eine solcher Senat womöglich einige Selbstverpflichtungserklärungen der Unternehmen, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen. Sie bringen den MieterInnen zwar nichts, aber sie machten sich gut im Koalitionsvertrag. Ein solcher würde wahrscheinlich mit allerlei Bekenntnissen zum Wohnungsbau garniert werden, samt Subventionen für private BauträgerInnen und ökologischer Sanierung dieses potemkinschen Dorfes.

Giffey und Jarasch kennen außerdem ihre Parteilinken. Diese stehen zwar einer Ampel skeptisch bis ablehnend gegenüber, einen wirklichen Kampf um die Koalitionsfrage würden sie jedoch nicht riskieren. Letztlich werden sie wohl die Kröte FDP schlucken, denn diese Parteilinken verfügen zwar über wenig Rückgrat, dafür aber über einen kräftigen Magen.

Linkspartei

Daher wird der Linkspartei ihre ganze Anbiederung an SPD und Grüne wahrscheinlich nichts nützen. Der Koalitionszug fährt wohl ohne sie ab – und das obwohl sie freiwillig von der wichtigsten konkreten Forderung an einen neuen Senat absieht, der nach sofortiger Umsetzung des Volksentscheids. Die Linkspartei verzichtet aus gutem Grund darauf, dies zur Vorbedingung für eine Senatsbildung zu machen, denn ihrer Führung ist bewusst, dass SPD und Grüne auf diese nicht eingehen werden und zur Zeit der gesellschaftliche Druck noch viel zu gering ist, als dass sie sich dazu gezwungen sähen.

Dieser Sachverhalt offenbart zugleich den zweifelhaften Wert einer Neuauflage der rot-grün-roten Koalition für die MietenaktivistInnen und alle anderen gesellschaftlichen Bewegungen. Schließlich hatten SPD, Grüne und Linkspartei ganze fünf Jahre Zeit, beispielsweise die Lage im Gesundheitsbereich und an den Krankenhäusern zu verbessern.

Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage, angesichts steigender Preise und des Diktats der Schuldenbremse wird der Spielraum für soziale Maßnahmen in Berlin und anderswo deutlich schrumpfen. Jede größere, substantielle Reform erfordert unter diesen Bedingungen, sich mit (Teilen) der KapitalistInnenklasse  anzulegen und in den Betrieben und auf der Straße zu mobilisieren. Doch genau das wollen SPD und Grüne nicht. Eine FPD als Senatspartei kann hier noch als zusätzliche Ausrede dafür herhalten, dass keine großen Sprünge für die Massen möglich sind.

Die Linkspartei hält in dieser Lage wider besseres Wissen am Säen ihrer Illusionen von einer sozialen, ökologischen, linken und progressiven Koalitionsregierung fest. Die Ampel verhindern wird das wahrscheinlich nicht, ja ein Teil der Linkspartei und sogar ihrer Führung mag sogar klammheimlich hoffen, dass ihr eine weitere Regierungsbeteiligung erspart bleibt. Das hätte immerhin den Vorteil, dass sie in den kommenden fünf Jahren keine Verantwortung für soziale Angriffe und Sparmaßnahmen übernehmen müsste und sich in der Opposition „regenerieren“ könnte.

Die Beschäftigten der Charité und bei Vivantes, die sich zur Zeit im Arbeitskampf befinden, sollten jedenfalls keine Hoffnungen in irgendwelche automatischen Verbesserungen durch diesen oder jenen zukünftigen Senat setzen. Ebenso wenig sollten es die AktivistInnen der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen tun. Die BesetzerInnen der Köpi, die noch unter dem scheidenden Senat am 15. Oktober geräumt werden sollen, wissen ohnedies, dass sie von einem rot-grün-roten Senat nichts zu erwarten haben.

