Für eine revolutionär- kommunistische Internationale

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 7, Sommer 1989

Die Arbeiterklasse braucht eine revolutionäre Partei, um die Diktatur des Proletariats zu errichten. Nur eine revolutionäre Partei, die die Mehrheit der organisierten Arbeiterklasse in den revolutionär umgewandelten Gewerkschaften, den Fabrikkomitees, den Arbeitermilizen und -räten errungen hat, kann die Macht übernehmen. Nur eine Partei kann die Macht gegen die Konterrevolution halten, sie vor bürokratischer Entartung schützen und die Revolution international ausbreiten. Der Aufbau einer leninistischen Partei in allen Ländern ist die grundlegende Aufgabe für Revolutionärinnen und Revolutionäre.

Die revolutionäre Partei muß sich von allen reformistischen und zentristischen Elementen abgrenzen, gleichzeitig aber allen Schichten der Arbeiterklasse die geschlossenste Kampfeinheit anbieten. Jede Tendenz, die Partei den Einheitsfrontorganen unterzuordnen oder sie in eine dauerhafte Front aufzulösen, die sich an die Massen nur auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners wendet, wird die revolutionäre Partei in zentristische Degeneration führen. Die argentinische MAS in den 80er Jahren gibt ein klassisches Beispiel für diese Gefahr.

Die leninistische Vorhutpartei fungiert auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus. Demokratie in der Wahl der Führerinnen und Führer und der Festlegung von Strategie und Taktik bildet kritische und selbstbewußte Kader heran. Die freie Äußerung von Differenzen ist wichtig. Bürokratismus hingegen erzieht willige Werkzeuge, aber keine militanten Kämpferinnen und Kämpfer. Wenn ernste und längere Meinungsverschiedenheiten in der Partei auftauchen, kann die Formierung von organisierten Tendenzen oder sogar Fraktionen ein „notwendiges Übel“ sein. Deshalb muß das Recht zur Tendenz- und Fraktionsbildung intensiv gesichert werden. Genauso wie der Stalinismus das Wort „Kommunismus“ korrumpiert und entwertet hat, ist von ihm auch die leninistische Parteiorganisation in eine bürokratische Karikatur nach einem leblosen Einheitsprinzip verwandelt worden.

Zentralisierte Disziplin ist ein wichtiges Mittel zur Konzentration aller Kräfte der revolutionären Vorhut auf die Bourgeoisie und ihren Staat. Sie macht jede Parteiaktion wirksamer. Disziplin kann eine Überlebensfrage unter Bedingungen der Illegalität oder angesichts brutaler Unterdrückung sein. Demzufolge ist die revolutionäre Organisation kein Debattierverein. Wenn politischer Streit durch eine Abstimmung innerhalb der Organisation gelöst wird, ist es die Pflicht aller Mitglieder, alle Beschlüsse und Aktionen, die sich aus einem solchen Votum ergeben, loyal und systematisch auszuführen. Nach Durchführung solcher Beschlüsse und Aktionen ist es durchaus erlaubt, die Politik kritisch aufzuarbeiten und zu versuchen, sie zu ändern. Ein solch wahrhaft demokratischer Zentralismus ist in allen Etappen des Parteiaufbaus wesentlich.

Sehr oft werden die Anfangsstadien des Parteiaufbaus vornehmlich der Propaganda gewidmet sein. Wo es nur eine Handvoll Revolutionärinnen und Revolutionäre gibt, wird die Hauptaufgabe im jeweiligen Land in der Klärung der grundlegendsten Programmfragen bestehen. Nichtsdestotrotz streben wir danach, unser Programm durch Eingreifen in den Klassenkampf wo immer möglich zu erproben und anzuwenden. Wenn die Organisation zu einer kämpfenden Propagandagruppe heranwächst, wird sie zunehmend an Massenkämpfen teilnehmen. Sie wird um die Führung kämpfen, praktische Vorschläge machen, wie in den Kämpfen Siege errungen werden können, und wird die Lehren aus ihnen ziehen, um die fortgeschrittensten Elemente der Klasse für das revolutionäre Programm zu gewinnen.

Der Übergang von einer kämpfenden Propagandagruppe zur leninistischen Kampfpartei kann weder dadurch erreicht werden, daß sich eine Handvoll Kader in oberflächliche „Massenarbeit“ stürzt, noch dadurch, daß man sich opportunistisch in zugespitzten Klassenkampfsituationen anpaßt. Wo es bedeutende, sich nach links bewegende, zentristische Kräfte in zentristischen oder reformistischen Parteien gibt, kann es notwendig sein, in solche Organisationen mit der doppelten Zielsetzung eines gemeinsamen Kampfes gegen die rechten Parteiführerinnen und Parteiführer einerseits und dem Aufbau einer revolutionären Tendenz andererseits einzutreten. Auf diese Weise können die besten Klassenkämpfer für die Perspektive der Bildung einer revolutionären Partei versammelt werden. Diese Taktik ist keineswegs eine unumgängliche Etappe im Parteiaufbau und hat auch nichts zu tun mit dem strategischen „tiefen Entrismus“ verschiedener rechtszentristischer „trotzkistischer“ Organisationen seit Ende der 40er Jahre. Sie sind in den reformistischen Parteien tief begraben worden und sind seit langem vom Kampf für das revolutionäre Programm desertiert.

Eine wahrhaft revolutionäre Partei übt einen starken Einfluß auf die Avantgarde der Klasse aus. Sie besteht aus kommunistischen Kadern, weist eine umfangreiche landesweite Verankerung in den fortgeschrittenen Sektoren des Proletariats auf und ist imstande, Massenkämpfe zu organisieren. In revolutionären und vorrevolutionären Situationen muß sie sich zu einer Massenpartei entwickeln, um die Massen für den Kampf um die Macht zu organisieren.

Für eine revolutionäre Massenpartei der Arbeiterinnen und Arbeiter

In vielen imperialisierten, aber auch in einigen imperialistischen Ländern waren die Jahrzehnte des kapitalistischen Wachstums begleitet von einer massiven Ausdehnung des Proletariats und seiner Gewerkschaften ohne vergleichbares Anwachsen ihrer politischen Parteien. Arbeiterinnen, Arbeiter und Gewerkschaften verharren häufig bei den bürgerlichen oder kleinbürgerlich-nationalistischen Parteien oder gar bei Formen des Bonapartismus. Unter solchen Umständen wird der Kampf um die Schaffung einer revolutionären Partei aufs engste mit dem Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verflochten sein.

In den USA der 30er Jahre hat Trotzki die Losung einer auf den Gewerkschaften fußenden Arbeiterpartei als Mittel zur Überwindung der politischen Rückständigkeit der US-Arbeiterinnen und Arbeiter und als Antwort auf das spürbare Bedürfnis nach einer politischen Organisation im Klassenkampfaufschwung Mitte der 30er Jahre entwickelt. Dies war keineswegs ein Aufruf zur Bildung einer reformistischen sozialdemokratischen Partei, sondern eine im Kampf um eine revolutionäre Partei von Trotzki entwickelte Taktik.

Im allgemeinen stellt die Losung der Arbeiterpartei ein wichtiges Propagandainstrument zur Unabhängigkeit der Klasse und zur Bloßstellung der Anbiederung der Bürokraten an die Unternehmer dar, kann aber gelegentlich auch zur scharfen agitatorischen Waffe werden. Der Aufruf für eine Arbeiterpartei ist eine Forderung an die Gewerkschaften zum Bruch mit den offenen Parteien der Bourgeoisie und zum Kampf für den Aufbau einer Partei der gesamten Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften sollten aufhören, die Loyalität der Arbeiterklasse gegenüber ihren Klassenfeinden zu sichern. Sie haben einen zentralen Stellenwert in der Forderung, gerade weil sie generell unter den Bedingungen des verschärften Klassenkampfes greift, wo ein massiver Zustrom von radikalisierten Arbeiterinnen und Arbeitern in die Gewerkschaften stattgefunden hat (USA in den 30er, Südafrika und Brasilien in den 80er Jahren).

Falls die Revolutionärinnen und Revolutionäre unter solchen Umständen die Taktik der Arbeiterpartei nicht anwenden und nicht in den Gründungsprozeß eingreifen, besteht die Gefahr, daß die Reformisten die radikalisierten Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Bildung einer reformistischen Partei oder einen erneuerten Pakt mit bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Parteien lenken könnten.

Die Taktik der Arbeiterpartei ist keine unüberspringbare Etappe in der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse. Ihre agitatorische Anwendung hängt von den jeweiligen konkreten Umständen in einem Land ab. Trotzdem machen wir klar, daß wir im Kampf um die Schaffung einer Arbeiterpartei deren Grundlegung auf einem revolutionären Programm vorschlagen. Wir wollen verhindern, daß eine reformistische oder zentristische Schlinge um den Hals des Proletariats gelegt wird. Aber der Charakter dieser Partei kann nicht im voraus ultimativ festgeschrieben werden. Er wird vom Kampf zwischen Revolutionärinnen und Revolutionären und den falschen Führern bestimmt.

Wo keine Tradition von politischer Massenorganisation der Arbeiterklasse existiert, gestattet der politische Kampf innerhalb der Arbeiterpartei zur Verteidigung von Arbeiterinteressen die Polarisierung der bestehenden politischen Tendenzen in der Arbeiterklasse. Dies zeigt sich in der Entwicklung der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) während der 80er Jahre.

