Kritische Bilanz der bundesweiten „Genug ist Genug!“-Konferenz

Valentin Lambert/Lukas Müller, Infomail 1217, 22. März 2023

Am 03./04. März 2023 fand in den Räumlichkeiten der Universität Halle das erste bundesweite Vernetzungstreffen von „Genug ist Genug!“ (GiG) statt. Angekündigt wurde dieses als „Aktionskonferenz“. Gut 80 Aktivist:innen, die meisten davon bereits politisch organisiert und jünger als 30 Jahre, nahmen an der Konferenz teil. Die Kampagne wurde 2022 vor allem von Jacobin-Magazin und linken Hauptamtlichen aus GEW und ver.di ins Leben gerufen, um gegen die steigenden Preise und die soziale Schieflage zu kämpfen. Zu diesem Zweck wurden die folgenden Forderungen aufgestellt:

1. 1000 Euro Wintergeld für alle. 2. Das 9-Euro-Ticket verlängern. 3. Löhne endlich erhöhen. 4. Energiepreise deckeln. 5. Energieversorgung sichern. 6. Krisenprofiteur:innen besteuern.

Konferenz mit dem Ziel, „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“

An Gruppen konnten wir wahrnehmen: SDAJ, SDS, FAU, Falken, Grüne Jugend, Soli-Netz, Armutsbetroffeneninitiative, ver.di und uns als GAM. Besonders stark vertreten waren die Grüne Jugend und ver.di. Eine große Mehrheit der Aktivist:innen sagte aus, noch im Studium zu stecken, ein kleinerer Teil stellte sich als Gewerkschaftsfunktionär:innen vor. Als Beschäftigte/r aus den Betrieben stellte sich kaum jemand vor, bis auf wenige Redner:innen beim Auftakt, welche teilweise als Gäste eingeladen wurden.

Die Aktionskonferenz hatte das Ziel, „sich für die anstehenden Kämpfe aufzustellen“, um „Schluss zu machen mit all der Ungerechtigkeit“. Am ersten Abend wurde über die Aktivitäten der letzten sechs Monate berichtet. Thesen zur aktuellen politischen Lage wurden vorgestellt und eine sehr kurze offene Debatte geführt. Den Auftakt bildeten Eröffnungsreden von Beschäftigten aus verschiedenen Branchen, u. a. aus der Krankenhausbewegung in NRW, dem Fabrikkollektiv GKN aus Italien und der Initiative #ichbinarmutsbetroffen. Außerdem redete eine Reihe von Gewerkschaftsfunktionär:innen.

GiG orientiert sich um

In den Thesen zur aktuellen Lage in Deutschland wurde festgestellt, dass der erhoffte „heiße Herbst“ von linken Kräften ausblieb. Die Proteststimmung sei nun weg. Trotzdem sei die Lage prekär und es müsse irgendwie weitergehen, aber auf anderen Wegen. Durch die anstehenden bzw. laufenden Tarifverhandlungen rücken Arbeitskämpfe und der Streik als Mittel nun in den Vordergrund der politischen Kämpfe. In Zukunft möchte sich die Kampagne daher innerhalb der Tarifkämpfe einbringen. Die Tarifverhandlungen seien so politisch wie lange nicht mehr und sollen gesellschaftliches Gewicht erlangen.

Diese Analyse und die Schlussfolgerung sind soweit sehr richtig, aber auch mehr oder weniger Allgemeingut. Zudem ging die Analyse kaum über diese wenigen Sätze hinaus und war nach 5 – 10 Minuten abgehandelt. Die Frage, warum es nicht gelungen ist, Massenproteste von links zu initiieren, die durchaus vorhandene Wut der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken, ja an etlichen Orten stattdessen die Rechten das Ruder übernommen haben und was wir daraus lernen können, wurde nicht bearbeitet. Zudem wurde nicht darauf eingegangen, dass die Tarifkämpfe zwar polarisierter sind und heftiger mobilisiert wird, dass sie zugleich aber unter Kontrolle der Bürokratie stattfinden und auch den Rahmen ökonomischer Kämpfe nicht verlassen haben.

Die abschließende „offene Debatte“ wirkte verkürzt und war mit einer einminütigen Redezeit und einem Beitrag pro Person quasi nicht möglich. Bei mehr als 80 Personen ist so etwas zwar zwangsläufig nicht einfach, allerdings für einen tatsächlich bundesweiten Austausch dennoch von zentraler Bedeutung. Hier hätte man deutlich mehr Zeit einplanen müssen. Vom Podium wurde dazu aufgerufen, die Redezeit zu nutzen, um anzureißen, welche Themen man am nächsten Tag vertiefen möchte. Allerdings waren diese hierfür bereits gesetzt und Raum für in der offenen Debatte aufgekommene Themen gar nicht vorgesehen.

Kämpferische Bewegung von unten oder geordnete Bahnen?

Am zweiten Tag der Aktionskonferenz fanden Workshops und Arbeitsgruppen statt, welche auch nach der Konferenz weiter aktiv sein sollen: Inflation und Preise, öffentlicher Dienst, Post, Bus und Bahn, GiG an den Unis, Social Media und interne Kommunikation. Diese schienen überwiegend von Gewerkschaftshauptamtlichen vorbereitet worden zu sein. Wir beteiligten uns am Workshop zum TVöD.

Hier wurden vor allem verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie man die Aktionen der Beschäftigten „von außen“ unterstützen kann. Diskutiert wurde aber auch über die starren Strukturen der Gewerkschaften. Von der Genossin aus der Krankenhausbewegung in NRW wurde von Erfahrungen der Selbstorganisation von unten berichtet, was nicht gerade auf Begeisterung seitens der an der Debatte beteiligten Gewerkschaftsfunktionär:innen stieß.

Die Idee der Zusammenführung von Streiks zu einem Generalstreik wurde von der ver.di-Funktionärin Jana Seppelt aus Berlin aufgrund einer angeblichen Spaltung der Bewegung abgelehnt und es wurde vor einem utopischen „Überschuss“ gewarnt. Die Kritik einer marxistischen Gruppe auf einem GiG-Treffen in Berlin an der Beteiligung der Grünen Jugend, da die Grünen im Bundestag gegen eine Vermögenssteuer gestimmt haben, bezeichnete Jana Seppelt in Halle als „linksradikale Kleinscheiße“. Im Allgemeinen wurde/n selbst auf vorsichtige Kritik an der Gewerkschaftsführung umgehend mit entsprechenden Gegenredebeiträgen von Gewerkschaftssekretär:innen reagiert und kämpferische Vorschläge eher ausgebremst.

GiG ist leider noch nicht genug

Als im vergangenem Jahr linke Gewerkschafter:innen und andere Aktivist:innen „Genug ist Genug!“ aufbauten, um einen bundesweit koordinierten Kampf gegen die Krise zu entfalten, ergriffen sie eine bitter nötige und unterstützenswerte Initiative. Auch die nun vollzogene Orientierung auf die Tarifkämpfe und der Versuch, diese zusammenzuführen und die gesellschaftliche Debatte dadurch insgesamt zu prägen, sind für sich genommen richtig. Allerdings weisen die Struktur und die Strategie von GiG unserer Ansicht nach Schwächen auf und sind zumindest in ihrer aktuellen Form noch nicht geeignet, diesen Aufgaben gerecht zu werden.

Welche Struktur brauchen wir?

So wurden von verschiedenen Personen zu Recht die eher undurchsichtigen Strukturen und Verantwortlichkeiten von GiG kritisch angesprochen. Ist GiG ein Bündnis oder eine eigene Organisation? Wer trifft die Entscheidungen und schnürt die Kampagnen? Auch auf der Konferenz war für uns nicht ersichtlich, wer die Leute sind, die da vorne auf dem Podium sitzen und die Konferenz organisiert haben. Ein gewähltes bundesweites Koordinierungsgremium, welches politisch verantwortlich und rechenschaftspflichtig ist, Protokolle seiner Arbeit intern veröffentlicht und so weiter, scheint es nicht zu geben. Bisher hat GiG vor allem so funktioniert, dass „von oben“ vorgefertigte Kampagnen und Materialien „unten“ in den Ortsgruppen einfach reproduziert wurden, ohne dass die Aktivist:innen und Gruppen vor Ort diese inhaltlich mitgestalten konnten. Die Tatsache, dass GiG behauptet, 38 Ortsgruppen zu haben, sich aber nur gut 80 Leute an der ersten bundesweiten Konferenz beteiligten, zeigt, dass die Struktur von einer lebendigen Kultur der Mitgestaltung weit entfernt ist und/oder viele Ortsgruppen gar nicht mehr aktiv sind.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass GiG fast ausschließlich aus Studierenden zu bestehen scheint. Natürlich ist es löblich, wenn sie, die nicht unmittelbar von Tarifkämpfen betroffen sind, diese unterstützen wollen. Ein Fehler ist es aber, diesen Zustand nicht überwinden und mit den Beschäftigten aus den Betrieben praktisch wie organisatorisch zu einer gemeinsamen Bewegung verschmelzen zu wollen. So wurde von der Vertreterin der Grünen Jugend sogar explizit vorgeschlagen zu versuchen, primär Studierende in die Arbeit einzubinden, denn diese hätten im Gegensatz zu Beschäftigten Zeit. In den ganzen Debatten wurde von GiG gesprochen als einer Supporter:innenstruktur, welche von außen an die Streiks herantritt, den Beschäftigten und der Gewerkschaftsführung bei ihrem Kampf zur Hand geht, die Moral durch die gezeigte Solidarität stärkt und innerhalb der Bevölkerung Öffentlichkeit und Verständnis schafft.

Was wir aber versuchen müssen, ist der Aufbau eines gemeinsamen bundesweiten Aktionsbündnisses aus allen kampfbereiten Beschäftigten, unterstützenden Studierenden, linken Organisationen und Gewerkschaften, welches die verschiedenen Tarifkämpfe, die Umwelt- und die Antikriegsbewegung zu einem gemeinsamen Kampf vereint, statt sich gegenseitig von außen zu unterstützen. Dieses bundesweite Aktionsbündnis sollte lokale Ableger in den Städten haben und versuchen, Verankerung vor allem in den Betrieben, aber auch an Unis und Schulen aufzubauen. In dem Bündnis sollten die verschiedene Organisationen und (Betriebs-)Gruppen bzw. deren Vertreter:innen auf Augenhöhe diskutieren und mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fällen. Eine demokratisch gewählte, rechenschaftspflichtige und transparent arbeitende Koordinierung sollte die Arbeit und Kämpfe bundesweit zusammenführen. Ein erster Schritt in diese Richtung müsste die Einberufung einer Aktionskonferenz über GiG hinaus sein, unter Einbezug aller oben genannten Akteur:innen. Dafür müssten die Gründer:innen von GiG, welche wie gesagt vor allem aus den Apparaten von ver.di und GEW kommen, allerdings bereit sein, die Zügel aus der Hand zu geben und die Initiative für einen solchen Schritt zu ergreifen.

Welche Strategie führt zum Sieg?

Die Debatten zur Intervention in die Tarifkämpfe klangen auf der Konferenz vor allem nach Vorfeldarbeit für die Politik der Gewerkschaftsführung. Wenn GiG die Tarifkämpfe zuspitzen und zusammenführen möchte, hätte man eine eigenständige Perspektive diskutieren müssen, wie und wohin die Streiks konkret führen sollen. Die aktuellen Tarifverhandlungen bei der Post machen deutlich, dass auf die Gewerkschaftsbürokratie kein Verlass ist, wo sich ver.di nach knapp 90 % Zustimmung unter den Beschäftigten für einen Streik auf einen in letzter Sekunde vorgelegten faulen Kompromiss eingelassen hat. Die demokratische Urabstimmung zum Streik wurde kalt missachtet und die Bewegung ausverkauft (https://arbeiterinnenmacht.de/2023/03/14/post-guter-streik-statt-schlechter-verhandlungen-das-ergebnis-muss-abgelehnt-werden/). Eine Zuspitzung der Kämpfe wird wohl kaum ohne massiven Druck von unten gegen die Bürokratie durchzusetzen sein. Aktuell wird die GiG aber vor allem aus den Apparaten heraus finanziert.

Diese Zuspitzung darf nicht alleine bedeuten, die einzelnen Tarifauseinandersetzungen zusammenzuführen, viele Mitglieder in die Auseinandersetzung zu ziehen oder neue zu gewinnen, auch wenn dies ein nützlicher Teilschritt wäre. Ein weiterer Zwischenschritt wäre eine Kampagne gegen die Gefahr eines Schlichtungsverfahrens im öffentlichen Dienst und für die Aufkündigung dieser Vereinbarung. Unserer Einschätzung nach bedarf es einer Vorbereitung auf den politischen Massenstreik branchenübergreifend und notfalls unbefristet. Zugleich müssen wir uns darauf vorbereiten, dass solche radikaleren Kampfmaßnahmen auch den Widerstand von Staat und Kapital befeuern.

Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass die Forderungen von GiG überarbeitet werden müssen. Wir schlagen der Kampagne deshalb abschließend folgende zentrale Forderungen vor:

1. Automatische Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

2. Kampf um höhere Löhne! Unterstützung der Tarifrunden! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

3. Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

4. Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

5. Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!




Vorwärts für einen heißen Herbst heißt Kampf für die Einheitsfront!

Wilhelm Schulz, Infomail 1198, 13. September 2022

Die Verbraucher:innenpreise steigen, die Energiekosten erreichen ein Rekordhoch. Während einzelne Konzerne mit Milliardensubventionen gerettet werden, macht die hiesige Energiewirtschaft unterm Strich Milliardengewinne. Die Ampelkoalition verabschiedet eine kapitalfreundliche Gasumlage. Für die, die sich die Teuerungen nicht mehr leisten können, antwortet sie mit Einmalzahlungen aus der Gießkanne. Dagegen ist Widerstand zu erwarten – und er ist dringend nötig.

Doch schon bevor die ersten Aktionen gegen die Preissteigerungen des ausgerufenen „heißen Herbsts“ angelaufen waren, hagelte es Diffamierungen. Als hätten sich all die Geister des alten Europas versammelt, um eine Hexenjagd auszurufen. Eine Hexenjagd, die jedweden Versuch, den Teuerungen mit Methoden auf der Straße oder im Betrieb entgegenzutreten, als russlandfreundlich diffamiert. Ein Vorwurf, den wir als Kriegsrhetorik zurückweisen. Denn die aktuelle Not und ihre sich drohende Verschärfung sind Ausdruck des zugespitzten Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und Vorbotinnen der kommenden Rezession. Über kurz oder lang steht die Frage im Raum, welches soziale Klasseninteresse sich durchsetzt, welche Klasse für Krieg und Krise zahlt: das Bürger:innentum oder die Lohnabhängigen.