Dennoch sollten wir die aktuelle Lage nutzen, um zentrale Forderungen dieser Bewegungen auf die Straße zu tragen und vom Senat einzufordern:

  • Stopp aller Räumungen besetzter Häuser und Wagenplätze! Keine Räumung von MieterInnen!
  • Sofortige Umsetzung des Volksentscheides. Wohnungskonzerne enteignen – sofort!
  • Umsetzung der Forderungen der Krankenhausbewegung bei Charité und Vivantes!



Die Wahlen und die politische Krise der Bourgeoisie

Martin Suchanek, Infomail 1163, 20. September 2021

Gut eine Woche vor den Bundestagswahlen wurden die letzten Umfragen von ARD und ZDF veröffentlicht. Im Deutschlandtrend vom 16. September liegt die SPD mit 26 Prozentpunkten vor CDU/CSU (22 %) und den Grünen (15 %). AfD und FPD würden auf je 11 % kommen und DIE LINKE mit 6 % zwar sicher, aber abgeschlagen in den Bundestag einziehen.

In den letzten Wochen prägt ein eigentümlicher Gegensatz den Wahlkampf. Einerseits könnte er mit einem überraschenden Sieg einer politischen Untoten enden, einer SPD, die über Jahre in den Umfragen um die 15 % dümpelte. Nicht nur die Frage, wer die Regierung führt, sondern auch welche Koalition gebildet wird, ist offen wie nie nach 16 Jahren Merkel-Regierungen.

Zugleich bleibt der Wahlkampf selbst extrem inhaltsleer, wie nicht nur ein Blick auf die Wahlplakate zeigt. So verspricht Scholz „Kompetenz für Deutschland“ und „Respekt für Dich“. Die Grünen und ihre Spitzenkandidatin Baerbock preisen „unser Land“ an. Es „kann viel, wenn man es lässt“. Die CDU/CSU verspricht „Sicherheit“ in unsicheren Zeiten. Und die FDP erklärt nur: „Es gab noch nie so viel zu tun.“

Von einem Lagerwahlkampf ist nichts zu spüren, es gibt auch keinen. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wahrscheinlich drei der vier oben genannten Parteien, also SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP nach den Wahlen in eine Koalitionsregierung eintreten werden. Auch wenn von SPD und Grünen mit der Linkspartei rechnerisch eine Koalition im Bereich des Möglichen liegt, so ist sie trotz hartnäckiger Bemühungen der Linkspartei-Spitze nach den Wahlen sehr unwahrscheinlich. Sowohl SPD wie auch Grüne streben bei einem Wahlsieg von Scholz eine Koalition mit der FDP an, um so dem deutschen Kapital Verlässlichkeit und Stabilität zu signalisieren. Sollten die Unionsparteien das Ergebnis doch noch drehen können und zur größten Fraktion im Bundestag werden, läuft es wahrscheinlich auf eine Regierung mit der FPD und Grünen oder SPD hinaus.

Theoretisch wäre auch der Eintritt der CDU/CSU in ein SPD-geführtes Kabinett möglich, doch das würde mit ziemlicher Sicherheit die tiefe Krise der Unionsparteien noch weiter verschärfen und ist daher nicht zu erwarten.

Warum drehten sich die Umfragen?

Bemerkenswert an diesem Wahlkampf ist zweifellos, dass sich die Umfragen seit Anfang 2021 mehrmals drehten. Eine Zeit lang schien es so, als würden die Wahlen auf ein Duell von CDU/CSU und Grünen hinauslaufen und diese schließlich eine Regierung bilden. Dann fielen aber die Grünen zurück und die Unionsparteien sahen wie die sicheren Siegerinnen aus. Offen war nur, ob Söder oder Laschet Merkel-Nachfolger werden würde.

Mit Olaf Scholz schicke die SPD einen Großkoalitionär vom rechten Parteiflügel ins Rennen, der wie die sichere Fortsetzung ihrer Dauerkrise und ihres langsamen Absterbens wirkte. Wohlmeinende bezeichnen seine Rhetorik als unaufgeregt. Andere schlafen bei seinen Ansprachen einfach ein und sparen so wenigstens am Schlafmittel.