Die revolutionäre Internationale

Die Imperialisten und ihre Steigbügelhalter in den Halbkolonien und Arbeiterstaaten koordinieren ihre Aktionen gegen das Proletariat auf internationaler Ebene mittels der UNO, dem IWF, der Weltbank, dem RGW und Militärblöcken wie NATO oder Warschauer Pakt. Gegen ihre „Internationalen“ müssen wir eine revolutionäre Internationale der proletarischen Massen stellen, um den von der bürgerlichen Gesellschaft der Weltarbeiterklasse auferlegten Chauvinismus und Rassismus zu überwinden. Das Ziel dieser Internationale soll die revolutionäre Zerstörung der kapitalistischen und stalinistischen Herrschaft auf der ganzen Welt sein. Sie wird die Führung im Befreiungskampf der gesamten Menschheit vom Doppeljoch der Ausbeutung und Unterdrückung übernehmen. Die internationale Diktatur des Proletariats wird die Grundlage für ein sozialistisches Weltsystem herstellen und damit beginnen, alle Spuren der alten Ordnung auf ihrem Marsch zum Weltkommunismus auszumerzen.

Vor und nach der Revolution ist die Aufgabe zur Schaffung eines revolutionären Programms und einer revolutionären Partei eine internationale. Es kann nicht die Frage sein, zunächst für die Bildung großer nationaler Parteien einzutreten und sie dann in einer Masseninternationale miteinander zu verbinden. In nationaler Isolation aufgebaute Parteien werden nationaler Beschränktheit und Einseitigkeit unterliegen. In den imperialistischen Ländern wird dies eine Neigung zur Anpassung an Ökonomismus und Sozialchauvinismus bedeuten. In den Halbkolonien wird es zur Nachgiebigkeit gegenüber kleinbürgerlichem Nationalismus und zur Verwischung der klassenmäßigen Unabhängigkeit des Proletariats führen. In den stalinistischen Staaten wird es zu einer Anpassung an den „Reform“flügel der stalinistischen Bürokratien führen. Zur Überwindung des nationalen Drucks ist die Entfaltung einer weltumspannenden Perspektive und das Eingreifen in den internationalen Klassenkampf lebenswichtig. Die Herstellung praktischer Solidarität zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern verschiedener Länder ist jederzeit vonnöten.

Heute ist keine revolutionäre Arbeiterinternationale vorhanden. Die sozialistische Internationale ging 1914 endgültig ins Lager des Reformismus über, als seine Hauptsektionen die „eigene“ Bourgeoisie im Ersten Weltkrieg unterstützten. Sie fungiert nunmehr als Koordinationszentrum für die sozialdemokratischen Reformisten und ihre arbeiterfeindlichen Pläne.

Die Komintern brach unter der erdrückenden Bürde des Stalinismus 1933 politisch zusammen, als ihre Politik Hitlers Machtergreifung erleichterte. 1943 löste sie Stalin auf zynische Art auf. Nichtsdestotrotz sind die Bindungen zwischen den Kommunistischen Parteien und den herrschenden Kasten in den degenerierten Arbeiterstaaten weiterhin stark. Eine verschleierte bürokratische Internationale verbindet die Mehrheit aller KPen mit Moskau. Aber der Kreml verfügt nicht mehr über das Loyalitätsmonopol. Der Eurokommunismus hat die westlichen KPen von Moskau entfernt und für andere stellen Kuba oder China eine ideelle und materielle Alternative dar. All dies bezeugt den fortwährenden Prozeß der Desintegration der stalinistischen Weltbewegung.

Die letzte revolutionäre Internationale, die von Trotzki 1938 gegründete IV., gibt es nicht mehr. Sie wurde auf der Perspektive begründet, daß sie rasch zur Führung von Millionen während der durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen revolutionären Krisen gelangen würde. Dies trat nicht ein, da Stalinismus und Sozialdemokratie gestärkt aus dem Konflikt hervorgingen. Die IV. Internationale aber operierte weiter mit ihrer Vorkriegsperspektive von bevorstehendem Krieg und Revolution. Geschwächt durch stalinistische und imperialistische Verfolgung und infolge politischer und organisatorischer Verwirrung und Unordnung im Krieg war die IV. Internationale unfähig, unter den neuen Bedingungen nach Kriegsende für die Weltarbeiterklasse einen Kurs anzugeben.

Zwischen 1948 und 1951 entfernte sich die IV. Internationale immer mehr von der marxistischen Methode, als sie eine Reihe von politischen Anpassungen vornahm und die führende Rolle im Klassenkampf angeblich „zentristischen“ Kräften stalinistischen, sozialdemokratischen oder kleinbürgerlich-nationalistischen Ursprungs überließ. Erstes und dramatischstes Beispiel hiefür war die Haltung zu Jugoslawien. Nach dem Bruch Tito – Stalin 1948 erklärte die IV. Internationale, daß Tito kein Stalinist mehr sei, und trat der Losung für eine politische Revolution in Jugoslawien entgegen.

Dieser Verfall wurde untermauert durch eine unmittelbare Weltkriegserwartung und dessen alsbaldige Umwandlung in einen internationalen Bürgerkrieg. Das Scheitern an der Aufgabe, Programm und Perspektive wiederzuerarbeiten, führte zur Übernahme einer systematisch zentristischen Methode auf dem Weltkongreß der IV. Internationale 1951; die IV. Internationale war politisch zerstört. In der bolivianischen Revolution 1952 unterstützte die zentristische IV. Internationale eine bürgerliche Regierung der nationalistischen MNR und verschwendete auf kriminelle Art das Potential für eine Arbeitermacht. 1951 hörte die IV. Internationale auf, als revolutionäre Organisation zu bestehen. 1953 beendete sie ihr Dasein als einheitliche Organisation, als sie in einander befehdende zentristische Fraktionen zerbrach, von denen keine eine politische Kontinuität mit der revolutionären IV. Internationale von 1938 bis 1948 verband.

Nach 1953 leistete das Spaltprodukt Internationales Sekretariat (IS) Pionierarbeit für die rechtszentristische Abweichung der IV. Internationale. Mit seinem Nachfolger ab 1963, dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale (VS), hat sich diese Richtung folgerichtig an verschiedene stalinistische, kleinbürgerlich- nationalistische und sozialdemokratische Strömungen angepaßt. Die Hauptopposition zum Internationalen Sekretariat nach 1953 verkörperte das Internationale Komitee (IK).

Trotz gewisser teilweise korrekter Kritik am Internationalen Sekretariat wandte das Internationale Komitee im Grunde weiter die Methode der zentristischen IV. Internationale an. Die tiefe Entrismusarbeit seiner britischen Sektion in der Labour Party war durch und durch opportunistisch. Das IK beugte die Knie vor kleinbürgerlichem Nationalismus und Maoismus. Sein Markenzeichen war eine katastrophistische Perspektive, ein hohles Echo auf das Übergangsprogramm von 1938.

Wie bei der „sozialistischen“ und „kommunistischen“ Internationale dauert das Erbe des politischen und organisatorischen Niedergangs der IV. Internationale bis heute fort. Es gibt mehrere internationale zentristische Strömungen, die dieses Vermächtnis beanspruchen und mit denen wir uns politisch messen. Doch alle zeigen dieselbe Unfähigkeit, die Methode Lenins und Trotzkis anzuwenden, um die Weltarbeiterklasse zum Sieg zu führen. Die Tagesaufgabe ist klar: der Aufbau einer neuen revolutionär kommunistischen Internationale.

Die Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (LRKI) ist das Instrument für die Schaffung einer neuen leninistisch- trotzkistischen revolutionären Masseninternationale. Wir fangen diesen Kampf nicht bei Null an. Wir stehen in der politischen Tradition von Marx und Engels erster Internationale, dem Kampf der revolutionären Internationalisten in der zweiten Internationale, den ersten vier Kongressen von Lenins kommunistischer (dritter) Internationale, Trotzkis Kampf für die Verteidigung und Wiedererarbeitung des revolutionären Programms sowie der revolutionären Positionen der vierten Internationale von 1938 bis 1948. Wir beginnen daher unsere Arbeit auf der Grundlage von Kämpfen und programmatischen Errungenschaften eines runden Jahrhunderts.

Der Kampf gegen Zentrismus

Der Zentrismus belegt eine Mittelposition zwischen revolutionärem Kommunismus und Reformismus und vermischt auf eklektische Weise die dem Kommunismus entlehnte Theorie mit der Anpassung an die „praktische Politik“ des Reformismus. Diese Erscheinung ist nicht neu. Gleich vom Beginn der marxistischen Bewegung vor anderthalb Jahrhunderten hat sich der Zentrismus in Gestalt von Organisationen entwickelt, die sich nach rechts von revolutionärer Politik wegbewegten (die sozialistische Internationale vor 1914, die stalinistische Komintern der 20er und frühen 30er Jahre, die IV. Internationale Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre). Aber wie bei den Pivertisten in der französischen SFIO Mitte der 30er Jahre und Strömungen in der ungarischen Revolution 1956 sind wir auch Zeugen von zentristischen Tendenzen geworden, die sich nach links vom Reformismus wegentwickelt haben.

Der Zentrismus ist prinzipiell unfähig, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen. Er gibt wohlklingende „revolutionäre“ Verlautbarungen ab, aber sträubt sich gegen die Verbindlichkeit einer klaren Strategie und eines konkreten Programms. Außerstande, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen, fußt die theoretische Methode des Zentrismus v.a. auf Impressionismus: eine leichtfertige Entwicklung von „neuen Theorien“ für eine stets „neue“ Wirklichkeit, wobei Lehre und Methode des Marxismus mit Füssen getreten werden. Aufgrund der wilden Zickzacks des Zentrismus gehen während der raschen Ereignisse einer Revolution entscheidende Gelegenheiten verloren und die Initiative wird den bewußt konterrevolutionären Kräften von Sozialdemokratie und Stalinismus zurückgegeben. Von daher rührt seine Gefahr für die Arbeiterklasse. Immer dort, wo der Zentrismus die Arbeiterinnen und Arbeiter in einem entscheidenden Konflikt angeführt hat (Deutschland 1919, Italien 1920, China 1927, Spanien 1937, Bolivien 1952, 1971 und 1976, um nur einige Beispiele zu nennen), war das Ergebnis eine Katastrophe.

