Gewerkschafter:innen für einen solidarischen europäischen Shutdown

#Zero-Covid, Infomail 1139, 16. Februar 2021

Wir veröffentlichen den gewerkschaftlichen Aufruf von #Zero-Covid. Wir rufen alle Gewerkschafter:innen auf, den Text zu unterschreiben und zu verbreiten sowie die Kampange zu unterstützen. Hier der Aufruf samt Vorspann im Wortlaut:

Wir Gewerkschafter:innen wissen, dass wir die Pandemiebekämpfung durch einen solidarischen Shutdown selbst in die Hand nehmen und gestalten müssen. Deswegen schließe auch du dich folgendem Aufruf an und diskutiere ihn in deinem Betrieb oder deiner Gewerkschaft! Wenn du den Aufruf unterzeichnen willst oder sich dein ganzes Gremium anschließen möchte, sende eine E-Email an zerocovid-gewerkschaft@immerda.ch mit deinem Namen, Wohnort, eventuell deiner Gewerkschaft und deiner Funktion, oder dem Namen deiner Gruppe.

Gewerkschaftlicher Aufruf

Die bisherigen Maßnahmen der Regierungen, die Pandemie einzudämmen, sind gescheitert. Die Beschränkung der bisherigen Maßnahmen auf den privaten Bereich und die Freizeit, während weite Teile der Wirtschaft ungehindert weiterlaufen, kostet tagtäglich Menschenleben. Insbesondere Beschäftigte im gewerblichen Tätigkeitsfeld z.B. Packer:innen in der Logistik, Feldarbeiter:innen, Arbeiter:innen in der Fleischindustrie usw. haben ein erhöhtes Risiko an Covid-19 zu erkranken. Sie leben in zu kleinen Wohnungen, bei unzureichendem Einkommen.

Als Gewerkschafter:innen begrüßen wir deshalb die Initiative »#ZeroCovid: Für einen solidarischen europäischen Shutdown«. Unser gemeinsames Ziel lautet: Null Infektionen! Dieses Ziel werden wir nur erreichen, wenn wir uns gemeinsam in den Betrieben und Gewerkschaften branchenübergreifend für die vorübergehende Schließung aller gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft stark machen, um Corona zu besiegen. Die Beschäftigten müssen dazu bei vollem Lohnausgleich freigestellt werden.

Alle Räder stehen still – stoppt die Infektionen am Arbeitsplatz

Wahrend in unserer Freizeit strenge Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen gelten, Kinder zu Hause lernen müssen, Bibliotheken ebenso geschlossen sind wie Gaststätten, Kneipen und Kinos, werden Ansteckungen am Arbeitsplatz – wie unlängst in deutschen Fleischfabriken, bei Airbus oder im Hamburger Hafen – und auf dem Weg dorthin ignoriert oder in Kauf genommen.

Wir sind auch weiterhin bereit, Einschränkungen im Privaten hinzunehmen, um Menschenleben zu schützen. Der Schutz der Gesundheit und des menschlichen Lebens darf jedoch nicht am Werkstor oder der Pforte Halt machen. Wir brauchen eine solidarische Pause! Wir schließen uns daher der Aufforderung von #ZeroCovid an, die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stillzulegen. Zugleich sind strikte Maßnahmen zum Arbeitsschutz und deren Kontrolle in den Bereichen, die für die Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur weiter in Betrieb bleiben müssen, sowie ein Recht auf Homeoffice, erforderlich.

Solidarische Pause statt einsamer Lockdown

Zu Hause bleiben kann nur, wer finanziell abgesichert ist. Die Schließung von Arbeitsstätten muss deshalb bei vollem Entgeltausgleich erfolgen.