Lange Zeit schien er, sicherer Dritter im Rennen um die KanzlerInnenschaft zu werden, wirkte eigentlich wie ein Pseudokandidat, dessen Partei obendrein das schlechteste Ergebnis aller Zeiten einfahren würde. Doch im Gegensatz zur SPD leisteten sich ihre Konkurrentinnen einen offenen Kampf um die Frage des/der SpitzenkandidatIn. Während CDU und CSU dabei mehr oder weniger offen Laschet beschädigten, geriet die grüne Spitzenkandidatin Baerbock sehr früh ins Sperrfeuer einer Gegenkampagne von Teilen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Medien.

All dies trug sicher dazu bei, dass sich die Umfragen drehten. Die SPD profitierte im Wesentlichen von den Schwächen der anderen, so dass sie nun reale Chancen hat, am 26. September zur stärksten Partei zu werden und den Kanzler zu stellen. Die Grünen sind mittlerweile faktisch aus diesem Rennen ausgeschieden, so dass sich die Wahl als Zweikampf zwischen Scholz und Laschet zuspitzt.

Zweifellos kommt dem SPD-Mann dabei zugute, dass ihn selbst Teile der CDU-WählerInnen und der herrschenden Klasse für den besseren oder wenigstens vorzeigbareren Kanzler halten. Es wäre freilich viel zu kurz gegriffen, die Frage auf letztlich zweitrangige, personelle Faktoren zu reduzieren.

Politisch-strategische Krise

Die raschen Veränderungen in den Umfragen, drücken vielmehr eine wachsende politische Instabilität und Krise im bürgerlichen Lager aus. Dies reflektiert zwar auch eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung, vor allem aber eine politisch-strategische Krise der Parteien, die über Jahrzehnte die Regierungen in der Bundesrepublik stellten und die Stützen des etablierten bürgerlich-parlamentarischen Systems bildeten.

Entscheidend und vorrangig zu nennen ist hier die Krise der CDU/CSU. Selbst wenn Laschet noch vor Scholz landen, die Unionsfraktion zur stärksten im Bundestag werden und die nächste Regierung anführen sollte, wäre ihr Ergebnis katastrophal. Schon 2017 erreichte sie mit 32,9 % das zweitschlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik (nur 1949 war es ärger), als CDU/CSU gegenüber 2012 8,6 % verloren. Dieses Mal könnten sich die Verluste in ähnlichen Dimensionen bewegen.

Dem Niedergang der Unionsparteien entspricht eine Zersplitterung des bürgerlichen Lagers, also all jener Parteien, die historisch nicht aus der ArbeiterInnenbewegung stammen. Den Aufstieg der Grünen, die wohl ihr bestes Ergebnis einfahren und sich als dritte politische Kraft festigen, ergänzen FDP und AfD, die beide mit Sicherheit über 10 % der Stimmen erhalten werden. Das verdeutlicht, dass CDU/CSU ihre historische Rolle als Hauptpartei(enbündnis) des BürgerInnentums immer weniger zu erfüllen vermögen. Über Jahrzehnte vermochten die Unionsparteien, verschiedene kleinere offen bürgerliche Kräfte, die in der Weimer Republik miteinander konkurrierten, in einer Partei zu integrieren und so für Einheit im bürgerlichen Lager zu sorgen. Partikularinteressen von kleinbürgerlichen Schichten, Teilen der ArbeiterInnenschaft, unterschiedliche Kapitalfraktionen konnten im Interesse des Gesamtkapitals zu einem Ganzen verbunden werden.

