80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2

Leo Drais, Neue Internationale 271, Februar 2023

Am 2. Februar 1943 kapitulierten die ausgehungerten und halb erfrorenen Reste der 6. Armee im Kessel von Stalingrad. 80 Jahre später, in einer Zeit, in der der Krieg um die Neuaufteilung der Welt wieder auf europäischem Boden tobt, wird von allen beteiligten Seiten die Erinnerung an die Vergangenheit für den eigenen Zweck in die Gegenwart geholt. Es ist das Heute, in dem die Geschichte von gestern geschrieben wird.

Die russische Propaganda bemüht den Heldenmut der Roten Armee, bezieht sich auf die einstige sowjetische Größe, um im Krieg gegen die angeblich faschistisch beherrschte Ukraine eigene imperialistische Ansprüche moralisch zu verkleiden.

In Deutschland wird demgegenüber die Erinnerung an Stalingrad wie immer von einer Zahl begleitet: 6.000. So viele Wehrmachtssoldaten fanden den Weg zurück nach Deutschland und Österreich. 95 Prozent derer, die in Stalingrad kämpften, starben dort oder in Gefangenschaft. Es ist eine der Zahlen, die in der bundesdeutschen Geschichte betont wird, seit es sie gibt. Sie ermöglicht, dass die bürgerlich-demokratische Imperialistin Bundesrepublik als Nachfolgerin des Dritten Reichs gerade in der Erinnerung an die „bis zum Schluss treue 6. Armee“ auch eine psychologisch entlastende Opferrolle spielen kann.

Noch immer hält sich der keinen Fakten standhaltende Mythos einer neben SS und Gestapo „sauberen, unschuldigen“ Wehrmacht, die in Stalingrad zum doppelten Opfer wurde, eingekesselt von der Roten Armee, preisgegeben von Hitler. Auch wenn der Mythos nicht mehr offen aufrechterhalten wird, viele bürgerliche Historiker:innen, WELT und Co. hängen ihm unterschwellig nach – 6.000.

Leben und Schicksal

Weitgehend geschichts- und gesichtslos bleiben in der deutschen Geschichtsschreibung demgegenüber die, die in Stalingrad die Wende brachten und damit die Befreiung vom Faschismus einleiteten.

Wer sich diesem Blick nicht versperren will, sollte die monumentale Stalingrad-Dilogie von Wassili Grossman lesen. Der erste Teil, „Stalingrad“, zeichnet den Weg der sowjetischen Gesellschaft bis zum Wendepunkt der Schlacht, als nur noch wenige hundert Meter die deutschen Soldaten von der Wolga trennten. Er war Thema des ersten Teils der Buchbesprechung (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/08/25/80-jahre-stalingrad-wassili-grossmans-epos-ueber-die-sowjetunion-im-krieg-teil-1/)

„Leben und Schicksal“ greift die Handlung wieder auf und führt sie bis zur Rückkehr evakuierter Stadtbewohner:innen in die Trümmer der Schlacht fort.

Es ist ein Werk, das weit über die Grenzen der Stadt hinausgeht und zu Recht als das „Krieg und Frieden“ des 20. Jahrhunderts gilt. Grossman nimmt uns mit in die Familie Schaposchnikow, deren Mitglieder den Krieg unterschiedlich erleben: Als Sohn, der als Soldat stirbt. Als Mutter, die um ihn trauert. Als Schwiegersohn, der im Kraftwerk „Stalgres“ arbeitet und durch seine Tochter in den Trümmern Großvater wird. Als evakuierte Großmutter, die ihre Tochter in den Bomben der Wehrmacht verlor. Als liebende Menschen vor einer Kulisse voller Tod und Gewalt.

Wir kommen mit in sowjetische Forschungseinrichtungen, wir kommen mit ins berühmte Haus 6-1 (Pawlowhaus), wo wir die Funkerin Katja Wengrowa kennenlernen, eine unterrepräsentative Darstellung der über eine Million Frauen in der Roten Armee.

Wir blättern um und landen in den Nächten der südrussischen Steppe, in den Gräben der Wehrmacht, in den Unterständen der sowjetischen Kommandanten, nachdem wir gerade noch in Kasan, in Moskau waren.

Und wir bekommen das Schicksal der sowjetischen Jüdinnen und Juden gezeigt.