Das Beispiel der POUM im spanischen Bürgerkrieg zeigt, wie eine zentristische Organisation den Aufbau einer revolutionären Partei behindern kann. Die zentristische POUM hat die Massen nicht im entferntesten zum Siege geführt, sondern war eine linke Flankendeckung für die konterrevolutionäre stalinistische Volksfront und verschleierte den Verrat der Anarchisten und half somit, den Weg zur Niederschlagung der spanischen Arbeiterklasse durch Franco zu ebnen.

Zentrismus ist vor allem ein Phänomen der Bewegung (Entfaltung oder Degeneration) nach links oder rechts. Aber in Abwesenheit sowohl von revolutionären Massenereignissen wie auch eines mächtigen revolutionären Anziehungspols kann sich der Zentrismus längere Zeit behaupten, allerdings in verknöcherter Daseinsform. Dies war auch der Charakter des beginnenden kautskyschen Zentrismus in der zweiten Internationale vor 1914. Ein solcher Rechtszentrismus ist konsequent reformistisch in seiner Praxis, ist aber bis zu seinem Übergang ins Lager des Reformismus auch bereit, scheinrevolutionäre Phraseologien zu benutzen. Das ist der Charakter vieler Organisationen in allen Erdteilen, die vorgeben, „trotzkistisch“ zu sein.

Das Sektierertum fürchtet die realen Kämpfe der Arbeiterklasse. Es rechtfertigt seine Passivität im Namen der „Wahrung der Prinzipien“. Das Sektierertum hält sich von den Massenorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter fern und versteckt sich lieber in schein“revolutionären“ Strukturen. Kurzum, es hat nichts gemeinsam mit revolutionärem Marxismus, dafür aber alles mit Zentrismus. Trotz aller Wunschvorstellungen eingefleischter Sektierer sind Sektierertum und Opportunismus keine Gegenpole, sondern Produkte derselben politischen Methode: beide haben kein Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich um das revolutionäre Programm zu mobilisieren. Der Opportunist trachtet danach, das Programm zu verwässern, der Sektierer scheut vor entschlossener Intervention in die Klasse auf Grundlage dieses Programms zurück. Die Wesensgleichheit der beiden Methoden zeigt sich in dem sektiererischen Schwenk der zentristischen Komintern von 1928 bis 1933 und dem Ultralinkstum des Vereinigten Sekretariats von 1967 bis 1974.

Der Kampf gegen den Zentrismus aller Schattierungen ist ein entscheidendes Merkmal beim Aufbau jeder revolutionären Internationale gewesen. Marx und Engels kämpften gegen die Anarchisten; Lenin und Luxemburg führten den Kampf gegen die zentristische Führung der sozialistischen Internationale. Die Komintern gewann die linkszentristischen Syndikalisten in Frankreich und die deutsche USPD und spaltete den linken Flügel von der italienischen PSI ab. Im Kampf für die Bildung der IV. Internationale richtete Trotzki seine Polemik gegen die zentristischen Kräfte, die von der Komintern (z.B. Bordiga, Treint, Souvarine) oder von der Sozialdemokratie (z.B. die unabhängige Labour Party, ILP in Britannien und Pivert in Frankreich) herkamen. Gleichzeitig schlug er Aktionseinheiten mit den Zentristen und Zentristinnen wo immer möglich vor. So stehen auch wir zu den heutigen zentristischen Kräften.

Der Übergang vom Zentrismus zu revolutionärer Politik bedeutet nicht nur eine Entwicklung, sondern auch einen markanten Bruch. Es ist kein allmählicher oder unvermeidlicher Prozeß. Die große Mehrheit der zentristischen Organisationen ist nicht revolutionär geworden. Entweder haben sie sich aufgelöst (wie die ILP und die POUM in den 30er Jahren) oder sie sind zum Reformismus verkommen (die MIRs in Lateinamerika). Wo zentristische Parteien zu beträchtlichen Massenformationen geworden sind, können sie nicht lange das Gleichgewicht zwischen Reform und Revolution halten. Die PUM in Peru und die Democrazia Proletaria in Italien weisen immer stärker ausgesprochen reformistische Flügel auf.

Formen des instabilen Zentrismus sind auch während der letzten 40 Jahre unter dem Einfluß des Maoismus und der kubanischen Revolution besonders in den Halbkolonien entstanden. Obwohl die chinesische Kulturrevolution (1964-69) in Wirklichkeit ein bürokratischer Fraktionskampf war, hat das radikale Getön des maoistischen Flügels Sympathie bei Gegnern des Moskauer Stalinismus und bei antiimperialistischen Kräften geweckt. Maoistische Gruppen in der BRD, in Italien und einer Reihe von Halbkolonien gründeten sich auf radikalisierte, meist jugendliche Kräfte, und viele von ihnen durchliefen kurz eine Periode zentristischer Entwicklung. Die reaktionäre Realität des Maoismus, die sich im Massaker an proletarischen Kräften in Wuhan und Guandong während der Kulturrevolution und der Wiederannäherung an Nixon und Pinochet ausdrückte, brachte im Zusammenhang mit dem Aufschwung der europäischen Sozialdemokratie Anfang der 70er Jahre das Ende dieses Abschnitts. In den halbkolonialen Ländern Lateinamerikas degenerierten die MIR-Gruppen, die unter dem Einfluß von Guevarismus und kubanischer Revolution entstanden waren, rasch zu sozialdemokratischen, kleinbürgerlich- nationalistischen oder gar ausgesprochen bürgerlichen Parteien. Zentristische Tendenzen eines anderen Ursprungs haben sich angesichts der Krise des Stalinismus in den degenerierten Arbeiterstaaten entwickelt. Sie vereinigen revolutionäre Feindschaft zum Regime mit oft sozialdemokratisch beeinflußtem programmatischen Wirrwarr.

Die derzeitige Hauptform des Zentrismus auf internationaler Ebene hat ihre Wurzeln im Verfall der IV. Internationale. Organisationen dieses Ursprungs haben Teilkritik an Sozialdemokratie, Stalinismus oder den degenerierten Bruchstücken der IV. Internationale geübt. Viele haben versucht, eine revolutionäre Kontinuität wiederherzustellen, aber alle uns bekannten Versuche sind gescheitert. Keine dieser Gruppen war in der Lage, ein revolutionäres Programm für die Massen konsequent auszuarbeiten, und konnte es weder in Alltagskämpfen noch in größeren revolutionären Situationen der letzten 40 Jahre umsetzen. Im allgemeinen waren ihre Fehler entsprechend ihrer fehlenden Verankerung in der Arbeiterklasse für den Ausgang von Kämpfen des Weltproletariats von geringer unmittelbarer Konsequenz. Nichtsdestotrotz haben sich trotzkistisch nennende Zentristen bedeutsame Rollen beim Fehlschlag der Revolution von 1952 in Bolivien und beim Ausverkauf einer Massenbewegung in Sri Lanka 1964 und in Peru 1978 bis 1980 gespielt.

Korrumpiert durch opportunistische Anpassung haben diese Organisationen die Fehler der zentristischen IV. Internationale wiederholt, indem sie an den „revolutionären Prozeß“ geglaubt haben und der einen oder anderen „linken“ Tendenz im Reformismus oder im kleinbürgerlichen Nationalismus in der Hoffnung nachgelaufen sind, daß sie sich als neues Instrument für die ins Stocken geratene „Weltrevolution“ erweisen würden.

Dies trifft für die systematische Anpassung des Vereinigten Sekretariats zu. Sie halten Nikaragua für einen gesunden Arbeiterstaat und kämpfen nicht für den Sturz des bürokratischen Castro-Regimes auf Kuba. Dies gilt auch für die von Moreno gegründete Internationale Arbeiter Liga, die sich zunächst an den Peronismus und dann an den Stalinismus in ihrem Ursprungsland Argentinien anpaßte. Nicht minder auffällig ist die Politik des Nachtrabens hinter kleinbürgerlichen Nationalisten und Reformisten, wie sie die von der lambertistischen Strömung gegründete IV. Internationale (internationales Zentrum für den Wiederaufbau) betreibt. Sie jubelte die algerischen Nationalisten als „Bolschewiken“ hoch und schlägt den Aufbau einer „Arbeiterinternationale“ auf einem reformistischen Programm vor, das sich auf bürgerlich demokratische Forderungen konzentriert. Die internationale Tendenz um die britische „Militant“-Gruppe, die ihre Ursprünge in der IV. Internationale verheimlicht, strebt nach der Umwandlung der sozialdemokratischen Parteien. Die Gruppierungen um die britische Socialist Workers Party und die französische Organisation Lutte Ouvriere passen sich an den spontanen Arbeiterkampf an und machen keinen praktischen Gebrauch vom Übergangsprogramm. Daß diese Organisationen in verschiedener Form seit 40 Jahren weiterbestehen, ist ein Beweis für ihre Isolation von der internationalen Arbeiterklasse, jedoch nicht für die Stärke oder Gültigkeit ihrer Politik.

Die Kräfte für eine neue Internationale werden viele der besten Klassenkämpferinnen und -kämpfer einschließen, die gegenwärtig in den zentristischen Organisationen gefangen sind. Die Sektionen unserer eigenen internationalen Organisation haben alle ihren Ursprung in Brüchen mit dem Zentrismus. Spaltungen, Fusionen und Umgruppierungen werden sich als notwendig erweisen, und für die LRKI ist es besonders wichtig, sich in Polemik und gemeinsamer Aktion mit jenen Zentristen zu engagieren, die sich fälschlicherweise als Trotzkisten bezeichnen. Zu diesem Zweck beginnen wir mit Trotzkis Devise „Zuerst das Programm!“

Baut die LRKI, baut eine revolutionär- kommunistische Internationale auf!