Als Revolutionär:innen sagen wir daher, dass im Kampf gegen die Teuerungen die breiteste Einheit der Arbeiter:innenorganisationen nötig ist. In manchen Fällen können gemeinsame Absprachen der subjektiv revolutionären Linken dafür nützlich und notwendig sein, aber keinen Ersatz darstellen. Doch was bedeutet das und welche Stellung nehmen Revolutionär:innen in einem solchen Bündnis ein?

Bislang beobachten wir einen Formierungsprozess verschiedener Bündnisse gegen die Teuerungen. Die Partei DIE LINKE hat bereits Anfang August einen „heißen Herbst“ angekündigt. Die Industrie- und Handelskammer beteiligt sich vereinzelt bereits an Aktionen. Die Gewerkschaften diskutieren darüber, welche Forderungen in den Tarifrunden aufgestellt werden können, und planen vereinzelt die Beteiligung an politischen Protesten. Selbst unter SPD-Linken regt sich Kritik an der Regierungspolitik der Ampel. Die radikale Linke ist, wie gewöhnlich, uneinig. Uneinigkeit besteht darüber: Welche Bündnispartner:innen sollen gewonnen werden? Was soll angesichts der brennenden Fragen Inhalt des Bündnisses sein? Wie sollen sich die Bündnisse nach rechts abgrenzen?

Warum brauchen wir eine Einheitsfront?

Wir halten es für die zentrale Aufgabe der bestehenden widerspenstigen linken Bündnisse, Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse wie die Gewerkschaften, linke Parteien, Mieter:innenvereine und -bündnisse und migrantische Organisationen in Bewegung zu bringen. Nur wenn wir es schaffen, eine Massenbewegung aufzubauen, die einerseits politischen Protest auf die Straße bringt, aber auch proletarische Kampfmaßnahmen in den Betrieben ausübt, wie Streiks und Besetzungen, aber auch Preiskontrolle und Entscheidung über die Verteilung und Produktion der Waren, können wir die Angriffe real abwehren, auch wenn dies notwendig einen Bruch mit dem Programm des Klassenfriedens bedeuten muss. Und nur so können wir es schaffen, dass die Rechten die sozialen Fragen nicht nationalistisch, rassistisch, antisemitisch, verschwörungstheoretisch oder gar faschistisch besetzen.

Wir müssen daher versuchen, die Massenorganisationen der Klasse, wie die Gewerkschaften, die großen Vereine (Mieterverein, Naturfreunde, ASB, Volkssolidarität) und reformistischen Parteien oder wenigstens linke Gliederungen (DIE LINKE und Teile der SPD, die sich gegen den Kurs der Ampel stellen), aber auch NGOs wie Attac für den Protest zu gewinnen. Wie stehen diese verschiedenen Organisationen beispielsweise zum Krieg in der Ukraine? Die meisten stehen geschlossen hinter den Sanktionen, einige haben ihre rote Linie zu Waffenlieferungen bereits überschritten. Sie sind im Widerspruch befangen, zugleich Teile der Maßnahmen zu verteidigen, während ihre Mitgliedschaft die Konsequenzen ausbadet. Eine Fokussierung auf besagten Widerspruch birgt also das Potenzial, den Führungsanspruch dieser Massenorganisationen herauszufordern und zugleich für reale Verbesserungen zu kämpfen. Dieser Logik folgend, geht es nicht darum, einen möglichst weitreichenden, alles umfassenden Forderungskatalog zu finden. Debatten um programmatische Klarheit sind keine Vorbedingung zur Einheit in der Aktion. Vielmehr muss ein mögliches Bündnis, eine Einheitsfront darauf fokussieren, was es gemeinsam abzuwehren gilt. Es ist das Recht und die Pflicht der teilnehmenden Organisationen, darum zu streiten, wie dies möglichst erfolgreich geschehen kann. Um dies zu erreichen, brauchen wir jedoch keine Vielzahl von Bündnissen, sondern eines.

Anhand der gemeinsamen lebendigen Erfahrungen kann die Diskussion, welches Programm die Preissteigerungen bekämpfen kann, überzeugender geführt werden als an jedem Reißbrett dieser Welt. Dieses Ziel erfordert jedoch, dass die verschiedenen Organisationen auch ihre Mitgliedschaft in Bewegung bringen. Neben öffentlichen Demonstrationen können dies ebenfalls Versammlungen im Kiez oder Betrieb sein. Die Gefahr, dass die verschiedenen subjektiv revolutionären Kräfte hierbei in die Minderheitsposition geraten würden, ist real, aber eben auch den gesamtgesellschaftlichen wirklichen Verhältnissen entsprechend.

Zwei Gefahren – Sektierer:innentum und Opportunismus

Bereits jetzt beobachten wir zwei andere Orientierungen bezüglich des Aufbaus kampffähiger Bündnisse. Einen Ansatz bezeichnen wir als sektiererisch, den anderen als opportunistisch. Beide werde an dieser Stelle anhand erster Aktivitäten in Berlin nachgezeichnet.

In Berlin haben wir im Wesentlichen zwei zentrale Bündnisansätze momentan. Eines nennt sich „Umverteilen“, das andere „Brot, Heizen, Frieden“. Als Arbeiter:innenmacht sind wir aktuell in letzterem aktiv. Beide haben für linke Bündnisse eine ordentliche Größe und könnten sicherlich einige tausend Menschen mobilisieren, was aber gesamtgesellschaftlich kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein dürfte.

Das Umverteilen-Bündnis stellt eine Art Ansammlung aus Community-Organizing dar, gewissermaßen eine Einheitsfront von unten, die sich nicht zum Ziel setzt, Basis und Führung von Parteien wie DIE LINKE oder Gewerkschaftsverbände als solche in ein Bündnis zu ziehen. Statt auf regelmäßige Mobilisierungen zu setzen, orientieren sie sich auf handwerkliche Tätigkeiten drum herum (begrifflich: Organizing-Methoden). Den Mitgliedern von Parteien und Gewerkschaften wird zwar die Teilnahme gestattet, aber nur ohne organisatorische Zugehörigkeit. Sie sollen nur als Individuen, nicht als Vertreter:innen von Organisationen dabei sein.

Statt auf Kampfstrukturen wird hier auf Nachbar:innenschaftsvernetzung gesetzt, und statt die politischen Grenzen der abgelehnten Organisationen lebendig zu entlarven, wird hier auf das plumpe Angebot gesetzt, des „Macht doch einfach bei uns mit“, so als ob die Organisierung bei anderen politischen Kräften einfach nur eine Entscheidung mangels anderen Angebots sei und keine Überzeugungsfrage. Hier werden Ross und Reiter:in verwechselt, denn statt die ideologische Dominanz falschen Bewusstseins in der Klasse anzugreifen, wird deren Überwindung quasi zur Vorbedingung – na wenn‘s denn so einfach nur wäre. In diesem Sinne ist die Selbstwahrnehmung als das linkere Bündnis naheliegend. Jedoch ist dies kein Selbstzweck, sondern immer eine Frage des Zugangs zu aktiven und nach politischer Orientierung suchenden Massen relevant. Das bedeutet, jedoch nicht, dass das andere Bündnis seine Prinzipien für die Beteiligung anderer Kräfte über Bord wirft.

Das andere Bündnis „Brot, Heizen, Frieden“ umfasst bis dato größere Organisationen, wie die Naturfreunde Berlin, Aufstehen, aber auch bewegungslinke Teile der Linkspartei. Es verfügt über das Potenzial, Teile der Gewerkschaften zu integrieren, und steht vor der Herausforderung, auch den regierungssozialistischen Teil der LINKEN zur Aktion zu bewegen. Gleichzeitig befinden sich auch linkspopulistische Kräfte wie Aufstehen oder die populäre Linke (der sog. Wagenknechtflügel) im Bündnis. Hier tritt ein anderer, nicht minder wichtiger Konflikt offen zum Vorschein: Ausrichtung auf die Einheit von Linken und Arbeiter:innenorganisationen oder auf ein populistisches Bündnis, auf Volk oder Klasse?

Diese Frage ist vor allem entscheidend angesichts des Wettrennens zwischen den Versuchen, Bewegungen gegen die Teuerungen aufzubauen, einer von links, der andere von rechts. Der gesellschaftliche Rechtsruck der vergangenen Jahre nimmt selbst Einfluss auf das Bewusstsein der Demonstrierenden. Aufgabe einer linken Bewegung gegen die Teuerungen ist somit beides, sowohl eine Abwehr dieser Teuerungen zu erkämpfen als auch gegen die vorherrschenden Ressentiments und Vorurteile in der Bewegung einzustehen. Der linkspopulistische Flügel droht, letzteres für ersteres aufzugeben, und fokussiert sich auf die Worthülse, die Leute mit Gefühlen abzuholen. Es steht die Sorge im Raum, dass Verwässerungen des klassenpolitischen Programms vorgenommen werden, um noch die/den letzte/n möglichen Bündnispartner:in zu integrieren. Das Bündnis hat somit eine doppelte Aufgabe, ein Maßnahmenprogramm vorzulegen, dass das Potenzial aufweist, massenwirksam aus der Defensive herauszutreten, und andererseits, sich klar nach rechts abzugrenzen.

Vorbild Gelbwesten?

Der linkspopulistische Teil des Bündnisses strebt also eine Art Wiederholungsversuch der Gelbwestenbewegung aus Frankreich (2018/19) an. Eine Bewegung, die die soziale Sprengkraft unter Macron und die mögliche Stärke der Arbeiter:innenbewegung zeigte, aber zugleich ein gefährlicher Bodensatz für die rechtspopulistische Rassemblement National und auch faschistische Kräfte darstellte. Die Gelbwesten entstanden als eine Antisteuerbewegung der unteren Mittelschichten, die jedoch auch eine große Zahl von Arbeiter:innen mobilisierte. Sie stellte sich als unpolitisch dar und ein Verbot von politischen Organisationen auf, während rechte bis faschistische Kräfte einfachen Zugang zu den Reihen der Bewegung erlangten und Mélenchons France insoumise ihre Fahnen von roten in die Trikolore umtauschte.

Die Reduktion auf Preis- und Steuerfragen stellte hier einen scheinbaren Kompromiss antagonistischer Klassen dar mit der Illusion, dass jede/r Bürger:in davon profitiere. Für uns ist der Charakter einer Bewegung insgesamt keine sozialstrukturelle Frage, sondern eine politische. Demnach, und das gilt für die Gelbwesten wie für die aktuellen Ansätze gegen die Teuerungen, wenn der möglichst klassenübergreifende kleinste Nenner im Fokus steht, die Zusammenschlüsse mit Kämpfen der Arbeiter:innen vermieden werden, dann droht uns, keine Alternative zu den vorherrschenden Kräften oppositioneller Bewegungen darzustellen, somit die Führungskrise der Arbeiter:innenbewegung weiterhin unbeantwortet zu lassen.

Daher brauchen wir die möglichst breite Einheitsfront der Arbeiter:innenklasse – ein Aktionsprogramm, das das Verlangen nach Abwehr und ein Heraustreten aus der scheinbar machtlosen Defensive befriedigt, aber dabei klarmacht, dass diese Bewegung eine internationale, eine solidarische sein muss. Die umfassenden Forderungskataloge und Aktionsprogramme sind dabei Produkte der Perspektiven der einzelnen politischen Kräfte, jedoch keine Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf. Für solch eine Widerstandsbewegung werden wir kämpfen und rufen alle Aktivist:innen auf, die sich dieser Perspektive anschließen, dies gemeinsam Wirklichkeit werden zu lassen.




Kampf gegen die Preissteigerungen! Den heißen Herbst heiß machen!

Gruppe Arbeiter:innenmacht, Neue Internationale 267, September 2022

1. Die Preissteigerungen stellen zur Zeit den schärfsten Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter:innenklasse, aber auch bedeutender Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums dar. Die Regierung setzt dem nur Unzureichendes entgegen, mehr will sie auch gar nicht. Es droht ein sozialer Tsunami mit enormen Einkommensverlusten, extrem hohen, weiter rasant steigenden Preisen für Energie, Lebensmittel, Wohnen, die durch die Krise immer weiter befeuert werden.

2. Die drohende soziale Katastrophe beginnt nun, Teile der Linken in Bewegung zu bringen. In mehreren Städten und aus verschiedenen Spektren bilden sich zur Zeit Initiativen oder Bündnisse im Kampf gegen Inflation, Krise, Krieg, rechte Gefahr. Auch DIE LINKE verspricht einen „heißen Herbst gegen die soziale Kälte der Regierung“. Es gibt zumindest insofern Druck aus den Betrieben, als dass sich die Bürokratien der Gewerkschaften gezwungen sehen, deutlich höhere Tarifforderungen zu stellen.

3. Wir können davon ausgehen, dass Wut, Frustration und auch Kampfbereitschaft in der Bevölkerung steigen werden, weil sich alle ausrechnen können, dass krasse Preissteigerungen auf sie zukommen. Deswegen besteht ein möglicherweise sehr großes Mobilisierungspotential, das allerdings aufgrund der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse auch von rechtspopulistischen Kräften genutzt werden kann. Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit. Menschen erwarten rasche Antworten, damit ihnen die Kosten nicht über den Kopf wachsen. Die berechtigte Ungeduld kann auch zu spontanen Protesten führen.

4. Die Linke und die kämpferischen Teile der Arbeiter:innenbewegung haben die Möglichkeit und die Pflicht, in dieser Lage initiativ zu werden. Dazu müssen sie jedoch eine konsequente Bündnispolitik betreiben, eine Einheitsfrontpolitik, die auch die Massenkräfte der Klasse umfasst: DIE LINKE, Sozialverbände, Mieter:innenvereine, vor allem aber Gewerkschaften oder zumindest wichtige betriebliche und gewerkschaftliche Gliederungen. Eine solche Bewegung kann schließlich auch Teile der Umweltbewegung und einzelne sozialdemokratische Gliederungen (Ortsverbände, Jusos) auf die Straße bringen.