Bisher werden die Betroffenen mit den Folgen der Pandemie und den Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung alleine gelassen. Beschäftigte müssen selbst oder durch ihre gewerkschaftliche Vertretung Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz in der Pandemie realisieren; für Arbeitgeber bleiben viele Maßnahmen freiwillig. Eltern müssen vielfach selbst die Kinderbetreuung organisieren und die Doppelbelastung von Homeoffice und Homeschooling stemmen. Pflegende Angehörige sind auf sich gestellt. Menschen, die zur sogenannten Risikogruppe gehoren, erhalten nicht die Unterstützung, die sie brauchen. Sie sind seit Monaten gezwungen, sich zu isolieren und somit vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Damit muss Schluss sein! Die Folgen der Pandemie und ihre Bekämpfung sind eine gesellschaftliche Aufgabe. Alle, die von den Auswirkungen eines Shutdowns besonders hart betroffen sind, müssen auch besonders unterstützt werden.

Soziales Maßnahmenpaket statt Milliardenhilfen für Konzerne

Die Bekämpfung der Pandemie darf nicht länger auf dem Rücken von abhängig Beschäftigten, Kleinstunternehmer:innen und Solo-Selbstständigen, sozial Benachteiligten und Niedriglohnbezieher:innen stattfinden. Sie sind es, die nicht nur die gesundheitlichen Risiken der Pandemie zu tragen haben, sondern auch die ökonomischen Kosten der Krise, während für Großunternehmen milliardenschwere Finanzpakete geschnürt werden. Kurzarbeiter:innen müssen mit 60% bzw. 67% ihres Lohnes auskommen, Auszubildende werden nicht übernommen, Beschäftigte in Fristverträgen, Werkverträgen oder Leiharbeit von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt. Viele Solo-Selbstständige erhalten erst gar keine Soforthilfe. Sie werden in die Grundsicherung gedrängt. Andere werden gezwungen, ihren Urlaub in den Dienst der Pandemiebekämpfung zu stellen.

Hinzu kommt die Einschränkung grundlegender Arbeiter:innenrechte, wie die teilweise Aussetzung des Arbeitszeitgesetzes und des Sonntagsschutzes. Auch damit muss Schluss sein!

Statt Milliarden für Unternehmen braucht es ein umfassendes Sozialpaket. Dazu gehört die Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf 100 Prozent, die Einführung eines Mindestkurzarbeitergeldes für abhängig Beschäftigte und Kleinstunternehmer:innen/Solo-Selbstständige, die deutliche Erhöhung staatlicher Leistungen sowie die Ausweitung des Kündigungsschutzes.

Wir werden auch nach der Pandemie Betriebsschließungen und Kündigungen nicht kampflos hinnehmen. Insbesondere Unternehmen, die während der Pandemie von staatlicher Hilfe profitiert haben, dürfen auch keine Kündigungen aussprechen!

Als Gewerkschafter:innen treten wir in diesem Zusammenhang bedingungslos für unsere Gesundheit UND unseren Arbeitsplatz ein. Als Beschäftigte sind wir uns unserer gemeinschaftlichen Kampfformen bewusst. Als betrieblich verfasste Beschäftigtenvertretungen haben wir zudem die Macht, innerhalb der Betriebe den Arbeitsschutz umzusetzen – notfalls bis zur vorübergehenden Stilllegung!

Schluss mit den Profiten auf Kosten unserer Gesundheit

Seit Jahrzehnten wird im Gesundheits- und Pflegebereich gespart und privatisiert. Die Rechnung dafür bezahlt jetzt die Allgemeinheit. Auch andere jetzt dringend notwendige soziale Einrichtungen wurden jahrzehntelang kaputtgespart und fehlen jetzt in der Krise bitter. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden!

Lasst die Krisengewinner zahlen!

Ein so umgesetzter solidarischer Shutdown und die Ausfinanzierung sozialer Einrichtungen kosten viel Geld. Jedoch haben die Gesellschaften Europas auch einen enormen Reichtum angehäuft, mit denen sich die geforderten Maßnahmen finanzieren lassen. Dieser Reichtum befindet sich in den Handen einiger weniger Vermögender: während viele lohnabhängig Beschäftigte und Solo-Selbstständige entweder ihre Gesundheit am Arbeitsplatz riskieren oder um diesen und ihre Zukunft bangen, haben einige wenige Vermögende sowie Großkonzerne wahrend der Krise enorme Profite erwirtschaftet. Es wird Zeit, dass sie sich auch dementsprechend an den Krisenkosten beteiligen!