Der Imperialismus ist ein gewaltiger Feind. Er verfügt über reiche Reserven, die er nutzt, um die reformistischen Führer des Proletariats zu korrumpieren und gefügig zu machen; er unterhält einen riesigen Staatsapparat, mit dem er Arbeiterinnen und Arbeiter überall auf der Welt unterdrückt und tötet. Aber er kann den Klassenkampf, der unaufhörlich auf Grund der grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus ausbricht, nicht unterbinden. Jeder Zyklus der Expansion und Prosperität bringt Vertrauen für den Kampf. In jeder Krise spornt es die ausgebeuteten zu weiteren Angriffen auf die Herrscher der Welt an.

Gleich, ob die Gelegenheit früher oder später kommt, alle Agenten des Kapitalismus in den Abgrund zu stürzen – die Weltarbeiterklasse braucht eine internationale revolutionäre Partei. Die LRKI schickt sich an, eine solche Weltpartei der kommunistischen Revolution aufzubauen. Wir haben mit der Erarbeitung einer Reihe von revolutionären Positionen zu wichtigen internationalen Kämpfen und mit der Neuerarbeitung des internationalen revolutionären Programms begonnen. Diese Aufgabe ist seit beinah 50 Jahren überfällig, aber mit unserem Herangehen stellen wir unser Programm auf Politik und Methoden des unverfälschten Trotzkismus, des revolutionären Marxismus. Unser Ziel ist der Aufbau einer neuen Weltpartei der kommunistischen Revolution, einer wiederbegründeten leninistisch-trotzkistischen Internationale.

Ist die LRKI weit von diesem Ziel entfernt? Sind ihre Kräfte zu gering angesichts einer Herausforderung dieser Größenordnung? Es stimmt zwar, daß unsere Kräfte schwach sind, weit schwächer noch als Trotzkis IV. Internationale bei der Gründung 1938. Wir haben bislang nur eine Handvoll Kader in nur wenigen Ländern. Aber wir haben keine Veranlassung, uns davon entmutigen oder von der Inangriffnahme des Kampfes abschrecken zu lassen. Trotz einer langen Periode imperialistischer Stabilität zur Jahrhundertmitte bleibt die imperialistische Epoche eine Epoche von Kriegen und Revolutionen. Doch die Ereignisse vollziehen sich nicht in einem gleichmäßigen Tempo, ebensowenig wie Parteien einfach durch allmähliche Kaderakkumulation aufgebaut werden. Es kommen Perioden von Krieg und Revolution, wo die Aufgaben von Jahren oder Jahrzehnten in Wochen oder Monaten vollendet werden können. Aber damit das Proletariat solche Perioden nützen kann, müssen wir ein Programm haben, auf dem wir aufbauen können, und Kader, die zur Führung fähig sind. Deshalb gilt es, keine Zeit zu verlieren. Wir müssen die Fundamente jetzt legen. Wir appellieren an alle Kämpferinnen und Kämpfer, die sich auf die revolutionären Traditionen des internationalen Proletariats berufen und die sich von den zentristischen Schwankungen abgestoßen fühlen; wir appellieren an alle kämpferischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die gegen den Verrat des Reformismus, des kleinbürgerlichen Nationalismus und der Gewerkschaftsbürokratie revoltieren:

Schließt euch uns an!




Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Seit ihrer Entstehung bildete die Arbeiter:innenklasse nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern ihre Existenz wird immer von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. Im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie, die, sofern sie überhaupt auf „Klasse“ rekurriert, diese als Attribut bestimmter Personen fasst (Einkommenshöhe, Berufsstand usw.), kennzeichnet den marxistischen Klassenbegriff, dass er Klassen als Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen begreift. Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals bestimmt dabei wesentlich die Schichtung, Umwälzung, stetige Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen.

Im „Kapital“ entwickelt Marx im Kapitel über das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass das Wachstum und der Wandel des Kapitals selbst die Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“[i]

Dabei zeigt er, dass selbst bei unveränderter technischer Grundlage des Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Lohnabhängigen, die Zahl der beschäftigten, unterbeschäftigten und erwerbslosen Arbeiter:innen bedingt wird durch die Kapitalbewegung. Da Kapitalismus aber notwendigerweise mit einer ständigen Umwälzung der Produktion einhergeht, prägt er in einem noch viel größeren Umfang die Zusammensetzung der Klasse, ja, ihre gesamte Existenz.

„Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.“[ii]

Das einzig wirklich Konstante an der Arbeiter:innenklasse ist also ihre ständige Veränderung. In Phasen der Expansion und Prosperität kann dabei die Ausbeutung vergleichsweise dehnbare, „bequeme und liberale“ Formen annehmen. Davon sind wir freilich seit Jahrzehnten weit entfernt. Die gegenwärtige Krisenperiode geht nicht nur mit einer grundlegenden Veränderung der Arbeiter:innenklasse und aller gesellschaftlichen Beziehungen einher, sondern vor allem auch mit einer Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Klasse insgesamt. Dies vollzieht sich jedoch keineswegs linear, für alle gleich. Im Gegenteil. Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus manifestiert sich auch in einer globalen Veränderung der Zusammensetzung der Klasse. Bestehende grundlegende Ungleichheiten wie jene zwischen den Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren und in den Halbkolonien werden massiv verschärft. Aber auch die innere Differenzierung, z. B. zwischen der Arbeiter:innenaristokratie einerseits und den unteren Schichten der Lohnabhängigen, den Working Poor, andererseits, wird tendenziell größer.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir daher die wichtigsten Veränderungen skizzieren, um deren Rückwirkung auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten. Im letzten Abschnitt werden wir kurz auf die Frage der revolutionären Politik als Antwort auf diese Krise eingehen:

1.) Eine Darstellung wesentlicher Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode;

2.) die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends;

3.) die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats;

4.) die Verbindung zur Krise der Arbeiter:innenbewegung und zur Führungskrise des Proletariats;

5.) Historische Erfahrungen, strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Aufbau revolutionärer Parteien.

1. Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode

Seit Beginn der Globalisierungsperiode, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, macht auch das Proletariat weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durch. Dies trifft sowohl auf die Jahre vor der Rezession und Krise 2008 – 2010 zu wie auch auf jene bis zur Coronakrise. In mehrfacher Hinsicht traten dabei die Entwicklungen in den Jahren der Globalisierungsperiode nach 2010 noch deutlicher hervor, die Umwälzungen vollzogen sich im beschleunigten Tempo.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

1.1 Die Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse

Bis 2019 ist die Arbeiter:innenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v. a. nach Asien. Das betrifft hauptsächlich das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der Arbeiter:innenklasse in China bilden letztlich die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion. Dabei entstand zugleich eine neue gesellschaftliche, revolutionäre Kraft, die sich allerdings ihrer politischen Möglichkeiten (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivität) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die Arbeiter:nnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Länder wie Brasilien erlebten diesen Proletarisierungsschub schon in den 1980er Jahren, städtische Zentren wie der Großraum Sao Paulo gehören seither zu den konzentriertesten Industriegebieten der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So bedeutsam das Anwachsen der Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist,  handelt es sich letztlich um die Formierung eines Proletariats in halbkolonialen Ländern, dessen Entwicklung in letzter Instanz vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt (was keineswegs ausschließt, dass sich in diesen Staaten auch weltmarktfähige einzelne Großkapitale bilden).

An dieser Stelle müssen wir genauer zwischen verschiedenen Ländern und ihrer ökonomischen Entwicklung im XI. Weltmarktzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg (2010 – 2019) differenzieren. China und Indien durchliefen einen lang anhaltenden, expansiven Zyklus. Verglichen mit dem Jahr 2007 verdoppelte sich das preisbereinigte BIP in China bis 2016 und in Indien bis 2017. Diese Entwicklung spiegelt natürlich nicht direkt das Anwachsen der Profitmasse und auch nicht der beschäftigten Lohnarbeit wider, aber es reflektiert kapitalistisches Wachstum in einem gigantischen Ausmaß – inklusive des massiven Wachstums der Arbeiter:innenklasse in beiden Ländern.

Diese Entwicklung kontrastiert extrem mit der anderer BRICS-Staaten, deren Wachstum im Vergleichszeitraum 2007 – 2017 bescheiden ausfällt: Südafrika (plus 19 %), Brasilien (plus 16 %), Russische Föderation (plus 12 %). In bereinigten BIP-Größen ausdrückt, verblieben sie damit entweder auf dem Niveau der G7-Staaten oder, im Falle Russlands, deutlich darunter. Hinzu kommt, dass viele sog. Schwellenländer ab Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst in verstärkte Krisen geraten sind, darunter auch solche wie die Türkei, die unmittelbar nach der großen Rezession als ökonomisch recht dynamisch erschienen. Der Grund dafür liegt wesentlich in den Bewegungen des globalen Finanzkapitals begründet und der Antikrisenpolitik der USA und der EU, die zu einem Abzug von Kapital aus vielen Halbkolonien führten und Währungen sowie ganze Volkswirtschaften unter Druck setzten. Das äußert sich auch in viel instabileren, rasch nach oben und unten ausschlagenden Konjunkturbewegungen dieser Länder.

Auch wenn sich Russland z. B. als imperialistische Macht neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit (Arbeit, die Mehrwert für das Kapital schafft) zahlenmäßig nur einem Bruchteil der Arbeiter:innen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist historisch gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrienation der Welt war.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen. Hinzu kommt darüber hinaus eine große Ungleichheit in der Entwicklung unter den verschiedenen lange etablierten, westlichen imperialistischen Mächten. Japan und Deutschland haben sich bis heute eine vergleichsweise stärkere industrielle Basis (und einen industriellen Exportsektor) erhalten. Das industrielle Kapital – und damit auch die industrielle Arbeiter:innenklasse – spielen eine vergleichsweise größere Rolle als in den USA oder Britannien. Frankreich und Italien wiederum kämpfen damit, dass ihr nationales

Kapital in der Konkurrenz dem deutschen strukturell unterlegen ist.