5. Um diese Bewegung in Gang zu setzen und zu einer Kraft zu vereinheitlichen, müssen sich die verschiedenen Initiativen und Bündnisansätze auf gemeinsame, konkrete Forderungen verständigen, die auf die unmittelbare Verbesserung der Lebensbedingungen zielen. Es ist unzureichend, sich auf allgemeine Forderungen gegen Krise und Kapitalismus zu beschränken. Stattdessen bleibt es Aufgabe der einzelnen in den Bündnissen agierenden politischen Gruppierungen und Strömungen, ihre jeweiligen strategischen, programmatischen Forderungen zu verbreiten, zu diskutieren und wechselseitig zu kritisieren.

6. Bündnisse sollten sich grundsätzlich auf Forderungen gegen die Preissteigerungen sowie zur Finanzierung beschränken oder fokussieren. Es macht keinen Sinn, sie um andere Themen zu vergrößern, so schön sich das auch lesen mag. Es geht um ein möglichst großes Aktionsbündnis, nicht um einen möglichst langen Forderungskatalog. Wir sollten daher alle Forderungen möglichst konkret halten.

7. Als zentrale Forderungen für eine bundesweite Mobilisierung gegen die Preissteigerungen schlagen wir vor:

  • Eine Übergewinnsteuer für Extraprofite, die sich aus den steigenden Preisen ergeben
  • Die Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen
  • Automatische Anpassung der Löhne, Renten, Mindestsicherung an die Inflation
  • Anhebung der unteren Lohngruppen, der Mindestrente und Mindestsicherung (Hartz IV) auf 1500 Euro
  • Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel

8. Wir treten in allen Bündnissen dafür ein, dass es eine gemeinsame, bundesweite Aktionsstruktur braucht, nicht das Nebeneinander verschiedener Mikrobündnisse der „radikalen“ Linken. Wir brauchen ein Bündnis, das unsere Forderungen auch wirklich erkämpfen und nicht bloß propagieren oder wünschen kann. Daher ist der Kampf um die Einbeziehung von Massenorganisationen wie DIE LINKE oder Gewerkschaften unerlässlich, auch wenn das natürlich bedeutet, dass diese versuchen werden, eine dominierende Rolle einzunehmen und die Kampfaktionen einzuschränken.

9. Es ist Aufgabe der klassenkämpferischen und revolutionären Kräfte, alles zu unternehmen, um diese Strukturen zu wirklichen Aktionseinheiten zu machen und nicht bloß eigene „linke Bündnisse“ aufzubauen, die faktisch nur Propagandablöcke sind. Natürlich werden wir auch darin arbeiten oder arbeiten müssen, aber revolutionäre Kommunist:innen müssen immer betonen, dass es darum geht, die Kräfte zur Aktion zu zwingen, die Forderungen durch Massenmobilisierungen und Streiks durchsetzen können. Bündnisse und Gruppen, die sich dem verweigern, behindern den Aufbau einer echten Einheitsfront.

10. Wir schlagen in allen Bündnissen eine bundesweite Großdemonstration im Herbst als ersten Mobilisierungshöhepunkt vor bzw. unterstützen Initiativen in diese Richtung. Wir treten für die Bildung von örtlichen Mobilisierungs- und Aktionskomitees zu dieser Demo, für vorbereitende Demonstrationen und für den weiteren Kampf ein. Straßenaktionen werden wahrscheinlich nicht reichen, um einen Schutz vor Preissteigerungen für die Massen durchzusetzen. Politische Massenstreiks sind nötig, somit eine betrieblich und gewerkschaftlich verankerte Bewegung. Daher treten wir dafür ein, dass solche Aktionskomitees/Strukturen auch in den Betrieben aufgebaut bzw. aktive Gewerkschaftsgruppen oder Vertrauensleutestrukturen dazu gebracht werden. Für die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und andere Gewerkschafter:innen ist das die zentrale praktische Herausforderung im kommenden Herbst.

11. Der Kampf gegen die dramatischen Preissteigerungen ist für das weitere politische Kräfteverhältnis von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Eine Niederlage wird den Rechten in die Hände spielen. Eine erfolgreiche oder auch nur ansatzweise erfolgreiche Massenmobilisierung und Bewegung kann dagegen in Verbindung mit Kämpfen gegen den Krieg, die kommenden betrieblichen Angriffe, mit Tarifkämpfen und der Umweltbewegung zu einem Fanal für eine Wende zum Klassenkampf werden. Das gilt für die Entstehung neuer Kampforganisationen, der Wiederbelebung bestehender und der Herausbildung einer schlagkräftigen antibürokratischen Bewegung in den Gewerkschaften, aber vor allem für den Aufbau einer neuen revolutionären Partei auf Basis eines Programm von Übergangsforderungen gegen Krise und Krieg.




G7-Proteste – eine nüchterne Bilanz ist nötig

Wilhelm Schulz / Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1162, 1. Juli 2022

Olaf Scholz und Co. feierten den G7-Gipfel der westlichen Staats- und Regierungschefs als harmonische, geradezu weltoffene Veranstaltung für Demokratie, Menschenrechte, soziale und ökologische Vorsorge. Ganz zu offen war es dann natürlich doch nicht. Knapp 18.000 Polizist:innen wurden zum Schutz des G7-Gipfels in der Region Werdenfelser Land (Oberbayern) stationiert. Es glich einem Belagerungszustand. Mit Maschinenpistolen ausgestattete Polizist:innen standen hinter Nato-Stacheldrahtzäunen, ständig erfolgten Polizeikontrollen, Geschäfte mussten für den Protest schließen, Autobahnabsperrungen wurden verfügt. Mindestens 170.000.000 Euro soll allein der Polizeieinsatz gekostet haben.

Dessen Umfang entspricht dem von 2015, dem letzten G7-Gipfel in Elmau. Trotz ähnlicher Anzahl erschien die Polizeipräsenz angesichts der schwachen Mobilisierung stärker.

Allerdings besaß die Präsenz eine größere Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Schon während der Pandemie wurde polizeiliche Überwachung zunehmend und weit über deren Bekämpfungsmaßnahmen hinaus verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dient zusätzlich als Rechtfertigung dieses Zustandes, zumal die Politik von G7 und NATO zu einem „demokratischen“ Eingreifen verklärt wird.

Eine verschärftes Polizeiaufgabengesetz, ständige Kontrollen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bis hin zu abstrusen Fahnenregeln, Flyerverboten, Angriff wegen Verknüpfung von Transparenten, Polizeipräsenz bei linken Veranstaltungen im Vorfeld gehören mittlerweile schon fast zum „Normalzustand“ der deutschen Demokratie, und zwar nicht nur in Bayern oder bei G7-Gipfeln.

Sicherlich schüchterte die schon im Vorfeld angedrohte massive Repression Menschen ein und wirkte demobilisierend. Das erklärt aber keineswegs die enttäuschend geringe Beteiligung an allen Aktionen. Im Folgenden wollen wir auf einzelne eingehen, um am Ende die Frage zu beantworten, worin die zentralen Gründe für die schwache Mobilisierung lagen.

Großdemo mit 6.000 Teilnehmer:innen?

Die von den NGOs angekündigte „Großdemo“ mit Start und Ziel auf der Münchener Theresienwiese blieb am Samstag, den 25. Juni, weit unter den Erwartungen. Die Mehrheit der rund 6.000 Teilnehmer:innen wurde von verschiedenen antikapitalistischen, antiimperialistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen mobilisiert. Die Masse der NGOs blieb aus.

Dabei hatten diese im Vorfeld die politische Ausrichtung der Demonstration am 25. Juni an sich gerissen, alle politischen Parteien und radikaleren Gruppierungen aus dem Träger:innenkreis, der Festlegung des Aufrufes und auch weitestgehend aus der Mobilisierung zur Demo gedrängt.

Dieses bürokratische und undemokratische Manöver hatte nicht nur die Gesamtmobilisierung erheblich geschwächt und behindert. Der Verzicht auf eine grundlegende Ablehnung der G7, das Ausweichen vor der Kriegsfrage und die Anbiederung an die Mächte der Welt, die im Aufruf deutlich wurde, erwiesen sich als politischer Rohrkrepierer.

Einige der NGOs und Gruppen der sog. Zivilgesellschaft dürften schon im Vorfeld ihre Mobilisierung faktisch eingestellt haben. Andere wie Fridays For Future scheinen sich selbst im Spannungsverhältnis zwischen Pressuregroup der grünen Regierungspartei und sozialem Faktor auf der Straße zu zerlegen. So konzentrierte sich FFF auf eine Kleinstdemo am Freitag mit einigen 100 Teilnehmer:innen, die unabhängig von anderen Protesten stattfand, und war kaum sichtbar auf der Großdemo.

FFF mutierte von einer Streikbewegung zu einer Eventorganisation. Obwohl es auf dem Papier Unterstützer:in der Gegenproteste war, konnte kaum von einer öffentlichen Mobilisierung die Rede sein. Bis auf einzelne bekannte Gesichter am Samstag und eine kleine eigene Aktion am Freitag mit knapp 300 Teilnehmer:innen war FFF nicht präsent. Scheinbar liegt der Fokus aktuell auf einer Unterstützung der Embargos gegen den russischen Imperialismus, anstatt die eigene Regierung und ihre zerstörerische Umweltpolitik anzugreifen.

Auffällig war nicht nur, dass die NGOs zahlenmäßig gering vertreten waren, sondern auch die Abwesenheit anderer Parteien, die sonst auf solchen Protesten anzutreffen waren. Während bei den letzten Gipfelprotesten auch Teile der Grünen und sogar der SPD teilnahmen, so ist ihr Fernbleiben einfach durch die Einbeziehung in die Ampelkoalition sowie die Unterstützung deren Kurses zu erklären. Ähnliches gilt auch für die Gewerkschaften. Der sozialpartner:innenschaftlichen Anbindung an die SPD wurde durch die Pandemie kein Abbruch getan und auch jetzt werden die Kosten des Krieges auf dem Rücken der Lohnabhängigen stumm mitgetragen. Vereinzelt sah man ver.di- und GEW-Mitglieder aus München, aber eigene Blöcke oder gar Lautsprecherwagen waren nicht zu finden. Dies ist nicht verwunderlich, da diese bereits während der Vorbereitung mit Abwesenheit glänzten.

Die NGOs haben in diesem Jahr die Spaltung der Gegenproteste erreicht. Sie weigerten sich mit fadenscheinigen Argumenten, gemeinsam mit sämtlichen Parteien und allen subjektiv revolutionären Organisationen sie zu organisieren. Als NGOs dürften sie keinen Widerstand gegen den Staat organisieren. Solche Argumente tauchen inmitten einer Krise der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf!

Warum galten diese Einwände bei vergangenen Gipfelprotesten nicht? Sie stellen nichts anderes dar als den Versuch, den Widerstand konform zu lenken und jene, die nach einer Perspektive gegen und nicht mit den G7 suchen, ruhigzustellen. Gesagt, getan. Das Ergebnis war ein doppeltes. Einerseits wurde die Desorganisation der Linken dadurch befeuert, andererseits die Aussicht auf eine größere Mobilisierung bewusst aufs Spiel gesetzt. Die Entscheidung, dass die G7 zu beraten statt zu bekämpfen sind, liefert die Erklärung für diese Entwicklung. Die NGOs haben sich so als Erfüllungsgehilfinnen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenz präsentiert. Die „Zivilgesellschaft“, für die sie einzustehen versuchen, stellt eben nichts weiter als einen Hofstaat jener Klassengesellschaft voller sozialer Gegensätzlichkeiten dar. Ebenjene ist es, die im letzten Jahrzehnt nach rechts rückte. Sich in ihrer Mitte zu positionieren, erzwingt die Bekämpfung oder zumindest das Ausbremsen radikaler Kräfte. Der Fördertropf an dem sie hängen, bildet die materielle Hintergrundfolie einer ideologischen Kapitulation.

Wie verliefen die Aktionen?

Während die Hoffnungen im Vorhinein nicht allzu groß waren, so geriet die Realität mit nur 6.000 Teilnehmer:innen noch bitterer. Als positives Moment bleibt zu bemerken, dass sich die Demonstrierenden trotz ihrer inhaltlichen Differenzen gegenüber der Polizeirepression solidarisch verhielten. Als die Cops ohne ernsthaften Grund bei der Abschlusskundgebung den antikapitalistischen Block angriffen, solidarisierten sich die Sprecher:innen von der Bühne dagegen und riefen die Polizei auf, sich zurückzuziehen. Sie akzeptierten die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Demonstrierende nicht.

Man würde sich an der Stelle mehr wünschen, aber viel Besseres gibt es auch nicht zu berichten.

Leider blieben auch die Aktionen in Garmisch selbst deutlich hinter jenen von 2015 zurück. Dabei haben viele Genoss:innen und Aktivist:innen ihre gesamte Energie dafür aufgebracht, ein Camp mit geringsten Ressourcen auf die Beine zu stellen. Sie haben gekocht, Nachtwachen afgestellt, ein Workshop- und Kulturprogramm organisiert und einiges mehr. Doch leider blieben Tausende fern. Das Camp trug eher den Charakter eines alpinen Urlaubsprogramms als einer Koordinationszentrale des Kampfes gegen den G7-Gipfel. Wenige hundert Menschen übernachteten vor Ort.

Die größte Aktion, die von ihm ausging, war die Demonstration am 26. Juni. Das Bündnis „Stopp G7 Elmau“ rief dazu auf. Etwa 1.500 Teilnehmer:innen folgten dem Aufruf. Dominiert wurde die Demonstration von verschiedensten antiimperialistischen Kräften. Ihre Überrepräsentanz ist dabei nicht in erster Linie Ausdruck ihrer Stärke, sondern, wie beschrieben, einer allgemeinen Defensive. Teile der Demonstration wurden von der Polizei durchgehend im Spalier „begleitet“. Bereits vor Beginn wurde deutlich, dass der Protest zu nicht viel mehr als einem Ausdruck symbolischen Widerstands gegen den Gipfel des Kapitals geraten würde.

Noch deutlicher wurde dieser rein symbolische Charakter am Montag, dem 27. Juni. An dem Tag nahmen zusätzlich 50 Personen unter Polizeigeleit an einer kleinen Protestkundgebung außerhalb der Hör- und Sichtweite des Gipfels statt. Die Polizei führte erniedrigende Leibesvisitationen bei den Teilnehmer:innen durch und agierte dabei übergriffig, konfiszierte Gegenstände wie Marker, die mit Sicherheit keinerlei Bewaffnungen oder Ähnliches darstellen. Ebenso fand ein Sternmarsch statt. Aufgeteilt auf eine Wanderroute und Fahrradtour nahmen 100 Teilnehmer:innen den Marsch in die oberbayrischen Alpen auf.