Deshalb fordern wir die Einführung einer europaweiten COVID-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.

Unterstützt ZeroCovid!

Wir schließen uns daher als Gewerkschafter:innen dem Aufruf der Kampagne »ZeroCovid – für einen solidarischen europäischen Shutdown« an und rufen dazu auf, diese zu unterstützen!

Link zur Petition: https://weact.campact.de/petitions/zerocovid-fur-einen-solidarischen-europaischen-shutdown

E-Mail: zerocovid-gewerkschaft@immerda.ch

Die Liste der Erstuntereichner:innen findet sich unter: https://zero-covid.org/gewerkschafterinnen-fur-einen-solidarischen-europaischen-shutdown/




#ZeroCovid aufbauen!

Vorschläge der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Neue Internationale 253, Februar 2021

Die kommenden Wochen werden entscheidend, um das Potential von #ZeroCovid zu nutzen und eine Massenbewegung für Gesundheitsschutz und gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Massen aufzubauen.

Die fünf Hauptforderungen von #ZeroCovid, die mittlerweile an die 100.000 UnterstützerInnen gefunden haben, sollen dabei die Grundlage für die Kampagne bilden, die durch weitere Forderungen, Aufrufe, betriebliche und öffentliche Aktionen ergänzt und unterstützt werden kann. Wir sollten uns aber vor allem auf den Kampf für die fünf Punkte konzentrieren, die Zehntausende unterzeichnet haben – und die Diskussion vor allem darauf konzentrieren, wie wir eine schlagkräftige Bewegung aufbauen, die diese auch durchsetzen kann.

Ziel

Zur Zeit stellt #ZeroCovid noch eine Art Dach für Arbeits- und entstehende Ortsgruppen dar und noch kein schlagkräftiges Aktionsbündnis. Das soll und muss es aber werden, wenn wir erfolgreich sein wollen. Dazu bedarf es einer Massenbewegung, die  lokale und betriebliche Strukturen von aktiven UnterstützerInnen, also Orts- und Betriebsgruppen sowie Gewerkschaften, politische Organisationen und Gruppen umfasst. Aus den Basisstrukturen der Kampagne und unterstützenden Organisationen sollte eine Koordinierung gebildet werden, deren Aufgabe in der Präsentation nach außen, vor allem aber in der Koordinierung und Verbreiterung von Aktionen auf der Straße, in Betrieben und Schulen besteht, um den nötigen Druck zur Durchsetzung der Forderungen zu entfalten.

Zur Zeit tragen die Strukturen eine „provisorischen“ Charakter und das ist für eine erste Phase auch unvermeidlich. Je größer die Kampagne wird, umso mehr braucht es aber eine demokratische und politische Legitimation der Koordination, also der Führung der Initiative. Diese sollte am besten über eine Aktionskonferenz erfolgen, die die Koordinierung wählt und zugleich die Aufnahme von VertreterInnen neuer Orts- und Betriebsgruppen sowie von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in die Koordinierung erlaubt. Sollte #ZeroCovid sehr groß werden, müsste die Koordinierung eventuell noch eine kleinere, arbeitsfähige Struktur aus ihrer Mitte bestimmen.

Aktionsfähige Strukturen und Verankerung

Ein wichtiger Schritt besteht darin, zehntausende UnterstützerInnen als AktivistInnen in lokalen Strukturen oder Arbeitsgruppen zu gewinnen. Neben Ortsgruppen sollten wir unbedingt den Aufbau von Gruppen in Betrieben, im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern, Schulen, Kitas, Unis vorantreiben.

Die Gewinnung von Gewerkschaften bzw. ihrer Gliederungen, der Aufbau von Betriebsgruppen und deren Vernetzung wird von entscheidender Bedeutung sein, weil sich die Forderungen nicht durch Unterschriftenlisten oder symbolische Aktionen durchsetzen lassen werden. Nötig sind dazu betriebliche Aktionen bis hin zum europaweiten, politischen Massenstreik. Es geht nicht darum, dass #ZeroCovid bzw. die unterstützenden Organisationen diesen alleine ausrufen oder durchführen, sondern dass die Kampagne die Initiative in diese Richtung entfaltet.