1.2 Vertiefte Unterschiede

Die letzten Jahrzehnte und besonders die Krise 2008 – 2010 haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und erreichte über Jahre nicht das Niveau der Phase vor 2007. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen  Krise –, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008.[iii]

Die Entwicklung in den USA, Deutschland und Kanada im XI. Weltmarktzyklus unterscheidet sich signifikant von jener Britanniens, Italiens, Frankreichs und Japans, wenn wir die Jahre 2007 – 2017 vergleichen. Die USA profitieren davon, dass sie mehr als andere Nationen die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland konnte sich einigermaßen schadlos halten, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrent:innen in der Eurozone basiert.

Jedenfalls durchlaufen die USA, Deutschland und Kanada nach der großen Rezession einen zyklischen Aufschwung, was auf andere Konkurrent:innen nicht oder nur eingeschränkt zutrifft.[iv]

Die massive Verlagerung der produktiven Arbeit im Weltmaßstab geht mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich, v. a. in Griechenland, der Prozess rasant fortgesetzt. Bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse sind langfristig arbeitslos oder unterbeschäftigt. Solche Länder folgten damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde. Anders als der Süden Europas erlebten jedoch einzelne Länder oder industrielle Branchen dort eine Stärkung als Zulieferer:innen oder Vorproduzent:innen von westlichen, v. a. deutschen Konzernen.

Außerhalb Europas entwickelte sich die Lage noch weitaus dramatischer, besonders in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch seit Jahrzehnten deindustrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige Länder der arabischen Welt (also jene, die nicht im Golfkooperationsrat vertreten sind).

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak, Afghanistan) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiter:innenschaft, ja, die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen: Sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

1.3 Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, nahmen die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zu. Natürlich stellt dies keine ungebrochene Tendenz dar. Gerade die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Mehrheit der Lohnabhängigen hat auch eine nivellierende, vereinheitlichende Wirkung. Eindeutig ist jedoch der Unterschied zwischen der Lebenslage der „oberen“, bessergestellten Schichten der Klasse und dem wachsenden Anteil „prekärer“, überausgebeuteter Teile größer geworden.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Teile der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden ein wachsendes Segment der Lohnabhängigen, das von „Niedriglohn“ leben muss. Darunter ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der Arbeiter:innenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst einigen Halbkolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 1950er, spätestens jedoch in den 1960er und auch 1970er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der Lohnabhängigen materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rival:innen (v. a. Deutschlands und Japans), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der Arbeiter:innenklasse während des Krieges in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung der USA als klare Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten und damit des US-Dollars als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der Arbeiter:innenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm, und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Die „neoliberale Wende“ mit historischen Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse unter Reagan und Thatcher und der Umstrukturierung in Lateinamerika änderte das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee und eröffnete neue Ausbeutungsgebiete. Die Rekapitalisierung Russlands, Osteuropas und Chinas ging mit einer grundlegenden Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses am Beginn der 1990er Jahre einher, was den USA die zeitweilige Festigung einer hegemonialen Vorherrschaft erlaubte, die seit den 1970er Jahren schon mehr und mehr erodiert war.

Alle diese Veränderungen haben bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt: erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D. h., ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v. a. in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut.[v] Der aktuelle Bericht der ILO vom Januar 2023 spricht von rund einer halben Milliarde Lohnarbeiter:innen, die entweder als statistisch erfasste Arbeitslose oder als „permanent“ aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedene dem Markt entzogen sind.[vi]

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von Arbeiter:innen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber:innen, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z. B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich erbärmlicher Wohn- und Lebensverhältnisse für Abermillionen Proletarier:innen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

2013 müssen rund 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 US-Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern/Bäuerinnen, Landlosen, Flüchtenden usw. –, aber eben auch Abermillionen Einwohner:innen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar/Tag.[vii]

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v. a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren auswuchsen, samt einer überausgebeuteten Industriearbeiter:innenschaft. So hatten die Wanderarbeiter:innen – die weltweit größte Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wurde „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten auf dem Land hatte, von industriellen Investor:innen angezogen und folgte ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer. Manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive Arbeiter:innenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später, für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als Gelegenheitsarbeiter:innen, kleine „Händler:innen“, Kriminelle, Paupers usw. verdingen muss. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Existenz selbst als extrem ausgebeutete und marginalisierte Schichten kaum sichern können. Der Kapitalismus hat für sie sogar als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentliche Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des/der Lohnsklav:in als solche/n immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“[viii]

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantast:innen können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v. a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen versucht dabei, die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu erreichen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen. Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu gelangen.

Dort drohen ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller:innen. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von Migrant:innen, bis heute als „Ausländer:innen“ behandelt, als „Gastarbeiter:innen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch extremerer Form in manchen Halbkolonien, v. a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im Wesentlichen aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von Migrant:innen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten Arbeiter:innenklasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ Arbeiter:innen (einschließlich früherer Generationen von Migrant:innen), schaffen länder- und sprachübergreifende Verbindungen.

Die Integration der Migrant:innen und Flüchtlinge in die Arbeiter:innenbewegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist folglich eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter:innen“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Abschließend wollen wir die globale Expansion der unteren Schichten des Weltproletariats noch an einigen Zahlen aus dem Jahr 2019, also vor der Coronapandemie und der damit verbundenen Rezession, illustrieren.

Lt. Berechungen der ILO[ix] waren 2019 2 Milliarden Arbeiter:innen im informellen Sektor beschäftigt oder rund 60 % aller Beschäftigten. D. h., die Masse der lohnabhängig Beschäftigten betrug rund 3,33 Milliarden, was nicht mit der Gesamtgröße der Arbeiter:innenklasse gleichgesetzt werden darf, da diese auch nicht-erwerbstätige Angehörige (zumeist Frauen), Kinder und nicht-beschäftigte Jugendliche, nicht mehr Arbeitssuchende und Rentner:innen inkludiert. Zweitens verbergen sich hinter dem Verhältnis enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Welt.

Dies zeigt ein Vergleich der „informality rate“ (Prozentsatz der informellen Arbeit) in verschiedenen Regionen im Jahr 2021:

Region Gesamt Männer Frauen
Afrika 82,9 80,0 86,6
Nordamerika 19,1 19,1 19,1
Lateinamerika und Karibik 56,4 56,2 56,7
Arabische Staaten (Gesamt, ohne Nordafrika) 60,2 61,1 55,6
Ostasien (inklusive China und Japan) 50,9 52,3 48,8
Südostasien und Pazifik 69,1 69,4 68,5
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch) 87,6 87,2 89,3
Süd-, Nord- und Westeuropa 17,5 16,1 19,1
Osteuropa (inkl. Russland) 21,7 23,3 19,8
Zentral- und Westasien 45,1 43,3 47,7

Quelle: ILO, World Econmic Outlook 2021, Tabelle selbst erstellt

Obige Tabelle spiegelt natürlich nicht direkt die Verteilung der Arbeiter:innenklasse wider. Informelle Arbeit ist beispielsweise nicht identisch mit Löhnen, die unter den Reproduktionskosten liegen (das kann einerseits auch im „formellen“ Sektor vorkommen, andererseits erstreckt sich die informelle Beschäftigung in manchen Ländern, z. B. in Indien, auch auf höher qualifizierte Berufe und kann in solchen Fällen auch ein Einkommen über den Reproduktionskosten schaffen). Darüber hinaus sind die statistischen Zahlen in einigen Ländern sehr unzuverlässig und auch die Vergleichbarkeit der Erhebungen ist schwierig. Aber diese Zahlen bieten einen Indikator für die globale imperialistische Ausbeutung.

Auch wenn in den imperialistischen Zentren der informelle Sektor in den letzten Jahrzehnten massiv zugelegt hat, so liegt er dort bei 20 % oder darunter. China hat zweifellos einen für eine imperialistische Macht vergleichsweise großen informellen Sektor, und die Zahlen bedürfen sicher einer gesonderten Analyse. Sie verweisen aber auf die große Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in diesem Land, die sich in einem großen informellen Sektor und einem enorm gewachsenen Gegensatz von Stadt und Land äußert.

Auch die geschlechtliche Zusammensetzung verweist zwar auf ein Übergewicht von Frauen, keinesfalls jedoch in allen Regionen. Das hängt sowohl mit der Struktur der Ökonomie zusammen als auch mit dem Arbeitsregime. So ist eine Ursache des relativ hohen Anteils informeller männlicher Arbeit in den arabischen Staaten in der Arbeitsmarktstruktur der Golfstaaten zu finden. Die beschäftigten Staatsbürger:innen arbeiten dort in der Regel nicht im informellen Sektor. Die Masse der produktiven Arbeiter:innenklasse besteht wiederum aus Migrant:innen, wobei bestimmte informelle Sektoren fast ausschließlich männliche Arbeitskräfte umfassen (z. B. Bauwirtschaft).

Grundsätzlich können wir sagen, dass die Zentren der globalen informellen Arbeit in den halbkolonialen Ländern liegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Osteuropa) beträgt der Anteil des informellen Sektors praktisch überall 50 % oder mehr. Extreme Formen der Ausbeutung der Lohnarbeiter:innenklasse sind für die Mehrheit des Proletariats seit Jahrzehnten die Regel.

Die Zentren der informellen Arbeit finden wir in Afrika (und hier noch einmal besonders südlich der Sahara) und in Südasien. Dort kann der Anteil informeller Arbeit von Lohnabhängigen nur noch durch weitere Proletarisierung nicht-lohnabhängiger Schichten gesteigert werden. Die hohen Anteile an informeller Arbeit in beiden Weltregionen dürfen jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf sehr unterschiedlichen Quellen beruhen. In Afrika, und vor allem südlich der Sahara, ist der Anteil industrieller Arbeit (mit Ausnahme Südafrikas) sehr gering. Diese Region ist seit einer ganzen Periode für die imperialistischen Staaten im Wesentlichen wegen der Plünderung von Rohstoffen (extraktive Industrie, teilweise Landwirtschaft) interessant. Im Gegensatz dazu wird ein beträchtlicher Teil der informellen Arbeit in Südasien, und hier wiederum v. a. in Indien, auch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, also zur Produktion industriellen Mehrwerts genutzt.

