Antikriegsbewegung in Russland

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Ein Jahr seit Beginn des Angriffskrieges – und das Regime Putins scheint nicht zu bröckeln, ja nicht mal kleine Risse zu bekommen. Doch die Fassade täuscht, denn der Druck, den Krieg gewinnen zu müssen, wächst stetig für die russische Regierung. Zwar wurde am Jahresanfang seitens Putins, aber auch der internationalen Gemeinschaft festgestellt, dass die Sanktionen die Nation nicht so stark treffen, wie es sich manch eine/r erhofft hat.

Dennoch ist das Loch im russischen Haushalt nicht besonders klein. Russland verkauft bereits Devisen im Wert von 8,9 Milliarden Rubel (gut 112 Millionen Euro) pro Tag, um das Defizit zu decken. Auch Goldreserven werden veräußert. Die Zentralbank hat zuletzt davor gewarnt, dass ein hohes Defizit die Inflation anheizen könnte. Sie wäre dadurch zu Zinserhöhungen gezwungen, die wiederum die Konjunktur belasten würden. Es kann also nicht ewig so bleiben. Doch wie kann der Krieg beendet werden? Und welchen Widerstand gibt es überhaupt?

Ein grober Überblick

Die Kritiker:innen des Krieges kommen aus allen politischen Spektren in Russland, denn nur die wenigsten profitieren von der sogenannten „Spezialoperation“. So gab es unmittelbar nach dem Einmarsch Petitionen und Positionierungen von bekannten Personen der russischen Öffentlichkeit gegen den Krieg. Aber auch aus der breiteren Bevölkerung kamen offene Briefe wie beispielsweise einer aus der IT-Branche, der von rund 30.000 Beschäftigten unterzeichnet wurde.

Es folgten Aktionen von Künstler:innen wie des Kollektivs Nevoina aus Samara oder die anonyme Bewegung „Krankschreibung gegen den Krieg“. Die größten koordinierten Aktivitäten stellten die Aktionstage am 6. und 13. März 2022 sowie im September dar. Trotz dieser Unternehmungen ist es jedoch bisher nicht gelungen, eine breite Antikriegsbewegung aufzubauen. Die Gründe dafür sind zahlreich.

Chronik der Repression

Die Aktivist:innen selber erleiden seit dem ersten Tag des Krieges eine massive Repression seitens des russischen Staates. Das Versammlungsrecht war bereits vor dem Krieg drastisch eingeschränkt worden. Neben massiver Polizeigewalt gab es bis zum 13. März 14.000 Festnahmen. Diese Ordnungsverwahrungen endeten zwar häufig nach 10 – 15 Tagen, jedoch wurde auch vereinzelt von Fällen berichtet, bei denen Festgenommene gefoltert wurden. Das Ziel seitens des russischen Staatsapparates war von Beginn an, die Proteste im Keim zu ersticken.

So gab es für das gesamte Jahr 2022 laut OVD-Info mehr als 21.000 Festnahmen sowie mindestens 370 Angeklagte in Strafverfahren wegen Antikriegsäußerungen und -reden. Mehr als 200.000 Internetressourcen wurden gesperrt und 11 Urteile wegen Staatsverrats verhängt. Darüber hinaus haben Behörden bestätigt, dass bisher 141 Personen wegen Teilnahme an Antikriegsprotesten mittels Gesichtserkennungssystemen (z. B. in der Moskauer U-Bahn) ermittelt wurden.

Mit der massiven Repression hatte das Putinregime bisher Erfolg. Die Proteste wurden klein gehalten, große Teile der Bevölkerung eingeschüchtert und wichtige Aktivist:innen für den Widerstand haben mit Repression zu kämpfen oder mussten fliehen. Die Oppositionsgruppen haben in dieser Situation Aufrufe zu öffentlichen Kundgebungen eingestellt, weil sie beim aktuellen Kräfteverhältnis nur zum Verheizen der Aktivist:innen führen würden.

Weitere Gründe für diese Schwäche

Doch nicht nur die Repression alleine erschwert den Aufbau einer Antikriegsbewegung. Hinzu kommen zwei weitere Gründe, die wir nur kurz anreißen können:

a) Fehlende Programmatik und Klarheit

Die eher autonom geprägte Gruppe „Alt-Left“ ging in ihrer Auswertung des Aktionstags am 13. März 2022 davon aus, dass die Führung der Bewegung eine liberale Prägung habe und es in der Bevölkerung eine mehrheitliche Unterstützung für die „Spezialoperation“ und eine starke Zunahme des Nationalismus gebe. Das ist natürlich ein Ergebnis von Putins Propagandahoheit, aber auch der Tiefe der historischen Niederlage, die mit der Restauration des Kapitalismus einherging, und einer Linken, die an sich selbst den Zusammenbruch des Stalinismus erfuhr und sich und die Arbeiter:innenklasse bisher nicht so reorganisieren konnte, dass sie einen alternativen gesellschaftlichen Pol gegen Putin darstellen. Teile der „linken“ Kräfte – insbesondere die Spitzen der KPR und der offiziellen Gewerkschaften – unterstützen Putins Krieg. Andere nehmen keine klare Position ein, erkennen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine grundsätzlich nicht an oder betrachten Russland nicht als imperialistische Kraft. All das hat verhindert, dass sich ein klarer antikapitalistischer und antiimperialistischer Pol in der Bewegung bildete.

b) Mangelnde Verankerung

Weiterhin fehlt eine Verankerung der radikalen, gegen das Regime gerichteten Linken innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Letztere ist massenhaft vor allem in der staatstragenden Gewerkschaftsföderation organisiert und durch diese kontrolliert. Die aktuellen Proteste können sich somit richtigerweise gegen den Krieg Russlands richten, aber darüber hinaus können sie in ihrem aktuellen Ausmaß nur die Keimform einer breiten Antikriegsbewegung darstellen. Davon, den Krieg stoppen zu können, sind sie weit entfernt. Die Linke ist marginalisiert, die Arbeiter:innenklasse tritt nicht als eigenständige Kraft auf.

Rolle von Frauen

Doch nicht alles ist aussichtslos. Von Anfang an bildeten Frauen eine treibende Kraft der Antikriegsbewegung. OVD-Info verzeichnete, dass zwischen dem 24. Februar und 12. Dezember mindestens 8.500 Administrativverhaftungen von Frauen wegen Äußerungen von Antikriegspositionen in verschiedenen Formen stattfanden, was etwa 45 % aller bekannten Inhaftierten entspricht.

In den letzten Jahren ist der Anteil der bei Kundgebungen festgenommenen Frauen deutlich gestiegen: 2021 betrug er bei solchen zur Unterstützung von Alexei Nawalny 25 – 31 % und 2022 dort nach Ankündigung der Mobilisierung am 21. und 24. September 51 % bzw. 71 %. Der Autor und Herausgeber Ewgeniy Kasakow kommt im Buch „Spezialoperation und Frieden – Die russische Linke gegen den Krieg“ zur Schlussfolgerung, dass das feministische Spektrum das bestorganisierte in der aktuellen Situation sei. Das liegt seiner Einschätzung nach daran, dass es im Gegensatz zur restlichen Linken am wenigsten gespalten in der Frage der Ukraine gewesen sei. Zum anderen schaffte es am schnellsten, „horizontale Strukturen“ auszubilden, und war somit in der Lage, zu unterschiedlichen Fragen Agitationsmaterialien zu erstellen und Solidaritätskampagnen zu organisieren. Die größte nachvollziehbare Kraft stellt dabei das Netzwerk Feministischer Antikriegswiderstand dar, das aktuell auch die stärkste im Kampf gegen Krieg auszumachen scheint.

Das Feministische Antikriegswiderstand (FAS)

So gab es am 8. März 2022 in über 90 Städten stille Proteste, bei denen Blumen vor Denkmäler gelegt wurden wie beispielsweise einem Wandgemälde in der Kiewer U-Bahnstation in Moskau, das für die russisch-ukrainische Freundschaft steht. Was sich nach einer Kleinigkeit anhört, führte jedoch allein in Moskau zur Verhaftung von 90 Personen und zeigt, wie gering der Spielraum für Proteste ist.

Um so positiver ist es, die Aktivitäten der FAS über die letzten Monate zu verfolgen: Neben der Sammlung von Spenden für ukrainische Geflüchtete, der Unterstützung von nach Russland Abgeschobenen hat sie mehr als 10 Ausgaben der Printzeitung Zhenskaya Pravda (Frauenwahrheit) herausgegeben, mit der sie vom Staat unabhängige Informationen über den Krieg gewährleistet.

Ebenso finden sich Artikel wieder, die thematisieren, wie Söhne vor der Armee geschützt werden können oder sich der Krieg auf das Familienbudget und die Wirtschaft Russlands auswirkt. Auf Teletype veröffentlicht sie regelmäßig Zwischenberichte ihrer Arbeit sowie Reden von einzelnen Koordinator:innen des Netzwerks. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag in der Agitation gegen den Krieg und beweist flexibles Nutzen von Onlineaktivismus und illegaler Arbeit, die nicht nur auf Onlinemedien basieren kann.

Positionen

Klar sollte sein, dass das Netzwerk keine total homogene Struktur verkörpert, die auf Basis eines tiefer gehendenen einheitlichen Programms agiert. Es dient als Sammelbecken für linke wie auch liberale Aktivist:innen in Russland und international, die auch unterschiedliche Einschätzungen bezüglich des Charakters Russlands im Weltgefüge vertreten. Dennoch hat es am 25. Februar ein Manifest veröffentlicht, das mittlerweile in über 20 Sprachen verfügbar ist. Dort bezieht es klar Stellung zum Krieg und schreibt: „Russland hat seinem Nachbarn den Krieg erklärt. Es hat der Ukraine weder das Recht auf Selbstbestimmung noch irgendeine Hoffnung auf ein friedliches Leben zugestanden. Wir erklären – und das nicht zum ersten Mal –, dass der Krieg in den letzten acht Jahren auf Initiative der russischen Regierung geführt wurde. Der Krieg im Donbas ist eine Folge der illegalen Annexion der Krim. Wir glauben, dass Russland und sein Präsident sich nicht um das Schicksal der Menschen in Luhansk und Donezk kümmern und gekümmert haben und dass die Anerkennung der Republiken nach acht Jahren nur ein Vorwand für den Einmarsch in die Ukraine unter dem Deckmantel der Befreiung war.“

Angesichts des russischen Angriffskrieges ist die klare Positionierung der FAS essentiell und unterstützenswert. Im Späteren wurde ergänzt, wem die FAS hilft, wie Unterstützung aussehen kann. Ferner wurden 9 konkretere Forderungen zum Krieg verabschiedet. Auch hier halten wir den Großteil für sinnvoll wie die Ablehnung des bloßen Pazifismus, die Amtsenthebung Putins und aller beteiligten Beamt:innen. Doch sehen wir auch Sachen anders wie beispielsweise in der ersten Forderung: „Für den vollständigen Abzug der russischen Truppen aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine und die Rückgabe aller besetzten Gebiete an die Ukraine (Wiederherstellung innerhalb der Grenzen bis 2014)“.

Wir unterstützen den sofortigen Abzug russischer Truppen, treten jedoch dafür ein, dass die Bevölkerung der Krim sowie der Volksrepubliken unabhängig vom russischen wie vom ukrainischen Staat selbst Referenden organisiert, welchem Gebiet sie sich anschließen will – mit dem Recht, egal wie die Entscheidung ausfällt, Sprache etc. der jeweiligen Minderheit zu schützen.

Veränderung ist möglich

In einem Blogbeitrag beschreibt die FAS die unterschiedlichen Stadien von Antikriegskampagnen und wirft dabei die Frage auf: „In welcher Phase befinden wir uns Ihrer Meinung nach? Wie kann man den Beginn der dritten, vierten und fünften Stufe beschleunigen?“ Besagte Stadien stellen dabei 3. die „Wachstumsphase der Unterstützung“, bei der die Unterstützung über den Kern der aktiven Gruppen hinaus zunimmt und sich das 4. „Stadium der Meinungsbildung“ entwickelt, bei dem die Antikriegsposition in breiten Teilen der Bevölkerung diskutiert wird, hin zum 5. „Stadium der politischen Stärke“, wo beispielsweise der Beginn oder die aktive Wiederaufnahme von Verhandlungen anstehen sowie kleine Zugeständnisse an die Antikriegsbewegung erfolgen.

Manche Lesende werden jetzt vielleicht stutzig werden, da sie sich unter „politischer Stärke“ wahrscheinlich etwas anderes vorgestellt haben. Dem liegt folgende Aussage zugrunde: „Fast alle Forscher sind sich einig, dass die Antikriegskampagne selbst den Krieg nicht beendet: Kriege enden aus anderen Gründen, zu denen neben wirtschaftlicher Erschöpfung auch die Unbeliebtheit und Nichtunterstützung des Krieges in der Gesellschaft gehören. Es sind Kampagnen, die den Grad dieser Unterstützung verändern können, indem sie die Basis von Kriegsgegnern ständig erweitern und neue Menschen in die Bewegung einbeziehen.“

Richtig mag sein, dass Kampagnen nicht Kriege beenden. Dennoch können aus ihnen politische Kräfte entstehen, die sich als Organisationen oder Parteien formen, die eben dies tun. Denn vor allem, wenn das Ziel unter anderem auch die Amtsenthebung Putins sein soll, braucht es eine Kraft, die klar als Alternative auftreten kann.

Doch kommen wir zurück zur eigentlichen Frage: Wie kann die Antikriegskampagne ausgeweitet werden? Diese ist eng verknüpft damit, wen man als Subjekt der Veränderung betrachtet. Dabei glauben wir, dass der Begriff der „Zivilgesellschaft“ nicht hilft, da er das Bild zeichnet, dass zum einen viele Teile der Bevölkerung gleichgestellt sind, zum anderen keine wirkliche Unterscheidung zwischen NGOs, Initiativen und Individuen getroffen wird. Die „Zivilgesellschaft“ in ihrer Gesamtheit besteht aus Schichten, die letztlich entgegengesetzt Klasseninteressen haben können – was es schwierig macht, klare Forderungen zu entwickeln, und den gemeinsamen Kampf notwendigerweise auf eine Reform des bürgerlichen Systems beschränken muss.

Als Marxist:innen gehen wir davon aus, dass die Arbeiter:innenklasse das zentrale Subjekt der Veränderung darstellt. Dabei gehen wir davon aus, dass das Bild der Arbeiter:innenbewegung als Darstellung weißer Männer in Blaumännern der Realität nicht gerecht wird. Schauen wir uns die Arbeiter:innenklasse international an, dann ist sie multiethnisch und divers in ihren Geschlechtsidentitäten. Es geht also nicht um die Frage, Unterdrückung zu verleugnen, sondern die Kämpfe miteinander zu verbinden.

Die Arbeiter:innenklasse als solche ist aufgrund ihrer Rolle im Produktionsprozess relevant. Durch die Fähigkeit zu streiken, also die Produktion lahmzulegen, sitzt sie an einem effektiven Hebel, dem Krieg sowohl den Geldhahn als auch praktisch die Mittel abzudrehen. Ein Blick zurück in die russische Geschichte zeigt, welche Schlüsselrolle die Arbeiter:innenklasse – und insbesondere Frauen – einnehmen können, um Kriege zu beenden. Die Antwort auf die Frage, wie die Antikriegskampagne ausgeweitet werden kann, lautet für uns also: Wie können die Arbeiter:innen für eine Antikriegspolitik gewonnen werden? Und welche politischen Ziele sind damit verknüpft? Soll nämlich der Kampf gegen den Krieg zum Sturz des russischen Imperialismus auswachsen, so muss er für die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innenregierung geführt werden.

Wie kann es weitergehen?

Die FAS vertritt eine solche Perspektive nicht. Unsere Kritik bedeutet natürlich nicht, dass wir sie im Kampf gegen die Kriegspolitik nicht unterstützen würden. Im Gegenteil, wir suchen diese Diskussion mit den Aktivist:innen und Genoss:innen.