Wassili Grossman hat seiner Figur Viktor Strum in einem fiktiven Brief die Worte geschrieben, die er von seiner Mutter nie erhielt: „Lebe, lebe, lebe ewig … Mama.“

Jekaterina Grossman wurde bei Berditschew (Berdytschiw) zusammen mit 30.000 anderen Jüdinnen und Juden ermordet.

Schoah und sowjetische Verharmlosung

Ihr ist „Leben und Schicksal“ gewidmet. In dem Brief, der ein ganzes Kapitel einnimmt, beschreibt Anna Strum, wie sich mit dem plötzlichen Auftauchen der Wehrmacht auch in der ukrainischen Bevölkerung der eliminatorische Antisemitismus Bahn bricht, Nachbar:innen zu Helfer:innen der Schoah werden. Schließlich werden junge Männer aus dem Ghetto geführt, um vor der Stadt ihre eigenen Massengräber auszuheben.

Mindestens 1.500.000 sowjetische Jüdinnen und Juden wurden in der Schoah ermordet. Obwohl die meisten von ihnen vor Ort erschossen wurden, zeichnet Grossman trotzdem den Weg der Stalingrader Jüdin Sofia Lewinton bis ins Lager und zu ihrer Ermordung in der Gaskammer.

Er verarbeitet dabei seine eigene Erfahrung des Vernichtungslagers Treblinka, dessen Befreiung er als sowjetischer Kriegsreporter miterlebte. Seine Eindrücke der Schoah in Osteuropa flossen ein in seine Mitarbeit am „Schwarzbuch“, das durch das Jüdische Antifaschistische Komitee erstellt wurde und das Schicksal der Jüdinnen und Juden in der besetzten Sowjetunion untersuchen sollte. Noch vor seiner Veröffentlichung wurde es von der sowjetischen Führung unterdrückt. Der großrussische Chauvinismus Stalins bekämpfte die Herausstellung des jüdischen Schicksals im Zweiten Weltkrieg unter dem Vorwand der Gleichheit, die es für nationale Minderheiten sowie Jüdinnen und Juden nicht gab. Stalins Begründung, alle Sowjets hätten gleichermaßen unter dem Faschismus gelitten, war letztlich eine Relativierung der Schoah.

Das und unter anderem die antisemitischen Kampagnen Stalins rund um die angebliche „Ärzteverschwörung“ waren es, die Grossmans Überzeugung in das stalinistische Sowjetsystem erschütterten. Dieser Wandel wird auch in den Unterschieden zwischen den beiden Teilen seines Werkes deutlich. Während „Stalingrad“ gegenüber der Bürokratie weitgehend kritiklos, jedoch auch alles andere als verherrlichend bleibt, offenbart „Leben und Schicksal“ eine scharfe Kritik an der stalinistischen Diktatur.

Abrechnung ohne Ausweg

So wird die Figur Viktor Strums zum Opfer einer antisemitischen Kampagne. Ihm droht, seine Stellung an einer Forschungseinrichtung zu verlieren. Er wird dann aber auf persönliche Intervention Stalins vollumfänglich rehabilitiert – Strum betreibt Kernforschung.

Anders ergeht es Nikolai Krymow, der sich als sowjetischer Emporkömmling und Kommissar bei der Truppe schließlich in der Lubjanka wiederfindet, dem Moskauer Gefängnis des NKWD. Auch wenn es offenbleibt, wird klar, dass sein Weg ins Arbeitslager des Gulagsystems führt.

Von der scheinbaren Freiheit der „Tauwetterperiode“ beflügelt, geht Grossman mit den Tabus des Stalinismus ins Gericht: 1937, den Moskauer Prozessen, der Vertreibung von Minderheiten, dem Hungertod Tausender. Er lässt seine Figuren über Trotzki und andere sprechen, von deren konterrevolutionärer Schuld sie nicht überzeugt sind. Er stellt dar, wie sehr Karrierismus und Intrigen die Köpfe der Wissenschaft, der Fabriken und der Roten Armee prägten. Bezeichnenderweise geht während der Siegesfeier von Stalingrad der betrunkene Armeegeneral Tschuikow gekränkt auf den von Chruschtschow bevorzugten Generaloberst Rodimzew los.