Konfliktlinien

Das gelingt immer weniger. Das liegt insbesondere daran, dass die CDU/CSU-Allianz immer weniger eine Politik zu formulieren vermag, die die Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als einigermaßen konsistente Strategie artikuliert. Vielmehr sind die Unionsparteien von einer Reihe politischer Gegensätze durchzogen. So schwankt ihre ganze Politik z. B. zwischen Green Deal mit staatlichen Investitionsprogrammen einerseits und einem neoliberalen, „rein“ marktwirtschaftlichen Kurs. Der Green Deal hat dabei natürlich wenig bis gar nichts mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun, sondern stellt bloß ein „ökologisches“ Programm zur Erneuerung der stofflichen Basis und Konkurrenzfähigkeit des industriellen Kapitals dar. Der andere Flügel setzt aber auf eine wesentlich neoliberale Politik, da so den Interessen der FinanzinvestorInnen am besten gedient sei und der Markt nebenbei auch die ökologischen Probleme lösen würde.

Beide Seiten repräsentieren unterschiedliche Fraktionen des Monopol- und Finanzkapitals und auch unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen. Ein Flügel setzt auf Korporatismus und SozialpartnerInnenschaft und damit eine gewisse Einbindung der ArbeiterInnenklasse über den Gewerkschaftsapparat und die Betriebsräte. Dem anderen (FDP, Merz-Flügel in der CDU) erscheint das als grundlegendes Problem.

Schließlich kommt hinzu, dass die verschiedenen politischen Kräfte über keine gemeinsame längerfristige und klare Strategie zur Lösung der EU-Krise sowie der des transatlantischen Verhältnisses verfügen, deren Konflikt unter Biden nicht verschwunden ist, sondern nur seine Form geändert hat. Da beide Fragen untrennbar mit der des Verhältnisses zu China und Russland verknüpft sind, ergibt sich eine weitere Baustelle außenpolitischer Strategie.

Klar ist nur: Es muss sich Entscheidendes ändern. Aber es gibt keine klare Strategie „des“ deutschen Kapitals, ja selbst die verschiedenen Lager durchdringen sich teilweise.

Während sich die unterschiedlichen Richtungen bürgerlicher Politik in der CDU/CSU auch parteiintern gegenüberstehen, herrschen bei Grünen und FDP jeweils bestimmte Richtungen vor, so dass diese Parteien über eine relativ große Einheitlichkeit verfügen.

In gewisser Weise gilt das auch für die SPD. Sie steht – ähnlich wie die Grünen – für den Green Deal. Aber sie vermag es eher und glaubwürdiger, dessen soziale Abfederung und die Rücksichtnahme auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, die bei einem massiven Umbau des Exportkapitals im Bereich der Metall-, Elektro- und chemischen Industrie zu Recht um ihre Arbeitsplätze fürchtet, zu verkaufen. Das erklärt auch, warum die Sozialdemokratie die Grünen in den Umfragen überholen konnte.

Allzu viele soziale Wohltaten sollte auch von Olaf Scholz und seiner SPD niemand erwarten. Mit gerade 3,- Euro/Monat bepreist die Sozialdemokratie die viel beschworene „soziale Gerechtigkeit“ bei der jüngsten Hartz-IV-Erhöhung. So billig sollen die Ärmsten der Armen auch in Zukunft abgespeist werden.

Unter einer von Scholz oder Laschet geführten Bundesregierung sollen die sozialen und ökonomischen Kosten für die Corona-Programme, für die Staatsverschuldung, für die „Reform“ der EU, für die „ökologische Erneuerung“, für Rüstung, Militär und weitere Auslandseinsätze die Lohnabhängigen zahlen. Die Frage ist nur, ob die herrschende Klasse auch einen „Anteil“ tragen oder nach dem Modell von Union und FDP als „Leistungsträgerin“ ganz ungeschoren davonkommen soll. Dass die herrschende Klasse nicht allzu sehr zur Kasse gebeten wird, dafür werden sich in jeder neuen Koalition genug Kräfte finden und wird auch der unvermeidliche Druck des deutschen Kapitals sorgen. Die konjunkturelle Lage mag zwar einen gewissen Spielraum für einzelne Lohnerhöhungen und soziale Abfederung mit sich bringen, aber das ist nur das Zuckerbrot zur Peitsche drohender Massenentlassungen und Umstrukturierungen in der Industrie oder bei den nächsten Sparprogrammen im öffentlichen Sektor. Hinzu kommt, dass die steigende Inflation zu einer weiteren Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen führen wird. Was die Bekämpfung der Corona-Pandemie betrifft, so setzen im Grunde alle vier auf eine Mischung aus Impfungen und Durchseuchung der Ungeimpften, also die sog. Herdenimmunität. Es geht längst nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu stoppen, sondern nur noch darum, die Belastung des Gesundheitssystems und die Sterberaten in „akzeptablen“ Grenzen zu halten.