Darüber hinaus ist auch hervorzuheben, dass die FAS auch wichtige klassenpolitische Forderungen erhebt. So heißt es:

„Wir kämpfen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle und für die Einhaltung der Arbeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Mit Beginn des Krieges steigt die Zahl der Entlassenen und Arbeitslosen. Die Arbeitgeber nutzen ihre Macht und ihren Druck, um Arbeitnehmer für ihre Antikriegshaltung zu bestrafen. Die ersten Leidtragenden der Kürzungen im Arbeitsrecht sind die Frauen!* und die sogenannten nationalen Minderheiten, Migranten. Wir unterstützen die Arbeit unabhängiger Gewerkschaften und Streiks.“

Wir halten diese Positionierung für sinnvoll, da der Krieg, wie die FAS feststellt, für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler sorgt. Um mehr Elemente für eine Antikriegsposition zu gewinnen, müssen aktuelle Probleme wie Lohnkürzungen sowie ausbleibende Lohnzahlungen und steigende Lebensunterhaltungskosten direkt angesprochen und mit Forderungen für konkrete Verbesserungen verbunden werden.

Dabei ist es sinnvoll, selbst die regimetreuen Gewerkschaften aufzufordern, um diese Fragen aktiv zu werden, statt stumme Burgfriedenspolitik zu betreiben. Dies dient vor allem dazu, diejenigen, die zum einen Illusionen frönen, dass ihre Gewerkschaft etwas für sie tut, wegzubrechen, zum anderen jenen, die sie als bloße Kulturinstitution verstehen, aufzuzeigen, dass sie ein Ort des gemeinsamen Kampfes sein muss.

Dies sollte kombiniert werden mit kleineren Aktivitäten in Betrieben, wo über die Aufforderungen diskutiert werden kann. Die aktuelle Repression erschwert es, dies offen und öffentlich mit der Frage des Krieges zu verbinden oder schnell in Mobilisierungen umzuwandeln. Jedoch muss es Ziel sein, die Unzufriedenheit zu schüren, um sie schließlich produktiv zu nutzen.

Perspektivisch könnte das Ziel darin bestehen, einen gemeinsamen, branchenübergreifenden Aktionstag beispielsweise unter dem Motto „Gegen die Krise!“ für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu organisieren, der a) als Überprüfung dienen kann, wie viele bereit sind, auf die Straße zu gehen, und b) genutzt werden kann, Kämpfe miteinander zu verbinden.

Denn man sollte sich bewusst sein: Chauvinismus gegenüber Ukrainer:innen, Sexismus und LGBTIA+-Diskriminierung werden in der breiten Bevölkerung nicht einfach so verschwinden, nur weil die Situation durch den Krieg schlechter wird. Unmittelbar droht sogar eine Zunahme. Der Schlüssel liegt jedoch weder darin, dies zu ignorieren, noch eine vollkommende Solidarität zur Vorbedingung eines gemeinsamen Kampfes zu machen.

Vielmehr muss im Rahmen von Kämpfen für Verbesserungen gezeigt werden, dass man gemeinsame Interessen hat, während gleichzeitig in den Strukturen Schutzräume für gesellschaftlich Unterdrückte wie Caucuses geschaffen werden sollten. Ebenso wird die Arbeit zurzeit dadurch erschwert, dass die Gewerkschaften dem Krieg recht passiv gegenüberstehen. Aber gerade deswegen ist es wichtig, sie herauszufordern, was nicht gegen die bereits existierende Arbeit gestellt werden sollte, die die FAS betreibt, da diese auch die Grundlage schafft, Gehör zu finden.

Internationale Solidarität statt Isolation

Die Aktivist:innen der russischen Antikriegsbewegung spielen eine Schlüsselrolle bei der Beendigung des Krieges. Hierzulande sollten wir uns dafür einsetzen, dass a) die eigene Kriegstreiberei nicht das Bild einer russischen Bevölkerung zeichnet, die komplett Putin unterstützt. Wer das so sieht, leugnet nicht nur die Realität und unterstützt weitere mögliche Kriegstreiberei, sondern verpasst die Chance, den Widerstand zu stärken. Wir sollten b) fortschrittliche Kräfte wie die FAS in ihrer Oppositionsarbeit unterstützen, c) gegen die Sanktionen gegenüber der russischen Bevölkerung auf die Straße gehen, da diese vor allem ihre Lebensbedingungen verschlechtern, während wir gleichzeitig das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen anerkennen.

Darüber hinaus bedarf es einer Strategiedebatte, die international geführt werden muss. Dies bedeutet zum einen, von Aktivist:innen aus Russland zu lernen, insbesondere wie politische Arbeit in der aktuellen Situation möglich ist. Auf der anderen Seite bedarf es auch inhaltlicher Debatten über die Fragen des Charakters des russischen Regimes im imperialistischen Weltsystem, des Krieges und der Strategie, wie er beendet werden kann.




USA: Anstieg von Femiziden nach Verschärfung von Abtreibungsgesetzen

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 11, März 2023

Die Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, Grund- und Bürgerrechte im Zuge des Aufstiegs von Rechtspopulist:innen weltweit gehen weiter – und erste Folgen sind jetzt schon spürbar. Trotz der Abwahl von Donald Trump und der neuen Bundesregierung unter Joe Biden erleben wir in den USA einen enormen Angriff auf Frauenrechte.

Insbesondere reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen werden immer häufiger infrage gestellt. Damit wird Frauen der Zugang zu Beratung sowie Abtreibung im Falle ungewollter Schwangerschaften bewusst erschwert oder gleich gänzlich kriminalisiert, was neben finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken im Falle nun illegal durchgeführter Abbrüche weitere Auswirkungen mit sich führt: In den USA lässt sich bereits ein deutlicher Anstieg von Femiziden feststellen, insbesondere an schwangeren Frauen.

Hintergründe

Der Begriff Femizid (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag) benutzt. Die feministische Soziologin Diana Russell definiert Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann auf Grund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt auch die Tötung von Kindern mit ein. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer erleiden. Der Femizid stellt, noch vor der Vergewaltigung, die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau und eine extreme Form patriarchaler Gewalt dar.

Auch wenn Boulevardmedien mit reißerischen Schlagzeilen das Gegenteil suggerieren, so sind Femizide keine rein individuellen Tragödien. Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext zwar einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie [beim Feminizid, dem organisierten, massenhaften Femizid] eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung.

Die gesellschaftliche Dimension von Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, erfordert eine Betrachtung der Ursachen für die Zunahme dieser Gewalttaten.

Der von konservativen Richter:innen dominierte Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA hatte im Juni 2022 das fast 50 Jahre geltende Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aufgehoben. Dieses garantierte bisher das landesweite Grundrecht auf Abtreibung. Durch die Entscheidung des Supreme Court können Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nun einschränken oder gänzlich verbieten, was mehrere konservativ regierte bereits getan haben. Das Urteil wurde deshalb nicht nur in den USA von Abtreibungsgegner:innen als Sieg gefeiert.

Betroffen sind rund 40 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, die in US-Bundesstaaten leben, in denen Abtreibungen entweder bereits verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmefällen möglich sind bzw. in absehbarer Zeit verboten oder stark eingeschränkt werden.

Zunahme von Femizide an Schwangeren

Bereits Ende 2021, noch vor dem Urteil des Supreme Court und den darauffolgenden Restriktionen, gab es Bedenken bezüglich einer Zunahme von partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden als mögliche Folgen: „Einige Experten befürchten, dass die Einschränkung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch gefährdete Frauen noch mehr in Gefahr bringen könnte.“ So hatten Studien ohnehin belegt, dass partnerschaftliche Gewalt durch bzw. während Schwangerschaften zunimmt. Frauen war es oft nicht möglich, ihre Schwangerschaft fortzusetzen, und sie entschieden sich aufgrund häuslicher Gewalt zur Abtreibung. Die USA hatten demnach bereits eine sehr hohe Rate an Müttersterblichkeit: „Im Jahr 2018 kamen in den USA auf 100.000 Lebendgeburten 17 Müttersterblichkeitsfälle – mehr als doppelt so viele wie in den meisten anderen Ländern mit hohem Einkommen.“

Forscher:innen der Harvard School of Public Health kommen zu dem Ergebnis, dass es in den USA für Schwangere oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, wahrscheinlicher ist, ermordet zu werden, als durch schwangerschafts- oder geburtsbedingte Komplikationen zu sterben. Tötungsdelikte an Schwangeren sind somit häufiger als solche Todesfälle durch Bluthochdruck, Blutungen oder Sepsis, wie die Forscher:innen in einem Leitartikel beschreiben.

Die Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft ist in den USA ohnehin höher als in vergleichbaren Ländern. Die Gewalt endet oft tödlich und häufig sind Schusswaffen im Spiel. Eine weitere Studie der Tulane University bestätigt diesen Trend, wonach Tötungsdelikte eine der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren und Wöchnerinnen in den USA sind.

Die genannten Studien können durch Zahlen belegen, dass neben schwangeren Jugendlichen insbesondere schwarze Schwangere ein wesentlich höheres Risiko hatten, getötet zu werden, als weiße oder hispanische. Dies verwundert nicht, da schwarze Arbeiter:innen in den USA auch heute noch strukturell benachteiligt sind, schlechter bezahlte Jobs haben, oft in beengten Wohnsituationen leben und seltener krankenversichert sind. Die ökonomischen Bedingungen wirken sich daher für diese Bevölkerungsgruppe besonders negativ aus.

Ähnliche Entwicklungen konnten auch in Deutschland im Zuge der Lockdowns der Coronapandemie beobachtet werden, wo aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage und der erzwungenen Nähe auf engstem Raum partnerschaftliche Gewalt um ein Vielfaches zugenommen hat.

Somit war bereits vor den Verschärfungen und Verboten, die auf das Grundsatzurteil des Supreme Court in einigen US-Bundesstaaten folgten, die Ausgangslage für Schwangere alles andere als sicher. Gesetze, die den Zugang von Frauen zu Abtreibung einschränken, können sie weiter gefährden, da die Kontrolle über die reproduktiven Entscheidungen einer Frau oft eine Rolle bei Gewalt in der Partnerschaft spielt. Die Autor:innen der Studie der Harvard School of Public Health weisen explizit darauf hin, dass schwangerschaftsbedingte Tötungsdelikte vermeidbar sind, z. B. indem im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren gewaltgefährdete Frauen identifiziert und Hilfestellungen angeboten werden können.

Arbeiter:inneneinheitsfront für freie Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung

Doch wie kann, gemessen an diesen permanenten Angriffen und vielfältigen Problemen, eine erfolgreiche Pro-Choice-Bewegung aufgebaut werden? Statt nur auf Verschlechterungen zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Wir dürfen nicht auf den Staat vertrauen oder Illusionen in die Demokratische Partei hegen. Diese konnte bzw. wollte die derzeitigen Angriffe auf bestehende Frauenrechte nicht verhindern. Daher müssen wir unabhängig von ihr gegen den Abbau von Frauenrechten kämpfen. Dabei kommt es auf den Kampf als Klasse an, was bedeutet, dass er durch die Arbeiter:innenklasse geführt und von ihren Organisationen unterstützt werden muss.

Wir fordern daher die Gewerkschaften auf, für eine gemeinsame Kampagne zu mobilisieren. Betriebsräte könnten beispielsweise Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Themen und Fragen diskutiert werden. Darüber hinaus können Gewerkschaften mit Streik als Kampfmittel, anders als Einzelpersonen oder andere Gruppen, ökonomischen und politischen Druck auf Kapital und Regierung aufbauen.

Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks wäre es außerdem wichtig, Streik- und Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren, kollektive Erfahrungen ermöglichen und auf diese Weise auch zur Stärkung und Demokratisierung des gemeinsamen Kampfes beitragen. Ebenso sind Gewerkschaften personell und finanziell in der Lage, internationale Kooperation und Koordination zu gewährleisten, z. B. durch die Organisation zentraler, internationaler Aktionstage zum Thema Abtreibungsrechte und Selbstbestimmung. Dies ist wichtig, da die Unterdrückung nicht nur in einem Land existiert und zusammen mehr Druck aufgebaut werden kann.

Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einbindung von Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich bringt. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, organisieren sich nur wenige Arbeiter:innen in ihnen. Ebenso agieren Gewerkschaften häufig reformistisch und beschränken sich auf die Besitzstandswahrung im eigenen Interesse, anstatt Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Es existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, die ihren Frieden mit dem jetzigen System geschlossen und ihre Rolle selbst auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen reduziert hat. Revolutionäre Kommunist:innen müssen sich deshalb für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die sich der bürokratischen Spitze entgegenstellt, um die Gewerkschaften zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Des Weiteren rufen wir alle bestehenden Pro-Choice-Bündnisse und -Bewegungen aktiv dazu auf, auch weiterhin gegen den bestehenden Abbau von Frauenrechten zu kämpfen und den Protest erneut auf die Straße zu tragen. Lasst uns die bisher bestehenden Bündnisse und Mobilisierungen bündeln und einen gemeinsamen Aktionstag für den Kampf für Frauenrechte ausrufen!

Gegenwehr

Zur Verhinderung von Femiziden ist der Aufbau von Organen der Gegenmacht erforderlich. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern und rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international:

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Das Leben einer Frau muss immer über dem eines ungeborenen Fötus stehen!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Ausbau von Kitas und Kinder-/Jugendbetreuungsangeboten, um Eltern zu entlasten!

  • Für viel mehr finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung von insbesondere (jungen) Frauen und Alleinerziehenden und dafür, dass minderjährige Frauen mit einer Schwangerschaft nicht alle Chancen auf eine gute Zukunft verlieren!

  • Langfristig: Für die Kollektivierung der Kindererziehung in der Gesellschaft!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!

Ärzt:innen dürfen die Entscheidung zur Geburtshilfe (Entbindung) bei überlebensfähigen Föten treffen. Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!

Quellen:

Baumgarten, Reinhard (2022): Weitere Rechte auf der Kippe?, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/abtreibung-usa-supremecourt-101.html

Chang, Leila (2020): Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/pro-choice-selbstbestimmung/

Chang, Leila (2022): Our bodies, our choice, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/14/our-bodies-our-choice/

Der Standard (2005): USA: Mord als eine der häufigsten Todesursachen für Schwangere, online unter https://www.derstandard.at/story/1962393/usa-mord-als-eine-der-haeufigsten-todesursachen-fuer-schwangere

Frühling, Jonathan (2020): Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/femizide-frauenmorde-international/

Harvard School of Public Health (2022): Homicide leading cause of death for pregnant women in U.S., online unter https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/homicide-leading-cause-of-death-for-pregnant-women-in-u-s/

Insider (2021): Homicide is the leading cause of death for pregnant women in the United States, a new study found, online unter https://www.insider.com/pregnant-women-in-the-us-homicide-leading-cause-of-death-report-says-2021-12

National Institute of Child Health and Human Development (2022): Science Update: Pregnancy-associated homicides on the rise in the United States, suggests NICHD-funded study, online unter https://www.nichd.nih.gov/newsroom/news/091622-pregnancy-associated-homicide

Sanctuary for Families (2022): The Silent Epidemic of Femicide in the United States, online unter https://sanctuaryforfamilies.org/femicide-epidemic/

Suchanek, Martin (2022): Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/femizide-feminizide-und-kapitalistische-krise/

The Guardian (2022): Estimated 45,000 women and girls killed by family member in 2021, UN says, online unter https://www.theguardian.com/global-development/2022/nov/23/un-femicide-report-women-girls-data




Gewalt gegen Frauen – welchen Einfluss haben die Preissteigerungen?

Katharina Wagner, Neue Internationale 269, November 2022

Glaubt man den derzeitigen Prognosen, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir auf eine globale Rezession zusteuern. Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES) mit internationalen Wirtschaftsexpert:innen bis 2026 anhalten könnte. Sie gehen in diesem Jahr von einer globalen Inflationsrate von rund 8 % aus und von immer noch knapp 5 % im Jahr 2026.

Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. Für keine einzige Region wird eine Inflation unter 5 % prognostiziert. Vor allem in Halbkolonien und Schwellenländern zeichnen sich massive soziale Angriffen, politische Instabilität und Fluchtbewegungen ab.

Die massiven Preissteigerungen, in erster Linie für Lebensmittel und Energie, treffen die Lohnabhängigen weltweit am stärksten. So sind vor allem rohstoffarme Länder, welche auf Importe angewiesen sind, aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise besonders gebeutelt.

In der Türkei stiegen im August die Preise bereits um mehr als 80 %, aber auch dreistellige Preissteigerungen wie beispielsweise im Sudan mit rund 200 % sind nicht selten. Venezuela steht mit einer Verteuerung von 114 % an der Spitze Lateinamerikas.