Dem KZ-Insassen Mostowskoi werden von einem SS-Mann die Parallelen des sowjetischen und faschistischen Terrors aufgedrängt. Er wehrt sich dagegen, fühlt die dahinterliegende Amoral des Nazis, und doch kann er sich gegen den Gedanken nur schlecht wehren. Es ist unter anderem diese oberflächliche Ähnlichkeit zweier Gewaltherrschaften, die bis heute den Sozialismus verfemt. Den dahinter stehenden Klasseninhalt des Nationalsozialismus, der den Kapitalismus rettete, und seinen Unterschied zum nichtkapitalistischen „Sozialismus“, der eigentlich Stalinismus war, kennen nur die wenigsten.

Trotzdem ist Grossman anders als andere Dissident:innen kein Restaurator des Kapitalismus. Im Gegenteil brandmarkt er das System und die Kaste Stalins als etwas, das sozialistischen Idealen widerspricht, fordert Demokratie und Freiheit für einen humanistischen Sozialismus. Und am Ende ist es ja dieser Unterschied, der den Kampf der Roten Armee für Revolutionär:innen unbedingt unterstützenswert machte – die Tatsache, dass die Sowjetunion trotz der Diktatur der Bürokratie gegenüber dem Kapitalismus näher am Sozialismus stand, sie geschichtlich betrachtet ein Fortschritt war.

An diesem Punkt offenbaren sich dann auch die Schwächen Grossmans, die allerdings weniger seine Schuld sind. Sie zeigen eher die Tiefe und Gründlichkeit, mit der der Stalinismus revolutionäres Bewusstsein in der Sowjetunion ausgerottet hatte. Der Weg zur Verwirklichung seiner Ideale im Sozialismus, der Gedanke einer politischen Revolution gegen die Bürokratie findet sich in seinem Roman nicht wieder – und er schafft damit ein Bild, das der sowjetischen Gesellschaft selbst entsprach.

Trotz Schwächen: Groß

Denn auch wenn in dem Buch eine Aufbruchstimmung spürbar wird, die die Schrecken der 1930er Jahre hinter sich lassen will, so bleibt Stalingrad doch zugleich auch Ausgangspunkt eines ideologischen Siegeszuges des Stalinismus, der sich als Befreier vom Faschismus gerieren und durchsetzen konnte und letztlich die Ausweitung seiner Herrschaft über Osteuropa erreichte. Revolutionäre Keime waren bald erstickt.

Das Fehlen einer Perspektive, die über Hoffnung und Humanismus hinausgeht, tut der Größe der beiden Romane keinen Abbruch, auch nicht, dass sie an manchen Punkten etwas ahistorisch sind  oder sich Grossman an den Romanfiguren Hitlers und Stalins überhebt. Denn anders als die sowjetische Literatur der Zeit zeigt Grossman kein voluntaristisches Bild vom idealen (eigentlich sich selbst fremden) Sowjetmenschen, sondern eines, das wie der Mensch selbst ist – unvollkommen und widersprüchlich, eines, das mit dem eigenen Gewissen ringt und gerade da zeigt, wie totalitäre Systeme psychisch wirken.

Letztlich scheiterte die Veröffentlichung von „Leben und Schicksal“ an eben diesem System. Anstelle einer Veröffentlichung in einer angeblich entstalinisierten UdSSR Chruschtschows wurde das Manuskript beschlagnahmt. Freund:innen und Bekannte Grossmans schmuggelten eine Kopie in den Westen, die dortige Veröffentlichung erlebte der Autor nicht mehr.

Dichtungen und Erinnerungen sind immer eine Reflexion der Realität, nie die Realität selbst. Hier schließt sich der Kreis zu den unterschiedlichen Betrachtung der Schlacht von Stalingrad.

Heute lernen wir aus den unterschiedlichen Gedenken an Stalingrad vielleicht mehr über die heutigen Historiker:innen, Ideolog:innen und Regierungen als über die Schlacht selbst. Aus Grossmans Prosa und seiner Entwicklung können wir erfahren, wie weit das Bewusstsein und die Hoffnung eines Menschen reichen konnten, der in der Sowjetunion gegen den Strom schwamm und zu einer eigenständigen Kritik an ihrem System fand, als viele vom „Genossen Stalin“ sprachen.

Und obwohl Wassili Grossman „Leben und Schicksal“ erfunden hat, glaubt man ihm hier etwas, was 2023 weder bei russischen noch westlichen Stalingrad-Rezeptionist:innen wirklich glaubhaft erscheint: die Suche nach Wahrheit.