Um UnterstützerInnen in Betrieben, an Krankenhäusern und Schulen oder im öffentlichen Dienst zu gewinnen, sollte #ZeroCovid auch ReferentInnen zur Verfügung stellen, die die Kampagne vorstellen, und Arbeits-, lokale Gruppen und unterstützende Gewerkschaftsstrukturen sollten interessierten KollegInnen helfen, #ZeroCovid am Arbeitsplatz aufzubauen – z. B. über Betriebsversammlungen oder über kollektive Forderungen nach Gesundheitsschutz oder Aktionen gegen drohende Entlassungen. Ähnliches gilt auch für SchülerInnen und andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.

Klassenkampf und Kontrolle

Die Forderungen von #ZeroCovid werden sich nur durch Methoden des Klassenkampfes, durch Aktionen bis hin zu Massenstreiks durchsetzen lassen.

Regierungen und Kapital wollen keinen Lockdown, der sich am Gesundheitsschutz der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Bevölkerung orientiert und mit sozialer Absicherung aller, einem Ausbau des Gesundheitswesens, Rücknahmen von Privatisierung und massiver Besteuerung der Reichen verbunden ist.

Eine solche Corona-Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen ins Zentrum stellt und auch kleinbürgerlichen und Mittelschichten die Existenz sichert, kollidiert mit der Politik von Bundesregierung, EU-Kommission und aller wichtigen Unternehmerverbände. Das heißt, wir müssen uns auf knallharten Klassenkampf einstellen. Dazu brauchen wir Selbstorganisation und Kampforgane nicht nur zur Durchsetzung der Forderungen, sondern auch zu deren Kontrolle.

Hier muss die Kampagne klarer, radikaler, direkter werden. Ansonsten wird sie die gescheiterte Corona-Politik der Regierungen nicht kippen können. Die Bedeutung einer solchen Radikalisierung, die Massenaktionen, Arbeitsniederlegungen und den Kampf für ArbeiterInnenkontrolle ins Zentrum rückt, ginge dabei weit über den Kampf um Gesundheitsschutz hinaus. #ZeroCovid könnte so auch zu einem Ausgangspunkt für eine europäische und internationale Bewegung gegen Pandemie und Krise werden.




Zur Kritik an #ZeroCovid: Dürfen Linke Forderungen an den Staat stellen?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 253, Februar 2021

#ZeroCovid stellt den ersten linken Vorstoß mit potenziellem Massencharakter der, der sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie stellt und die Auseinandersetzung in die Betriebe tragen möchte. Es stellt eine zentrale Aufgabe auch der subjektiv revolutionären Linken dar, die Initiative und ihren Erfolg nach Kräften zu stärken und sie politisch zu prägen. Daher unterstützen wir sie kritisch und fordern alle linken und proletarischen Kräfte auf, es uns nachzutun.

Während an die 100.000 den Aufruf unterschrieben haben, bleibt die Reaktion unter sozialistischen Linken bislang recht verhalten. Die SAV unterstützt die Kampagne nicht, weil sie es nicht für mehrheitsfähig in der Klasse hält, einen Shutdown auch auf die Wirtschaft auszuweiten. Der Funke (IMT) verweigert sich, weil der Aufruf die Methoden des Klassenkampfes nicht anwende, sondern  den Staat als Subjekt der Veränderung sieht und damit Illusionen in eben jenen schüre.

In verschiedenen Stellungnahmen aus linken Organisationen, Parteien und Plattformen können wir in den letzten Tagen eine relative Paralyse gegenüber der Forderung nach einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beobachten. Forderungen an den Staat erscheinen manchen prinzipiell, also unabhängig von ihrem Inhalt, als Teufelszeug.

Staat und Reformen

Bevor wir auf die Frage näher eingehen, wollen wir kurz fünf Forderungsblöcke von #Zero-Covid darlegen:

„1. Wir schränken unsere Kontakte auf ein Minimum ein – auch am Arbeitsplatz. Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen Bereiche der Wirtschaft für eine Zeit stilllegen.