Bereits jetzt wird zudem vor vermehrten Hungersnöten gewarnt, zum einen aufgrund der massiven Verteuerung, nicht zuletzt durch den derzeitigen Ukrainekrieg, aber auch durch zunehmende globale Klimakatastrophen und Probleme bei der Düngemittelproduktion, welche ebenfalls große Gasmengen benötigt.

Weitere Sorgen bereiten die zunehmende Verschuldung vieler Halbkolonien und Schwellenländer und nach wie vor anhaltende wirtschaftliche Auswirkungen der Coronapandemie. So gehen Schätzungen (UN-Woman) davon aus, dass im Zuge der derzeit herrschenden Lage über 71 Millionen Einwohner:innen aus Halbkolonien in die Armut gestürzt sind. Die Auswirkungen werden verheerender als während der Corona-Pandemie eingeschätzt.

Frauen besonders stark betroffen – wieder

Frauen sind auch diesmal, vergleichbar mit der Coronapandemie, wieder auf vielfältige Weise überdurchschnittlich von den Krisenfolgen betroffen.

Zum einen tragen Frauen häufig eine deutlich erhöhte finanzielle Belastung, da sie aufgrund traditioneller Geschlechternormen den größten Teil der Haus- und Sorgearbeit übernehmen und zudem in Krisenzeiten überproportional häufig aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Hinzu kommt eine anhaltende Lohnungleichheit sowie meist eine untergeordnete Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und ein schlechterer Zugang zu Land und anderen Ressourcen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die deutliche Vergrößerung der weltweiten Kluft zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Ernährungsunsicherheit. Häufig werden Frauen gezwungen, die eigene Nahrungsaufnahme zugunsten anderer (männlicher) Familienmitglieder zu reduzieren.

Darüber hinaus zeigt sich ein alarmierender Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt weltweit. Aufgrund der sich verschlechternden Lebensbedingungen und gestiegener Lebenshaltungskosten sehen sich viele Frauen zu Sex zum Zweck der Nahrungsmittelbeschaffung gezwungen, sexuelle Ausbeutung, Menschenhandel sowie Zwangsverheiratungen haben in diesem Kontext rapide zugenommen.

Doch warum tritt dies in nahezu allen Krisensituationen auf?

Die Hauptursache für Gewalt gegenüber Frauen und die nach wie vor herrschende gesellschaftliche und kulturelle Unterdrückung ist nach marxistischer Analyse in der Stellung von Frauen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise zu suchen, welche sich im Durchschnitt deutlich von denen der Männer unterscheidet.

Innerhalb des Kapitalismus herrscht eine Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktionsarbeit. Letztere wird fast vollständig von Frauen übernommen, wohingegen Männer in der Regel die gesellschaftliche Produktion, Quelle des Mehrwerts für die Kapitalist:innen, verrichten. Die Folge dessen ist ein weitaus schlechterer Zugang zum Arbeitsmarkt für Frauen. Sie sind zudem weitaus häufiger in Teilzeit, im Niedriglohn- oder informellen Sektor beschäftigt als Männer und so häufig auch ökonomisch vom Ehemann bzw. Partner abhängig.

Hinzu kommen kulturell und gesellschaftlich etablierte Rollenbilder aufgrund der beschriebenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Dies alles trägt zu einer beständigen Reproduktion stereo-typischer Verhaltensweisen und einer sich in Krisenzeiten zuspitzenden Frauenunterdrückung bei.

Wie dagegen kämpfen?

Um die angesprochenen Ursachen zu beseitigen, muss der Kampf gegen sexualisierte und körperliche Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen mit dem gegen den Kapitalismus und mit der allgemeinen Klassenfrage verbunden werden – denn diese dominiert schließlich über alle anderen Unterdrückungsformen.

Es sind auch die Frauen der Kapitalist:innenklasse, die von der Krise profitieren. In ihnen finden wir keine Verbündeten, aber es sind die armen Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Frauen der Arbeiter:innenklasse aller Länder, ohne die der Kampf gegen Inflation und Krise für die Klasse nicht gewonnen werden kann!

Lasst uns gemeinsam für soziale und klassenspezifische Forderungen eintreten!

Wir fordern den organisierten Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen von Frauen, damit sie sich gegenseitig vor sexualisierten und gewalttätigen Angriffen schützen und diese abwehren können. Dies sollte gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und mit Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse und ihren Organisationen, wie beispielsweise Gewerkschaften, realisiert werden. Darüber hinaus müssen weltweit die Anzahl an Schutzräumen und Beratungsstellen für betroffene Frauen erhöht und die Verwaltung unter deren Kontrolle gestellt werden.

Außerdem fordern wir die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen unter Beendigung der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Wir kämpfen für eine sofortige Angleichung der Löhne von Frauen und ein festes Mindesteinkommen für die gesamte Arbeiter:innenklasse, welches an die Inflation angepasst wird und eine sichere Existenz auch im Alter ermöglicht. Da Frauen häufig im sogenannten Niedriglohn- oder informellen Sektor beschäftigt sind, müssen wir dort für eine generelle Anhebung der Gehälter und Einführung gesetzlicher Rahmenbedingungen, Arbeitsverträge und Sozialleistungen wie Mutterschafts- und Krankengeld, eintreten.

Um dies alles und die gesellschaftliche und politische Beteiligung von Frauen zu erreichen, müssen wir zudem international für eine Vergesellschaftung der Haus- und Sorgearbeit kämpfen. Die Frauen könnten dadurch von der doppelten Belastung durch unbezahlte Care- und erforderlicher Lohnarbeit befreit und die Hausarbeit gesamtgesellschaftlich organisiert werden. Realisiert werden könnte dies durch die Einrichtung öffentlicher und kostenloser Kantinen und Wäschereien, einen massiven Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und andere Familienangehörigen sowie von Bildungs- und Jugendeinrichtungen.




Zan Zendegi Azadi Frauen! Leben! Freiheit!

Resa Ludivien, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Was will Frau mehr?

Freiheit mich zu kleiden, wie ich will

Freiheit zu glauben, was ich will

Freiheit zu sein, wer ich will

Die Freiheit in Sicherheit zu sein.

Eine Frau ist tot. Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini wurde nur 22 Jahre alt. Die „Sittenpolizei“ verhaftete sie zunächst, weil sie angeblich die falsche Kleidung trug. Im Iran müssen Frauen ihren Kopf bedecken und bis zur Hüfte eine Art Mantel tragen, der Konturen und Arme bedeckt. Jina starb in Polizeigewahrsam, nachdem sie ins Koma gefallen war, ermordet durch die Polizei. Vermutlich war es ein Schädelbruch, so heißt es in Oppositionskreisen. Die Polizei kontert mit einem Video, das zeigen soll, wie Jina von selbst fiel.

Proteste und Repression

Doch im Grunde ist das nebensächlich. Die Menschen sind nicht mehr bereit, dem zu glauben und der Idee zu folgen, es sei gerechtfertigt, ein junges Mädchen zu verhaften, weil es in den Augen des Staates falsch gekleidet war. Die Bestürzung ist groß, denn es hätte so viele andere ebenso treffen können. Diese Wut, Trauer und Angst tragen Frauen und Männer auf die Straße. Ihre Rufe richten sich gegen die Diktatur. Bisher sind in zahlreichen Städten Proteste bekannt geworden – und es werden trotz der brutalen Repression mehr. Als deren und der Solidarität Zeichen nahmen Frauen, nicht nur im Iran, ihre Kopfbedeckung ab und schnitten sich die Haare kürzer. Bereits zwischen 2017 – 2019 gab es Proteste gegen die Kleiderordnung im Iran, die in erster Linie Frauen einschränkt.

Die Reaktion des Staates darauf: aggressiv, brutal, despotisch. Auf Videos sind im Netz Wasserwerfer und bewaffnete Polizeitrupps zu sehen, die auch bereit sind, auf Menschen zu schießen. 36 Menschen sollen bis um 23. September bei Protesten bereits getötet worden sein. Die Regierung hingegen versucht, schnell wieder zum „business as usual“ überzugehen, mobilisiert reaktionäre regimetreue Demos und hetzt gegen die Demonstrant:innen. Präsident Raisi reist zur UN-Versammlung und hat als einzige Antwort auf den Mord zu sagen, dass man diesen aufklären würde. Die Massenproteste denunziert er als Werk von „Chaot:innen“. Unverhohlen drohen auch Militär und Geheimdienst den „Feinden“ und „illegalen Versammlungen“.

Krise und Unterdrückung

Längst geht nicht nur um den Mord an Jina Amini. Es geht bei den Protesten um so vieles mehr. Die wirtschaftliche Lage im Land ist verheerend. Neben den seit Jahren anhaltenden Sanktionen, die sich bspw. auch in der Coronapandemie und der Impfstoffbeschaffung auswirkten, trifft die Menschen seit Jahren eine massive Inflation. Sie wird für dieses Jahr nach offiziellen Angaben auf mindestens 50 % geschätzt. Auch wenn das Regime nach Protesten von Arbeiter:innen und Rentner:innen im Sommer diesen Jahres Löhne und Renten erhöhte, so ist das wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein nach Jahren des Einkommensverlustes – und nachdem alle wissen, dass die Preissteigerungen jede Erhöhung rasch wieder auffressen. Ähnlich wie jetzt die demonstrierenden Frauen und solidarische Männer denunziert werden, wurden im Juni diesen Jahres Demonstrant:innen, die für höhere Einkommen auf die Straße gingen, als „ausländische Feind:innen“ gebrandmarkt.

Zusätzlich kommt der Wunsch vieler Iraner:innen nach mehr Freiheiten, der sich in Protesten junger Menschen immer wieder zeigt. In Jinas Fall kommt noch dazu, dass Kurd:innen national unterdrückt und jene aus anderen Ländern zumeist nur geduldet werden. Einher geht diese Duldung oft mit Schikane und noch schnellerer Gewaltausübung des Staates.

Herrschaft der Ajatollahs = finsterste Frauenunterdrückung

Seit der Iranischen Revolution 1979, die sich schnell zu einer Konterrevolution entwickelt hatte, regieren die erzkonservativen islamischen Ajatollahs. Der Sturz des Schah bedeutete auch, dass die USA einen zentralen politischen Vasallen in der Region verloren und das Nachfolgeregime auf ihre erbitterte Feindschaft, aber auch die seitens Regionalmächten wie dem Irak (unter Saddam Hussein), Saudi-Arabien und Israel traf. Diese Konfrontation nutzt das islamistische Regime bis heute, um seine Diktatur als eine Art „alternativen Entwicklungsweg“ jenseits imperialistischer Kontrolle zu präsentieren. Die „Kritik“ am imperialistischen System wurde zur Kritik am „Westen“ oder gar der „Moderne“ mit mehr Gleichberechtigung verkürzt.

Natürlich entstand die Unterdrückung der Frau allein aus einer Religion noch erst durch die Mullahs. Die systematische Unterdrückung stützt sich vielmehr auf Jahrtausende einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, die die bürgerliche Herrschaftsform übernimmt und ins Kapitalverhältnis integriert, umformt und zugleich reproduziert. Es macht daher unerlässlich, nicht nur gleiche demokratische Rechte zu erkämpfen, sondern auch die Produktionsverhältnisse zu ändern, um eine endgültige Gleichheit der Frauen in der Fabrik, Familie und Gesellschaft zu erzielen.

Massenproteste Millionen mutiger Frauen und solidarischer Männer stellen einen ersten Schritt dar, um dieses System ins Wanken zu bringen, die Kleiderordnung und die Regierung in Frage zu stellen. Sie werfen zugleich die Frage nach einer weiteren Perspektive auf, wie der Ruf nach dem Sturz des Mullahregimes bei den Aktionen zeigt, wenn wütende Protestierende staatliche Institutionen und Gebäude stürmen und sich Straßenschlachten mit den Repressionskräften liefern.

Kampfperspektiven

In den letzten Jahren hat es immer wieder Proteste und auch Streiks der Arbeiter:innenklasse gegeben. Der Kampf für die Rechte der Frauen könnte zum Funken werden, der die Flamme eines neues Aufstandes entzündet und diese Bewegungen zusammenführt.

Um den Widerstand gegen die reaktionäre Kleiderordnung und die Unterdrückung der Frauen mit jenem gegen die Preissteigerungen und Verelendung der Arbeiter:innenklasse und der Masse des Volkes zu verbinden und zum Erfolg zu führen, müssen die Proteste aber auch in den Betrieben und Büros Wurzeln schlagen. Ein Massenstreik im Land könnte eine Kraft entfalten, die das Mullahregime nicht nur erschüttern, sondern auch stürzen kann, eine Kraft, die den Apparat der „Sittenpolizei“ und sämtlicher Repressionskräfte zerbricht. Ein solcher Streik und massive Proteste müssten durch Streik- und Aktionskomitees koordiniert und durch Selbstverteidigungsorgane geschützt werden. Zugleich könnten diese die Basis für Machtorgane einer neuen Gesellschaft abgeben, die mit dem Mullah-Regime aufräumt und sich nicht vor den Karren westlicher, imperialistischer Kräfte spannen lässt, sondern mit dem iranischen Kapitalismus selbst Schluss macht, das Kapital enteignet und die sozialen und ökonomischen Probleme durch einen Notfallplan angeht, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird.

Natürlich kann dieser Kampf in einem Land allein nicht zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaft führen. Aber die Bewegung im Iran könnte einen wichtigen Schritt in diese Richtung setzen. Daher braucht sie die Solidarität der gesamten internationalen Arbeiter:innen-, Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung und der gesamten Linken!

  • Für volle Gleichberechtigung der Frau, Abschaffung aller religiösen Zwangsgesetze! Trennung von Staat und Religion!
  • Verbindung mit dem Kampf gegen Inflation und Armut! Aufbau von Aktionskomitees und Selbstverteidigungsorganen!
  • Nieder mit der islamischen Diktatur im Iran! Nieder mit dem Imperialismus!
  • Keine Einmischung des westlichen Imperialismus! Schluss mit den Sanktionen, denn sie schaden vor allem der Bevölkerung!
  • Solidarität mit den kämpfenden Frauen und Arbeiter:innen im Iran!



Abtreibungsrechte: Angriff auf schwer erkämpfte Errungenschaften

Veronika Schulz, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Unterschiedlicher hätten Gerichte nicht entscheiden können: Ende Juni beschloss der deutsche Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalition sowie der Linkspartei die Streichung von Paragraph 219a, bekannt als „Werbeverbot für Abtreibungen“. Dieser überfällige Schritt ermöglicht Schwangeren künftig einen einfacheren Zugang zu Informationen sowohl über Ärzt:innen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, als auch über die Methoden, die dazu angewandt werden.

Am selben Tag entschied in den USA der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) mit einer Mehrheit konservativer und teils ultrareaktionärer Verfassungsrichter:innen von 5:4 Stimmen, ein knapp 50 Jahre altes Grundsatzurteil zu kippen. Die damalige Entscheidung im Fall „Roe vs. Wade“ garantierte bisher das Recht auf Abtreibung bis zur 23. Schwangerschaftswoche. Das bedeutet, dass bisher in den meisten US-Bundesstaaten Abtreibungen rechtlich nahezu uneingeschränkt möglich waren.

Bereits Anfang Juni war ein im Februar 2022 verfasster erster Entwurf des jetzt verkündeten Urteils über die Nachrichtenseite Politico an die Öffentlichkeit gelangt. Es kam zu spontanen Demonstrationen in über 450 Städten der USA und einem eher verzweifelten Versuch der Demokratischen Partei, das Recht auf Abtreibung durch Kongressbeschluss in einem Bundesgesetz zu verankern. Bisher fehlt jedoch eine Gegenwehr der organisierten Arbeiter:innenklasse.

Dass der Supreme Court ausgerechnet jetzt eine solche Grundsatzentscheidung trifft, hängt auch mit der aktuellen Zusammensetzung des höchsten US-Gerichts zusammen. Ex-Präsident Trump hatte während seiner Amtszeit drei Posten neu besetzt, wodurch sich eine Verschiebung ergeben hat: Von insgesamt neun Richter:innen sind sechs dem konservativen bzw. republikanischen und nur noch drei dem progressiven bzw. demokratischen Lager zuzuordnen. Seine Entscheidung ist jedoch nicht repräsentativ für die Haltung der Bevölkerung zum Thema Abtreibung: Laut Umfragen befürworten um die 70 % der US-Amerikaner:innen „Roe vs. Wade“.