Literaturempfehlungen zur Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Grossman, Wassili: Stalingrad, Ullstein Berlin 2022

Grossman, Wassili: Leben und Schicksal, Ullstein Berlin 2020

Ehrenburg, Ilja / Grossman, Wassili / Lustiger, Arno: Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, Rowohlt, Reinbek 1995

Sowjetische Sichtweisen auf Stalingrad: Hellbeck, Jochen: Die Stalingrad Protokolle, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014

Zum Schicksal weiblicher Rotarmistinnen: Alexijwitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Suhrkamp Taschenbuch 2015

Marxistische Einordnung der Schlacht und des Krieges: Mandel, Ernest: Der Zweite Weltkrieg, isp-Verlag, Frankfurt am Main 1991




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 1

Leo Drais, Infomail 1196, 25. August 2022

Der Abend des 23. August 1942 gilt als der Beginn der Schlacht um Stalingrad. Deutsche Truppenverbände stießen nördlich der Stadt bei Rynok an die Wolga vor. Ein Bombenangriff der Luftwaffe mit über 600 Flugzeugen tötete Tausende, die nicht aus der Stadt evakuiert worden waren.

Die Schlacht wurde zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, vielleicht nicht unbedingt militärisch, jedoch unbedingt psychologisch. Goebbels sah sich nach der Niederlage zur Ausrufung des „totalen Krieges“ gezwungen. In den von den Deutschen besetzten Gebieten keimte die Hoffnung auf Befreiung.

Die Wehrmacht wurde in Stalingrad eingekesselt, nachdem sie selbst die Stadt umzingelt und die Rote Armee fast daraus verdrängt hatte. Die Armee Hitlers erfror und verhungerte im russischen Winter bei – 30 Grad. Entsetzungsversuche scheiterten. Ende Januar 1943 ging der deutsche Generalfeldmarschall Paulus mit den völlig erledigten Resten der sechsten Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Gerade mal 6.000 sollten aus ihr zurückkehren.

Ab Stalingrad war die Rote Armee die initiative Kraft im Krieg an der Ostfront. Zwei Jahre später fiel Berlin.

Ukrainekrieg und Neuschreibung der Geschichte

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versuchen gewisse Rechte und Konservative, noch stärker geschichtsrevisionistisch das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee aus der deutschen Erinnerung zu tilgen. Eine Entfernung des sowjetischen Ehrenmals auf der Straße des 17. Juni in Berlin wurde ins Spiel gebracht, die Sowjetunion mit dem russischen Imperialismus Putins gleichgesetzt.

Umso wichtiger ist es, die Geschichte zu verteidigen!

Mit der Sowjetunion kämpfte nicht eine imperialistische Macht gegen eine andere – Deutschland – sondern ein Arbeiter:innenstaat, der sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigte, die „chemisch destillierte Essenz des deutschen Imperialismus“, wie Trotzki schrieb.

Letzterer analysierte zugleich auch, dass sich der stalinistische und der faschistische Staat zwar der Form nach ähneln, nicht jedoch in ihrem Inhalt.

Für beide Staatsformen hat sich der Begriff des Totalitarismus durchgesetzt, eine Organisation der Diktatur, die bis in die letzten Ecken der Gesellschaft ihre Fühler ausgestreckt hat, allgegenwärtig ist, einen riesigen Teil der Bevölkerung selbst in ihren Apparat einbindet, um eine umfassende Überwachung und Unterdrückung zu verwirklichen. Dieser Umstand macht es heute so leicht, die Sowjetunion und den Putinismus in eins zu setzen, als Ausdrücke eines antidemokratischen, großrussischen Chauvinismus, wobei es natürlich auch Putin selbst ist, der sich positiv auf die Macht der Sowjetunion bezieht um den eigenen Imperialismus propagandistisch zu verkleiden.

Das ist Erbschleicherei.

Denn der entscheidende Unterschied zwischen der Sowjetunion und dem Drittem Reich ist der, dass beide Staaten unterschiedliche Systeme des Eigentums und der Produktion vertraten und verteidigten. Der NS-Staat war der Inbegriff des kriselnden Kapitalismus, der wild um sich schlug, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Nicht umsonst heißt es vom Imperialismus, dass er das höchste Stadium des Kapitalismus darstellt.

In dieser Betrachtung der Geschichte stellte die Sowjetunion einen Fortschritt dar, einen Ort, wo das Kapital nicht mehr Produktion und Gesellschaft bestimmte. Das ist der Grund, warum die Verteidigung der Sowjetunion wichtig und richtig war – trotz der Deformation durch die Bürokratie, die selbst eine Agentin des Imperialismus auf Weltebene darstellte, fleißig mit Hitler, Großbritannien und den USA paktierte, gegen die Interessen der Arbeiter:innenklasse.

„Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts

Geschichtsschreibung ist immer relativ zur Wahrheit.

Und die bürgerliche Geschichtsschreibung kann nicht anders, als sich selbst immer als den letzten Schluss der Menschheit darzustellen, sei es in bürgerlichen Demokratien oder Diktaturen – das Ende der Geschichte sei erreicht.

Dargestellt wird die Geschichte dabei als die großer Männer, die nach Belieben die Erzählung der Welt bestimmt haben, die aufgetaucht sind und ein Land wie ein Rattenfänger in den Abgrund gestürzt oder es zu glorreichen Siegen gegen fremde Invasor:innen  geführt haben.

In etwa so erscheinen Hitler und Stalin in den Schulbüchern.

Dabei sind die, die Krieg führen, nicht die „großen Männer“, sondern wesentlich die einfache Bevölkerung.

Einer, der dieser Bevölkerung ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist Wassili Semjonowitsch Grossman. Sein Werk wird als das „Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt. Doch während Tolstoi seinen ebenfalls monumentalen Roman viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen schrieb und sie selbst nie erlebt hatte, war Grossman als wehruntauglicher Kriegsberichterstatter selbst über 1.000 Tage an der Front gewesen.

Sein Werk besteht aus einer Dilogie. „Stalingrad“ erzählt die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft im Krieg vom Überfall der Deutschen bis in den Herbst 1942. Der zweite Teil „Leben und Schicksal“ greift hier den Faden wieder auf, entwickelt die Figuren des ersten Teils weiter.

Dabei bauen die beiden Romane auf ihren insgesamt 2.300 Seiten nicht einfach aufeinander auf.

Sie erzählen selbst Grossmans Geschichte und Wandel. Während „Stalingrad“ unter dem Titel „Für eine gerechte Sache“ sehr beschnitten und zensiert noch unter Stalin erschien und eine entsprechende Konformität mit dem Regime ausdrückt, stellt „Leben und Schicksal“ eine Abrechnung nicht nur mit dem Faschismus, sondern auch mit dem Stalinismus dar, die auch der angeblichen Entstalinisierung und Tauwetterperiode unter Chruschtschow zu scharf war. „Leben und Schicksal“ wurde beschlagnahmt, eine Kopie jedoch in den Westen geschmuggelt, wo es posthum nach dem Tod Grossmans veröffentlicht wurde.

Stalingrad auf 1.200 Seiten

Trotzdem ist auch „Stalingrad“ alles andere als ein stumpfes Propagandawerk des Stalinismus – zumal in seiner erst letztes Jahr im Deutschen vollständig erschienenen Fassung. Die Kritik erfolgt hier oft subtil, zwischen den Zeilen. Es ist ein Roman, der sich in einem Spannungsfeld bewegt: „Was darf und kann ich schreiben, was muss, was will ich schreiben?“

Der „große Stalin“ kommt, ganz im Gegensatz zu Schulbüchern, kaum in „Stalingrad“ vor. Das stilistisch im sozialistischen Realismus gehaltene Buch stellt uns die sowjetische Bevölkerung in ihrer Breite vor, belegt, dass der Krieg vor allem ihrer war, dass sie ihn führte, litt und kämpfte. Grossman zeigt uns auch die, die es nicht in die Geschichtsbücher schaffen: Arbeiter:innen, Bäuer:innenfamilien, einfache Soldat:innen.

Dabei beschränkt er sich nicht einfach auf das Geschehen an der Front. Anhand der fiktiven, weit  verästelten Familie Schaposchnikow erfahren wir vom Alltag, von Normalität und Gesprächen abseits des Krieges, von der Arbeit, der Liebe und ihren Irrungen, den Sorgen einer Familie um den Sohn an der Front, der Evakuierung und den Diskussionen über den Krieg.

Wir kommen mit in Fabriken, ins Elektrizitätswerk „Stalgres“ südlich Stalingrads, in Forschungseinrichtungen und Bergwerke am Ural, dahin, wo die wirtschaftliche Stärke im  Krieg zum Tragen kommt – letztlich die entscheidende Größe, anhand derer Trotzki schon zu Beginn des Krieges prognostizierte, dass Deutschland ihn verlieren wird.