2. Niemand darf zurückbleiben: Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.

3. Der Markt hat nichts geregelt. Der Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort ausgebaut werden. Das heißt auch: Löhne rauf und weg mit dem schädlichen Profitprinzip im Gesundheitswesen.

4. Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen: Impfstoffe dürfen nicht den Profiten von Unternehmen dienen, sondern müssen allen Menschen überall zur Verfügung stehen.

5. Die nötigen Maßnahmen kosten Geld. Deshalb brauchen wir europaweite Covid-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen.“

Diese fünf Forderungen könnten natürlich noch deutlicher und konkreter gefasst werden. Das ist hier aber nicht das Wesentliche. Alle zielen auf den Gesundheitsschutz, die soziale Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen, von Selbstständigen, unabhängig von Alter, Nationalität, Geschlecht sowie auf die Finanzierung dieser Maßnahmen durch Umverteilung von oben nach unten.

Forderungen im Kapitalismus

Solange wir den Kapitalismus noch nicht gestürzt haben, richten sich solche Forderungen nach sozialen und politischen Verbesserungen oder Reformen immer notwendigerweise an den Staat. Das trifft z. B. auch auf die Forderungen nach einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung, nach einem Mindestlohn, nach Enteignungen großer Konzerne, nach dem Ausbau demokratischer Rechte zu.

Würden die VertreterInnen einer solchen Kritik ihre eigenen Argumente ernst nehmen, so müssten sie jede Bewegung, jeden Kampf für politische und soziale Reformen kategorisch ablehnen und, ähnlich wie die „antiautoritären“ und anarchistischen KritikerInnen von Marx und Engels in der Ersten Internationale, den Weg des politischen Abstentionismus beschreiten, also der Enthaltung vom und Ablehnung des politischen Klassenkampf/es für Verbesserungen im bestehenden System.

Die Geschichte lehrt hingegen, dass der Kampf um solche Reformen als Mittel genutzt werden muss, um die ArbeiterInnenklasse zu organisieren und in Bewegung zu bringen. Schließlich hat der bürgerliche Staat als Sachwalter des Kapitals nichts zu verschenken. Und jede/r weiß, dass die Ziele von #ZeroCovid nur durch massive Mobilisierungen erzwungen werden können, um diese gegen den Widerstand von Kapital, bürgerlichen Parteien und Regierung zu erzwingen.

Nur wenn die Forderungen mit weiterführenden Kampfmaßnahmen wie Demonstrationen, Streiks und Besetzungen verbunden werden, kann die Klasse Zugeständnisse erzwingen und im Zuge ihrer dafür notwendigen Selbstorganisation die Umsetzung kontrollieren. Im Nachfolgenden wollen wir also die Frage, ob und inwiefern wir Forderungen an den Staat stellen sollten, weiter beleuchten.

Was ist der bürgerliche Staat?

Der bürgerliche Nationalstaat ist in erster Linie ein Instrument zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung und Eigentumsverhältnisse – er ist ein kapitalistischer Klassenstaat. Er fungiert als ideeller Gesamtkapitalist, d. h. er muss die allgemeinen Produktionsbedingungen aufrechterhalten und auch als Sachwalter des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse dienen. Dieses darf jedoch nicht als Addition der Interessen der konkurrierenden Einzelkapitale verstanden werden. Vielmehr muss er auch die Konkurrenzbedingungen unabhängig von diesen garantieren, was auch zu einzelnen Konflikten führt. Dieser Gegensatz zeigt sich aktuell auch durch die Schließung von Restaurants und Freizeiteinrichtungen, während die für die Mehrwertproduktion „essentiellen“ Konzerne um jeden Preis offen gehalten werden.

Zweitens verkörpert der Staat im Kapitalismus das gesellschaftlich Allgemeine, wenn auch das „falsche Allgemeine“, weil seine proklamierte „Neutralität“ und formale Gleichheit der BürgerInnen nur den Überbau bilden können, auf dessen ökonomischer Grundlage sich die Klassen reproduzieren. Damit die Sicherung dieser gesellschaftlich grundlegenden Verhältnisses gelingt, muss die bürokratische Staatsmaschinerie (Parlamente, Repressionsapparat, Verwaltung, Justiz, …) strukturell an die herrschende Klasse gebunden sein.