Bedeutung für Schwangere und die Arbeiter:innenklasse

Mit dem neuen Urteil ist der Weg für einzelne Bundesstaaten frei, eigene Gesetze zur Abtreibung und damit Kontrolle über Frauenkörper zu erlassen. Mehrere waren bereits auf dieses Urteil vorbereitet und hatten – teils extreme Verschärfungen bis hin zu (faktischen) Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen – bereits als sogenannte „Trigger Laws“ genannte Entwürfe in den Schubladen. Quasi über Nacht sind somit in überwiegend republikanisch regierten US-Bundesstaaten wie Arkansas oder Oklahoma Schwangerschaftsabbrüche für illegal erklärt worden.

Bereits im September 2021 trat das sogenannte „Heartbeat Law“ in Texas in Kraft. Es verbietet Abtreibungen, nachdem ein fötaler Herzschlag in der sechsten Woche festgestellt werden kann – ein Zeitraum, der so kurz ausfällt, dass viele Frauen nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind. Es macht keine Ausnahme bei Vergewaltigung oder Inzest. In Texas drohen Schwangeren, Ärzt:innen oder gar Personen, die anderweitig Abtreibungen unterstützen oder ermöglichen, und sei es ein:e Taxifahrer:in zur Beförderung der Schwangeren, hohe Geld- oder Haftstrafen. Was dies für die akut Betroffenen bedeutet, mag sich niemand vorstellen.

Betrachtet man die Karte der US-Bundesstaaten, ist oder wird mit großer Wahrscheinlichkeit in weiten Teilen des Landes – abgesehen von den liberalen Küstenregionen und vereinzelten Staaten im Norden – entweder ein faktisches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen oder ein sehr eingeschränkter Zugang dazu vorherrschen.

Insbesondere Frauen in ländlichen Gebieten des Mittleren Westens sowie einkommensschwachen, migrantischen und Women of Color wird der Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen weiter erschwert bis verweigert. An diesem Punkt zeigt sich der Klassencharakter des Urteils und seiner Auswirkungen. Zweifelsohne sind auch Frauen der bürgerlichen Mittelschicht betroffen, werden jedoch durch soziale Kontakte und finanzielle Mittel auch weiterhin einen Weg finden, auf sichere Weise abzutreiben.

Dadurch zeigt sich, wie durch solch reaktionäre Politik die Ungleichheiten der kapitalistischen Unterdrückung im täglichen Leben von Frauen der Arbeiter:innenklasse verstärkt werden. Langfristig ist dieses Urteil in einem vermeintlich „demokratischen, liberalen westlichen Industriestaat“ auch ein fatales Signal für reproduktive Rechte von Frauen weltweit. Uns muss klar sein, dass es keine objektive oder neutrale Regierungspolitik oder Justiz innerhalb des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen gibt, erst recht keine Rechtsprechung im Sinne der Arbeiter:innenklasse, die an den Grundfesten des Systems rüttelt.

Gegenwehr

Der Aufschrei in den USA und international ist deutlich zu vernehmen. Gut so! Zehntausende haben auf Straßen und Plätzen demonstriert und werden es weiterhin tun. Doch auch die konservativen und evangelikalen, rechten Abtreibungsgegner:innen demonstrieren und scheuen dabei nicht vor Gefährdungen und Verletzungen der Befürworter:innen zurück. Jüngst war ein Auto eines Anhängers dieser durchgeknallten, entsicherten Mittelklassenbewegung, wie sie sich schon beim von Trump inszenierten Sturm aufs Capitol zeigte, in eine protestierende Menschenmenge gerast – unter Inkaufnahme von Tod und Körperverletzungen.

Über Demonstrationen hinaus müssen sich deshalb gerade angesichts der zu allen erlaubten und unerlaubten Mitteln greifenden Rechten Abtreibungsbefürworter:innen auf den Schulterschluss mit der US-amerikanischen Arbeiter:innenbewegung zubewegen. Es ist deren Potenzial, das das Urteil des Obersten Bundesgerichtshofs kippen kann: durch politische Streiks für die Wiederinkraftsetzung von „Roe vs. Wade“ sowie durch, erforderlichenfalls bewaffnete, Verteidigung von Protesten und Abtreibungseinrichtungen mittels gemeinsamer Selbstverteidigungsstrukturen.

Kampf um Selbstbestimmung als Teil des Klassenkampfes

Das Recht der Frau auf körperliche Unversehrtheit ist durch dieses Urteil nicht länger gegeben. Die Gründe für Schwangerschaftsabbrüche sind vielfältig und unabhängig davon, warum eine Frau sich dafür entscheidet, spielt immer auch die Frage der physischen wie psychischen Gesundheit und die Souveränität über den eigenen Körper eine Rolle.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht über unsere Körper und reproduktiven Rechte kann nicht länger warten, er muss jetzt konsequent geführt werden. Da wir uns mehr denn je nicht nur gegen Verschlechterungen zur Wehr setzen, sondern die bisherigen Errungenschaften verteidigen müssen, braucht es endlich eine massenhafte Bewegung der Arbeiter:innen. Deshalb fordern wird national und international:

  • Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen finanziert sein!
  • Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!
  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Frauenstreiks: Wie weiter international?

Leonie Schmidt (REVOLUTION, Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen, seien es Wirtschaftskrise, Pandemie, Umweltzerstörung oder aber (drohende) Kriege. Ursache: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf den Rücken der Arbeiter_Innenklasse ausgetragen. Zusätzlich dazu kommen rechtskonservative Kräfte in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hat bereits für einen Rollback gegen Frauen gesorgt, aber die Corona-Krise hat diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind.

Doch dieser Rollback stieß auch auf massenhaften Widerstand. In den letzten Jahren erlebten wir einige große Frauenstreiks am 8. März, dem Frauenkampftag, die sich auch international formierten und Millionen Menschen auf die Straße brachten. Diese begannen 2016 erstmalig in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz der großen Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. In der Schweiz waren im Juni 2019 500.000 Personen auf der Straße. Im Dezember 2019 fingen vornehmlich Hausfrauen in Indien an zu streiken. Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen des Women’s March in den USA oder des „schwarzen“ Protests gegen das Verbot von Abtreibungen in Polen – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

In den Pandemiejahren 2020 und 2021 gingen die Proteste vor allem in den imperialistischen Ländern zurück, während sie in den Halbkolonien weiterhin auf die Straße getragen wurden. Ein weiteres Aufkeimen der feministischen Proteste in dieser Zeit konnte vor allem um spezifische Vorfälle und Forderungen beobachtet werden wie bspw. den Mord an Sarah Everard in England im Frühjahr 2021, im Rahmen der Abtreibungsproteste gegen die polnische Regierung und ihre Verbote oder die Anti-Taliban-Proteste und deren frauenfeindliche Politik in Afghanistan.

Trotz ihrer enormen Mobilisierungskraft hat es die Frauen*streikbewegung jedoch bisher nicht geschafft, ihre Vernetzung international zu vertiefen und während der Pandemie aufrechtzuerhalten. Sie steht selbst an einem politischen Wendepunkt.

Dennoch ist es natürlich wichtig, dass das Mittel des politischen Streikes wieder etwas in den Vordergrund gerückt, Forderungen verbreitet und Erfahrungen im Kampf gesammelt werden konnten. Die Frauen*streikbewegung hätte allerdings insbesondere im Kampf gegen Pandemie und erneute Finanzkrise eine relevantere Rolle spielen können. Im Rahmen der Rollbacks gegen die körperliche Selbstbestimmung haben sich aber u. a. in Polen größere Bewegungen etabliert, die weiterhin relevant bleiben. Das mangelnde Recht auf Abtreibung stellt nach wie vor ein internationales Problem dar und ist in den USA auch ein Thema, was zurzeit zu Protesten mit tausenden Teilnehmer_Innen und viel Widerstand führt.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter_Innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Care-Arbeit etc., die wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus ist und vornehmlich von Frauen ausgeführt wird. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter_Innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und in dieser Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer_Innen oder Akademiker_Innen (Bildungsbürger_Innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter_Innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter_Innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär_Innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner_Innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär_Innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Doch essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter_Innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist_Innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen*streik zur proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cis-Frau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionäre Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist_innen oder kleinbürgerlichen Feminist_innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär_innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen aufrufen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter_Inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Ampelkoalition und Abtreibung: Grünes Licht für die Selbstbestimmung?

Emilia Sommer (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

Im Koalitionsvertrag der Ampel (SPD, FDP und Grüne) werden allerhand Verbesserungen zu Schwangerschaftsabbrüchen versprochen, die auf den ersten Blick gar nicht mal so schlecht klingen. So wirbt sie mit der Streichung des Paragrafen 219a StGB, welcher das öffentliche Bereitstellen von Infos zu diesen durch Ärzt_Innen bisher kriminalisiert hatte (Werbeverbot) , einem Ausbau der Beratungsstellen sowie der Integration von Schwangerschaftsabbrüchen in die medizinische Aus- und Weiterbildung. Was davon in der Realität umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Feststeht jedoch, dass all dies noch lange nicht ausreichend ist.

Aktuell ist die Lage für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchten, im als Paradebeispiel für legale Abtreibungen geltenden Deutschland prekär. Durch den Paragrafen 218 ist ein Abbruch illegal und bleibt nur dann straffrei, wenn 1.) die Schwangere den Abort verlangt und dem/r Arzt/Ärztin durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2). der Schwangerschaftsabbruch von einem/r MedizinerIn vorgenommen wird (der/die nicht die Beratung durchführt) und 3.) seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Beratungsstellen bilden hierbei eine große Hürde: In vielen Fällen sind sie nicht flächendeckend ausgebaut und bieten vor allem keine objektive Aufklärung. Zudem sind kirchliche Träger nicht dazu verpflichtet, einen Beratungsschein auch tatsächlich auszuhändigen. Erschwerend kommt der aktuell noch geltende Paragraf 219a hinzu, welcher das „Werben“ für Schwangerschaftsabbrüche untersagt und es Betroffenen somit extrem schwer macht, Kliniken für Abbrüche zu finden.

Ursprung der Paragraphen

Paragraf 218 wurde im Jahre 1871 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und war Ergebnis von bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Diskussionen. Neben der Frage nach Rechten des (ungeborenen) Kindes bzw. der Frau spielten immer auch bevölkerungspolitische Interessen eine entscheidende Rolle. Das ungeborene Kind wurde als Vorstufe eines Menschen gewertet und dem Staat eine Berechtigung zu dessen Schutz erteilt. Paragraf 219a wurde im März 1933 aufgrund des Ermächtigungsgesetzes ohne parlamentarische Beratung eingeführt als Resultat einer langen rechtspolitischen Debatte seit dem deutschen Kaiserreich. Er sollte angeblich Frauen vor einer Kommerzialisierung ihrer Notlage schützen und dem Entstehen eines Marktes für Schwangerschaftsabbrüche entgegentreten. Tatsächlich haben aber beide Paragrafen zum Ziel, das Selbstbestimmungsrecht von weiblichen Körpern stark einzuschränken. Dies nutzt in erster Linie der herrschenden und besitzenden Klasse, denn die bürgerliche Familie, also Mutter-Vater-Kind mit Fokus auf Monogamie und geschlechtlicher Arbeitsteilung, dient der sicheren Vererbung von Eigentum. Aber auch auf die Arbeiter_Innenklasse wirkt sich dies aus. Zwar hat das Proletariat in der Regel nicht sonderlich viel zu vererben, dennoch haben Kapitalist_Innen ein großes Interesse daran, dass es weiterhin Arbeitskräfte gibt, die sie ausbeuten können.

Aber wir können nicht davon sprechen, dass die bürgerlichen Staaten eine demographische Strategie der Bevölkerungszunahme um jeden Preis verfolgen. So hat z. B. die UNO im Interesse der imperialistischen Staaten eine Geburtenkontrollkampagne in Ländern der sog. 3. Welt verfolgt (Sterilisation von Frauen), also ganz das Gegenteil. Die Bevölkerungszunahme in Europa zur Zeit des frühen Industriekapitalismus ist mehr auf die Aufhebung der Bindung der Eheschließung an eine eigene Wirtschaft in Dorf und Stadt zurückzuführen als auf ein geltendes Abtreibungsverbot. Sie schuf erst das Eherecht auch für Besitzlose, v. a. Proletarier_Innen. Außerdem sorgt die Kapitalakkumulation durch Ersatz von Arbeitskräften durch Maschinen für eine Reservearmee von Arbeitslosen und ruiniert den Kleinbesitz. Auch damit schafft sie ein zusätzliches Lohnangebot. Die Arbeitsmigration ist eine Folge davon. Schließlich geht es dem Kapital auch um die Mobilisierung zusätzlicher Lohnarbeit durch weibliche Arbeitskräfte, insbes. hoch qualifizierter. Das steht im Widerspruch zur Rolle der proletarischen Frau „nur“ als Hausfrau mit zahlreicher Nachkommenschaft am Rockzipfel. Das Koalitionspapier bewegt sich mit seinen Reförmchen innerhalb dieses Widerspruchs. Zu guter Letzt führte die von der Arbeiter_Innenbewegung erkämpfte gesetzliche Rentenversicherung dazu, dass auch innerhalb der proletarischen Familie das Interesse an vielen Nachkommen zwecks Altersversorgung der „Nachproduktiven“ nebensächlich geworden ist.

Also bestehen Verbote wie das der Abtreibung vor allem deshalb, um die auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung basierende Unterdrückung der Frau in der Familie durch eine repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über den eigenen Körper, Fixierung der weiblichen Sexualität auf das Gebären von Kindern usw. aufrechtzuerhalten. Reproduktionsarbeit ist fürs Kapital v. a. Privatsache und soll es auch bleiben. Kurz gesagt, um die repressive, frauenfeindliche Struktur auch in der Arbeiter_Innenklasse zu reproduzieren. Die vorurteilsbehaftete Unterteilung der Klasse in Geschlecht, Nationalität, Religion etc. hilft hierbei, sie zu spalten und die verschiedenen Kämpfe damit zu schwächen.

Es gibt einen weiteren Klassenunterschied in der Abtreibungsfrage: Während es sich Frauen der herrschenden Klasse leisten können, den Eingriff auch in anderen Ländern durchführen zu lassen, beispielsweise nach Überschreitung der 12-Wochen-Frist, müssen die Arbeiter_Innen diesen in der Illegalität über sich ergehen lassen. Auch legal erfolgende Abbrüche erfordern aufgrund des Mangels an Kliniken und Praxen oft einen weiten Anreiseweg, welcher sowohl logistischen Aufwand bedeutet als auch eine finanzielle Belastung darstellt. Daher galt der Paragraf 218 schon kurze Zeit nach seiner Einführung als „Klassenparagraf“, da vor allem Proletarierinnen vom Verbot der Abtreibung betroffen waren. Besonders hart trifft die repressive Abtreibungsgesetzgebung auch Jugendliche, da diese nicht nur ökonomisch und sozial abhängig, sondern auch noch rechtlich benachteiligt sind.

Warum diese Problematik erst mit der neuen Ampelkoalition angegangen wird, lässt sich am ehesten mit der WählerInnenschaft der beiden Parteien FDP und Grüne beantworten. Beide haben einen starken Zuspruch im akademischen Milieu. Diese Frauen gilt es, weiterhin stärker in den Produktionsprozess einzubinden und ein Rollback zurück in die 1950er Jahre zu verhindern. Dies könnte schließlich wichtige WählerInnenstimmen kosten.

Aktuelle Lage

Im Jahre 2020 fanden in Deutschland 99. 948 statt, 96,2 % davon mit der Beratungsregelung, d. h. nicht durch medizinische (gefährdete Gesundheit der austragenden Person) oder kriminologische Indikation (Schwangerschaft beruht medizinisch feststellbar auf einem Sexualdelikt). Es ist nicht klar herauszufinden, wie viele Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen es aktuell in Deutschland gibt, allerdings ist von ca. 1.600 auszugehen. Dabei beschäftigen sich diese nicht ausschließlich mit der Konfliktberatung. Sie bildet nur einen Teilbereich von Verbänden wie Pro Familia. Ebenso ist ein beachtlicher Anteil konfessionsgebunden. Ähnlich verhält es sich mit Kliniken und Ärzt_Innen, welche Abtreibungen durchführen. In der offiziellen Liste der Bundesärztekammer sind aktuell 360 Praxen und Kliniken zu finden. Die Aufnahme in diese Liste ist freiwillig und man kann davon ausgehen, dass viele dies bewusst nicht tun, da noch immer eine ernstzunehmende Gefahr von Abtreibungsgegner_Innen ausgeht. Im Medizinstudium wird das Verfahren eines Schwangerschaftsabbruchs kaum bis gar nicht behandelt. Studierende müssen sich nötiges Wissen durch zusätzliche Seminare und Workshops selbst erarbeiten.