Linke, Krise Globalisierung

Doch die zahlenmäßig schwachen Proteste gegen den G7-Gipfel sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Wasserspiegel verbirgt sich der desaströse Zustand der Linken und Arbeiter:innenbewegung in der heutigen Zeit, die enorm zugespitzte proletarische Führungskrise eben.

Dieser wurde mittels Fokussierung auf Eventmobilsierungen wie „Blockupy“, „Castor schottern“ oder „Tag X“ versucht zu überdecken. Angesichts der heutigen Lage waren dies reine Heerschauen und Selbstbeweihräucherung linker Organisationen, die sich in Stärkeposition wähnten. Sie waren reine Symbolproteste. Aktivist:innen konnten sich an ihren Symbolen stärken oder scheitern, aber sie erkämpften keine realen Verbesserungen für die Klasse und schafften es nicht, inhaltliche Differenzen innerhalb der Radikalen Linken zu klären. Vielmehr formten diese Stunts eine Fassade, die den Zustand der Ratlosigkeit zu überdecken versuchte. Prominente Beispiele dafür bilden Interventionistische Linke und vor allem die Linkspartei.

Über Jahre blieben in der Deutschen Linken ernsthafte programmatisch-strategische Debatten zu den Aufgaben gegen den vorherrschenden Rechtsruck, den erstarkenden Nationalismus angesichts des aufkochenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der Krise aus. So wie viele während der Pandemie darauf hofften, dass diese an ihnen vorbeiginge, ohne darauf eine politische Antwort geben zu müssen, so flehen andere wiederum, dass der Krieg um die Neuaufteilung der Welt bald vorbei sein möge.

Fast schon folgerichtig war die Interventionistische Linke auf keiner einzigen Blockade oder Demonstration als Kraft sichtbar. Die Linkspartei schaffte es, ihren Krisenparteitag parallel zum Gipfel stattfinden zu lassen und nur in kleinster Form ihres bayrischen Landesverbandes aufzutreten. Selbst dieser war ein Schatten seiner selbst.

Während manche Kräfte das Fernbleiben dieser Akteur:innen als Fortschritt feiern, das den Protest „radikal“ erscheinen lasse, ist die Realität doch eine andere. Durch die geringe Mobilisierung droht der Gegenprotest, in die Bedeutungslosigkeit zu schwinden und mit ihr die Debatte um den Inhalt.

Für eine Strategie- und Aktionskonferenz

Das Fernbleiben dieser Kräfte ist dabei Resultat ihrer eigenen Schwäche. Die unzählbaren Krisen, die Veränderung unserer Kampfbedingungen in Zeiten der Pandemie und Kriegseuphorie zeigen auf, dass die reine Fokussierung auf einzelne Aspekte reine Feuerwehrpolitik bleibt. Sie weicht der Frage aus, wie dieser Totalität des Elends ein Ende gesetzt werden kann. Noch schlimmer: Sie leugnet deren Notwendigkeit. Somit kam und kommt es zum Unterordnen unter die jeweiligen Führungen der Bewegungen, seien es bürgerliche Kräfte bei der Umweltbewegung bzw. gegen Rechtsruck oder ökonomistische Nachtrabpolitik bei gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen.

Damit wurde nicht nur verpasst, Kämpfe erfolgreich zu führen, sondern auch aus Niederlagen zu lernen.

Angesichts dieser schwachen Mobilisierung ist zu diskutieren, welche Aufgaben sich Internationalist:innen, Antiimperialist:innen und Antikapitalist:innen in dieser Zeitenwende stellen, um zumindest größere Teile der Avantgarde der Arbeiter:innenklasse gegen die Neuorientierung der westlichen Imperialismen im Kampf gegen die russischen und chinesischen Widersacher programmatisch und praktisch in Stellung zu bringen. Es ist Aufgabe der teilnehmenden Organisationen, einen offenen Austausch um die Kampfperspektive inmitten der Defensive zu führen. Wir brauchen eine Strategie- und Aktionskonferenz im kommenden Herbst. Wir richten diesen Appell insbesondere, aber natürlich nicht nur an jene Kräfte, die an der Demonstration teilgenommen haben: DKP, SDAJ, MLPD, REBELL, Föderation klassenkämpferischer Organisationen, Zora, Perspektive Kommunismus, Atik, Young Struggle, Neue Demokratische Jugend, Partizan, Atif, Kuhle Wampe, Karawane, Klasse gegen Klasse, die Sozialistische Alternative.




Gerechtigkeit im Kapitalismus? Ein notwendige Kritik am NGO-Aufruf für den 25. Juni

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1191, 22. Juni 2022

Am Samstag, dem 25.Juni, wird es im Zuge der G7-Gegenproteste eine Massendemonstration in München geben. Maßgebliche Organisator:innen sind NGOs wie Brot für die Welt, attac, NaturFreunde, WWF und Greenpeace. Unter dem Motto „Klimakrise, Artensterben, Ungleichheit – gerecht geht anders!“ sollen sich Zehntausende auf der Theresienwiese sammeln und durch die bayrische Hauptstadt ziehen.

Grundsätzlich ist eine Mobilisierung, die weit über die radikale Linke hinausgeht, zu begrüßen. Gleichzeitig lohnt es sich, einen genaueren Blick auf den Aufruf der NGOs zu werfen, denn dieser ist an mehr als einer Stelle problematisch. Erst recht fragwürdig ist, dass sie mit ihrem undemokratischen Vorgehen faktisch die inhaltliche Ausrichtung der Demonstration bestimmen (siehe dazu: G7-Gipfel 2022: Spaltung statt Mobilisierung?).

Konsequenzen für … ?

Der Aufruf der NGOs startet mit einem dringenden Appell: „Zieht Konsequenzen aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Befreit uns so schnell wie möglich aus der Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle! Handelt in aller Konsequenz gegen Klimakrise und Artensterben! Und bekämpft endlich Hunger, Armut und Ungleichheit!“

Man könnte meinen, dass diese Formulierung recht ungeschickt gewählt ist. Mitnichten. Schließlich handelt es sich bei den Vertreter:innen der diversen NGOs nicht um politische Neulinge, sondern um professionelle Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Lobbyvereine, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, „unsere“ Regierungs- und Staatschef:innen endlich zum Handeln für das Gute in der Welt zu bewegen.

Wie die Konsequenzen, die gezogen werden sollen, aussehen, ist im Aufruf recht unklar – und auch das ist an der Stelle eine bewusste Entscheidung. Schließlich stehen die NGOs fest auf dem Boden bürgerlicher Realpolitik und wissen daher, dass die von ihnen geforderte gemeinsame Sicherheit, eine „aktive Friedenspolitik, die sozial-ökologische Transformation und ein leistungsfähiger Sozialstaat“ nicht vom Himmel fallen. Sie gelten als Resultat langwieriger Überzeugungsprozesse und Diskurse, zumal wenn man sie nicht mit den Mitteln des Klassenkampfs, sondern durch Überzeugung der Herrschenden und Appelle an deren Vernunft herbeizuführen versucht.

So wird entgegen der realen Erfahrung (von einem Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen System wollen wir gar nicht reden) einfach unterstellt, dass die G7, wenn sie denn wollten, die Welt wirklich retten könnten.

So heißt es: „Die G7-Staaten tragen mit ihrem wenig nachhaltigen Wirtschaftssystem große Verantwortung dafür, wie massiv sich diese beiden Krisen zuspitzen. Gerade deswegen müssen sie das Ruder jetzt herumreißen.“

So kann auch der gefräßigste Bock zum Gärtner werden. Die G7 gelten den NGOs letztlich nicht als Teil des Problems, sondern der Lösung.

Wenig verwunderlich erscheinen im Kampf um die Ukraine der Westen, also die NATO-Mächte, als die Guten, als „unsere“ Seite. Lassen wir einmal beiseite, dass sich Deutschland und die anderen G7 zur Zeit nicht anschicken, aus Gas und Öl auszusteigen, sondern Kohleverstromung, Fracking-Gas- und -Öl und selbst ein Ausbau der Kernenergie angeschoben werden, so wird erst gar nicht reflektiert, dass der Ruf nach dem Ausstieg aus russischem Öl und Gas auch gut in die Politik der NATO-Staaten passt. Die bewusst vage gehaltene Formulierung im Aufruf ist somit bestenfalls ein leerer Appell, im schlimmsten ein Aufruf zum Energieembargo, wie es Aktivist:innen wie Luisa Neubauer (FFF) bereits gefordert haben.

Der Nachsatz bezüglich Klimakrise und Artensterben sowie der Unmut über weitere Missstände, die angeführt werden, scheinen die Intention unklarer zu machen. Am schwersten wiegt aber ein anderer Grund. Russisches Gas und Öl sind in Deutschland willkommen, da günstig. Zu argumentieren, dass die aktuelle Situation mit dem Krieg aus der Ukraine aufzeigt, dass wir davon abhängig sind – und somit uns davon trennen müssten, kann einerseits dazu dienen, die Abwälzung der gestiegenen Preise auf die Massen zu rechtfertigen, andererseits kommt es einer indirekten Unterstützung der geostrategischen Ziele der G7-Staaten gleich.

Oder anders gesagt: Wirtschaftliche Sanktionen werden im Namen des Klimaschutzes und der guten Moral gefordert. Dass dies dafür sorgt, dass die Energiepreise weiter steigen werden, während weltweit Arbeiter:innen mehr zahlen und im Winter frieren, zeigt den bürgerlichen Klassencharakter auf. Wer eine Energiewende will, der/die sollte nicht nach „besten“Argumenten suchen, damit das deutsche Kapital zuhört. Stattdessen bedarf es Forderungen wie der Verstaatlichungen des Energiesektors, geplanter ökologischer Erneuerung unter Arbeiter:innenkontrolle, automatischer Anpassung der lohnabhängigen Einkommen an die Inflation und Preiskontrollkomitees, damit die entstehenden Kosten nicht die Lohnabhängigen tragen müssen.

Unklarheiten

Auch ein generelles Problem des Aufrufs besteht darin, dass die ganzen Formulierungen so allgemein gehalten sind, dass sie scheinbar jeglichen Inhalt verlieren. Als Beispiel dient folgender Absatz:
„Wir bekennen uns zum Ziel gemeinsamer Sicherheit und fordern eine aktive Friedenspolitik. Wir benötigen mehr Geld für eine sozial-ökologische Transformation und einen leistungsfähigen Sozialstaat. Zudem müssen weit mehr Mittel als bisher für Krisenprävention, zivile Konfliktbearbeitung und den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit sowie der humanitären Hilfe zur Verfügung stehen.“

Begriffe wie leistungsfähiger Sozialstaat oder sozialökologische Transformation sind so allgemein gehalten, dass zur Zeit fast alle irgendwie dafür sind – und auch alle recht Verschiedenes darunter verstehen können. Einen bitteren Beigeschmack hinterlassen dabei frei interpretierbare Begriffe wie jener der „aktiven Friedenspolitik“ oder der „gemeinsamen Sicherheit“, bei denen man sich fragen muss: Was bedeutet das eigentlich? Als aktive Friedenspolitik kann auch eine „humanitäre“ NATO-Intervention bezeichnet werden, die die heiligen westlichen Werte natürlich im Interesse der gemeinsamen Sicherheit vertritt.

Eine Standardreplik auf die Kritik an diesen bewusst vagen, für kapitalkonforme Interpretationen offenen Formulierungen lautet, dass es ja das Ziel sei, so viele Menschen wie möglich auf die Straße zu bringen, damit der Protest erfolgreich wird. Deswegen müsse man offen sein, allgemeine Begriffe verwenden und am besten nichts Konkretes fordern. Nur so könne man ganz viele Leute mobilisieren!

Das stimmt allenfalls vordergründig. Natürlich können unklare Forderungen und Ziele in bestimmten Situationen hilfreich sein, größere Proteste zu organisieren. So schien der Mangel an konkreten, klaren Forderungen z. B. am Beginn von Fridays for Future (FFF) geradezu als Erfolgsrezept. Schließlich sind ja (fast) alle für Klimaschutz und dafür, dass etwas getan werden muss.

Doch gerade die Entwicklung von FFF verdeutlicht die Grenzen und Probleme dieser „Strategie“. Nach etlichen globalen Aktionstagen, nach zahlreichen Forderungen an die Mächtigen der Welt, ihrer Verantwortung nachzukommen, gerät die Bewegung in eine Sackgasse, beginnt zu stagnieren. Das Fehlen von klaren Forderungen offenbarte schließlich die am Beginn einer Bewegung nachvollziehbare Unreife der Aktivist:innen, aber auch den fatalen Einfluss von kleinbürgerlichen und bürgerlichen Kräften, die von einer notwendigen Klärung der Ziele, Methoden und der Frage nach dem Subjekt und der klassenpolitischen Ausrichtung der Bewegung nicht wissen wollten, weil das ihre reale Dominanz in Frage gestellt hätte. Genau aus demselben Grund wollen die NGOs von der Frage nach dem Charakter der G7, von offenem Antikapitalismus und Antiimperialismus und von der zentralen Rolle der Arbeiter:innenklasse im Kampf um Veränderungen und gegen das System nichts wissen.

Längerfristig soll so nicht nur die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder bestenfalls reformistischer Kräfte gesichert werden – die Bewegung selbst droht, sich so als Fußtruppe des NGO-Lobbyismus totzulaufen.

Wer verändert eigentlich was?

Sie und ihr Aufruf setzen darauf, lautstark auf die Straße zu gehen, damit die Regierungschef:innen endlich merken, was wirklich wichtig ist. Wir sollen in möglichst großer Zahl demonstrieren und mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen versuchen, sie zur „Vernunft“ zu bringen. Deutlich wird das in Formulierungen wie: „Die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten müssen dafür sorgen, dass … “

Wer jedoch in den letzten Jahren als Klimaaktivist:in unterwegs gewesen ist, weiß, dass das nicht das Mittel ist, um nachhaltig etwas zu verändern. So zu tun, als ob uns noch genügend Zeit bleibt, einfach die Herrschenden dieser Welt, die nicht so denken wie wir, zu überzeugen, bedeutet, die Augen vor der Realität zu verschließen. Dieser Eindruck entsteht, wenn man nicht klar benennt, dass die getroffenen wie die nicht getroffenen Entscheidungen im Rahmen des Umweltschutzes oder der Armutsbekämpfung von Kapital- und Profitinteressen geprägt sind. Der Staat ist eben nicht das viel erträumte „neutrale“ Organ, das über alle wacht, sondern ein Ausdruck der Klassenherrschaft. Die G7 sind kein missverstandener Club verantwortlicher Staatslenker:innen, sondern eine zentrale Institution der dominierenden westlichen imperialistischen Mächte, die ihre Interessen gegen die russische und chinesische Konkurrenz wie auch gegen die sog. Dritte Welt und die Massen der Ausgebeuteten und Unterdrückten durchsetzen wollen – und zwar mit allen Mitteln. Dass dies von NGOs ignoriert oder abgelehnt wird, ist kein Wunder, da sie selbst sich positiv auf eben jenen Staat und das kapitalistische Gesellschaftssystem beziehen, das er verteidigt.