Ganz ohne Zahlen zeigt Grossman die Überlegenheit selbst der bürokratisierten Planwirtschaft, ihrer Fähigkeit, in kürzester Zeit ganze Fabriken an den Ural zu verlegen, weg von der Front. Völlig zu Recht betont eine Figur, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft schon Siege errungen wurden, obwohl sich die Wehrmacht immer noch und scheinbar unaufhaltsam Richtung Osten bewegte.

Und natürlich wäre das Werk Grossmans unvollständig, wenn er nicht auch den Blick auf die Offizier:rinnen und Kommissar:innen der Roten Armee, auf Bürokrat:innen und Bezirksvorsitzende werfen würde. Der Apparat ist allgegenwärtig, erfährt in „Stalingrad“ mehr Glorifizierung als Kritik.

Andererseits erzählt Grossman von Bildern des Krieges, die der Stalinismus gern verschwiegen hat. Von Läusen und Diebstahl, von Entkulakisierten, die auf die Deutschen warten, vom Pessimismus und der fast schon routinierten Selbstverständlichkeit, mit der sich die Rote Armee immer weiter zurückzog, bis an die Wolga. Erst Stalingrad brachte ein Bewusstsein dafür, dass der Faschismus besiegt werden kann.

Kollektives Schicksal im Einzelnen

Grossmans Figuren verkörpern nicht diese plumpe Einfachheit, die sonst dem sozialistischen Realismus anhaftet. Sie sind komplex und ambivalent, sie tragen das kollektive, massenhafte Schicksal der sowjetischen Bevölkerung in sich selbst aus.

Aus unterschiedlichen persönlichen Blickwinkeln erleben wir das erste Bombardement, wie die Familie Schaposchnikow zerstreut wird, erfahren vom Hadern und der Hingabe Einzelner ihrem Schicksal gegenüber. Wir lernen einen Soldaten kennen in seinen Sehnsüchten, seinen Erinnerungen an die Familie, von der er aufbrach, seinen Wünschen und seinem Pflichtgefühl, und dann fällt er, mit allen seinen Kampfgenossen.

Nichts von den charakterlosen, redundanten und kitsch-banalen Soldatenschicksalen aus billigen TV-Dokus ist hier zu finden. Bei Grossmann werden sie vielmehr ganz nah und lebendig.

Dafür projiziert Grossman die Innenwelten der Menschen oft fantastisch und expressiv in die Natur Südrusslands, auf die Wolga, die Steppe, den Himmel, der den Feuerschein des brennenden Stalingrads reflektiert.

Wir erleben das Spannungsfeld zwischen dem Krieg, der Massen mit sich zieht, über das Leben einer ganzen Bevölkerung bestimmt und dem, was das für die Einzelnen, aus denen diese Masse besteht, bedeutet, für Gedanken, Handlungen und ihr Bewusstsein. Die allermeisten Menschen handeln aus ihren unmittelbaren, eigenen Erfahrungen heraus.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit, gegen den Faschismus zu kämpfen, finden die Figuren, fanden die Menschen in der Sowjetunion von sich aus. Die Motive waren jedoch unterschiedliche: von der Überzeugung sozialistischer Überlegenheit bis zur Vaterlandsverteidigung – immerhin war ja auch die offizielle Bezeichnung des Krieges der „große, vaterländische“.

Offenes Ende

Der Roman endet nicht mit dem sowjetischen Sieg an der Wolga, sondern mitten in der Schlacht, an dem Punkt, wo der deutsche Vormarsch zum Stillstand kommt.

Auch wenn „Stalingrad“ nur subtil in seiner Kritik ist, ist es trotzdem unbedingt lesenswert und weit davon entfernt, ein Propagandawerk zu sein. Gerade für Revolutionär:innen und Marxist:innen, die sich mit Trotzkis Analysen der UdSSR auskennen, kann es nur bereichernd sein. Es verleiht dem sonst trockenen Geschichtsbewusstsein Lebendigkeit und einen tiefen Einblick in die Breite der sowjetischen Gesellschaft zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Einen Blick, der hilfreich ist, in einer Zeit, wo imperialistische Kriegspropaganda auf allen Seiten Konjunktur hat.

Und endlich ist „Stalingrad“ auch deshalb lesenswert, weil es mit seinem offenen Ende auf den zweiten Teil „Leben und Schicksal“ vorbereitet – eine Abrechnung einerseits, mit verkürzten Schlüssen andererseits.

Demnächst: Stalingrad, Faschismus und Stalinismus: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2