Es ist in dem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass der Anteil informeller Arbeit in Ost- und Südoststasien relativ geringer ausfällt. Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, dass sich dort auch wichtige imperialistische Ökonomien befinden, die den Schnitt drücken. Es handelt sich zweitens auch zum Teil um relativ entwickelte Halbkolonien mit einer starken industriellen Basis (Südkorea, Taiwan) sowie auch ärmere Halbkolonien, die zu wichtigen Produktionsstandorten für globale, auch industrielle, Wertschöpfungsketten mitierten.

Die Verbreitung industrieller Produktion im großen Maßstab führt dabei nicht nur zu einem Wachstum der Arbeiter:innenklasse, sie begünstigt früher oder später auch ökonomische Kämpfe zur Einschränkung extremer (informeller) Formen der Ausbeutung.

In diesen Ländern haben wir es in der Globalisierungsperiode, generell betrachtet und im Gegensatz zu den alten imperialistischen Zentren, aber auch in Afrika und Lateinamerika, mit einer extrem rasch wachsenden industriellen Arbeiter:innenklasse zu tun.

Diese agierte generell unter extremen Bedindungen – seien es direkt diktatorische oder despotische Regime oder Demokratien mit extremen bonapartistischen Tendenzen. Dennoch ist in vielen dieser Länder nicht nur eine neue Klasse von Lohnabhängigen, sondern auch eine Arbeiter:innenbewegung entstanden.

Während sie in den Jahren vor der Pandemie vor allem unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion kämpfen musste/konnte, muss sie seit 2020 unter den Bedingungen einer kapitalistischen Krise agieren, die sowohl durch globale Probleme bedingt ist als auch durch die zyklische Bewegung des eigenen Kapitals (Überakkumulation).

1.4 Alte und neue Arbeiter:innenaristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die bessergestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiter:innenaristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in den Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war.[x] Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „bessergestellten“ Arbeiter:innen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol, ab und aus der starken ökonomischen Stellung dieser Arbeiter:innenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der Arbeiter:innenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848–1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte.“[xi]

Gegen Lenins Theorie der Arbeiter:innenaristokratie sind in den letzten hundert Jahren viele Einwände erhoben worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relativ gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den Arbeiter:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Ware Arbeitskraft über eine längere Periode über ihrem Wert zu verkaufen, was nichts daran ändert, dass sie weiter Lohnarbeiter:innen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Lohnabhängiger ausfallen kann.

Darüber hinaus bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So bildeten z. B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig einen Teil der Arbeiter:innenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer Arbeiter:innenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistisch mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung dieser Schicht und damit auch der bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher Arbeiter:innenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiter:innenaristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maße und konnte sich als solche über eine historisch außergewöhnlich lange Periode  reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer, wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren, „Aristokratie“ lassen sich auch in den halbkolonialen Ländern, v. a. in den industriell fortgeschritteneren, wie, historisch betrachtet, auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten finden.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v. a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der Arbeiter:innenaristokratie (z. B. die Bergarbeiter:innen und Docker:innen unter Thatcher, die Fluglots:innen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja, teilweise zu bevorzugten. Deren Niederlagen zogen unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen nach sich, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der Arbeiter:innenaristokratie beobachten können. Erstens wurden diese Schichten aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der Arbeiter:innenaristokratie infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer zuvor oft nur formell dem Kapital unterworfenen Arbeit, entstanden.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v. a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z. B. den BRICS-Staaten, eine neue Arbeiter:innenaristokratie entstanden oder im Entstehen begriffen.

1.5 Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte seit Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland, Osteuropa und China haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die Arbeiter:innenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z. B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, so dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten Hunderte Millionen Lohnabhängige in multinationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – erfolgt.

Kapitalexport, die globalen Geldströme und spekulative Anlagen – kurz, sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, der Eigentumsstruktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der des imperialistischen Großkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche, Seite des „kapitalistischen Internationalismus“.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei „Niederreißen“ für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Diese Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat gerät letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung der Internationalisierung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke findet – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr durch die Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die Arbeiter:innenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht, insbesondere, weil ganze Gruppen von Arbeiter:innen, ganze „Standorte“, ja, ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat diese Entwicklung auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktionen geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktionen selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der Arbeiter:innenklasse noch dabei sind, sich auf die Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophale Entwicklung ab.

Seit 2020, also mit Beginn der synchronisierten Rezession, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, aufgrund der Erschütterungen globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten und infolge der massiven Zunahme der imperialistischen Konkurrenz bis hin zum Ukrainekrieg und den damit einhergehenden Turbulenzen der Weltwirtschaft nähern wir uns jedoch einem Punkt, wo die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Umschlag letztlich unvermeidlich. Seit 2020 befinden wir uns in einer Situation, in der diese Tendenz immer stärker wird – z. B. auch in Form der Rückholung bestimmter, vormals ausgelagerter Produktion.

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der Arbeiter:innenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden auf diese Weise Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung. Andererseits geht es v. a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt.

1.6 Reproduktionsprozess

Zugleich hat die Minderung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen auf Frauen, die Jugend, Kranke und Rentner:innen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Mit dem Ende des langen Booms und der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mitprägen, wird auch die Widersprüchlichkeit der Reproduktion deutlicher, gerät sie in eine Krise.

Für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die proletarischen Frauen bedeutet das:

Reproduktionsarbeit im staatlichen, kommunalen, öffentlichen Bereich, die nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgedehnt wurde, wird seit vielen Jahrzehnten faktisch zurückgedrängt. Dies führt generell zu einer Kürzung des Soziallohns, also faktisch zur Reduktion des Lohnfonds der gesamten Klasse.

Dieses Rollback geht oft mit einer Privatisierung vormals öffentlicher/staatlicher Reproduktionsarbeit oder zumindest mit der Einführung kapitalistischer Rechnungsführung in formal staatlichen oder genossenschaftlichen Institutionen einher.

Im fürs Kapital günstigsten Fall soll die Reproduktionsarbeit Profit für Eigentümer:in/Investor:in erwirtschaften. Die Dienstleistung (Gesundheit, Pflege, Bildung, Jugendbetreuung) wird durch Privatisierung zum Selbstzweck, unproduktive Arbeit zu produktiver fürs Kapital.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt das eine Katastrophe dar, vor allem für Frauen, Jugend, Alte und die unteren Schichten des Proletariats. Die Verschlechterung öffentlich geleisteter Reproduktionsarbeit geht Hand in Hand mit der Ausdehnung von Billiglohn, prekären Verhältnissen, Kürzungen bei Renten, Verteuerung von Gesundheit, Kitas einher. Für die Lohnabhängigen bedeutet das, dass größere Bestandteile ihres Einkommens für diese Reproduktionsarbeiten aufgewendet werden müssen – oder dass sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können.

Die Folge davon ist eine tendenzielle Ausweitung der privaten Reproduktionsarbeit, v. a. in den Halbkolonien und bei den einkommensschwachen und unterdrückten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Nur rund die Hälfte der globalen Arbeiter:innenklasse von rund 4 Milliarden Menschen verfügt über irgendeine Form sozialer Absicherung.[xii]

Für Millionen, wenn nicht Milliarden Lohnabhängige (und auch große Teil der verbliebenen Kleinbauern und -bäuerinnen) bedeutet dies, dass sie ihre Arbeitskraft nicht voll reproduzieren können.

All dies verstärkt die Ungleichheit und die reaktionären Tendenzen im Proletariat und in der Gesellschaft. Lohnabhängige Frauen werden verstärkt in Familien oder Ehen gezwungen; Kinder länger an diese gebunden, Alte ebenfalls.

Ebenso wie beim tendenziellen Abbau etablierter Formen international vernetzter produktiver Arbeit haben wir es auch hier mit einer offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Regression zu tun, mit einem globalen Zurückfallen hinter den zuvor erreichten Stand der Entwicklung.

Doch diese Entwicklungen laufen keineswegs ohne Widersprüche ab. Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung (Frauen*streiks) und die Betonung der Frage der Reproduktion reflektiert diese Entwicklung. Zugleich wird sie jedoch von den vorherrschenden Strömungen des linken Feminismus[xiii] (Feminism for the 99 %) falsch ideologisiert, faktisch auf den Kopf gestellt. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zeigt schlagend, wie sehr die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion von der Produktion bestimmt wird.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von Kürzungen, der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

2. Die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends

Nachdem wir oben auf einige zentrale Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der gesamten Globalisierungsperiode eingegangen sind, wollen wir uns näher mit den Auswirkungen der Rezession 2020 und 2021 befassen. Sie sind enorm und, was die Lage der Weltarbeiter:innenklasse betrifft, einschneidender als die jeder anderen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind in vieler Hinsicht deutlich größer als die Folgen der Krise 2008 – 2010, weil diese (a) weit weniger synchronisiert war, (b) mit keinem zeitweiligen Zusammenbruch globaler Produktions- und Vertriebsketten einherging und (c) die imperialistischen Staaten vergleichsweise einheitlicher, koordinierter agierten.

Im Folgenden wollen wir hier kurz einige der wichtigsten Auswirkungen auf die Arbeiter:innenklasse betrachten.

Die weltweite Wirtschaftskrise ging mit einem massiven Verlust an geleisteten Arbeitsstunden einher. 2020 wurden im Vergleich zu 2019 weltweit 8,8 % weniger geleistet. Das entspricht der Gesamtarbeit von 255 Millionen voll beschäftigten Arbeiter:innen pro Jahr bei einer 48-Stunden-Woche. 2021 waren es immer noch 125 Millionen Vollzeitjobs weniger als 2019. Zum Vergleich dazu: Während der Krise 2008/2009 stieg die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden, wenn auch nur um vernachlässigbare 0,2 %. Dies zeigt den synchronisierten Charakter der Rezession 2020 und die zeitweilige, erzwungene Einstellung bedeutender Teile der weltweiten Produktion. 2008 bis 2010 waren hingegen keineswegs alle Länder in gleichem Maße betroffen, und China konnte schon rasch als Lokomotive der Weltwirtschaft agieren. Die ILO rechnet damit, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwar 2022 weiter zunimmt, insgesamt aber selbst 2023 das Niveau von 2019 noch nicht erreicht werden wird (selbst unter der Annahme, dass der Krieg und die Sanktionen um die Ukraine beendet, die Inflation erfolgreich bekämpft und eine globale konterzyklische Politik in Gang gesetzt werden).