Was also tun?

Statt sich auf Regierungschef:innen zu stützen und bei Appellen stehenzubleiben, bräuchte es eine Mobilisierung, die a) klare Forderungen gegen Krieg, Inflation und Umweltzerstörung international gibt und b) sich selbst als kämpfende und nicht nur beeinflussende Masse sieht. Mobilisierungen wie zum G7-Gipfel bringen immer auch das Problem mit sich, dass sie als einmaliges Event verpuffen. Deswegen muss man sie nutzen, um neue Menschen für eine längerfristige Perspektive wie den Aufbau einer internationalistischen Bewegung gegen Krieg und Krise zu gewinnen, die nicht nur nett bittet, sondern auch bereit ist, ihre Forderungen mit den Mitteln des Klassenkampfes durchzusetzen!




Eine bessere Welt: Wer kann sie erkämpfen?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 265, Juni 2022

Die Uhr, um unsere Lebensgrundlage, die Erde, zu retten tickt. Doch statt ernsthaft diese Probleme angehen zu können, tauchen Pandemien, Lebensmittelkrisen und Kriege auf, die zugleich unsere Aufmerksamkeit fordern. Im Moment scheint es also wenig Anlass für Hoffnung zu geben.

Die Krise der Linkspartei oder der Interventionistischen Linken, die Passivität vieler linker Organisationen werfen somit auch die Frage auf: Können wir überhaupt etwas verändern? Schließlich waren es doch diese Organisationen, die eine große Alternative bieten wollten, unsere Gesellschaft zu verändern, weil „die alten Wege“ nicht mehr klappten. Motivierend ist dies alles nicht. Aber den Kopf in den Sand zu stecken mag vielleicht für einige eine Option sein. Da dies allerdings nicht einmal vom Vogel Strauß praktiziert wird, sondern nur auf falsch interpretierten Beobachtungen beruht, wollen wir uns fragen: Was tun?

Die Zeit, in der wir leben

Ähnlich wie dieser Artikel beginnt der Aufruf zur Demonstration am 25. Juni gegen die G7 in München mit der Feststellung, dass wir nicht mehr so viel Zeit haben. Unter dem Motto „Klimakrise. Artensterben. Ungleichheit. Gerecht geht anders“ heißt es: „Die 2020er Jahre sind das letzte Jahrzehnt, in dem wir noch eine Klimakatastrophe und ein gigantisches Artensterben abwenden können.“

Wenn wir allerdings erfolgreich kämpfen wollen, reicht es nicht aus zu sagen, dass es „jetzt aber mal wirklich Zeit ist“. Bloßer Alarmismus und wissenschaftliche Fakten zu benennen können ein System nicht ändern, das darauf beruht, Profite zu erwirtschaften. Darüber hinaus müssen wir verstehen, unter welchen Bedingungen wir politisch aktiv sind.

Davon wird im von den NGOs durchgesetzten Aufruf natürlich nicht gern gesprochen, da dies bedeuten würde, dass man sich zum Krieg in der Ukraine klar positionieren müsste und nicht nur floskelhaft von „gemeinsamer Friedenspolitik“ reden dürfte, während man gleichzeitig ein Energieembargo und somit eine weitere Eskalation des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt fordert.

Kurz gesagt: Wir leben in einer Zeit eines historischen Umbruchs. Die Periode der Globalisierung, der scheinbar offenherzigen internationalen Zusammenarbeit nähert sich ihrem Ende. Dafür tritt die imperialistische Konkurrenz ganz offen zum Vorschein, – und sie wird die Zukunft prägen.

Doch was bedeutet das für uns? Unter welchen subjektiven Voraussetzungen gehen wir in die kommenden Auseinandersetzungen? Die Bedingungen, unter denen wir auf die Straße gehen, unterscheiden sich sehr von jenen vor 10 oder 20 Jahren. Der Arabische Frühling, der Widerstand in Griechenland und davor die Weltsozialforen und Antiglobalisierungsproteste haben viele Aktivist:innen geprägt und Massen von Menschen auf die Straße gebracht. Sie fanden in einer Zeit des Aufschwungs von Bewegungen statt und nahmen in einigen Ländern oder Regionen revolutionäre Ausmaße an. Doch gleichzeitig haben sie ihre selbstgesetzten Ziele nicht erreicht, ja sie endeten in Niederlagen. Auch wenn eine ganze Generation von Aktivist:innen heute keine Erinnerung mehr an solche politischen Ereignisse hat, prägen die Resultate dieser Kämpfe – insbesondere die unverarbeiteten Niederlagen – auch heute noch den Rahmen, in dem wir agieren.

Seit Jahren befinden wir uns in einer Phase der Defensive. Nach 2016 fand international ein Rechtsruck statt. Auch wenn es dagegen viele Proteste, ja, immer wieder auch massenhaften Widerstand gab, so veränderte das bislang nicht das Kräfteverhältnis. Der entscheidende Grund dafür ist eine historische Führungskrise der Arbeiter:innenklasse, die sich auf allen Ebenen der Bewegung auswirkt und auch mit einer organisatorischen und ideologischen einhergeht.

Dabei befindet sich der Kapitalismus selbst in einer tiefen Krise, die sich auch in einer Zunahme der verschärften imperialistischen Konkurrenz ausdrückt. Das bedeutet nicht nur Krieg wie in der Ukraine, sondern auch, dass die Verteilungsspielräume enger werden.

Zusammengefasst heißt das: Wir befinden uns derzeit in einer Situation der Defensive. Wir wehren eher Angriffe ab, als voranzugehen und Massen für eine neue Gesellschaft auf die Straße zu bringen, und wir müssen auch in Zukunft mit mehr Angriffen auf die Lohnabhängigen rechnen. Natürlich können und werden solche Abwehrkämpfe auch massive Gegenreaktionen, also offensive Möglichkeiten hervorbringen – wie zur Zeit in Sri Lanka, wo eine vorrevolutionäre Situation entstanden ist. Wie aber die Beispiele des Arabischen Frühlings oder der Generalstreiks in Griechenland gegen die EU-Diktate offenbaren, schaffen solche Zuspitzungen zwar die Bedingungen für eine Lösung der Probleme – sie lösen sie aber nicht grundsätzlich. Wenn wir eine andere Gesellschaft erkämpfen wollen, müssen wir uns daher darüber klar sein, welche Kraft überhaupt die Gesellschaft verändern kann und wie diese Kraft zu einem revolutionären Subjekt werden kann.

Wer verändert unsere Gesellschaft?

Die zur Demonstration am 25. Juni aufrufenden NGOs geben darauf eine, und zwar falsche, Antwort: „Die G7-Mitglieder müssen endlich entschlossen gegen die Klimakrise und das Artensterben handeln und Hunger, Armut und Ungleichheit bekämpfen.“

Das heißt jene, die das Problem lösen sollen, sind die Regierungen der führenden imperialistischen Mächte.

Dass viele der Themen auch auf bisherigen Gipfeln immer wieder auf der Agenda standen, ist den Verfasser:innen des Aufrufs klar. Deswegen schreiben sie: „Armuts- und Hungerbekämpfung standen bei G7-Gipfeln häufig auf der Tagesordnung. Doch es blieb bei leeren Worten. Das wollen wir ändern. Die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten müssen jetzt dafür sorgen, dass …“, und es folgen wieder Forderungen. Kurzum: Die Idee der NGOs besteht darin, dass man Appelle an die Regierungschef:innen richtet. Die ominöse Zivilgesellschaft soll dann Druck aufbauen.

Das verkennt gleich mehrere Aspekte: Zum einen, dass die Zeit, in der wir leben, von größerer Konkurrenz untereinander geprägt ist. Das bedeutet, dass die „gerechte“ Verteilung, die im Aufruf gefordert wird, objektiv schwerer wird. Warum sich gerade jetzt dies ändern soll, was in der Vergangenheit nicht passiert ist, bleibt uns der Aufruf schuldig zu erklären.

Zentraler ist jedoch, dass der bürgerliche Staat, in dem wir leben, keinesfalls ein neutraler Verwalter aller Interessen ist. Dies scheint zwar auf den ersten Blick so, letztendlich agiert der Staat aber als ideeller Gesamtkapitalist und vertritt das Interesse der Herrschenden.

Der nächste Punkt ist die Frage des Drucks und des Subjektes der Veränderung. Der Begriff der „Zivilgesellschaft“ stellt an der Stelle nichts Neues dar und wird auch in vielen linken Kreisen (bspw. Ende Gelände) als Grundlage für die Praxis genommen.

Entscheidend für uns ist jedoch, dass nicht nur für die NGOs, sondern für einen großen Teil der Linken, die „Zivilgesellschaft“ die Arbeiter:innenklasse als Subjekt der Veränderung abgelöst hat. Bei genauer Betrachtung entpuppt sich der so schön nebulöse Begriff „Zivilgesellschaft“ jedoch einfach als die bürgerliche Gesellschaft. Anstelle von Klassen tritt eine klassenübergreifende, „fortschrittliche“ Allianz verschiedener Klassen, deren Hauptträger:innen die Mittelschichten, das Kleinbürger:innentum und privilegierte Teile der Arbeiter:innenklasse sind, also jene Klassen und Schichten, die die bürgerliche Demokratie tragen. Ganz übersehen wird dabei, dass die bürgerliche Demokratie keine „neutrale“ Veranstaltung, sondern vor allem eine Herrschaftsform darstellt – und zwar eine des Kapitals. Dass sich Letzteres diese Herrschaftsform in der gegenwärtigen Periode immer weniger leisten kann, dass der Kampf um demokratische Rechte zu einem wichtigen Kampffeld geworden ist, ändert jedoch nichts am Klassencharakter „der“ Demokratie oder der „Zivilgesellschaft“.

Es ist aber kein Zufall, sondern folgerichtig, dass sich vor allem die NGOs, kirchliche Vereinigungen, diverse Interessensverbände, professionalisierte „soziale Bewegungen“ und Individuen als Träger der Zivilgesellschaft gerieren. Dass diese alle unterschiedliche Interessen haben, wird als Stärke verstanden, schließlich geht es darum, so viele Partner:innen wie möglich zu vereinen, um „das Ziel“ durchzusetzen. Dass dabei Kompromisse gemacht werden müssen, versteht sich von selbst, und darin liegt auch eines der zentralen Probleme. Nicht, weil Kompromisse an sich immer falsch wären, sondern weil der klassenübergreifende Charakter dieser Strategie Kompromisse zwischen Klassen erfordert.

Kritik an der Gesellschaft ist zwar erlaubt, ja erwünscht – sie findet ihre Grenze jedoch am Privateigentum und der bürgerlichen Ordnung. Dies wird am Ende des Aufrufs deutlich: „Mit zehntausenden Menschen werden wir am Samstag, dem 25. Juni in München friedlich auf die Straße gehen und für eine andere Politik der G7-Staaten eintreten.“

Was stellen wir dem entgegen?

Der Großteil der Lesenden wird sich an dieser Stelle nicht wundern, wenn nun die Arbeiter:innenklasse erwähnt wird. Dem Großteil der Gesellschaft scheint dieser Begriff jedoch nicht so geläufig. Die Arbeiter:innenklasse gebe es nicht mehr, ausgestorben sei sie wie die Dinosaurier. Im Aufruf der NGOs finden wir zwar andere gesellschaftliche Gruppen – die Lohnarbeiter:innen kommen aber nicht vor.

Dabei hat sich, rein faktisch betrachtet, die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten massiv vergrößert. Gemeint sind hiermit übrigens Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen und nichts anderes als ihre Arbeitskraft verkaufen können, um ihre Leben zu sichern – nicht nur jene, die in der klassischen Industrie arbeiten. Allein in China und Indien umfasst sie jeweils rund eine halbe Milliarde Menschen; hunderte Millionen von ihnen wurden erst in den beiden letzten Jahrzehnten proletarisiert. In den „alten“ imperialistischen Zentren schrumpft zwar die industrielle ArbeiterInnenklasse, nicht jedoch die Klasse der LohnarbeiterInnen insgesamt. Infolge der immer schärferen Konkurrenz verringert sich auch der Umfang der „traditionellen“ Arbeiter:innenaristokratie, während andere, ehemals privilegierte Schichten (z. B. Ingenieur:innen, Lehrer:innen) immer weniger die Vorzüge der lohnabhängigen Mittelschichten genießen und eine neue Arbeiter:innenaristokratie zu bilden beginnen.

Grundsätzlich wuchs die Arbeiter:innenklasse trotz Krisenprozesse weiter. Massiv zugenommen hat dabei der Teil der Klasse, der zu den „prekären“ Schichten gehört, der oft nicht in der Lage ist, seine Arbeitskraft zu ihren Reproduktionskosten zu verkaufen oder aufrechtzuerhalten. Dieser Prozess findet universell statt, wie auch die Ausdehnung des Billiglohnsektors infolge der Hartz-Gesetze und der „Agenda 2010“ beweist. Er betrifft aber auch im besonderen Maße die Lohnarbeit im „globalen Süden“, die in ihrer Mehrheit aus „Prekären“ wie Contract Workers besteht. In Ländern wie Indien und Pakistan machen diese rund drei Viertel der Klasse aus.

Bedeutung der Arbeiter:innenklasse

Zum einen können die Arbeiter:innen am effektivsten Druck erzeugen. Streik erzeugt ökonomischen Druck, der, anders als bloße Demonstrationen, Kapitalist:innen – und somit auch den Staatsvertrerter:innen – schadet. Zum anderen haben sie, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, ein einheitliches Interesse, und zwar brachenübergreifend. Dies ist darin begründet, dass sie keine Produktionsmittel besitzen und „frei“ sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen (oder zu verhungern). Im Rahmen der Lohnarbeit produzieren sie dann Mehrwert, den sich die Kapitalist:innen aneignen. Deswegen kann es zwischen den beiden Klassen auch keinen dauerhaften Ausgleich geben.