Schauen wir uns die Zahlen nun an, so fällt sehr schnell ein massiver Notstand auf. Zu wenige Beratungsstellen und Abbruchsmöglichkeiten sowie mangelnde Informationen erschweren Betroffenen die ohnehin nervenzerrende Prozedur noch weiter. Hinzu kommt, dass bislang die Kosten von selbstbestimmten Abbrüchen nur in selten Fällen teils oder ganz übernommen werden.

Zwar verspricht die Ampel wichtige Verbesserungen wie zum Beispiel einen flächendeckenden Ausbau von Beratungsstellen und Kliniken, dass Abbrüche Teil von ärztlicher Fort- und Weiterbildung werden sollen und diese kostenfrei möglich sein müssen, sie verrät jedoch nicht, wann und in welcher Form das passiert. Dies soll sich wohl in einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ entscheiden, welche bislang allerdings keine konkreteren Formalien hat. Der Paragraf 219 a soll zwar abgeschafft werden, von Paragraf 218 jedoch, welcher Abtreibungen eigentlich kriminalisiert, ist keine Rede.

Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht und gegen das Abtreibungsverbot ist also noch lange nicht gewonnen. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass wir als Arbeiter_Innen und Schüler_Innen selbst Strukturen schaffen, die über die Zusammenhänge zwischen Abtreibungsverboten und dem kapitalistischen System aufklären und dafür kämpfen, dass auch für Arbeiter_Innen und ärmere Menschen Verhütung und Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen kostenlos und ohne Zwangsberatung zugänglich sind. Dafür ist es wichtig, durch den Aufbau von basisoppositionellen Strukturen innerhalb der Gewerkschaften Druck auf die Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen. Wir müssen uns auch innerhalb der Schule oder Uni organisieren und gemeinsam auf die Straße gehen, um gegen den Kapitalismus und die darauf fußenden Unterdrückungsmechanismen zu protestieren.

Daher fordern wir:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagrafen sowie der Beratungspflicht ohne Altersbegrenzung!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft, wenn Frauen durch die momentanen Umstände zur Entbindung gedrängt werden! Für einen Ausbau staatlicher Kinderversorgungs- und Adoptionsmöglichkeiten!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Frauenbefreiung international, aber wie? Verónica Gagos Versuch

Jürgen Roth / Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Die Frauen*streiks rücken das Potential des Feminismus, genauer eines popularen, volkstümlichen Feminismus’ ins Zentrum politischer Debatten und Diskussionen. Mit dem 2019 erschienenen Buch „La potencia feminista – O el deseo de cambiarlo todo“ untersucht die argentische feministische Sozialwissenschafterin und Aktivistin Verónica Cago die Ursachen und das Potential der großen Kämpfe, die seit 2016 in mehrfacher Hinsicht den Beginn einer neuen Welle der Frauenbewegung markieren.

Den Ausgangspunkt diese Bewegung bildeten die in Argentinien bereits ab 2016 beginnenden Frauenstreiks sowie die US-amerikanische Bewegung gegen die drohende Machtübernahme Trumps. Auf ihrem vorläufigen Höhepunkt 2019 umfasste sie mehrere Millionen Streikende, vor allem in Lateinamerika, aber auch in Spanien und anderen Ländern. In ihnen kommt nicht nur ein neuer Aufschwung der Bewegung zum Ausdruck, sondern gerade im globalen Süden auch eine radikal neue Opposition von unten gegen den Neoliberalismus.

In ihrem Buch, das 2020 unter dem Titel „Feminist International – How to change everything“ (Verso, GB-London/USA-Brooklyn, NY) und 2021 auf Deutsch mit dem Titel „Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern“ (Unrast-Verlag) erschien, will sie aber keineswegs nur die Bewegung und ihre Aktivitäten nachzeichnen.

In dem Buch und vor allem in den abschließenden „8 Thesen zur feministischen Revolution“ versucht sie, die Ursachen für die Entstehung und Bedeutung dieser Bewegung theoretisch zu fassen und zu begründen, worin deren zukunftsweisender Charakter besteht. In der folgenden Besprechung der Arbeit folgen wir dem Aufbau des Textes, beziehen uns aber immer wieder auf die 8 Thesen, die auch eine Art Zusammenfassung ihrer Untersuchung darstellen. Die Zitate beziehen sich in der Regel auf die englischsprachige Ausgabe.

Ausgangspunkt

Das für Gago Entscheidende an den Frauen*streiks der letzten Jahre besteht darin, dass sie ein neues politisches Potential zum Ausdruck bringen: die potentia (Macht, Handlungsvermögen) der Frauen aus dem Proletariat und den unteren Klassen. „Das Konzept der feministischen potentia spiegelt diese Art von Bewegung wider, indem es eine alternative Theorie der Macht anstrebt. Feministische potentia bedeutet, die Unbestimmtheit dessen, was man tun kann, was wir tun können, zu rechtfertigen.“ (Seite 2, Englische Ausgabe, eigene Übersetzung)

Damit, so Gago, wolle sie keineswegs einem naiven Verständnis von Macht das Wort reden, das von Institutionen und Strukturen der Herrschaft absieht. Die potentia steht für sie vielmehr für die Konfrontation mit diesen Strukturen, für eine Art Gegenmacht:

„In diesem Sinne handelt es sich um ein Verständnis von potentia als Entwicklung einer Gegenmacht. Letztlich geht es um die Bejahung einer anderen Art von Macht: die der gemeinsamen Erfindung gegen die Enteignung, des kollektiven Engagements gegen die Privatisierung und die Ausweitung dessen, was wir im Hier und Jetzt für möglich halten.“ (Ebenda)

Der von Hardt/Negri entnommene Begriffe der potentia stellt ein Schlüsselkonzept des gesamten Buches dar. Doch die von Negri übernommene Interpretation ist selbst überaus fragwürdig. In dem Buch „Die wilde Anomalie, Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft“ behauptet er, die Begriffe potentia und potestas würden bei Spinoza einen „absoluten Antagonismus“ darstellen. Ersterer stünde für das kreative Vermögen der Vielen, deren kollektives und schöpferisches Vermögen, deren dynamische Gestaltungsmacht, zweiterer für die Unterdrückung der Vielheit, von Freiheit, Kreativität. In dieser Lesart steht die potestas für die Herrschaft des unterdrückerischen Staates, für Ausbeutung, Unterdrückung, Kolonialismus oder für das Empire. Die potentia steht für Macht und Begehren der Menge, der Multitude.

Spinoza verwendet die Begriffe in der von Negri behaupteten starren Gegenüberstellung nicht, vielmehr begreift er potentia und potestas als dialektisches Verhältnis. Dabei stellt die potentia durchaus das vorrangige, treibende Moment dar. So soll bei ihm die vernünftige potentia potestas werden. Die potestas des Staats begreift er als durchaus notwendig (z. B. zum Schutz gegen reaktionäre religiöse Intoleranz). Sie muss allerdings seiner Vorstellung nach demokratisch kontrolliert werden.

Es geht uns an dieser Stelle jedoch nicht um eine richtige oder falsche Interpretation Spinozas, sondern vielmehr darum, dass Gago die falsche, undialektische Gegenüberstellung von potentia und potestas von Negri unkritisch übernimmt.

So knüpft sie am Begriff der Multitude, der Menge an, die bei Hardt/Negri schon den Kern und die Produktionsweise einer zukünftigen Gesellschaft darstellt. Die Frauen*streiks sind für Gago deshalb von so großer Bedeutung, weil sie das Hervortreten, die Selbstformierung eines neues Subjekts und einer neuen Form der Vergesellschaftung von unten darstellen. Hier trete einen neues, umfassendes proletarisches Klassensubjekt hervor, das nicht mehr auf die (marxistischen) Eingrenzungen auf die industrielle (zumeist weiße) Lohnarbeit beschränkt wäre. Hier würden vielmehr transversale Verknüpfungen gebildet, die alle popularen und proletarischen Schichten und Subjektivitäten umfassen würden. Dass Gago dabei die Begriffe popular und proletarisch fast durchgängig synonym verwendet, ist kein Zufall, denn bei ihrem Klassenbegriff verschwimmen die Grenzen zwischen der Lohnarbeit und anderen nicht-ausbeutenden Klassen, insbesondere zu den unteren Schichten des Kleinbürger:innentums und zur Bauern-/Bäuerinnenschaft.

Ähnlich wie Hardt/Negri lehnt auch Gago die Dialektik ab. Die umfassende Klasse bedarf keiner zusammenfassenden strategischen Zielsetzung, keines wissenschaftlichen Programms, das ihre heterogenen Teile politisch auf ein gemeinsames Ziel orientiert. Die Klasse muss nicht erst von einer an sich zu einer für sich werden. Sie muss eigentlich nur ihre Diversität miteinander verknüpfen und anreichern. Dies erklärt auch, warum für Gago die neue Qualität in den Frauen*streiks hervortrete. Das revolutionäre, gesellschaftsverändernde Subjekt existiert in diesen nämlich bereits. Indem die verschiedenen Unterdrückten ihre eigenen Bedürfnisse entdecken, artikulieren, verbinden, schaffen und erweitern sie auch ihr Bedürfnis zur Revolution, zur Neueinrichtung der Gesellschaft. Letztere versteht sie aber nicht als politischen Kampf um die Macht, um den Sturz einer Klasse durch einen andere, sondern als stetig vor sich gehenden Transformationsprozess, der die Gegenüberstellung von Reform und Revolution hinter sich lasse.

Neue Qualität der Streikwaffe?

Doch nun zu den einzelnen Aspekten ihrer Argumentationskette. Der feministische Streik ginge mit der Erweiterung des Klassenbegriffs einher. Die Frauen*streiks würden den engen Horizont der gewerkschaftlichen, reformistischen, aber auch marxistisch dominierten Arbeiter:innenbewegung, die nur auf die weißen, männlichen Industriearbeiter geblickt habe, sprengen.

Dies geschehe schon dadurch, dass er mehr als den „normalen“ Streikkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital umfasse. Indem er Haus-, Reproduktions- und migrantische Arbeit einbeziehe, mache er diese ebenso sichtbar wie die „territoriale“ Dimension des Kampfs um Land der indigenen Bevölkerung. Zweifellos liegt eine Stärke darin, breitere Schichten in den Kampf einzubeziehen, als dies die Gewerkschaftsbürokratie üblicherweise tut, und auch nicht weiter darauf zu warten, bis diese grünes Licht für die Aktion gibt.

Zu den Stärken zählt sie auch, dass der Frauen*streik ebenfalls jene Unterstützer:innen umfasse, die sich trotz der „Unmöglichkeit zu streiken“ solidarisieren.

Spätestens hier wird die Sache jedoch problematisch. Es ist natürlich sehr positiv, dass auch Menschen, die aufgrund von Repression oder ihrer sozialen Stellung nicht am Streik teilnehmen können, die Aktionen befürworten oder das sogar sichtbar machen. Doch wir machen uns nur selbst etwas vor, wenn wir auch Menschen, die die Arbeit aufgrund von Repression, geringerem Organisationsgrad oder mangelnder Solidarität unter Kolleg:innen (noch) nicht niederlegen können, als Streikende mitrechnen. Der Klassengegner wird sich davon leider nicht beeindrucken lassen.

Ebenso ist es problematisch, den Unterschied zwischen streikenden Lohnarbeiter:innen und anderen „Streikenden“ als nebensächlich zu betrachten. Grundsätzlich ist es natürlich sehr gut, wenn sich auch Genoss:innenschaften, kleine Selbstständige, Studierende, Schüler:innen und Erwerbslose dem Streik anschließen. Anders als Lohnarbeiter:innen setzt ihr „Streik“ jedoch das Kapital oder den Staat als Arbeit„geber“ nicht ökonomisch unter Druck.

Natürlich zeigt es zwar eine Stärke der Frauen*streiks als politischer und gesellschaftlicher Massenbewegung, dass sich ihr Millionen anschlossen, die zur Zeit ihre Arbeitskraft nicht gegen Lohn verkaufen (können). Aber für die reale Durchsetzungsfähigkeit ist es letztlich von entscheidender Bedeutung, ob es gelingt, vor allem die große Masse der lohnarbeitenden Frauen in den Streik zu ziehen wie auch ihre männlichen Kollegen (ansonsten fungieren letztere eigentlich, ob sie wollen oder nicht, objektiv als Streikbrecher). Das ist vor allem entscheidend, wenn der Frauen*streik über einen befristeten, eintägigen Demonstrationsstreik hinausgehen und zu einem unbefristeten werden soll.

Dazu ist es natürlich von entscheidender Bedeutung, dass auch die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden und die Bürokratie durch klare Forderungen und eine Basisbewegung von unten unter Druck gesetzt wird. Dazu wäre bei den Frauen*streiks ein gemeinsames, möglichst internationales Aktionsprogramm für Schlüsselforderungen notwendig gewesen. Nur so können die weiblichen (wie männlichen) Beschäftigten im prekären Sektor auch wirklich grundlegende Forderungen durchsetzen, weil sie gerade aufgrund ihrer prekären Stellung auf die Solidarität und den gemeinsam Kampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung angewiesen sind.

Ein solches Programm wird leider im gesamten Buch von Gago nicht erwähnt, geschweige denn diskutiert. Hier zeigt sich die Achillesferse ihrer Strategie, die jedoch aus dem Verständnis der Subjektkonstituierung der Autorin durchaus logisch folgt.

Arbeiter:innenklasse oder populare Klasse?

Für sie umfasst die feminisierte Arbeit die von Frauen, Lesben, Transgender und Travestis, aber auch die Arbeit von Menschen unterschiedlicher Klassen, die umstandslos zu einem erweiterten Begriff einer Klasse vereint werden.

So beläuft sich beispielsweise der informelle Sektor, die Schattenwirtschaft, in Argentinien auf rund 40 % aller Arbeitenden. Dieser Anteil ist aufgrund der Krise um die Jahrtausendwende in diesem Land selbst für lateinamerikanische Verhältnisse sehr hoch. Unabhängig davon ist es sicher sehr wichtig, Forderungen für diesen Sektor aufzustellen. Doch dieser Sektor, den Verónica Gago auch als „populare Ökonomie“ bezeichnet, besteht keineswegs nur aus Lohnarbeiter:innen.

In einer deutschsprachigen Veröffentlichung der 8 Thesen zur Feministischen Revolution definieren die Herausgeber:innen, was darunter verstanden wird: „Die «populare Ökonomie» umfasst Arbeitsformen, die traditionell als informell definiert werden, sowie Subsistenzarbeit und außerhalb des traditionellen Lohnsystems erfundene Arbeitsformen; sie bezieht sich auf ein heterogenes Proletariat, das mit unterschiedlichen Mitteln für seinen Lebensunterhalt sorgt, etwa durch Müll- und Flaschensammeln oder durch gemeinnützige Arbeit in Suppenküchen. Das Konzept einer «popularen Ökonomie» will diese Arbeitsformen politisieren sowie einer Marginalisierung und Abwertung durch Begriffe wie «informelle Wirtschaft» oder «soziale Ausgrenzung» begegnen.“ (Gago, 8 Thesen zur feministischen Revolution, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2020, S. 6)

Hier wird aus der Not eine Tugend gemacht. Menschen, vor allem Frauen, die aufgrund der kapitalistischen Krise dauerhaft ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können, die sich durch Müll- und Flaschensammeln durchbringen müssen, unterliegen objektiv einem Verelendungs- und Entproletarisierungsprozess. Um diesen zu stoppen, ist es notwendig, dafür zu kämpfen, dass diese Menschen wieder ins Lohnarbeitsverhältnis zu existenzsichernden Löhnen integriert werden. Diesen Prozess als „populare Ökonomie“ zu charakterisieren, bedeutet nicht nur, ihn schönzureden. Es bedeutet auch, die Augen vor den objektiven Deklassierungsprozessen des Kapitalismus zu verschließen und damit auch davor, dass diese Tendenzen die Arbeiter:innenklasse schwächen, weil größere Teile aus ihr herausfallen – entweder in Richtung prekäre kleinbürgerliche Existenz oder, im allerschlimmsten Fall, in Richtung Lumpenproletariat. Noch deutlicher wird bei der Einbeziehung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in die Arbeiter:innenklasse.