Der Rückgang der global geleisteten Arbeitsstunden entfällt 2020 zu etwa gleichen Teilen auf, teilweise staatlich finanzierte, Kurzarbeit (Äquivalent von 131 Millionen Vollzeitjobs) oder auf das direkte Anwachsen von Arbeitslosigkeit (124 Millionen). Die globale Rate von Bevölkerung zu Beschäftigung (global employment-population-ratio) fiel 2020 gegenüber 2019 um 2,7 % (im Vergleich dazu lag der Fall 2008 – 2009 bei 0,7 %). Insgesamt stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in der Krise 2020 und 2021 auf rund 220 Millionen Menschen. Auch wenn sie 2022 etwas absank, lag sie noch immer deutlich über den 186 Millionen registrierten Arbeitslosen 2019. Darüber hinaus sind diese Zahlen außerdem wahrscheinlich sehr geschönt, weil von einigen Ländern kaum oder nur sehr verspätet Daten eintreffen. Außerdem inkludieren sie nur Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, nicht solche, die aus dem Arbeitsmarkt „dauerhaft ausgeschieden“ sind. Die Verteilung zwischen (keineswegs immer bezahlter) Kurzarbeit und direkter Arbeitslosigkeit von 50 % zu 50 % lässt sich lt. ILO in den meisten Ländern konstatieren, außer in den einkommensstärksten. In diesen bestand die vornehmliche Antwort auf die Krise in der Kurzarbeit, was auch bedeutete, dass diese auf ein Ende der Pandemie oder deren Einschränkungen rascher und besser reagieren konnten. Die Erholung des Arbeitsmarktes fiel in den reicheren Ländern daher auch weit stärker aus.

Die Krise hat zu enormen Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse geführt. Das globale Lohneinkommen (also die staatlichen Transfers nicht eingerechnet) sank 2020 um 3,7 Billionen US-Dollar (8,3 %) gegenüber 2019. Dieser Trend hielt im ersten Quartal 2021 an (1,3 Billionen US-Dollar). Die ILO schätzt, dass die Anzahl der Arbeiter:innen in extremer (bis zu 1,9 US-Dollar pro Haushalt und Tag) oder „moderater“ Armut (1,9 – 3,2 US-Dollar je Haushalt und Tag) um 100 Million anwuchs. Damit wurden faktisch alle von den Vereinten Nationen im letzten Jahrzehnt proklamierten „Erfolge“ in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung von extremer und „moderater“ Armut von Lohnarbeitenden in den Jahren 2019 und 2020. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Haushalteinkommen mit mindestens einer/m beschäftigen Lohnarbeiter:in.

  Extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar/Tag in PPP) Moderate Armut (1,90 US-Dollar/Tag – 3,20 US-Dollar/Tag in PPP
Region 2019 2020 2019 2020
Afrika   31,8 % 145 Mil 34 154 24,1 110 26,2 119
Lateinamerika und Karibik 3,0 8,8 3,8 9,9 5,0 14 6,8 18
Arabische Staaten (Nicht-Golfstaaten, ohne Nordafrika) 17,6 4,5 Mil 18,7 4,7 14,9 3,8 17,0 4,2
Ostasien 0,5 5 0,8 7 2,9 29 3,9 34
Südostasien und Pazifik 2,6 9 3,9 13 11 38 14 47
Südasien 6,7 45 9,8 62 26,7 178 35,9 225
Zentral- und Westasien 1,6 1,1 1,9 1,3 6,1 4,3 7,4 5,0

Auch in den imperialistischen Ländern dürfen die Auswirkungen der Reallohnverluste keineswegs unterschätzt werden. Generell hat die Krise jedoch die Arbeiter:innenklasse in den halbkolonialen Staaten weit mehr getroffen.

Das hat mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Arbeitslosigkeit viel größer als in den westlichen, imperialistischen Zentren. Zweitens waren die Kurzarbeitsschemata knapper, weniger dauerhaft und auch weit häufiger nicht oder nur zu sehr geringen Teilen bezahlt. Drittens bedeutete die Dominanz informeller und ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse, dass die Arbeiter:innen in den meisten Halbkolonien über keine Sicherung und Reserven verfügten. Viertens traf die Rezession den informellen Sektor besonders hart, weil in vielen Halbkolonien hunderttausende kleine Unternehmen pleitegingen und, im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern, staatlich nicht gestützt werden konnten oder sollten. Fünftens wurden in den Halbkolonien seit der Krise neue Jobs im Wesentlichen in Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität geschaffen. So schätzte die ILO (2021), dass die durchschnittliche globale Arbeitsproduktivität von ohnedies schon mageren +0,9 % in der Periode 2016 – 19 in der 2019 – 2022 um 1,1 % sinken wird. Auch das ist ein untrügliches Zeichen von Stagnation und faktischem Niedergang.

Generell lässt sich sagen, dass die Krise die Arbeiter:innen in den Halbkolonien, die Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen weit härter traf als den Durchschnitt. Das trifft auch auf das Verhältnis von gelernten und ungelernten, von unqualifizierten, Arbeiter:innen mit mittlerer Qualifikation und akademisch ausgebildeten Kräften zu. Letztere waren am wenigsten von der Krise betroffen, konnten deutlich schneller und dauerhafter zum Homeoffice wechseln und erlitten deutlich geringere Job- und Einkommensverluste, zumal wenn sie in größeren Unternehmen arbeiteten oder staatlich Beschäftigte waren.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse wollen wir nur an einzelnen Zahlen illustrieren. 2020 sank die Beschäftigung von Frauen um 5 %, jene von Männern um 3,9 %. Hinzu kommt, dass geschätzt 90 % (!) dieser Arbeiterinnen, die ihre Jobs verloren, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Dies ist das Resultat (a) geschlechtlicher Diskriminierung und Unterdrückung am Arbeitsplatz und (b) besonders hoher Jobverluste in einigen Berufen mit hohem Frauenanteil oder (c) besonders hoher Gesundheitsrisiken in bestimmten Bereichen (Einzelhandel, Gesundheitswesen). Vor allem aber hängt es damit zusammen, dass Frauen in die private Carearbeit gezwungen wurden und werden, sei es, weil sie staatliche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Gesundheit, Altersvorsorge) nicht mehr bezahlen können oder diese gar nicht existieren. Die massive Verarmung der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse befördert zudem auch die Zunahme von Kinderarbeit in einigen Halbkolonien.

Ebenso sind Jugendliche besonders betroffen in Form von Arbeitslosigkeit, Jobverlusten, überproportional hohem Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen (faktisch die Regel für junge Arbeiter:innen).

Dies betrifft ebenso migrantische Arbeiter:innen und rassistisch Unterdrückte. Im Fall migrantischer Arbeiter:innen hat deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit auch massive Auswirkungen auf ihre Angehörigen in ihren Ursprungsländern, sei es, weil sie teilweise in diese mit Zwang zurückgeschickt wurden, sei es, weil sie keine oder deutlich weniger Lohnbestandteile an ihre Angehörigen schicken konnten, was zusätzlich die Verarmung der Arbeiter:innenklasse in den Ursprungsländern vergrößert.

Die Lage in den Halbkolonien wird zusätzlich durch das massive Anwachsen der Schulden verschlimmert. In den Jahren 2020 und 2021 setzten Kreditgeber:innen wie der IWF die Schuldenrückzahlung etlicher Halbkolonien aus, so dass diese die Krise etwas abfedern, zeitweise sogar kurzlebige konjunkturelle Feuerwerke entfachen konnten. Damit ist jetzt Schluss. Seither müssen die Schulden, teilweise mit zusätzlichen Auflagen verknüpft, zurückgezahlt werden.

Hier kommt ein weiteres mit der Rezession und Pandemie einhergehendes Phänomen hinzu. Seit 2020 können wir massive Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für agrarische Rohstoffe beobachten. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine explodierten sie geradezu. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022. Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

Die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien trifft das besonders hart, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben muss (50 – 100 %, verglichen mit 12 bis 30 % in den Industrieländern). Kein Wunder also, dass Millionen, auch Arbeitenden, Hunger droht.

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärfen die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leiden an Mangelernährung.

Zusammen mit der Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft die Erhöhung der Energiepreise, der für Wohnraum und eine generelle Erhöhung der Preise die Massen mit voller Wucht. Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken hier als Katalysatoren. In vielen Halbkolonien tritt außerdem zur Schulden- eine veritable Währungskrise.

Schließlich wird die drohende ökologische Katastrophe auch weitere Millionen in die Flucht zwingen. Diese ist eng verbunden mit einer Krise des gesamten Agrarsektors und seiner Abhängigkeit vom imperialistischen Finanzkapital.

Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls nachlassen. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen und erst recht angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Prognosen

Gegenüber dem Jahr 2020 brachte die Wende des Jahres 2021/22 eine gewisse Entspannung. So wuchs die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Jahr 2022 lt. ILO um 2,3 %. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von einem Prozent vorhergesagt.[xiv]

Die Ursachen dafür sind direkt Resultat der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre. Schon während der Pandemie wurden globale Lieferketten unterbrochen. Das schrumpfende Angebot führte schon damals zu signifikanten Steigerungen der Lebensmittelpreise für die Masse der Weltbevölkerung.

Angesichts der düsteren ökonomischen Aussichten können wir in den kommenden Jahren mit einer Stagnation der Größe der Arbeiter:innenklasse rechnen, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden.