Wollen sie ihre Lage verbessern, dann sind sie gezwungen, sich zusammenzuschließen und für Verbesserungen zu kämpfen. So sind die ersten Gewerkschaften entstanden – als Ausdruck des gemeinsamen Kampfes für ökonomische Verbesserungen. Ebenso lässt sich daraus auch ableiten, warum die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Rolle an sich spielen kann: Da sie nicht von dem System profitiert, aber gleichzeitig eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung dessen spielt, darf sie letzten Endes um ihre eigene Rolle als Ausgebeutete zu beenden, nicht nur bei einfachen ökonomischen Verhandlungen stehenbleiben, sondern muss den Kapitalismus, die Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalist:innen, abschaffen. Anders verbessert sich ihre eigene Position nicht.

Statt also scheinbar viele verschiedene Kräfte zu sammeln, macht es Sinn sich auf die Arbeiter:innenklasse zu stützen, um die eigenen Forderungen effektiv durchzusetzen. Darüber hinaus zeigt sich also auch, dass es ein Mythos ist, dass es sich bei Arbeiter:innen nur um „den weißen Mann im Blaumann“ handelt. Nachdem die Frage, wer das Subjekt der Veränderung sein kann, diskutiert worden ist, kommen wir nun zu einer weiteren elementaren Frage.

Wie entsteht Bewusstsein?

Ein großer Teil der Bewegung gegen den G7-Gipfel hält den Sturz des kapitalistischen Systems für eine Utopie, für unmöglich. Selbst viele, die grundsätzlich für die Überwindung des Kapitalismus eintreten, gehen davon aus, dass eine Revolution nicht „auf der Tagesordnung“ stünde, das Kräfteverhältnis dafür zu schlecht sei. Daher wäre für die absehbare Zukunft nur eine längerfristige Politik der Reform oder der Transformation möglich. Die aktuelle Praxis – mit Blick auf die Linkspartei oder die SPD, die sich ja auch einmal dieses Ziel gesetzt hatte – sollte eigentlich Beweis genug sein, dass zumindest dieser Weg nicht der richtige ist. Aber hier ist es ähnlich wie mit „Alarmismus“ und „wissenschaftlichen Fakten“: Reine Erkenntnisse verändern allein nicht viel. Somit ist die Frage: Wie entsteht eigentlich Bewusstsein, insbesondere jenes, das das Ziel hat, den Kapitalismus zu zerschlagen?

Festzuhalten ist, dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus immer wieder verschiedene Formen von Widerstand und Kämpfen hervorbringen. Diese können sich bis zur Entwicklung revolutionärer oder vor-revolutionärer Situationen entwickeln. Die Beispiele dafür sind zahlreich wie der Arabische Frühling oder die aktuelle Situation in Sri Lanka. In der aktuellen gesellschaftlichen Lage kommt es insbesondere in Halbkolonien aufgrund der katastrophalen Versorgungslage auch immer wieder zu solchen Situationen. Ebenso gibt es immer wieder Streiks für bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne. Sie entstehen also scheinbar „spontan“, aber zur Revolution führen sie nicht.

Dies ist darin begründet, dass revolutionäres Klassenbewusstsein sich nicht in Bewegungen und erst recht nicht im rein gewerkschaftlichen Kampf vollständig entwickeln kann. Im Gegenteil, das spontane Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse, wie es im ökonomischen Kampf erscheint, ist selbst eine Form bürgerlichen Bewusstseins. Dies ist darin begründet, dass es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Die Frage, die in solchen Kämpfen gestellt wird, ist: Wie können wir unsere Verbesserungen erreichen? Dies ist an sich eine gute Frage, der Punkt ist aber, dass sie nicht automatisch den Kapitalismus in Frage stellen. Schärfere Auseinandersetzungen (Massenstreiks, Aufstände, politische Bewegungen) können in diese Richtung einer revolutionären Entwicklung drängen, indem sie Fragen nach der weiteren Perspektive, nach Strategie, Taktik aufwerfen, die in „friedlichen“ Zeiten für die Masse der Lohnarbeiter:innen (und der Gesellschaft insgesamt) abstrakt, überflüssig und unrealistisch erscheinen, ja erscheinen müssen. Daher muss revolutionäres Klassenbewusstsein von außen in die Klasse getragen werden. Damit ist nicht gemeint, dass es „Nicht-Arbeiter:innen“ tun, sondern dass eine politische Kraft, eine Partei, auf Basis einer wissenschaftlich fundierten Programmatik geschaffen werden muss. Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis im vollständigen Sinn des Wortes geben. Das bedeutet aber auch, dass das Kräfteverhältnis nie nur einfache Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse ist. Es ist vielmehr von den Kräfteverhältnissen innerhalb der Arbeiter:innenklasse und ihren Beziehungen zu anderen Klassen bestimmt.

Die Arabischen Revolutionen oder die revolutionären Möglichkeiten in Griechenland sind in den letzten Jahren gescheitert. In solchen Momenten werden auch immer indirekt die Machtfrage und die Frage, welche gesellschaftliche Kraft überhaupt die Gesellschaft umgestalten soll und kann, gestellt. Das reicht aber, wie wir oben festgehalten haben, nicht aus. Es fehlte an einer politischen Kraft, die die Massen in einer Revolution oder einer vorrevolutionären Periode zur Machtergreifung hätte führen können. So haben andere Kräfte dieses „Vakuum“ gefüllt, die Massen in die Niederlage geführt. Die passive Betrachtung des Kräfteverhältnisses als „strukturell gegeben“ entschuldigt letztlich die Fehler bürgerlicher, reformistischer oder kleinbürgerlicher Führungen, da die Niederlage nicht an deren falscher Politik und Strategie, sondern am ungünstigen Kräfteverhältnis gelegen habe.

Es muss also die Aufgabe von Revolutionär:innen sein, sich als Kraft zu organisieren, die solche Konflikte offen zuspitzt, die offenen Fragen aufzeigt und beantwortet: Mit welchen Mitteln kann die Kontrolle über bspw. die Versorgung gewährleistet werden? Wer soll darüber bestimmen?

Revolutionäres Bewusstsein entsteht nicht von allein, sondern aus Kämpfen, die über ihren Rahmen zugespitzt werden. Darüber hinaus ist es zentral, dass alle diese Auseinandersetzungen – wie überhaupt die Entwicklung des Kapitalismus – von einem internationalen Standpunkt aus betrachtet werden. Der Klassenkampf ist international, oder er ist letztlich gar nicht. Im Folgenden wollen wir uns mit diesen Punkten näher beschäftigen.

Was heißt das für unseren Kampf?

Um erfolgreich gegen die Auswirkungen des Kapitalismus, die so zahlreich im Aufruf der NGOs aufgezählt werden, dürfen wir es also nicht bei bloßen Worthülsen bzw. bei Appellen an Regierungen belassen. Wir müssen den Kampf gegen die Umweltzerstörung, des Artensterbens und Ungleichheit mit dem Kampf gegen die Ursache dieser Probleme selbst verbinden. Dabei sind für uns das Subjekt der Veränderung jene, die selbst davon betroffen sind und keine Profite aus der aktuellen Situation ziehen: die Arbeiter:innenklasse. Darüber hinaus ist es wichtig, die aktuelle Periode zu verstehen, und auch ein Gesamtprogramm zu entwerfen, das auf der Höhe der Zeit ist und das eine Antwort auf die großen Fragen von Krise, Krieg und drohender ökologischer Katastrophe liefert.

Dabei wird offensichtlich, dass es nur eine internationale Lösung geben kann. Keines der wichtigen Probleme kann letztlich national gelöst werden. Der Kapitalismus hat die Produktivkräfte im globalen Maßstab entwickelt, damit aber auch die Grundlage, ja die Notwendigkeit einer weltumspannenden Reorganisation der Produktion und Verteilung gelegt. Ebenso können revolutionäre Bewegungen, die in einzelnen Ländern ausbrechen, auch nur erfolgreich sein, wenn sie internationalisiert, ausgeweitet werden. Internationalismus ist daher für uns nicht nur ein Beiwerk zum Aufbau einer revolutionären Organisation hier, sondern von Beginn an integraler Bestandteil unserer Politik. Um eine revolutionäre Organisation aufzubauen, braucht es freilich nicht nur Klarheit über die strategischen Ziele – es braucht auch ein Programm, das diese in den aktuellen Kämpfen, mit den unmittelbaren Auseinandersetzungen vermitteln kann. Gerade weil unser Ziel der Sturz des Kapitalismus ist, muss der Kampf für die sozialistische Revolution mit dem Kampf für soziale und demokratische Forderungen verbunden werden. Ansonsten bleiben diese unvermittelt nebeneinanderstehen, bleibt die „revolutionäre“ Perspektive nur eine Gesinnung, keine praktische Politik. Um die Brücke vom Jetzt zur Zukunft zu schlagen, ist eine bestimmte Art von Programm, ein Übergangsprogramm notwendig. Auch kleine kommunistische Organisationen, die selbst noch weit davon entfernt sind, eine Partei zu sein, müssen sich der Aufgabe der Entwicklung eines solchen Programms stellen – und den Kampf für ein solches Programm mit dem Kampf für eine neue Internationale, die Fünfte Internationale verbinden.




Ukrainekrieg: Pazifismus zusehends hilflos

Jürgen Roth, Neue Internationale 263, April 2023

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte erst wenige Tage an, da löste sich die Schockstarre. Der größte Friedensprotest seit dem Irakkrieg 2003 führte europaweit mehrere Millionen Teilnehmende auf die Straßen, darunter mehr als eine halbe Million allein am 27. Februar in Berlin. Fast zeitgleich kündigte Kanzler Scholz nur wenige hundert Meter entfernt das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte an. Wahrlich eine Zeitenwende, die auch an Friedensbewegung und DIE LINKE nicht spurlos vorübergehen wird!

Alle Redner:innen befürworteten Sanktionen seitens der Bundesregierung. Eine Sprecherin aus der Ukraine forderte, ganz im Einklang mit der Linie ihrer Regierung, Waffen. Viel interessanter war, was in allen Reden nicht einmal benannt wurde. Es fiel kein Wort über die just zuvor beschlossene massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Osterweiterung der NATO und ihre Manöver an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Auch die jüngere ukrainische Geschichte seit den Euromaidanprotesten war keine Erwähnung wert. Den Ruf nach Sanktionen schluckte die Mehrzahl der Friedensbewegten also bereits. Damit meinte sie, sich weiterhin offensichtlich genug vom Militarismus abgrenzen zu können, schließlich stand das der Forderung nach Waffen (und deutscher Kriegsbeteiligung) und somit ihrem pazifistischen Image förderlich entgegen – einstweilen!

Dilemma des Pazifismus

Wir sehen also, dass der Pazifismus in letzter Konsequenz gegen sein eigenes Mantra verstoßen muss, sobald der erste Schuss fällt. Pazifist:innen teilen alles Bürgerliche – außer Kriegsgewalt. Diese erscheint ihnen nicht als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als aus den Widersprüchen der Klassengesellschaft erwachsen, sondern als unerklärlicher Betriebsunfall der Geschichte, Sieg des Bösen über das Gute im Menschen.

Bricht der Krieg entgegen allen pazifistischen Formeln doch aus, so bleibt entweder das letztlich abstrakte Beschwören des Friedens – oder man schließt sich notgedrungen jener Seite an, die das „Gute“ zu verkörpern scheint, in unserem Fall der Bundesregierung und der NATO. Damit begibt sich der Pazifismus auf die Rutschbahn nach rechts – zum Chauvinismus und entwaffnet sich trotz aller Friedensbekundungen vor dem Kriegstreiben der „eigenen“ Regierung.

Die reformistischen Parteien (SPD, Linkspartei) und viele zentristische Organisationen der Arbeiter:innenbewegung teilen entweder Chauvinismus oder Pazifismus bzw. schwanken zwischen diesen, weshalb wir auch von Sozialchauvinismus bzw. -pazifismus sprechen. Geht ersterer spätestens mit Kriegsausbruch offen ins Regierungslager über, appelliert letzterer an den Willen zum Friedensschluss – mitten im Krieg! Der Status quo ante soll also wieder hergestellt werden, das Pulverfass der imperialistischen Widersprüche unversehrt voll bleiben – nur ohne Lunte! Eine unabhängige Klassenpolitik, die auf die Niederlage der „eigenen“ Regierung keine Rücksicht nimmt, lehnt der Sozialpazifismus ab. Der Logik „töten oder getötet werden“ kann er sich nicht entziehen. Er gerät damit zu einer „alternativen“ Form der Vaterlandsverteidigung, die große Teile bald auf die Abgleitfläche zur echten rutschen lässt.

Allerdings müssen wir zwischen dem ehrlichen, berechtigten Pazifismus Lohnabhängiger aus Angst vor Krieg und in Solidarität mit den ukrainischen Massen und dem heuchlerischen der Kirchenfürst:innen, Politiker:innen und Journalist:innen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir unter ihnen unsere Verbündeten im Kampf gegen die Kriegsgräuel suchen müssen, nicht in Parlamenten, Amtsstuben und Militär. Dazu ist jedoch ein politischer, geduldiger Kampf gegen die grundlegenden Fehler und Schwächen dieser Ideologie unerlässlich.

Anders als die (Sozial-)Pazifist:innen unterscheiden wir zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kriegen. So ist der Bürger:innenkrieg zur Erringung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse ebenso zu unterstützen wie der Kampf einer unterdrückten Nation um Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Abtrennung von Gebieten, wenn deren Bevölkerungsmehrheit das will. Im imperialistischen Krieg treten wir dagegen für den revolutionären Defaitismus ein, den Klassenkampf ohne Rücksicht auf die Niederlage der „eigenen“ Regierungen.

Aber sollten die Arbeiter:innen nicht einen reaktionären Krieg verhindern? Ja, unbedingt! Aber mit eigenen Mitteln des Klassenkampfes, nicht mit zahnlosen Appellen an die Regierungen!

Katalysator Kriegsfrage

In Zeiten verschärften Konflikts um die Neuaufteilung der Welt geraten auch die halbkolonialen Länder wie die Ukraine zusehends ins Gravitationsfeld der einen oder anderen imperialistischen Machtkonstellation. Das gilt leider auch für den (Sozial-)Pazifismus. Kann der Ausbruch eines Kriegs nicht verhindert werden, ist das Friedenslatein schnell am Ende. Jetzt ist der Klassenkampf noch unmöglicher als zuvor geworden, scheint es. Sind nicht die jungen Arbeiter:innen an der Front? Gebietet nicht der Krieg die Einstellung aller unabhängigen Klassenaktivität? Denn diese könnte doch die Niederlage der „eigenen“ Regierung heraufbeschwören? Und wäre das nicht gleichbedeutend, einseitig das Werk der Kriegsgegner:innen zu verrichten?