Die „erweiterte Klasse“ entpuppt sich hier als Zusammenwürfeln von Proletariat und Kleinbürger:innentum. Mit dieser Ausweitung des Begriffs wird auch die zentrale Rolle der kapitalistischen Ausbeutung, also der Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital, für die Bestimmung der Arbeiter:innenklasse relativiert. Anstelle der Ausbeutung durch das Kapital tritt bei diesem „erweiterten Klassenbegriff“ „die spezifische Abwertung von gemeinnütziger, nachbarschaftlicher, migrantischer und reproduktiver Arbeit. Wir haben verstanden, wie im Alltag ihre Unterordnung im Verhältnis zu allen Formen von Arbeit steht.“ (Ebenda, S. 7)

Nun wird niemand bestreiten, dass diese Arten von Arbeit oft „unterbewertet“ werden. Doch in Wirklichkeit ist die „Ausweitung“ des Ausbeutungsbegriffs einfach nur unscharf und undifferenziert. Migrantische und auch reproduktive Arbeit sind oft Formen der ausgebeuteten Lohnarbeit. Die nachbarschaftliche Tätigkeit mag nicht geschätzt werden – sie stellt ein anderes Verhältnis dar. Mit der Vermischung von Ausbeutung und „Unterordnung“ werden vor allem jedoch die Klassenverhältnisse, in denen sie stattfinden, unklar. So ist sicher auch die Arbeit von armen Bauern und Bäuerinnen oder von unteren Schichten des Kleinbürger:innentums „unterbewertet“. Viele mögen ärmer sein als manche Lohnabhängige. Dennoch gehören sie verschiedenen Klassen an. Während die Arbeiter:innenklasse über kein Privateigentum an Produktionsmitteln verfügt und gezwungen ist, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, sind die Bauern/Bäuerinnen kleine Eigentümer:innen und Warenproduzent:innen. Sie nehmen daher eine widersprüchliche gesellschaftliche Stellung ein. Bei Gago hingegen sind sie umstandslos Teil des Proletariats und sogar „antikapitalistisch“.

Neue Kritik der politischen Ökonomie

Im Buch theoretisiert sie dies weiter. Zwischen feministischen Ökonomietheorien und volkstümlicher Schattenwirtschaft ohne kriminellen Sektor wie Drogenhandel habe es „Intersektionen“ gegeben. Es handle sich bei Letzterer um eine antineoliberale, kollektiv organisierte Überwindung individuellen Lebens in Gestalt von Kooperativen, autonomen Lebensstilen und -entwürfen. Dabei sei Neoliberalismus nicht auf den Gegensatz Staat – Markt reduzierbar.

Für Gago ist die feministische ökonomische Perspektive schon deshalb antikapitalistisch, weil Wertextraktion aus Körperterritorien erfolge. Hier folgt sie dem feministisch-operaistischen Ansatz von Mariarosa Dalla Costa, der ihrer Forderung nach Lohn für Hausarbeit zugrunde lag. Sie weitet ihn sogar aus über die Hausarbeit in der Sphäre der Lohnarbeiter:innenfamilie hinaus, auf praktisch alle Frauen, die irgendwie körperlich arbeiten und nicht zur herrschenden Klasse gehören.

Was in „Feministische Internationale“ als Ausweitung des Klassenbegriffs versprochen wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als die Auflösung des marxistischen Klassenbegriffs. Im Grunde wird der Klassen- durch einen Volksbegriff ersetzt, der stark an die Vorstellungen der antimarxistischen russischen Volkstümler:innen Ende des 19. Jahrhunderts erinnert, die in der Bauern-/Bäuerinnenschaft eine konsequent revolutionäre Klasse erblickten.

Die „Volksökonomie von unten“ produziert zwar in Teilen Mehrwert in Gestalt prekärer Lohnarbeit. Der Rest lebt aber von staatlich vermittelten Transfereinkünften, die wesentlich vom indirekten (Sozial-)Lohn gespeist werden. Der informelle Sektor ist noch abhängiger als Lohnarbeit und sollte (Verteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und öffentliche Arbeiten zu Tariflöhnen unter Arbeiter:innenkontrolle) vollständig in die offizielle Lohnarbeit integriert statt konserviert werden!

Antikapitalistisches Wirtschaften kann unter Herrschaft des Kapitals nur Nischen bekleiden und ihn nicht graduell sukzessive ersetzen. Angesichts des Weltmarkts der Agrokonzerne wäre die Revitalisierung der ursprünglichen Ackerbaugemeinde noch reaktionärer und utopischer als die sozialdemokratischen und populistischen Genossenschaftsillusionen. Die Landfrage kann genossenschaftlich nur in Kooperation mit sozialistischer Planwirtschaft auf höchstem technischen und vergesellschafteten Niveau gelöst werden, nicht durch eine Idealisierung der Subsistenzwirtschaft. Wirklicher Antikapitalismus ist mit dem ökonomischen Romantizismus der russischen Sozialrevolutionär:innen oder großer Teile der lateinamerikanischen populistischen Bewegungen inkompatibel. Gagos Nähe dazu ist als radikale Linkspopulist:in kein Zufall.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich ihr „Antikapitalismus“ im Wesentlichen auf einen Anti-Neoliberalismus, Anti-Extraktivismus und die Betonung des Kampfes gegen die massenhafte Verschuldung von Communities und Armen konzentriert. All dies sind wichtige Themen und Aufgaben, um die sich auch eine proletarische Frauenbewegung organisieren muss. Doch das reicht nicht, um zu bestimmen, worin eigentlich das Ziel des Kampfes bestehen soll. Hier stellt Gago vor allem fast, was sie nicht will: weder kapitalistischen Markt noch Planwirtschaft. Diese wenig originelle Zurückweisung des Sozialismus hat freilich weitreichende Konsequenzen für das Programm zur Frauenbefreiung. Die Überwindung der Trennung von Produktion und Reproduktion ist ohne Sozialisierung der Hausarbeit letztlich nicht möglich. Diese erfordert aber ihrerseits die Enteignung der herrschenden Klasse und die bewusste Reorganisation von Produktion und Reproduktion auf Basis einer Planwirtschaft.

Reform und Revolution

Gago meint hingegen, ohne solche grundlegenden revolutionären Veränderungen auskommen zu können. Für sie überwindet die argentinische Bewegung eine Beschränkung auf Themen, Quoten und Sektoren. Sie praktiziere eine Intersektion von Geschlecht, Klasse und rassistisch Unterdrückten.

Der Ort dieser Verbindung unterschiedlicher Sektoren sind Frauenvolksversammlungen (Asambleas), Netzwerke, die sich gleichzeitig auf Institutionen bezögen, indem sie Forderungen stellten.

Somit würden sie verkörpern, was Rosa Luxemburg revolutionäre Realpolitik genannt hatte: Handeln in der Gegenwart und gleichzeitige Existenz als Möglichkeit, Potenzial. Dieses könne zum Bruch mit dem System führen, sei also eine Rohform der Methode des Systemübergangs. Der Wunsch nach Revolution („Wir wollen alles verändern!“) stamme aus der Realität des vor sich gehenden Wandels. Die Zeit der Revolution sei jetzt angebrochen. Transversalität als neue Organisationsform entwickle die Kapazität, den Feminismus an jeder Ecke in Szene zu setzen, ohne sich in eine Logik umschriebener Forderungen einzwängen zu lassen. In These 5 fasst Gago dies folgendermaßen zusammen:

„Die feministische Bewegung besetzt die Straßen, trifft sich zu Versammlungen, schmiedet territoriale Allianzen und erstellt Diagnosen der politischen Konjunktur. Sie erzeugt eine Gegenmacht, die sich Rechte erkämpft und gleichzeitig einen radikalen Horizont beibehält. Damit demontiert sie den Gegensatz zwischen Reform und Revolution.“ (Gago, 8 Thesen zur feministischen Revolution, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2020, S. 16)

Die Asambleas bilden die Gegenmacht in dem Sinne, dass sie – wie bei Negris Multitude – der Ort sind, an dem sich die Frauen und Unterdrückten zum Subjekt konstituieren, ihre potentia entdecken, einander mitteilen, vermitteln. Die Aufgabe der Asambleas besteht daher auch nicht darin, ein gemeinsames Kampfprogramm zu diskutieren, zu verabschieden und gemeinsame Aktionen zu vereinbaren. Im Gegenteil, diese Form der demokratischen und politischen Zusammenfassung der Kämpfenden unter einem Ziel ist Gago suspekt. Die Verbindung würde vielmehr durch die Diversität und Transversalität der Akteur:innen geschaffen.

Hier wird deutlich, dass sich ihr Begriff von Gegenmacht grundlegend von der revolutionär-marxistischen Vorstellung unterscheidet. Gegenmachtorgane sind grundsätzlich Kampforgane gegen die bestehende Staatsmacht und Klassenherrschaft. Sie können daher auch nur in bestimmen krisenhaften Klassenkampfsituationen entstehen, müssen entweder auf gesellschaftlicher Ebene verallgemeinert werden oder sie sind letztlich dem Untergang – sei es durch Repression oder Integration – geweiht. Werden sie jedoch verallgemeinert, sei es auf betrieblicher und/oder örtlicher Ebene, entwickelt sich eine Situation der Doppelmacht, die entweder revolutionär oder konterrevolutionär gelöst werden muss, also indem die Kampforgane der Gegenmacht zu Machtorganen einer neuen, sozialistischen Gesellschaft oder von den Machtorganen der herrschenden Kapitalist:innenklasse zerschlagen werden.

Nicht so bei Gago. Den „Gegensatz zwischen Reform und Revolution“ „demontiert“ sie, indem sie die Revolution als stetiges Voranschreiten der (feministischen) Gegenmacht konzipiert. Diese bezieht immer neue Schichten und Teile des Proletariats ein, immer neue Sektoren der „popularen Ökonomie“. Die Asambleas oder andere Organe der Gegenmacht erheben dabei natürlich auch Reformforderungen an den bestehenden Staat, organisieren Debatten, erweitern ihren Diskurs, ihr Handlungs- und Vorstellungsvermögen und vor allem auch schon die zukünftige Gesellschaft selbst, indem sie für die Ausweitung der „popularen Ökonomie“ kämpfen. Zu Kampforganen um die politische Macht müssen die Asambleas, muss die so verstandene „Gegenmacht“ erst gar nicht geraten, da die Transformation und Revolution bereits im Gange ist.  Für sie bedeutet soziale Revolution schließlich nicht den Übergang der Staatsmacht in die Hände einer anderen Klasse, sondern ein Höchstmaß an Bewegung und Ausdehnung der Alternativökonomie.

Dieses Konzept ist historisch nicht neu. Es ähnelt vielmehr recht offenkundig dem Revisionismus eines Bernsteins und dem sozialdemokratischen Reformismus, der Abkehr vom Ziel der Machteroberung. Revolutionäre Realpolitik beinhaltet für Gago keine Übergangsstrategie, die Teilkämpfe um Verbesserungen mit Übergangslosungen und der Machtfrage verknüpft, sondern ihr gerät unter der Hand die aktuelle Bewegung zu einer, die beides, Reform und Revolution, „aushält“. Da sie den Kampf für Reformen nicht als untergeordnetes Moment des revolutionären Kampfs akzeptieren kann und will, bleibt von der „Revolution“ letztlich nur die ideologische Verkleisterung einer Spielart der reformistischen Transformationsstrategie übrig, wie sie heute im linken Reformismus und auch bei Strömungen des Linkspopulismus vertreten wird.

Feministische Internationale

Nachdem auch auf nationaler Ebene kein Programm, keine revolutionären Strategie nötig seien, ja als schädlich betrachtet werden, vertritt Gago auch eine Internationale, die ohne diese auskommt.

„Die aktuelle feministische Bewegung bringt einen neuen Internationalismus hervor. Dabei geht es nicht darum, den verschiedenen Kämpfen eine abstrakte Struktur aufzuerlegen, sie zu homogenisieren und dadurch auf eine «höhere» Ebene zu heben. Ganz im Gegenteil: Sie wird an jedem einzelnen Ort als spürbare Kraft wahrgenommen, die ausgehend von Körpern und individuellen Lebensverläufen transnationale Dynamiken auslösen kann. Somit ist die feministische Bewegung eine global organisierte, destabilisierende, im Globalen Süden verankerte und von dort aus wirkende Kraft.“ (Ebenda, S. 19)

Für unsere argentinische, postoperaistische Feministin bildet die Bewegung eine koordinierte Kraft globaler Destabilisierung, webt Netzwerke antiautoritärer Insubordination und Selbstermächtigung ausgehend von Lateinamerika. Sie sei trans- und plurinational (Letzteres bezieht sich auf die indigenen Ethnien, Nationalitäten), überkomme somit Internationalismus wie Nationalstaat, weil sie überall existiere. Ihr Transnationalismus verkörpere die Inversion eines Internationalismus’ von oben.

Der Streik sei zum globalen Schlüsselwort geraten: „Wenn wir streiken, macht die Welt Halt!“

In Anbetracht der Friedhofsruhe innerhalb der klassischen Arbeiter:innenbewegung kann die Bedeutung der Frauen*streiks gar nicht genug betont werden. Haben sie aber „die Welt“ wirklich destabilisiert? Und reicht das aus oder braucht es vielmehr zusätzlich Vorstellungen, wie eine neue Ordnung errichtet werden soll und organisiertes Eintreten dafür? Bei Gago werden Aufbau, Strategie und Programm ganz bewusst der Spontaneität und Unmittelbarkeit überlassen.

„Dieser Ansatz unterscheidet sich stark davon, kollektive Organisationsformen moralisch vorauszusetzen oder theoretisch zu fordern. Der Feminismus in den Stadtvierteln, im Bett oder zu Hause ist nicht weniger internationalistisch als der Feminismus auf den Straßen oder den regionalen Treffen. Genau darin liegt sein starker raumpolitischer Aspekt: In seinem Ansatz, Feminismus nicht in getrennten Sphären zu denken, sondern Transnationalismus aktiv zu praktizieren, in ihm Wurzeln zu schlagen und Territorien gleichzeitig für unerwartete, unzählige und weltweite Zusammenhänge zu öffnen.“ (Ebenda, S. 21)

Mit diesen Zeilen endet die Darlegung der neuen, entstehenden Feministischen Internationale. Sie soll also offensichtlich unterschiedliche Teile und Konzepte ohne Debatte um Strategie, Taktik und Programm lose verbinden. Das Problem der Vermittlung von aktuellem Bewusstsein der Klasse und revolutionärer Strategie, die Frage, um welche Forderungen, um welche kollektiven Organisationsformen, um welche Kampagnen und verbindlichen Aktionen sich eine neue proletarische Frauenbewegung konstituieren soll, taucht in der Schrift erst gar nicht auf. Es scheint vielmehr durch die spontane Entwicklung gelöst. Man müsse einfach „Sphären“ gemeinsam denken, Transnationalismus praktizieren, dann erledigt sich die Frage, um welche Kampfziele und Forderungen sich alles drehen soll, von alleine. Die ökonomistische Vorstellung, dass Klassenbewusstsein spontan aus dem gewerkschaftlichen Kampf entstehe, wird hier auf die Sphäre des Kampfes gegen die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen übertragen, wenn auch philosophisch durch den Rekurs auf die potentia der Menge, durch das politische und ökonomische Handlungsvermögen der (proletarischen) Frauen.

Eine solche Strategie wird unvermeidlich an ihre Grenzen stoßen. Schon jetzt erweist sie sich nach zwei Jahren Pandemie und Krise als unfähig, eine Antwort auf die Stagnation oder sogar den Rückgang der Frauen*streiks in vielen Ländern zu geben. Natürlich wäre es kindisch, einfach ein lineares Wachstum der Bewegung zu erwarten. Zeitweilige Rückschläge und Schwankungen sind unvermeidlich, selbst bei einer revolutionären Führung der Bewegung.