Innere Probleme einer nächsten Regierung

Die strategische Linie des deutschen Kapitalismus wird in der nächsten Regierung weiter umstritten und schwankend sein, weil sie sich selbst aus unterschiedlichen Richtungen zusammensetzen wird und auch diese für sich genommen keineswegs über ein schlüssiges, klares „Zukunftskonzept“ verfügen.

Zugleich wird die nächste Regierung wichtige Angriffe starten oder fortsetzen – unterscheiden werden sich die verschiedenen Koalitionen allenfalls dadurch, wie sehr sie die Gewerkschaftsführungen und die Betriebsräte in den Großkonzernen weiter „partnerschaftlich“ in den Kampf um Weltmarktanteile einbinden.

Gemäß der Mechanik der Klassenzusammenarbeit soll davon ein Teil an die ArbeiterInnenaristokratie fallen. Doch dieser Anteil wird vor dem Hintergrund fallender Profitraten und immer härterer Weltmarktkonkurrenz zusehends geringer. Für viele besteht er schon heute, nach erfolgreichem, sozial abfederten Strukturwandel, nur noch im „Privileg“, die eigene Arbeitskraft weiter verkaufen zu dürfen – zu deutlich schlechteren Bedingungen, versteht sich.

Den wunden Punkt des deutschen Imperialismus stellt jedoch seine außenpolitische und militärische Schwäche dar. Daher muss eine zukünftige Regierung, ob unter Scholz oder Laschet, danach trachten, den gordischen Knoten der EU-Krise und des weiteren Zurückbleibens in der Konkurrenz mit den USA und China zu lösen. Ob das gelingt, ist durchaus zweifelhaft. Das Schwert, mit dem er durchschlagen werden kann, muss noch geschmiedet werden.

Allein daher können wir eine größere Instabilität erwarten. Falls der kommenden Regierung keine wirkliche Lösung dieser strategischen Krise gelingt, müssen wir mit einer weiteren Umgruppierung im bürgerlichen Lager rechnen. Die rassistische und rechtspopulistische AfD wird zwar regelmäßig von inneren Konflikten heimgesucht, aber sie hat sich bei über 10 % der Stimmen stabilisiert. Auch in der nächsten Periode wird sie enttäuschte und wütende kleinere Kapitale, KleinbürgerInnen und rückständige ArbeiterInnen durch eine Mischung aus rassistischer Demagogie und Freiheitsversprechen für „ehrliche“ KleinunternehmerInnen binden können.

Bei diesen Wahlen kommt die AfD aufgrund ihrer Anti-EU-Haltung weder für CDU/CSU noch für die FDP als Koalitionspartnerin in Frage. Doch dies kann sich in der nächsten Legislaturperiode ändern – sei es, wenn die Krise der EU andere Optionen für das Kapital notwendig macht, sei es als mögliche Partnerin gegen den Widerstand der ArbeiterInnenklasse oder sozialer Bewegungen (z. B. Umwelt, Mieten) gegen kommende Angriffe. Außerdem werden die Unionsparteien und die FDP danach trachten, ihre Regierungsoptionen zu erweitern, um die Möglichkeiten von SPD und Grünen auszugleichen, die auch auf die Linkspartei als Drohkulisse zurückgreifen können.