Da Imperialismus die Konzentration des Kapitals und herrschende Politik konzentriertester Ausdruck gesamtkapitalistischer nationaler Interessen bedeuten, spitzt der Krieg alle Widersprüche zu. Das ist der Hintergrund, warum Pazifist:innen ins (sozial-)chauvinistische Lager überlaufen müssen, wenn sie nicht die Niederlage der „eigenen“ Regierung in Kauf nehmen wollen.

DIE LINKE: haltloser Pazifismus

Das Milieu, aus dem sich Friedens- wie manch andere humanitäre Bewegung (Seebrücke, NGOs) vorrangig rekrutieren einschließlich der Linkspartei, wird ein politisches Erdbeben erleben.

So diskutierte die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus am ersten Märzwochenende und deren Co-Vorsitzender Carsten Schatz forderte: „Sofortiger Rückzug der russischen Truppen!“ Die richtige Forderung wird freilich zur Anpassung an die Bundesregierung, wenn jede Kritik an der NATO-Politik ausbleibt. Kultursenator Lederer bezichtigt Putin des „offensiven Bruchs mit der europäischen Friedensordnung“, für die Deutschland und die EU Verantwortung zu übernehmen hätten.

Ohne Namen zu nennen, geht er ans vermeintliche Eingemachte der Partei: antimilitaristische Haltung, Position zur NATO, zu Russland: „Lasst es einfach weg!“ Pankows Bezirksbürgermeister Benn sieht ein „Selbsterschrecken“ in den eigenen Reihen, ein tiefes „Selbstbefragen einer ganzen Reihe von Positionen“ am Horizont aufziehen. Sozialsenatorin Kipping legt nach: „Keine Verharmlosung von Putin mehr. Putin ist nun mal Feind der Linken.“

Für die Ex-Parteivorsitzende steht der Hauptfeind exklusiv im anderen Land. Mögen ihr beim alljährlichen Gedenkritual an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs die Nelken in der Hand verdorren! Tobias Schulze bemerkt scheinheilig: „Was für die Rüstung geht, geht offenbar für die städtische und soziale Infrastruktur nicht, nämlich die Schuldenbremse auszusetzen.“ Gäbe es also die Schuldenbremse nicht, so drängt sich auf, wäre die Aufrüstung für DIE LINKE zustimmungsfähig. Welch‘ prinzipienfester Antimilitarismus!

Die Abgrenzung von wirklichen oder vermeintlichen „Putinversteher:innen“ erfüllt beim rechten Flügel der Linkspartei längst nicht mehr allein die Funktion einer Kritik an der Verharmlosung des russischen Imperialismus – vielmehr sollen so alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die an einer angeblichen starren NATO-Ablehnung festhalten wollen. Es ist damit zu rechnen, dass der starke „Reformer“-Flügel um die sog. Regierungssozialist:innen, welcher sich offen prowestlich und hinter vorgehaltener Hand pro-NATO aufstellt, zum Angriff auf die in die Jahre gekommenen traditionslinken, sozialpazifistischen Grundsätze blasen wird, denen er sich bislang unterordnen musste. Die Ukrainekrise bringt nun neue Bewegung in den Transformationsprozess der Linkspartei nach rechts, während der linke Flügel noch weiter in die Defensive gerät. Es rächt sich heute, dass über Jahre Pazifismus, humanitäre Friedensphrasen und das Beschwören von Völkerrecht und UNO als Ultima Ratio der internationalen Ordnung als „Antimilitarismus“ verklärt wurden. In Wirklichkeit wurde nur das Fehlen einer antiimperialistischen und internationalistischen Politik schöngeredet, was heute dem rechten Flügel der Partei in die Hände spielt.

Interventionistische Linke (IL)

Doch nicht nur die reformistische Linke gerät in schweres Fahrwasser. Auch die größte Organisation der „radikalen Linken“, die IL, gerät ins Studeln.

In ihrem Aufruf vom März 2022 verurteilt sie den russischen Angriff. Gleichzeitig lehnt sie eine Parteinahme im Konflikt ab: „Wir lehnen die falschen Alternativen ab, weil die behauptete Alternativlosigkeit jeden Raum für Widersprüche und Kritik verschließt. [ … ] Wir entziehen uns der Identifikation mit staatlicher Macht. Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen [ … ], wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.“

Leider „entzieht“ sich die IL auch einer klaren revolutionären Antwort, wie der Krieg gestoppt werden kann. Sie spricht sich für die Unterstützung der „Menschen vor Ort“ aus? Doch worin soll diese bestehen? Welche Politik sollen die Arbeiter:innenklasse und Linke in Russland oder in der Ukraine vertreten? Über diese Fragen schweigt sich die IL aus und verbleibt letztlich bei einer sicherlich löblichen, politisch aber unzureichenden humanitären Unterstützung von Opfern des Krieges.

Darüber hinaus wendet sie sich gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral, bezeichnet den Krieg „als vorläufige[n] negative[n] Höhepunkt von weltweit immer schärfer werdenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten.“ Sie tritt zu Recht gegen die Aufrüstung der Bundeswehr ein, für Solidarität mit Geflüchteten aller Hautfarben und Herkunft aus der Ukraine, Kriegsdienstverweiger:innen, Friedensaktivist:innen, Frauen und LGBTIQ, Genoss:innen der sozialen, linken, sozialistischen und anarchistischen Bewegungen aus beiden kriegführenden Ländern.

Richtig ist auch ihre Aufforderung, aktiv zu werden, eine Bewegung gegen Militarismus und Krieg aufzubauen, die lebendig, links und internationalistisch agieren soll. Doch für die Grundlage eines solchen Antikriegsbündnisses macht sie keinen Vorschlag. Stattdessen prophezeit sie (fälschlich): „Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung finden in der Klimagerechtigkeitsbewegung einen neuen, starken Gegner. [ … ] Bringen wir zusammen, was zusammengehört: die Kämpfe gegen alle Grenzen, gegen Imperien und Kriege, gegen Klimakrise, Patriarchat und Kapitalismus.“ Mit dämlichen Parolen wie „Heizung runter für den Frieden!“, „Pullover statt Erdgas!“, am 24. März zu sichten, dürfte das Zusammenbringen arg schwierig ausfallen.

So wenig selbst blau-gelbe Pullover eine Antwort auf drohende Energiearmut liefern, so großzügig sieht die IL über die Untauglichkeit einer Bewegung im Sog des Vaterlandsverteidigungstaumels für ein Antikriegsbündnis hinweg. Die IL spielt ein Chamäleon, das hinter „Bewegungen“ unkritisch hinterher trabt, statt ihnen eine antikapitalistische Perspektive anzubieten. Die Farbe Rot verblasst gerade, wenn’s drauf ankommt!

Dahinter steckt nicht nur ein mehr oder weniger hoffnungsfroher „Optimismus“ – es wird auch das Fehlen jeder Klassenpolitik deutlich. Die Frage, wie die Lohnabhängigen, wie Gewerkschafter:innen, die reformistisch dominierte Arbeiter:innenbewegung für eine Antikriegsbewegung gewonnen werden können, stellt sich die IL erst gar nicht. Den Spitzenbürokrat:innen im DGB, bei der Linkspartei und erst recht in der SPD wird’s recht sein. Uns nicht.




G7-Gipfel 2022: Spaltung statt Mobilisierung?

Veronika Schulz, Neue Internationale 263, April 2022

Turnusgemäß findet vom 26. – 28. 6. 2022 wieder ein G7-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft statt. Tagungsort ist wie bereits vor 7 Jahren das Luxushotel auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen. Die Klimapolitik, Weltwirtschaft und der weitere Umgang mit der Corona-Pandemie sollten eigentlich im Zentrum des diesjährigen Treffens der Staatschefs der führenden westlichen Industrienationen stehen. Der Kampf um die Ukraine wird es jedoch prägen. Mehr denn je wird der Charakter der G7 als Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt in den Vordergrund drängen. Schien es noch vor einigen Jahren, als wäre das Format nicht mehr „zeitgemäß“, so gewinnt der Gipfel wieder an Bedeutung – und zwar als mehr oder weniger unverhohlenes Treffen einer Mächtegruppe, die sicherstellen will, dass sie auch die zukünftige Weltordnung bestimmt.

Die sieben Staaten stehen allesamt ganz weit oben auf der Liste der größten Klimakiller, engstirnigsten Vertreter des Impfstoffnationalismus und größten Militärmächte der Welt – um nur einige Eckdaten der Leistungen dieser illustren Runde aufzuzählen. Und ausgerechnet sie präsentiert sich als „Retterin“ des Klimas, der Gesundheit, der Weltwirtschaft, von „Freiheit“ und „Demokratie“.

Umso wichtiger ist deshalb auch die Gegenmobilisierung durch alle linken und progressiven Kräfte gegen diesen erlesenen Club führender kapitalistischer Nationen, deren Reichtum auf der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse und der halbkolonialen Welt beruht.

Wer mobilisiert wogegen?

Bisher haben sich mehrere Dutzend Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem ökologischen, kommunistischen, kapitalismuskritischen, antirassistischen und antimilitaristischen Spektrum zu einer Plattform zusammengefunden, die das Treffen der G7 nicht ungestört über die Bühne gehen lassen will. Neben Parteien wie DKP und DIE LINKE sind bisher u. a. auch mehrere lokale FFF- und XR-Gruppen, bundesweite Organisationen wie SDAJ, Linksjugend [’solid], SAV, ISO, Arbeiter:innenmacht, Revolution, Aktivist:innen aus der Mieter:innenbewegung, Perspektive Kommunismus, der Funke und das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus beteiligt.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegenmobilisierung, anders als vor sieben Jahren oder auch gegen den G-20-Gipfel in Hamburg, letztlich von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) faktisch dominiert wird, darunter Greenpeace, BUND, Campact, WWF, Oxfam, Naturfreunde, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und attac.

Rolle der NGOs

Schon zu Beginn hat sich in den Gesprächen ihr Alleingang angedeutet. Sie wurden nicht müde zu betonen, dass sie ihren Status als gemeinnützige Organisationen riskieren, sollten sie gemeinsam mit Parteien und „Linksradikalen“ zu Aktionen aufrufen. Ein weiterer Streitpunkt ergab sich in der Frage der Gewalt bzw. einer klaren Distanzierung der NGOs von Gruppen, die militante Protestformen nicht bereits im Vorfeld ausschließen.

Über mehrere Wochen kam Gegenmobilisierung daher nicht voran, bis am 6. März die Karten auf den Tisch gelegt wurden. Von den NGOs wurden alle übrigen Gruppen davon in Kenntnis gesetzt, dass die anvisierte Großdemonstration am 25. Juni in München, also die sicherlich größte Aktion, von ihnen selbst geplant wird. Der Rest könne sich jedoch gerne einem Aufruf anschließen.

Man sei sich dessen bewusst, so die Vertreterin von Greenpeace und Sprecherin der an der Plattform beteiligten NGOs, dass man an dieser Stelle undemokratisch agiere, es bleibe ihnen aber aus genannten Gründen keine andere Wahl. Die Demonstration wird nun von einem Trägerkreis allein aus NGOs organisiert und „verantwortet“. Ergänzt soll dieser durch einen „Unterstützerkreis“ werden, der Einzelpersonen verschiedener Milieus einbindet – natürlich nur nach einem vorhergehenden Check durch die NGOs.

Ihr provokatorisches und putschistisches Vorgehen führt nun erneut – wie bereits im Vorfeld des G20-Gipfels 2017 in Hamburg – zu einer Schwächung sowohl der Proteste als auch der Mobilisierung. Doch damals war es ihnen nicht möglich, das Bündnis zu übernehmen. Diesmal konnten sie die Großdemonstration kapern.

Wir verurteilen dieses undemokratische Vorgehen und die bewusst herbeigeführte Spaltung aufs Schärfste, nimmt es doch allen weiteren Beteiligten die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die politische Gestaltung der zentralen Großdemonstration in München zu nehmen.

Das Manöver der NGOs, selbst ein direkter Kotau vor Regierung und reaktionärer Gesetzgebung, hat freilich weitgehendere politische Gründe. Während die linken Kräfte die Legitmität der G7 selbst zurückweisen und deren Gipfel als Treffen einer imperialistischen Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt begreifen, betrachten erstere die G7 ganz wie die Bundesregierung als (mögliche) Partnerinnen bei der Verbesserung der Welt. Die Kontrolle von Demo, Aufruf und politischer Ausrichtung soll also nicht nur die zukünftigen Spendenkassen von Greenpeace und Co. schützen, sondern vor allem auch all jene Kräfte marginalisieren, die die G7 und kapitalistische Weltordnung grundsätzlich ablehnen!

Aus diesem Grund müssen die Erwartungen an eine schlagkräftige Protestbewegung schon jetzt relativiert werden. Die NGOs bringen zweifelsohne Geld und weitere Ressourcen auf, behalten sich aber das Recht vor, die Demo nach ihren Wünschen auszurichten. Alle anderen Gruppen und Organisationen sind gewissermaßen die nützlichen Idiotinnen, die die wirkliche Mobilisierungsarbeit übernehmen. Zusammengefasst dürfen sie also die Hauptlast tragen, während die NGOs ihre finanziellen und personellen Ressourcen aufbieten und die Hoheit über die politische Ausrichtung der Demonstration ausüben.

Eigenständige Mobilisierung

Ein schlagkräftiges „Bündnis“ sieht anders aus. Trotz Dominanz der NGOs wäre es jedoch ein Fehler, die Demonstration am 25. Juni in München rechts liegenzulassen. Trotz ihrer mutmaßlich politisch kleinbürgerlichen bis reformistischen Ausrichtung werden wahrscheinlich Zehntausende nach München kommen. Diese müssen wir als Revolutionär:innen, Antikapitalist:innen, antiimperialistischen und Klassenkämpfer:innen zu erreichen versuchen. Daher werden wir auf jeden Fall mit einem eigenen Aufruf, eigenen Parolen, eigenem Material dafür mobilisieren. Wir werden uns auch der geplanten Gegendemonstration am 26. Juni in Garmisch-Partenkirchen anschließen und hoffen, dass das geplante Protestcamp und Workshops zur Diskussion und Aktionsplanung stattfinden können.