Doch schon allein diese Entwicklungen sind eigentlich ein Argument für verbindliche, internationale Strukturen einer Bewegung und für die Diskussion und Erarbeitung gemeinsamer Forderungen und Aktionen.

Aber – ähnlich wie die Sozialistische Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg – muss sich auch eine neue, internationale Frauenbewegung, wenn sie ihr Potential realisieren will, grundsätzlich den großen strategischen Fragen widmen. Nur so wird sie in der Lage sein, den Kämpfenden, den verschiedenen Bewegungen und Kräften angesichts der aktuellen kapitalistischen Krise und angesichts des schärfer werdenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten Orientierung zu geben. Das betrifft auch den Kampf gegen die geschlechtliche Unterdrückung und seine untrennbare Verbindung zur sozialistischen Revolution. Gagos Buch „Feministische Internationale“ kommt zweifellos das Verdienst zu, die Frage der Internationale aufgeworfen zu haben. Eine revolutionäre Antwort darauf präsentiert sie jedoch nicht.




Der Kampf für eine Fraueninternationale – Lehren aus der sozialistischen Frauenbewegung

Aventina Holzer (REVOLUTION, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt/Österreich), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10

Internationale Vernetzung stellt für jeden politischen Kampf eine Bereicherung, wenn nicht eine Voraussetzung dar. In der feministischen Bewegung, die aufgrund des zunehmenden Widerspruchs von Kapitalismus und Gleichberechtigung wieder Fahrt aufnimmt, gibt es momentan aber wenig erfolgreiche Bestrebungen, eine solche Verbindung nachhaltig aufzubauen. Dabei haben die Frauen*streiks der letzten Jahre die Notwendigkeit einer international koordinierten, verbindlichen Aktion um gemeinsame Forderungen eigentlich auf die Tagesordnung gesetzt.

Die führenden Feminist:innen der Bewegung schlagen jedoch stattdessen eher lose Vernetzungen der nationalen Kämpfe vor oder behaupten, dass die Art, wie man sich aufeinander bezieht, schon internationalen Charakter hätte. Auch fehlt bei diesen Vorschlägen nur allzu oft ein klarer Klassenstandpunkt. Statt einer gemeinsamen Koordinierung, die auf einem Aktionsprogramm fußt und dadurch handlungsfähig wird, wird also auf abstrakte Appelle und liberale Politik gesetzt. Wenn wir wollen, dass die momentanen Kämpfe erfolgreich sind, dann brauchen wir auch eine Vorstellung, welche gemeinsame, internationale Organisationsform, aber vor allem auch welche Politik und welcher Klassenstandpunkt notwendig sind. Wir wollen daher die Sozialistische Fraueninternationale (heute: Sozialistische Frauen-Internationale; SIW) und ihre Entwicklung beleuchten und für die Gegenwart fruchtbar machen. Denn wir brauchen nicht nur eine linke Frauenpolitik, wir wollen antisexistische Kämpfe, die in einer revolutionären und proletarischen Tradition stehen.

Herausbildung der proletarischen Frauenbewegung

Prinzipiell ist die Geschichte der Sozialistischen Fraueninternationale keine lineare. Um sie richtig verstehen und einordnen zu können, stellt sich die Frage nach der proletarischen Frauenbewegung, die sich neben der bürgerlichen herausbildete. Mit der Industrialisierung und dem Übergang zum Kapitalismus bildeten sich neue gesellschaftstragende Klassen heraus: Bürger:innentum und Proletariat. Mit den Widersprüchen, die der Kapitalismus für die arbeitende Frau brachte (Mehrfachbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit), wurde auch eine neue Generation an Kämpfer:innen politisiert.

Auch in der bürgerlichen Frauenbewegung wurde die Frage nach politischer Gleichstellung im 19. Jahrhundert immer relevanter. Zentral dafür war das Frauenwahlrecht, das von bürgerlicher Seite oft nur für privilegierte Frauen gefordert wurde. Mit widersprüchlichen Interessen und Vorstellungen sammelten sich hinter dieser Forderung die Frauenorganisationen. Die proletarische Frauenbewegung hatte ihre Wurzeln natürlich in der Sozialdemokratie und speziell der deutschsprachige Raum übernahm hier eine Vorreiterrolle (die deutsche Sozialdemokratie war die stärkste Europas).

Zwar gab es im europäischen Raum auch schon vorher Absprachen und Vernetzungen, aber was die proletarische Frauenbewegung betrifft, wurden erst ab 1896 (also 7 Jahre nach dem Gründungskongress der II. Internationale, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien) Treffen, die der internationalen Verbindung der sozialdemokratischen Frauen dienten, abgehalten. Ein Grund für diese recht späte Entwicklung lag sicher in den tief sitzenden sexistischen Einstellungen innerhalb der Sozialdemokratie, die erst mit der Zeit abgebaut werden konnten und die Ausrichtung der Partei wie der entstehenden Gewerkschaften auf die männliche Lohnarbeit. Die Organisierung von Frauen wurde von vielen allenfalls als untergeordnete Aufgabe verstanden – was das Entstehen eigener Frauenorganisationen erschwerte und gleichzeitig umso notwendiger machte.

Ein Beispiel dafür liefert die Debatte rund um die Frauenarbeit, die erst langsam mit dem Entstehen der II. Internationale eine sinnvolle gemeinsame Beantwortung fand, in der nicht von einem „Ausspielen“ der Frau gegen die männlichen Arbeiter die Rede war. Zeitgleich kann man aber auch in der II. Internationale starke sexistische Stereotype und Probleme sehen. Selbst Zetkin, die wichtigste Vertreterin der deutschen, proletarischen Frauenbewegung neigte dazu, bestimmte bürgerliche Geschlechterrollen zu reproduzieren. So enthält selbst ihre bedeutende, politisch starke Aussage „Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen“ den Satz: „Es darf auch unmöglich die Aufgabe der sozialistischen Frauenagitation sein, die proletarische Frau ihren Pflichten als Mutter und Gattin zu entfremden“.

Frauenwahlrecht

In Deutschland gab es in der Sozialdemokratie schon länger Frauenkonferenzen und 1907 wurde dieses Konzept auch auf die II. Internationale übertragen und fand die erste internationale Frauenkonferenz statt. Vom 17. bis 19. August trafen sich 58 Delegierte aus 15 Ländern in Stuttgart. Zentral behandelt wurden Fragen des weiteren internationalen Austausches und des Frauenwahlrechts. Als Ergebnis, stark geprägt von den Anträgen Clara Zetkins, wurde ein internationales Frauensekretariat der II. Internationale bestimmt und die „Gleichheit“ gegen den Widerstand des revisionistischen Flügels als deren offizielles Organ anerkannt.

Die Konferenz sprach sich für ein allgemeines Wahlrecht für Männer und Frauen aus und verabschiedete eine entsprechende Resolution. Der revolutionäre Flügel um Zetkin, Luxemburg oder auch Kollontai drängte darauf, das allgemeine Frauenwahlrecht zu einem zentralen Kampfziel der proletarischen Bewegung zu machen und dieses nicht, wie in einigen Ländern (z. B. Österreich und Großbritannien geschehen) dem Ringen um das Männerwahlrecht oder sogar weitaus unbedeutenderen kurzfristigen Reformzielen unterzuordnen.

Österreichische und britische Delegierte verteidigten hingegen die Position, dass es in manchen Situationen taktisch klug wäre, auf ein Frauen- zugunsten eines allgemeinen Wahlrechts für Männer zu verzichten. Dies wurde so argumentiert, dass in manchen Situationen diese letztere Forderung leichter umzusetzen wäre und mit dem Erreichen dieses Meilensteins ein späterer Kampf für das allgemeine Frauenwahlrecht erleichtert werden würde.

Schließlich setzte sich der linke Flügel bei der Abstimmung 1907 klar durch. Der Kampf für das Frauenwahlrecht sollte ein entscheidender sein für die Sozialdemokratie. Es war eine sehr richtige Entscheidung, diese Bedenken klar abzuwehren. Bald darauf wurde die Entscheidung der Fraueninternationale auch von der II. Internationale bestätigt.

Die Debatte rund um das Wahlrecht war aber nicht nur eine taktische, sondern zeigte bereits die tiefgreifenden Unterschiede zwischen reformistischen und revolutionären Kräften. Die von den Österreicherinnen eingebrachte Debatte stellte ja auch infrage, wie die Internationale gemeinsam und verbindlich radikal auftreten konnte, ein Problem, das in der zunehmend reformistisch dominierten ArbeiterInnenbewegung immer größer geriet.

Dass es sich um alles andere als bloße „Meinungsverschiedenheit“ oder „kleine politische oder taktische Differenzen“ handelte, wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg Revolutionärinnen wie Luxemburg oder Zetkin zunehmend bewusst. Innerhalb der deutschen und internationalen Frauenbewegung kam es rund um „die Gleichheit“ und deren Chefredakteurin, Clara Zetkin, zur Formierung eines Pols, der sich klar zum linken Flügel zählte.

Die Etablierung eines eigenen Frauensekretariats war sicherlich ein Fortschritt, litt aber an ähnlichen Problemen wie andere Gremien der II. Internationale, nämlich dass es über wenig tatsächliche politische Entscheidungsfähigkeit und Verankerung verfügte. Beim nächsten internationalen Frauenkongress 1910 musste bilanziert werden, dass trotz der Bekenntnisse und Resolutionen die gemeinsame Arbeit rund um das allgemeine Frauenwahlrecht und die internationale Vernetzung noch einiges zu wünschen übrig ließen. Man sollte sich in der Analyse dieser Fehler nicht nur auf die Form beschränken, sondern versuchen herauszufinden, aus welchen politischen Fehlentscheidungen diese resultierten. Ein Fehlen von demokratisch zentralistischen Strukturen, also einem gemeinsamen, verbindlichen Handeln nach außen, nach Diskussion in der Organisation bedeutete eben auch, dass die Internationale nie ihr volles Potenzial entfalten konnte. Sie bildete eher eine Vernetzung zwischen den nationalen Organisationen und keine internationale Organisation mit Sektionen in den einzelnen Ländern.

Zeitgleich konnten sich die reformistischen Kräfte dadurch aber auch immer stärker in ihre nationalen bürgerlichen Verhältnisse festkrallen. Selbst wenn die Internationale von Sozialismus und Revolution redete, entsprach das nicht der tatsächlichen Praxis der Sozialdemokratien der einzelnen Länder. Vielmehr rechtfertigten sie ihre zunehmend bürgerlich-gradualistische Reformpolitik als „Taktik“, deren opportunistischer Charakter durch Lippenbekenntnisse zum Sozialismus versteckt wurde. Das bedeute dann eben auch, dass die meisten international agierenden Strukturen fast wirkungslos blieben und als primäre Aufgabe die Vernetzung hatten. Nicht zu unterschätzen war jedoch, dass die „Gleichheit“ als einziges großes, internationales Organ der II. Internationale vom revolutionären Flügel und nicht vom reformistischen kontrolliert wurde.

Als „Lösung“ wurde beim Frauenkongress 1910 der Internationale Frauentag als Kampftag für das Wahlrecht verankert. Ein weiterer Kongress fand 1913 statt, der sich gegen die Balkankriege stellte und schon einen starken Fokus auf Frieden hatte.

Weltkrieg

Mit dem 1. Weltkrieg wurden die Widersprüche in der Sozialdemokratie offensichtlicher und es zeichneten sich Spaltungen ab. In Deutschland formierte sich ab 1915 die kleine, revolutionäre Minderheit, der Spartakusbund. Die SPD selbst schloss 1916 die wachsende Zahl der Kriegsgegner:innen unter den Parlamentsabgeordneten aus, die 1917 die USPD gründeten. Die Organisation zerbrach in die sozialchauvinistische Mehrheitssozialdemokratie, welche den Krieg unterstützte und den Burgfrieden für Kapital und Kaiser organisierte, und in die USPD, welche eine pazifistische Politik vertrat. Die Bruchpunkte existierten auch in der proletarischen Frauenbewegung weiter und grob gesagt unterteilte sie sich in drei Strömungen. Die reformistische, die die Burgfriedenspolitik mittrug und sich auf Arbeit in „sozialen Strukturen“ (Wohltätigkeit) beschränkte. Die gewerkschaftliche, die versuchte, sich auf ihre Rolle als Interessenvertretung zu konzentrieren, und dabei die politischen Forderungen und Notwendigkeiten hintanstellte. Und die innerparteiliche Linke, die auch maßgeblich für die weitere Entwicklung der Sozialistischen Fraueninternationale verantwortlich war.

Im Herbst 1914 plante Zetkin ein weiteres ihrer Treffen. Dieses konnte aber wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erst 1915 stattfinden. Die Konferenz war klar eine Antikriegskonferenz und es sammelten sich hier vom 26. bis 28. März 30 Delegierte aus unterschiedlichen Ländern in der Schweiz. Die Konferenz wurde von der SPD-Parteiführung nicht unterstützt. Schließlich stand die deutsche Sozialdemokratie (wie die meisten Sozialdemokratien Europas) auf Regierungsseite.

Diese Konferenz sollte nicht nur einer der ersten Versuche sein, die internationale Zusammenarbeit der sozialistischen Organisationen trotz des Krieges wiederzubeleben, sondern war auch eines der ersten internationale Zusammentreffen einer radikalen Strömung, die sich gegen die offizielle Parteilinie stellte. Ähnlich wie die später unter dem Namen „Zimmerwalder Linke“ bekanntgewordene Gruppe wurde eine Opposition zur Kriegspolitik, aber auch zur reformistischen Degeneration der Sozialdemokratie gesammelt.

Die teilnehmenden Frauen, speziell die führenden Aktivistinnen, gehörten nun zum Großteil dem linken Flügel ihrer Parteien an. So ist es also nicht verwunderlich, dass die Sozialistische Fraueninternationale wichtig für die internationale Verbindung der Kriegsopposition gewesen war. Ein Grund dafür könnte sein, dass Frauen aufgrund ihrer Mehrfachunterdrückung häufiger direkt konfrontiert mit den Problemen des Kapitalismus waren und wegen des in den Organisationen (inklusive der Gewerkschaften) vorherrschenden Sexismus’ weniger in Systeme integriert wurden und auch weniger aufgrund materieller Anreize ihre Politik verrieten.

Die Konferenz verabschiedete im März 1915 den Aufruf „Frauen des arbeitenden Volkes!“, der deutlich den imperialistischen Charakter des Krieges hervorhob, das Ende der Burgfriedenspolitik forderte und mit folgenden Losungen endete: „Nieder mit dem Kapitalismus, der dem Reichtum und der Macht der Besitzenden Hekatomben von Menschen opfert! Nieder mit dem Kriege! Durch zum Sozialismus!“

Die Konferenz stellte schon durch ihr Zustandekommen einen wichtigen Fortschritt dar. Anders als die Frauenkonferenzen vor dem Krieg erkannte sie überhaupt nur der linke, gegen den Krieg eingestellte Flügel an. Aber es zeigten sich bei der Mehrheit der Teilnehmerinnen auch zwei wichtige Schwächen und damit Differenzen zu den Bolschewiki, die durch Krupskaja vertreten waren. Es fehlte die Erkenntnis, dass es an der Zeit war, sich von der Sozialdemokratie loszusagen und eine linke Opposition aufzubauen, eine neue Partei, die in einer Situation der Illegalität auch Arbeit machen konnte. Die Forderung, den imperialistischen Krieg in einen revolutionären Bürger:innenkrieg umzuwandeln, was die tatsächlich richtige Schlussfolgerung aus dem beschlossenen Slogan gewesen wäre, wurde nicht aufgestellt. Die russische Delegation stellte zu diesen Punkten zwar einen Antrag, der wurde allerdings abgelehnt. Die Erkenntnis holte die führenden Aktivistinnen zwar nach und nach ein, als sich die Spaltung vollzog und immer klarer wurde, dass ein politischer und organisatorischer Bruch mit der sozialdemokratischen Führung unumgänglich war. Ähnlich wie die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental bildeten die internationalen Frauenkonferenzen einen wichtigen Ausgangspunkt für die Sammlung der revolutionären Internationalist:innen und die spätere Formierung der Dritten Internationale.

Lehren

Die Geschichte der Sozialistischen Fraueninternationale gibt uns heruntergebrochen heute Ansätze für fünf wichtige Aspekte.