Daher kann der Staat nicht einfach übernommen, transformiert oder demokratisiert werden. So sind die Staatsbediensteten materiell und ideologisch an ebendiesen Staat gebunden. Auch ist der Großteil des Staates eben nicht demokratisch wählbar, was im Besonderen für die exekutiven Organe (Polizei, Militär, Geheimdienste) gilt.

Zugleich aber bildet der Kampf um politische und soziale Reformen einen Ort des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft. Unsere Politik muss daher notwendig zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens geht es darum, die Klasse durch Forderungen wie jene nach einem Shutdown der Wirtschaft zusammenzuschließen und zu einer politischen Bewegung zu formieren, die nicht nur an einzelne UnternehmerInnen Forderungen nach Durchsetzung gesundheitlicher Unversehrtheit richtet, sondern diese als allgemeine politische erhebt. Als Zweites zielen diese Forderungen darauf ab, Illusionen in den Klassenstaat zu brechen, um dabei eine Perspektive zu weisen, die von den bestehenden Problemen aus die Notwendigkeit der Selbstorganisation und schlussendlich den Bruch mit dem Privateigentum aufzeigt.

Kann man also Forderungen an den Staat stellen?

Die zentrale Zielsetzung unserer Forderungen besteht nicht in Erreichung kleiner Teilerfolge, sondern sie muss darauf abzielen, einen unversöhnlichen Klassenstandpunkt aufzuzeigen und zu popularisieren (vergl. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution). Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem der Vorstoß von #ZeroCovid eine gewisse Doppeldeutigkeit annimmt, konkret an der Frage, wie die aufgestellten Forderungen umgesetzt werden können. Der Adressat der Online-Petition sind die „Deutsche Bundesregierung, Schweizer Bundesregierung, Österreichische Bundesregierung, Europäische EntscheidungsträgerInnen“ (siehe Petitionstext), während im Aufruf die Gewerkschaften aufgefordert werden, den Shutdown im Betrieb zu organisieren. Was von manchen somit als Appell an den Staat bezeichnet wird, ist unter Bedingungen einer klassenkämpferischen Bewegung in den Gewerkschaften und Betrieben ein Erzwingen zur Umsetzung der Maßnahmen gegenüber dem Staat.

Besonders interessant wird die verkürzte Darstellung von Forderungen an den Staat als rein appellierende Haltung, wenn wir uns andere soziale Bewegungen anschauen, allen voran Fridays for Future – eine Bewegung, die die meisten der ach so konsequenten linken Gruppen vermutlich (kritisch) unterstützen werden. Die Hauptforderung von FFF ist die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, womit sie sich direkt auf den Staat bezieht, sogar ganz ohne Bezugnahme auf Gewerkschaften. Hier wiederum kämpfen viele der SozialistInnen in und um FFF für ein Klassenprogramm. Eine kurze Frage an die SAV an der Stelle: Ist die Umsetzung der Forderungen der Umweltbewegung denn in der ArbeiterInnenklasse aktuell mehrheitsfähig? Eventuell ist die Sorge auch eher, dass dies in der Linkspartei schwer mehrheitsfähig ist bzw. einen politischen Kampf mit sich brächte.

Um die Notwendigkeit, Forderungen an den Staat zu stellen, zu verstehen, müssen wir uns kurz mit den drei Dimensionen des Klassenkampfes befassen, dem ökonomischen, politischen und ideologischen Klassenkampf (vgl. Lenin: Was tun?). Verkürzt gesagt, umrahmen sie idealtypisch folgendes Feld: Der ökonomische Klassenkampf bezieht sich auf die Verbesserungen des Verhältnisses bezahlter zu ausgebeuteter Lohnarbeit, der ideologische hingegen ist der Kampf um die Köpfe, besser um die Entwicklung von der Klasse an sich zur Klasse für sich, und im politischen Klassenkampf – um den es im Kern an dieser Stelle geht – richtet sich die ArbeiterInnenbewegung schlussendlich gegen das politische wie soziale System des Kapitalismus als Ganzes. Ziel ist es, die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, somit auch ihren Staat zu schwächen, gar zu entmachten.