Angesichts der aktuellen krisenhaften Zuspitzung der Weltordnung und Weltwirtschaft müssen wir die Gegenmobilisierung nutzen, um eine Bewegung gegen Krise, Militarisierung und Krieg aufzubauen. Wir brauchen eine massenhafte Mobilisierung in den Betrieben, Schulen, Vereinen, an den Universitäten und in den Kulturstätten – unsere Organisierung muss jetzt beginnen!




Nach Kassieren des Mietendeckels – weiter Hoffen auf Rechtssicherheit?

Karl-Heinz Hermann, Infomail 1146, 16. April 2021

Eine Anmerkung zur Pressemitteilung des Bündnisses „Deutsche Wohnen & Co enteignen – Spekulation bekämpfen“ (DWE) scheint uns notwendig. In einer ersten vom 15. April schreibt DWE:

„Das Bundesverfassungsgericht hat den Berliner Mietendeckel (MietenWoG Bln) für ,insgesamt nichtig’ erklärt. Das Urteil fällt damit besonders drastisch aus. Als wesentliche Begründung führt es die abschließende Regelung des Mietrechts durch den Bund an.“

Und weiter:

„Das Scheitern des Mietendeckels ist eine Enttäuschung für alle Mieter:innen in Berlin. Der Deckel hatte der Stadt eine Atempause verschafft, die das Bundesverfassungsgericht jetzt jäh beendet hat. Dieses Scheitern verstehen wir zugleich als weiteren Ansporn: Nur die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum bieten die Perspektive für ein Berlin mit bezahlbaren Mieten – jetzt erst recht,“ ordnet Jenny Stupka, Sprecherin der Initiative, das Urteil ein.

„Wir sind wütend darüber, dass die Berliner:innen den explodierenden Mieten jetzt wieder schutzlos ausgesetzt sind. Die Empörung in der Stadt ist groß und wir sind überzeugt, dass sich nun noch sehr viel mehr Menschen unserer Initiative anschließen werden als ohnehin schon. Alle sind eingeladen, sich an unserer Kampagne zu beteiligen”, fügt Rouzbeh Taheri, Sprecher der Initiative, hinzu.“

Wir möchten die Richtigkeit von Jenny Stupkas Aussage unterstreichen, doch es sei angemerkt:

  • Der Mietendeckel betrifft knapp achtmal mehr Wohnungen als die, um die es im angestrebten Volksentscheid von DWE geht.
  • Die geforderte „Vergesellschaftung“ ist im Grunde eine Verstaatlichung, zudem noch keine entschädigungslose, in Form einer angestrebten Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR).
  • „Enteignung und Vergesellschaftung“, wie DWE sie fordert, ist auf einen kleinen Sektor des Wohnungsmarkts beschränkt.

Was tun?

So unterstützenswert die Initiative trotz ihre Grenzen und politischen Schwächen gerade in der Frage der Entschädigung ist, wirft das Skandalurteil von Karlsruhe auch die Frage auf, wie DWE auf möglich rechtliche Hürden reagieren wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel kassiert, warum soll es dann nicht auch den weitergehenden Eingriff in das Eigentumsrecht zurückweisen?

DWE rief, wie die gesamte MieterInnenbewegung, zur Demonstration, am 15. April 2021 auf. Das war sehr gut und richtig – aber gerade angesichts möglicher rechtlicher Hürden, denen die Initiative selbst ausgesetzt sein wird, fragt sich: Das war’s nun? Wie weiter? Was soll der Senat nach Dafürhalten von DWE unternehmen?

In derselben Pressemitteilung heißt es dazu:

„Die Initiative betont gegenüber dem Mietendeckel-Gesetz die rechtliche Sicherheit ihres Vorschlags. Die gesamte juristische Kommentarliteratur, einschließlich Gutachten der wissenschaftlichen Dienste von Bundestag und Abgeordnetenhaus sowie der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, bestätigt die juristische Zulässigkeit des Enteignungs-Volksbegehrens. Einer unmittelbaren Umsetzung bereitet die Initiative mit der Vorlage eines eigenen Vergesellschaftungsgesetzes den Weg. Diese soll in der ersten Mai-Hälfte der Öffentlichkeit vorgestellt werden.“

Und weiter:

„Die Strategie des Senats, die Preisexplosion durch den Mietendeckel in den Griff zu bekommen, ist gescheitert. Wir erwarten, dass alle Senatsparteien diese Realität anerkennen und die rechtssichere und haushaltsneutrale Alternative unterstützen: die Enteignung und Vergesellschaftung großer Immobilien-Unternehmen.“

„Rechtliche Sicherheit“ seines Vorschlags? Wähnt sich DWE etwa auf dem Trockenen gegenüber der Justiz? Stärkt das Urteil seinen Belang vielleicht sogar? Soll der Berliner Senat „die Realität anerkennen“ und in sich gehen? Wollen sich ihm die juristisch kompetenten Fachkräfte des Bündnisses zukünftig als RechtsberaterInnen anbieten, damit es auch beim BVerfG klappt?

So richtig es ist, vom Senat die Enteignung der Immobilien-Unternehmen zu fordern, so richtig es ist, alle rechtlichen Möglichkeiten für die Enteignung auszuschöpfen, so problematisch ist die der Presserklärung zugrunde liegende Einschätzung des Urteils von Karlsruhe. Der Mietendeckel ist letztlich nicht daran gescheitert, dass er zu wenig „rechtssicher“ gewesen wäre. Vielmehr war es das blinde Vertrauen in die Gerichte, die, für bürgerliche Parteien nicht weiter verwunderliche Vorstellung, dass die Justiz über den Klassen stehe, dass sich in ihr kein bestimmter Klassenstandpunkt – in diesem Fall der Immobilien-Unternehmen und ihrer Parteien – durchsetzen würde.

Es soll daher auch nicht weiter verwundern, dass der Senat – einschließlich der reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien SPD und Linkspartei – über keinen Plan B zur Verteidigung des Mietendeckels verfügt, nachdem dieser höchstgerichtlich gekippt wurde.

Ein ähnliches Problem droht auch DWE, sollte der Volksentscheid erfolgreich sein. Selbst jene, die dies für unwahrscheinlich halten, können diese Gefahr nach dem jüngsten Urteil von Karlsruhe nicht einfach vom Tisch wischen.

Im Gegenteil. Wir können und müssen daraus lernen. Wir brauchen einen Plan B – und zwar nicht erst, falls es im September schiefgeht, falls Senat oder Bund die Verfassungsgerichtskeule auspacken. DWE braucht vielmehr jetzt einen Plan B, weil die UnterstützerInnen, die SammlerInnen und Kiezteams sowie generell die Berliner MieterInnen vorbereitet werden müssen, dass es notwendig werden kann, ja wahrscheinlich wird, dass eine Enteignung der großen Immobilienkonzerne mehr erfordert als jene Mittel, die das enge Korsett der bürgerlichen Rechtsordnung und Öffentlichkeit, also die Institutionen der herrschenden Klasse, zulassen.

Mehr zur aktuellen Perspektive: Bundesverfassungsgericht kassiert Berliner Mietendeckel, aber der Kampf geht weiter



Internationaler Frauenkampftag 2021

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1141, 7. März 2021

Das Jahr 2020 wird lange in Erinnerung bleiben wegen des enormen Ausmaßes der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Krise, die durch Covid-19 ausgelöst wurde. Es sollte auch in Erinnerung bleiben, weil es in den krassesten Ausmaßen aufdeckte, wie der Kapitalismus arbeitende Frauen unterdrückt und ausbeutet. Die Tatsache, dass Frauen in wichtigen, aber schlecht bezahlten und prekären Jobs eine große Rolle spielen, dass das familiäre Zuhause allzu oft der Ort häuslicher Gewalt ist, die während der Pandemie in die Höhe geschossen ist, und dass Regierungen und UnternehmerInnen am Ende der Krise versuchen werden, sie für die Kosten der Krise aufkommen zu lassen, zeugt davon.

Frauen haben während der Krise bereits den höchsten Preis gezahlt, sei es als Gesundheitspersonal an der Front in Krankenhäusern und Pflegeheimen oder durch die verstärkte Kinderbetreuung, einschließlich des „häuslichen Lernens“, wo Schulen geschlossen wurden. Letzteres ist natürlich unbezahlt. Schlimmer noch, sie haben schwerwiegende Einkommensverluste erlitten, wenn sie gezwungen waren, ihre Jobs im Gastgewerbe, im Einzelhandel oder in der Büroarbeit aufzugeben, alles Berufe, in denen die Belegschaften überwiegend weiblich sind. In der Zwischenzeit waren es GroßkapitalistInnen wie Jeff Bezos von Amazon, die sich bereichert haben, indem sie ihre Belegschaften extrem ausgebeutet haben, während sie ihnen in den meisten Ländern das Recht verweigerten, einer Gewerkschaft beizutreten.

In den ersten Wochen der Pandemie wurden Frauen im Gesundheitswesen und in „systemrelevanten Industrien“ von ihren ArbeitskollegInnen beklatscht, aber der einzige „Dank“, den sie von ihren Bossen bekommen werden, sind langfristige Lohneinbußen oder dauerhafte Arbeitslosigkeit. Im so genannten globalen Süden, in Fabriken und besonders ausbeuterischen Betrieben, so genannten Sweatshops, sowie in den Dörfern, sind Frauen mit gefährlicher Überbelegung und unhygienischen Bedingungen konfrontiert, was die Ausbreitung und Schwere der Pandemie fördert. Angesichts des schrecklichen Mangels an medizinischer Versorgung werden sie noch lange auf eine Impfung warten müssen. Bäuerinnen und ihre Familien in Indien sind bereits von der Enteignung ihres kleinen Landbesitzes während einer neuen Welle der Landnahme durch Großkonzerne und GroßgrundbesitzerInnen betroffen.

Wir müssen uns also darüber im Klaren sein, dass die Pandemie und die Abschottungsmaßnahmen einen gefährlichen Rückschlag für die Errungenschaften darstellen, die Frauen in den letzten Jahrzehnten am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft erreicht hatten. Sie kamen zu den Auswirkungen von Sparmaßnahmen und Privatisierungen auf öffentliche Dienstleistungen wie Kindergärten, Frauenhäuser und die Löhne und Personalausstattung derer, die in diesen Einrichtungen arbeiten, hinzu. Wenn PolitikerInnen davon sprechen, „wieder besser aufzubauen“, dann sind es diese lebenswichtigen Dienste, für deren Wiederaufbau und Erweiterung wir kämpfen müssen.

Darüber hinaus werden die bürgerlichen Regierungen, anstatt auch nur die einfachsten Lehren aus der Pandemie zu ziehen, wahrscheinlich den Pflege-, Bildungs- und Gesundheitssektor weiter privatisieren. Es besteht die reale Gefahr, dass reaktionäre Kräfte die Frauen dazu drängen werden, in das Familienheim „zurückzukehren“, um dort ein erhöhtes Maß an unbezahlter Arbeit zu verrichten, die Arbeitskraft der ArbeiterInnen zu reproduzieren und eine neue Generation heranzuziehen, die ihrerseits ausgebeutet wird. Diese Gefahr weist auf die Lösung hin, die MarxistInnen immer befürwortet haben: die Vergesellschaftung der Hausarbeit und die Einbeziehung der Frauen in das gesamte Spektrum der (gleich entlohnten) Erwerbsarbeit.

Die Kombination aus Wirtschaftskrise und Pandemie hat den klaren Zusammenhang zwischen Frauenunterdrückung und Klassenausbeutung im Kapitalismus offengelegt. Das kommende Jahr wird entscheidend dafür sein, ob dies zu einem erfolgreichen Wiederaufleben der Frauen- und Klassenkämpfe gegen die Bosse und ihre Regierungen oder zu historischen Niederlagen führen wird.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Frauen keine passiven Opfer von Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung sind, sondern dass sie diese aufgedeckt und sich dagegen gewehrt haben. Die heroischen Kämpfe von Frauen an vorderster Front von Bewegungen wie #MeToo, Ni Una Menos, dem Frauenstreik, Black Lives Matter, aber auch die Bauern- und Bäuerinnenproteste in Indien und Bewegungen für soziale und demokratische Rechte in Weißrussland, Hongkong, Myanmar oder im Libanon zeigen, dass es guten Grund zur Hoffnung gibt. Diese Hoffnung, so denken wir, muss eine Perspektive in einem internationalen Kampf mit dem Ziel der vollständigen Vergesellschaftung der reproduktiven und produktiven Arbeit finden.

Dies kann natürlich nur mit der Wiederbelebung oder Bildung von Organisationen einer kämpferischen Klassenpolitik erreicht werden. In den letzten Jahren wurden viele wichtige Schritte zur Entwicklung solcher Organisationen unternommen. Viele kämpfende Frauen sehen sich zunehmend als Teil einer globalen Bewegung sowohl gegen das Patriarchat als auch gegen den Kapitalismus.

Wir denken, dass dies die Vorbereitung einer globalen Massenkonferenz der Frauenbewegungen erfordert, ähnlich dem Geist der frühen Kontinental- und Weltsozialforen, die die Erfahrungen der verschiedenen arbeitenden Frauenbewegungen zusammenführt, aber mehr noch, ihnen eine gemeinsame Richtung durch gemeinsam vereinbarte Aktionen gibt. Dies könnte ein starkes Signal um die ganze Welt senden.

Die Genossinnen und Genossen der Liga für die Fünfte Internationale tun ihr Bestes, um zum Aufbau einer solchen Bewegung beizutragen. Sie würden ebenfalls alles tun, um für eine alternative Vision der Gesellschaft, den Sozialismus, zu streiten, um Frauenbefreiung, ArbeiterInnenbefreiung, Befreiung für lesbische, schwule, trans- und nicht-binär geschlechtliche Menschen zu erreichen. Wenn sich Tausende von internationalen AktivistInnen persönlich und online versammeln würden, um gemeinsam den Weg vorwärts zu diskutieren, würde dies die Kämpfe, die überall auf der Welt stattfinden, stärken, indem es ihnen Solidarität und Unterstützung bringt.

Wir rufen diejenigen, die mit diesem Vorschlag einverstanden sind, auf, mit uns und untereinander Kontakt aufzunehmen, um zu besprechen, welche ersten Schritte wir gemeinsam unternehmen könnten, um mehr und größere Kräfte wie die Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien und ganze Frauenbewegungen, wie den Frauenstreik, für ein solches Ziel zu gewinnen.

Die Proteste am 8. März dieses Jahres sind daher besonders wichtig, da sie eine Demonstration der Stärke und des Selbstbewusstseins über die Notwendigkeit, sich in einer der größten Krisen des Kapitalismus zu wehren, darstellen werden.