Erstens: Wie muss eine Frauenbewegung aussehen, die auch in der Lage ist, tatsächliche Verbesserungen zu erkämpfen? Und wie ist dieser Kampf mit dem um eine revolutionäre Umwälzung verbunden? Die Auseinandersetzung rund um das Frauenwahlrecht ist ein gutes Beispiel dafür, was eine proletarische Frauenbewegung leisten kann, und zeigt auch, dass es selbst in Situationen, wo man mit bürgerlich-feministischen Kräften zusammenarbeiten kann, sinnvoll und notwendig ist, sich klar von ihnen politisch und organisatorisch abzugrenzen.

Zweitens: die Frage von separater Organisierung. Auch wenn es sich hierbei nicht um ein Prinzip handelt, so ist es doch interessant zu beobachten, wie gerade die führenden Frauen und die Jugend in der europäischen Sozialdemokratie oft zum linken Flügel gehörten. Ziel einer Organisation ist es, einen Rahmen zu schaffen, in dem alle Aktivist:innen gemeinsam handeln können, aber es kann auch Situationen geben, wo es erfolgreicher ist, sich separat zu organisieren oder eigene Gremien in der Organisation einzufordern, um gegen soziale Unterdrückung auch innerhalb der Gruppe vorzugehen. So formten sowohl die Jugendinternationale als auch die Sozialistische Fraueninternationale wichtige Sammelpunkte des Kampfes gegen die reaktionäre Politik der Sozialdemokratie nach 1914. Immer sinnvoll ist es aber, in Organisationen einen Rahmen zu schaffen, um sich als gesellschaftlich Unterdrückte zu treffen und Probleme auch gesondert besprechen und deren Lösung vorantreiben zu können. Ein sogenanntes Caucus-Recht bildet also auch eine wichtige Lehre und Errungenschaft.

Drittens: Die wirkliche Frauenbefreiung ist eine globale Frage. Die Vernetzung der Kämpfe ist nicht nur sinnvoll und lehrreich, sondern stärkt sie auch maßgeblich. Aber wenn es nur dabei bleibt, dann besteht die Gefahr, wie es auch bei der II. Internationale der Fall war, dass sich nie eine länderübergreifende Organisation herausbildet, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame Handeln verfolgt. Aktionen werden stärker und können mehr an Fahrt aufnehmen, wenn es eine zentrale Koordination und Vernetzung auf internationalem Niveau gibt. Selbst jetzt, ohne eine solche Organisation und Vernetzung, sieht man, wieviel schlagkräftiger Kampfmittel wie zum Beispiel Frauenstreiks werden, wenn sie international passieren und sich gegenseitig in ihren Anliegen unterstützen (auch wenn es gerade sehr dezentral und losgelöst erfolgt).

Viertens: Internationalismus ist nicht nur eine Frage der Effektivität, sondern folgt auch daraus, dass der Klassenkampf – und damit logischerweise der der proletarischen Frauen – ein globaler ist. D. h., eine neue sozialistische Frauenbewegung darf sich nicht auf Fragen der Gleichheit und geschlechtlichen Unterdrückung beschränken, sondern muss fest auf dem Boden eines Kampfprogramms gegen Imperialismus und Kapitalismus, eines von Übergangsforderungen stehen.

Fünftens: Neben der Erkenntnis, dass es notwendig ist, innerhalb der bestehenden bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Bewegung für eine proletarische Frauenbewegung zu kämpfen, sehen wir diesen Kampf auch als einen direkten Beitrag für eine neue Internationale. Die Führungskrise des Proletariats und damit auch das Fehlen einer internationalen, revolutionären Partei bedeutet, dass die Kämpfe, die in Bewegungen wie der der Frauen geführt werden, auch das Potenzial gewinnen können, revolutionäre Kräfte zu sammeln und damit auch einen Ansatzpunkt für so eine Partei sein können. Auch deshalb ist es notwendig, sich auf einer klaren und revolutionären programmatischen Grundlage zu sammeln, um die Zuspitzung innerhalb der Frauenbewegung auch für den Aufbau einer neuen Internationalen und deren revolutionäre Ausrichtung nutzen zu können.

Seit der Degeneration der III., Kommunistischen und dem Scheitern der Vierten Internationale ist es ein zentrales Problem, dass es keine revolutionäre Internationale und politisch-programmatische Kontinuität in der Arbeiter:innenklasse gibt. D. h. der Einfluss bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologie ist ungleich größer als in Perioden mit einer konstituierten Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse. Der Kampf um eine proletarische, sozialistische Frauenbewegung ist daher untrennbar mit dem Kampf um eine revolutionäre Internationale verbunden.

Die Sozialistische Fraueninternationale war bei allen Problemen nicht nur historisch ungleich fortschrittlicher und weiter als die Bewegung heute, sie stellt auch ein anderes Modell dar. Sie stand von Beginn an auf einer klassenpolitischen, proletarischen Grundlage und verstand sich als Teil des revolutionären Kampfes zur Befreiung aller Lohnabhängigen. Zugleich aber entstand sie als Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung und am Beginn der imperialistischen Epoche – und damit in einer, wo sich die Differenzen zwischen dem reformistischen und dem revolutionären Flügel zuspitzten.

Dazu benötigen wir eine revolutionäre internationale Organisation auf klarer programmatischer Grundlage, die es schafft, sich an den Aufbau solcher Strukturen zu machen. Die internationale Frauen- und LGBTQIA+-Bewegung kann nur mit solchen langfristig erfolgreich sein, ihre Unterdrückung nicht nur innerhalb des Systems zu bekämpfen, sondern auch das System an sich aus den Angeln zu heben und damit tatsächliche Befreiung zu erwirken. Für eine neue, revolutionäre Internationale!




Gegen Krieg, Frauenunterdrückung und Kapitalismus! Für eine internationale Koordinierung der Frauenbewegungen!

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1181, 8. März 2022

In diesem Jahr findet der Internationale Frauenkampftag in einer Zeit statt, in der mehr als eine Million Flüchtlinge, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, aus ihren Häusern in der Ukraine fliehen. Sie sind es, die am meisten unter den Bombardierungen durch Putins Streitkräfte leiden.

Krieg und Flucht

Heute teilen sie das harte Schicksal ihrer Schwestern in Afghanistan, Syrien, Äthiopien, Myanmar, im Jemen und vielen anderen Kriegsgebieten der Welt. Nur sehr wenige von ihnen können die Vorteile offener Grenzen zur Europäischen Union oder die Anerkennung ihres Rechts auf Asyl in Anspruch nehmen. Eine unserer wichtigsten Forderungen heute ist, dass die Land- und Seegrenzen Europas für sie alle geöffnet werden.

In den Medien der Nato-Länder werden die Kriegstrommeln für „verheerende Wirtschaftssanktionen“ gegen Russland geschlagen. Die Auswirkungen solcher Sanktionen werden wiederum in erster Linie die russischen Frauen zu spüren bekommen. Andere agitieren sogar für eine von der Nato verhängte Flugverbotszone, was zu einem direkten Zusammenstoß mit den russischen Streitkräften und damit zu einem Krieg zwischen den beiden imperialistischen Lagern führen würde. Dies würde nicht nur den Ukrainer:innen nichts nützen, sondern könnte direkt zu einem dritten imperialistischen Weltkrieg führen, der noch schrecklicher wäre als seine Vorgänger.

Diese Verschärfung der Ereignisse bestätigt, was die Liga für die Fünfte Internationale gesagt hat: dass wir in eine neue Phase des Kampfes zwischen den Weltmächten eingetreten sind, den USA und ihren Verbündeten auf der einen Seite und China und Russland auf der anderen, um die Ressourcen, Märkte und Länder der Welt zu beherrschen.

Dies wurde weithin als neuer Kalter Krieg bezeichnet. Er kann leicht zu einem heißen Krieg werden, mit dem noch verheerenderen Einsatz von thermobarischen (Druckluft- oder Aerosol-)Bomben, die Hitze- und Druckwellen gleichzeitig erzeugen, und sogar Atomwaffen.

Letztes Jahr sahen wir in Afghanistan, wie Frauen, die bereits zwanzig Jahre Krieg erlitten hatten, von US-amerikanischen, britischen und anderen imperialistischen Besatzer:innen gezwungen wurden, ihre Häuser und Heimat zu verlassen oder brutalen Einschränkungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens unterworfen wurden. Auch in Syrien sind immer noch Millionen Menschen Binnenvertriebene oder leben unter entsetzlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern. Diejenigen, die in Europa Zuflucht suchen, treffen auf Grenztruppen an Land und auf See und werden von ihnen zurückgedrängt.

Pandemie und Krise

Der Krieg in der Ukraine kommt zu den zwei Jahren der Pandemie Covid-19 hinzu, in denen die Mehrheit der Menschheit auf Impfstoffe und angemessene öffentliche Gesundheitsmaßnahmen warten musste, bis die Bürger:innen der imperialistischen Länder  geschützt waren.

Die Pandemie hat in aller Deutlichkeit gezeigt, wie der Kapitalismus arbeitende Frauen unterdrückt und ausbeutet, und zwar nicht nur im Krieg, sondern auch im „Frieden“. Tatsache ist, dass Frauen in wichtigen, aber schlecht bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen eine große Rolle spielen, das Familienheim allzu oft Schauplatz häuslicher Gewalt ist und Regierungen und Unternehmer:innen am Ende der Krise versuchen werden, sie für die Kosten der Krise aufkommen zu lassen. Schon jetzt untergräbt die steigende Inflation den Wert von Löhnen, Renten, sozialer Sicherheit und Krankenversicherungsschutz.

Während der Pandemie haben Frauen die schwersten Lasten getragen. Sie waren als Gesundheitsarbeiterinnen an vorderster Front in Krankenhäusern und Pflegeheimen im Einsatz oder haben die Kinderbetreuung verstärkt, einschließlich des „Lernens zu Hause“, wenn die Schulen geschlossen waren. All diese Arbeit ist natürlich unbezahlt. Schlimmer noch, sie haben schwere Einkommensverluste erlitten, als sie gezwungen waren, ihre Arbeitsplätze im Gastgewerbe, im Einzelhandel oder im Büro aufzugeben, wo die Belegschaften meist weiblich sind. In der Zwischenzeit waren es Großkapitalist:innen wie Jeff Bezos von Amazon, die sich bereichert haben, indem sie ihre Belegschaften super ausgebeutet und ihnen das Recht verweigert haben, einer Gewerkschaft beizutreten.

Kapitalismus

Die Kombination aus Wirtschaftskrise und Pandemie hat den eindeutigen Zusammenhang zwischen der Unterdrückung von Frauen und Klassenausbeutung im Kapitalismus offenbart. Jetzt treten wir in eine neue Phase ein, in der die Ukraine zu einem Brennpunkt des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt geworden ist. In den kommenden Monaten und Jahren wird sich dieser Kampf noch weiter zuspitzen und die Welt mit Sanktionsrunden und sogar einem globalen Krieg bedrohen. Die Arbeiter:innenklasse und die Armen, und unter ihnen vor allem die Frauen, werden die ersten sein, die den Preis dafür zahlen müssen.

Der Krieg wird Frauen und ihre Familien aus ihren Häusern vertreiben. Frauen und Männer aus der Arbeiter:innenklasse werden diejenigen sein, die ihr Leben lassen, wenn die Städte bombardiert werden, und sie werden mit Preissteigerungen, Arbeitsplatzverlusten, Angriffen auf die Arbeitsbedingungen und Lebensmittelknappheit in der ganzen Welt konfrontiert sein.

Das kommende Jahr wird für die Frauenbewegung, aber auch für die gesamte Arbeiter:innenklasse, die Jugend und die unterdrückten Völker dieser Welt entscheidend dafür sein, ob wir helfen können, die russische Invasion abzuwehren und gleichzeitig zu verhindern, dass die Nato daraus einen globalen Krieg macht. Es wird entscheidend sein, ob wir uns gegen die drohende globale Krise, Preissteigerungen und die drohende Umweltkatastrophe wehren können, die nach dem totalen Scheitern des COP26 in Glasgow durch den Krieg aus den Schlagzeilen verdrängt wurde. Junge Frauen haben eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung und Bekämpfung des Klimawandels gespielt, in den Schulstreiks von Bewegungen wie Fridays for Future.

Und wieder einmal sind es die Frauen im globalen Süden, die darunter leiden werden, ja bereits unter den ersten Auswirkungen in Form von extremen Wetterereignissen, Überschwemmungen, Dürren, Waldbränden und in deren Gefolge Hunger, Unterernährung und regelrechten Hungersnöten leiden.

Das Wiederaufleben und der Aufstieg der weltweiten Frauenkämpfe in den letzten Jahren zeigt, dass ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung sowohl für die Befreiung der Frauen als auch für die Klassenkämpfe gegen die Bosse und ihre Regierungen von zentraler Bedeutung sind. Ohne sie könnten wir historische Niederlagen erleiden.

Diese Kämpfe haben gezeigt, dass Frauen keine passiven Opfer von Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung sind, sondern dass sie diese aufgedeckt und sich dagegen gewehrt haben. Die heldinnenhaften Kämpfe von Frauen in den vordersten Reihen von Bewegungen wie #MeToo, Ni Una Menos, dem Frauenstreik, Black Lives Matter sowie die Bauern- und Bäuerinnenproteste in Indien und die Bewegungen für soziale und demokratische Rechte in Belarus, Hongkong, Myanmar oder dem Libanon zeigen, dass es guten Grund zur Hoffnung gibt. In Russland stehen die Frauen trotz der massiven Repression an der Spitze der entstehenden Bewegung gegen den reaktionären Krieg. Wir meinen, dass diese Hoffnung eine Perspektive in einem internationalen Kampf mit dem Ziel der vollständigen Vergesellschaftung der reproduktiven und produktiven Arbeit finden muss.

Dies kann natürlich nur durch die Wiederbelebung oder Bildung von Organisationen des militanten Klassenkampfes erreicht werden. In den letzten Jahren wurden viele wichtige Schritte zur Entwicklung solcher Organisationen unternommen. Viele kämpfende Frauen sehen sich zunehmend als Teil einer globalen Bewegung, die Patriarchat und Kapitalismus miteinander verbindet und dagegen kämpft.

Wir sind der Meinung, dass dies die Vorbereitung einer globalen Konferenz der Frauenbewegungen erfordert, ähnlich dem Geist der frühen kontinentalen und weltweiten Sozialforen. Diese würde die Erfahrungen der verschiedenen arbeitenden Frauenbewegungen zusammenführen, ihnen aber darüber hinaus durch gemeinsam beschlossene Aktionen eine gleiche Richtung geben. Dies könnte ein starkes Signal für die ganze Welt senden. Diese Bewegung muss an der Spitze einer Antikriegsbewegung stehen, nicht nur um die russische Invasion zu stoppen, sondern auch um zu verhindern, dass die Kriegstreiber:innen im imperialistischen NATO-Lager die Welt in einen dritten imperialistischen Krieg ziehen.

Die Genossinnen und Genossen der Liga für die Fünfte Internationale tun ihr Bestes, um zum Aufbau einer solchen Bewegung beizutragen. Sie würden ebenfalls alles in ihrer Macht Stehende tun, um für eine alternative Vision der Gesellschaft, den Sozialismus, zu streiten, um die Befreiung der Frauen, Arbeiter:innen und von lesbischen, schwulen, trans und nicht-binären Menschen zu erreichen. Wenn Tausende von internationalen Aktivist:innen persönlich und online zusammenkämen, um gemeinsam über den Weg nach vorn zu diskutieren, würde dies die Kämpfe auf der ganzen Welt stärken, indem es ihnen Solidarität und Unterstützung bringt.

Wir rufen alle, die diesem Vorschlag zustimmen, auf, mit uns und untereinander Kontakt aufzunehmen, um zu besprechen, welche ersten Schritte wir gemeinsam unternehmen können, um mehr und größere Kräfte wie die Gewerkschaften, Arbeiter:innenparteien und ganze Frauenbewegungen, wie den Frauenstreik, für ein solches Ziel zu gewinnen.

Die Proteste am 8. März dieses Jahres sind deshalb besonders wichtig, weil sie eine Demonstration der Stärke und des Selbstbewusstseins sein werden, dass wir uns in einer der größten Krisen des Kapitalismus wehren müssen.