Im Grunde wird es aber bei den Wahlen um die Alternative zwischen zwei möglichen zukünftigen Richtungen des deutschen Imperialismus gehen. SPD und Grüne stehen für eine sozial und ökologisch abgefederte Modernisierung. FDP und rechter Unionsflügel setzen auf eine Neuauflage des Neoliberalismus. Ein Teil der CDU/CSU steht entweder dazwischen oder SPD, Grünen und der EU-Kommission näher.

Wie die deutsche Bourgeoisie diese Krise löst, hängt letztlich natürlich nicht vom Ausgang der Wahlen ab und von den Verhandlungen um eine neue Regierung. Wesentlich wird die Frage im Kampf entschieden, sowohl mit anderen Blöcken und Staaten um die Zukunft der EU und der Weltordnung als auch zwischen den Klassen. Darin müssen sich die verschiedenen bürgerlichen Strategien als tauglich erweisen.

Auf reiner Regierungsebene werden wir es unmittelbar – nicht unähnlich den Verhältnissen in der EU – mit einer Koalition der beiden Richtungen zu tun haben. Verstärkt wird das unmittelbar noch durch das föderale System der Bundesrepublik, das der parlamentarischen Opposition bei wichtigen Gesetzen noch immer „Mitspracherechte“ gegenüber der Regierung einräumen würde. In jedem Fall wäre dies, anders als in früheren Perioden, ein fragiles, instabiles Kabinett.

Rolle von Gewerkschaften und SPD

Grundsätzlich bietet eine solche Lage auch Chance für die ArbeiterInnenklasse. Doch der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte, der selbst aus Niederlagen (Hartz-Gesetze, EU-Diktat gegenüber Griechenland, Rechtsrutsch nach der sog. Flüchtlingskrise) herrührt, führte mit dazu, dass nicht die Linke, sondern die politische Rechte von den krisenhaften Prozessen profitierte.

Dies wurde und wird durch die Politik von SPD und Gewerkschaften – insbesondere durch den sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss der Bürokratie während der Krise und der Pandemie – massiv verschärft. Die großen DGB-Gewerkschaften verzichteten faktisch auf Tarifauseinandersetzungen. Die größten gesellschaftlichen Mobilisierungen kamen von kleinbürgerlich-geführten Bewegungen gegen Rassismus und vor allem gegen die Umweltpolitik der Regierung, was dazu beitrug, dass diese wie auch die außerparlamentarische Linke stark von kleinbürgerlichen Ideologien geprägt sind.

Auch wenn es 2021 eine eingeschränkte Trendumkehr mit wichtigen Arbeitskämpfen bei der Bahn oder im Gesundheitswesen oder durch Kampagnen gegen steigende Mieten gab, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nur einzelne Sektoren und Teilkämpfe betrifft. In den großen Betrieben herrscht ein von oben, mithilfe der Gewerkschaften und Betriebsräte organisierter Frieden vor, er von den Beschäftigten mit Verzicht auf allen Ebenen und Arbeitsplatzverlusten bezahlt wird.

Und DIE LINKE?

Die Linkspartei vermochte es nicht, aus dieser Krise der SPD politisches Kapital zu schlagen. Sie ist vielmehr selbst Teil des Problems, der politischen Krise der ArbeiterInnenklasse. Das drückt sich auch, aber nicht nur bei den Wahlen aus. Gegenüber 2017 wird sie in diesem Jahr wahrscheinlich um die 2 – 3 % verlieren. Das reicht zwar zum Einzug in den Bundestag. Die Frage stellt sich aber, warum sie um die 6 % dümpelt?