Charakter des „Autoritarismus“

Weiter oben haben wir verdeutlicht, dass die Forderung an den Staat mit der Mobilisierung der Klasse verbunden werden muss. Aus dem oben Gezeigten lässt sich auch leicht die Antwort auf eine Frage finden, die viele Linke anscheinend umtreibt: Führen Forderungen an den Staat denn automatisch zum Autoritarismus? Im Allgemeinen lässt sich sagen: Nein! Es hängt vielmehr jeweils davon ab, wessen Klasseninteressen, welche Anliegen sie zum Ausdruck bringen, nicht ob sie „autoritär“ sind oder nicht.

Bestünde ein solcher Automatismus hingegen, müsste jede Forderung nach sozialer Absicherung den Staat ein Quäntchen autoritärer machen, beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns. Auch bei #ZeroCovid geht es nicht um irgendwelche Forderungen an den Staat, sondern um die Forderung nach einem Shutdown des Gesamtkapitals.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung bereit ist, einzelne, für die Mehrwertproduktion weniger wichtige Branchen zu schließen. Im Falle der Großindustrie setzt der reale Staat jedoch seine Macht ein, um solche Maßnahmen zu verhindern. Er sichert die Profite der Konzerne auf Kosten unserer Gesundheit. Die konkreten Maßnahmen, die #ZeroCovid vorschlägt, werden daher nur durch eine Bewegung erzwungen werden können. Selbst wenn sich der Staat genötigt sähe, diesem Druck vorübergehend nachzugeben, würden viele BürokratInnen und UnternehmerInnen kreativ nach Schlupflöchern suchen – ganz so wie wir das von der „autoritären“ Besteuerung der Unternehmen oder „autoritären“ Hygienevorschriften in Schlachtereien kennen. Große Konzerne würden versuchen, sich den Shutdown vergolden zu lassen. D. h. hier zeigt sich, dass die Frage der Erzwingung dieser Maßnahmen mit jener der Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse in den Betrieben und Stadtteilen verbunden werden muss.

Welche Forderung in wessen Interesse?

Vom Standpunkt der KapitalistInnenklasse und des KleinunternehmerInnentums sind staatliche Arbeitszeitbeschränkungen, Kündigungsschutz oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz natürlich „autoritär“. Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse aus betrachtet hingegen oft löchrig wie Schweizer Käse. Für das Kapital wirkte sich die Kontrolle durch die Lohnabhängigen noch viel autoritärer aus als jene des Staates. Daher muss jede Kritik am „Autoritarismus“ auf ihren Klassencharakter hin überprüft werden. Der abstrakte, vom politischen und sozialen Inhalt einer Forderung abstrahierende „Antiautoritarismus“ entpuppt sich nämlich bei näherer Betrachtung als bürgerliche, arbeiterInnenfeindliche Ideologie.

Ist es denn kleinbürgerlich-moralisierend, Forderungen an den Staat zu stellen? Wie bereits verdeutlicht: Nein, nicht prinzipiell! Die Aufgabe ist es, die Forderungen, die in der Online-Petition formuliert werden, mit weiterführenden Kampfmaßnahmen zu füllen. Die Darstellung deren als kleinbürgerlich und staatsbejahend ignoriert vollkommen die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Wirklichkeit dem Gedanken anzunähern und hat ausschließlich den praktischen Nutzen, im Nachhinein die eigene Passivität zu legitimieren. Eine solche Haltung tut in der Situation der Paralyse nichts anderes als dem vorherrschenden Bewusstsein in der Klasse, somit einem bürgerlichen, hinterherzulaufen. Deshalb: Nicht meckern, machen! Kämpft mit und in #ZeroCovid für eine proletarische Aktionsplattform im Kampf gegen Pandemie und Krise!