Der entscheidende Faktor ist wohl der: Die Linkspartei vermochte, sich selbst nicht als glaubwürdige Alternative zur Regierung und das heißt vor allem zum sozialpartnerschaftlichen Kurs der SPD und der Gewerkschaftsführungen zu präsentieren. In Thüringen, Berlin und Bremen ist sie bekanntlich an den Landesregierungen beteiligt – und damit verschwimmt selbst der Unterschied ihres linksreformistischen Programms zur Politik von SPD und Grünen.

Andererseits hat sich die Linkspartei durchaus gewandelt. Seit Jahren zählt sie zwar um die 60.000 Mitglieder, doch während bei der Fusion von PDS und WASG eine deutliche Mehrheit aus Ostdeutschland kam, ist es heute nur noch eine Minderheit. Die Partei hat sich auch verjüngt und weist eine stärkere Verankerung unter gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen auf, als die ehemalige PDS sie je hatte. Sie ist eigentlich eine „klassischere“ bürgerliche ArbeiterInnenpartei geworden, eine kleinere reformistische Schwester der SPD. Sie organisiert zur Zeit die politisch bewussteren Teile der ArbeiterInnenklasse und spielt eine wichtige, wenn nicht führende Rolle in bedeuteten Arbeitskämpfen, so im aktuellen Streik an den Berliner Krankenhäusern, so in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder in den Mobilisierungen gegen das verschärfte Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen.

Dass die Partei trotz ihrer reformistischen Politik und Programmatik politischer Ausdruck dieser Kräfte und Bewegungen wurde, bringt ihre Verankerung in fortschrittlicheren und kämpferischeren Teilen der Lohnabhängigen zum Ausdruck und bildet die Basis dafür, sie bei den kommenden Wahlen kritisch zu unterstützen. Um einen Kampf gegen die kommenden Angriffe erfolgreich zu führen, ist die Gewinnung dieser Teile der ArbeiterInnenklasse für eine Einheitsfront unbedingt notwendig, sowohl wegen ihres eigenen gesellschaftlichen Gewichts, aber auch als Hebel zur Gewinnung breiterer Schichten der Klasse.

Doch die Reaktion der Führung der Linkspartei auf eine nach einigen Umfragen mögliche rechnerische Mehrheit im kommenden Bundestag verdeutlicht auch, warum ein Wahlaufruf nur ein sehr kritischer sein kann. Die Spitze der Partei konzentriert sich in den letzten Wochen nicht darauf, sich als linke, kämpferischer Alternative zu allen proimperialistischen Kräften und möglichen bürgerlichen Koalitionen zu präsentieren. Sie setzt vielmehr auf eine Regierungsbeteiligung. Dazu veröffentlichten die Vorsitzenden der Partei und der Parlamentsfraktion Anfang September ohne Diskussion im Parteivorstand ein Sofortprogramm für eine rot-grün-rote Regierung, in dem alle wesentlichen Differenzen mit SPD und Grünen (insbesondere auch zur NATO und zur Außenpolitik) umschifft werden. Gegenüber dem deutlich linkeren Wahlprogramm kommt es einer Kapitulation gleich.

Die Linkspartei verkennt dabei nicht nur, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; sie verkennt auch, dass eine rot-grün-rote Regierung mit einer SPD unter Scholz nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green (New) Deal im Kapitalinteresse.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.

Nach der Wahl

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock und Lindner werden nach dem 26. September sicher für massive soziale Angriffe sorgen. Dabei werden sie sich aber auch in langwierige Koalitionsverhandlungen verstricken. Und das kann für uns nützlich sein, wenn wir selbst entschlossen reagieren und nicht erst auf eine Regierungsbildung warten.

Eine Massenbewegung gegen die Abwälzung der Kosten von Krise und Pandemie auf die Lohnabhängigen aufzubauen, ist das Gebot der Stunde. Dazu schlagen wir eine bundesweite Aktionskonferenz vor, die die Lage nach den Wahlen diskutiert und einen Aktions- und Mobilisierungsplan gegen die zu erwartenden Angriffe beschließt.