Für die arabischen Staaten (d. h. in erster Linie in den reicheren Ländern) und Teile Afrikas wird eine Ausdehnung der Beschäftigung prognostiziert. Rohstoffreichtum begünstigt dabei vor allem die Rentierökonomien in den arabischen Staaten und einige Länder Afrikas. Bei den Prognosen für Afrika muss außerdem die große Ungleichheit, vor allem aber das schlechte Ausgangsniveau mit in Rechnung gestellt werden. Aufgrund des Wachstums der Bevölkerung und damit der Arbeitssuchenden werden die Arbeitslosenraten deshalb kaum zurückgehen.

In Asien, Lateinamerika und der Karibik wird von einem Beschäftigungswachstum von maximal einem Prozent ausgegangen – ein Wachstum, dem jedoch ein noch größeres der Bevölkerung in vielen Ländern entgegensteht. In den USA und Kanada rechnet die ILO 2023 mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, für Europa und Zentralasien sagt sie ein Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten voraus. In etlichen Ländern (auch Deutschland) wird das jedoch durch einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter konterkariert, was die Arbeitslosenraten relativ gering hält, ja, in etlichen Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht.

Eine stagnierende Weltwirtschaft wird also begleitet von einem Arbeitskräftemangel in den technologisch fortgeschritteneren Sektoren der Produktion wie auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das betrifft auf den ersten Blick vor allem die reicheren, entwickelteren Volkswirtschaften. Obwohl hier das Bildungs- und Ausbildungsniveau weiter über dem globalen Durchschnitt liegt, fehlt es an Fachkräften. Das hängt nicht nur mit einer veränderten Altersstruktur zusammen, sondern auch mit massiven Einsparungen (z. B. im Gesundheitswesen) und einem seit Jahren aufgebauten Mangel.

Global betrachtet, stellt sich das Problem noch viel schärfer. Die Kürzungen im Ausbildungssektor betreffen die Halbkolonien noch weit mehr als die imperialistischen Länder. Generell ist in den letzten Jahren der Anteil junger Menschen, die sich in Arbeit, Ausbildung oder Bildung befinden, nach Jahrzehnten der Zunahme rückläufig. 2022 waren lt. ILO 289 Millionen junge Menschen ohne Arbeit, Ausbildung und Schulbildung.[xv] Davon waren zwei Drittel junge Frauen. Generell liegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung unter jungen Lohnabhängigen deutlich höher als bei älteren.

Grundsätzlich wurden die Bildungskosten für die nächste Generation von Lohnabhängigen massiv reduziert, weil diese vom kapitalistischen Standpunkt aus Abzüge vom Gesamtprofit, „unnütze“ Kosten für das Einzelkapital bedeuten. Für dieses stellt eine Reduktion der Bildungskosten für die Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar, dem Fall der Profitrate durch Erhöhung der Ausbeutungsrate entgegenzuwirken. Allerdings mit einer fatalen, langfristigen Folge: Es werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte mit der geforderten Qualifikation ausgebildet. Die imperialistischen Ländern haben dabei noch eher die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, weil sie erstens über größere Reserven für Ausbildungs- und Bildungsinvestitionen verfügen, zweitens auf einen größeren Pool von ausgebildeten verrenteten Arbeiter:innen zurückgreifen können und drittens mittels einer selektiven Migrationspolitik vor allem qualifiziertere Lohnabhängige aus ärmeren Ländern mit geringeren Lohnniveaus anziehen können (ohne einen Cent für deren Bildungskosten auszugeben).

Insgesamt schätzt die ILO, dass 2022 3,6 Milliarden Menschen lohnabhängig beschäftigt waren. Die Beschäftigungsrate (Labour Force Participation Rate) an der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei 60 % und somit unter dem Niveau von 2019. Für die Jahre 2023 und 2024 wird ein weiterer, leichter Rückgang prognostiziert.

Von den 3,6 Milliarden waren 2 Milliarden informell beschäftigt. 2022 gab es zudem weltweit 473 Millionen Jobsuchende (davon 213 Millionen Arbeitslose). Auch nach der Pandemie und in der kurzen „Erholung“ 2021/22 setzten sich die globalen Ungleichheiten weiter fort. Frauen sind nicht nur weiterhin auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Krise hat auch insofern zu einer Verschlechterung geführt als 80 % der Frauen, die 2021/22 wieder Arbeit fanden, dies im informellen und in schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft taten, was ihre abhängige Rolle weiter verstärkt.

Von den 3,6 Milliarden Beschäftigten verfügen 2 Milliarden über keine Form der sozialen Absicherung, sei es durch den Staat oder durch Versicherungsleistungen. Betrachten wir die gesamte Weltbevölkerung, so beläuft sich diese Zahl auf rund 4 Milliarden, also praktisch die Hälfte aller Bewohner:innen dieses Planeten. Wie die Pandemie, Inflation und Klimakatastrophen zeigen, verfügen diese Menschen kaum über Reserven – und die kommenden Jahre werden ihre Lage tendenziell noch prekärer machen.

2022 sanken im globalen Durchschnitt die Arbeitseinkommen und blieben unter den Inflationsraten. Diese Entwicklung betrifft vor allem die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo der Reallohnverlust durchschnittlich 2,2 % betrug.[xvi] Allerdings spiegeln die Inflationsraten nur sehr unzureichend die Veränderung der Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, so dass es erscheinen mag, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern stärker als jene in den Halbkolonien betroffen wären. Das ist aber falsch. In den Halbkolonien müssen die Arbeitenden einen weitaus größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse aufwenden, da die Preissteigerung für Nahrungsmittel und anderer für die Lohnabhängigen essentieller Güter oft deutlich über der Inflationsrate liegt.

Alle oben beschriebenen Entwicklungen wurden durch den Krieg um die Ukraine verschärft, der seinerseits Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist. Er geht mit einem offenen Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland einher, der aber letztlich nur einen Faktor einer weit größeren Konfrontation mit China darstellt. Diese Konkurrenz drängt zur Bildung von politischen und ökonomischen Einflusssphären der verschiedenen Blöcke, zu einer Fragmentierung des Weltmarktes und damit verbunden auch zu einer Veränderung globaler Produktions- und Lieferketten. Der Krieg um die Ukraine führt außerdem auch zur massiven Forcierung der Rüstungsproduktion. Das wird sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, selbst wenn es zu einer (zeitweiligen) Befriedung in der Ukraine kommen sollte.

All dies wird damit einhergehen, dass die Nahrungsmittelpreise weiter hoch bleiben. Gerade in den Halbkolonien wird das auch auf die Energiepreise zutreffen, sei es, weil die Streichung staatlicher Preisstützungen für die Massen zu den Grundbedingungen der IWF-Maßnahmen gehören, in die mehr und mehr Länder des globalen Südens aufgrund von Schulden- und Währungskrisen gezwungen werden, sei es aufgrund geringer Versorgungssicherheit und Knappheit. Inflation wird für die Arbeiter:innenklasse dieser Welt also weiter ein zentrales Problem bleiben.

Zu diesen aus der verschärften Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt kommenden Faktoren tritt die ökologische Krise. 2022 verdeutlicht die enorme Gefahr, die der Weltbevölkerung droht, vor allem und zuerst im globalen Süden. Die Weltlage verschärft dieses Problem, das der Kapitalismus ohnedies schon unfähig ist zu lösen. Extremwetterlagen und Fluten wie 2022 in Pakistan, als rund ein Drittel der Bevölkerung von der Katastrophe direkt betroffen war, werden sich in den kommenden Jahren wiederholen. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet dies vor allem in den halbkolonialen Ländern eine dauerhafte, ja sich verschärfende Ernährungskrise, eine dramatische Zerstörung von Wohnraum. Die Folgen sind Hungersnöte und Massenflucht von Abermillionen.

Schon die Coronapandemie und die Wirtschaftskrise in den Jahren 2020 und 2021 haben weltweit zu Millionen von Toten, massiven Einkommensverlusten und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse geführt. Aufgrund von Rezession, Gesundheitskrise und Krieg sind die Rücklagen (sofern sie überhaupt welche hatten) der Masse der Lohnabhängigen im globalen Süden, aber auch der unteren und ärmeren Schichten in den imperialistischen Ländern aufgebraucht. Dabei stehen wir längst nicht am Ende, sondern mitten in einer weiteren Welle von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse.

3. Die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats

Nationaler Schulterschluss und Klassenkollaboration

Seitens der Gewerkschaften, sozialdemokratischen, stalinistischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Parteien und Organisationen gab es wenig bis gar keinen organisierten Widerstand gegen die Angriffe der Jahre 2020 – 22. Stattdessen suchten die Führungen der Massenorganisationen in den meisten Ländern in den ersten beiden Jahren der Pandemie die nationale Solidarität mit der herrschenden Klasse und verfolgten eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen effektiv denen des Kapitals unterordnete. Sie unterstützten eine inhärent widersprüchliche und halbherzige Pandemiepolitik der herrschenden Klasse, die, von wenigen Ausnahmen wie in China abgesehen, zwischen einer Strategie der Abflachung der Kurve (d. h. der Begrenzung der Pandemie auf ein Niveau unterhalb des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems) und Durchseuchung schwankte. Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, hat sich in den meisten Ländern letztere Strategie, einschließlich der dauerhaften Inkaufnahme von gesundheitlichen Folgeschäden, durchgesetzt.

Die Politik des nationalen Schulterschlusses trug maßgeblich zu massiven Einkommensverlusten für die Arbeiter:innenklasse, die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt wurden, bei. In den imperialistischen Staaten und einigen Halbkolonien wurden diese zwar durch staatliche Interventionen und Kurzarbeit abgefedert, an der grundlegenden Entwicklung ändert das aber nichts. Die Gewerkschaften und auch die reformistischen Parteien fungierten in den imperialistischen Kernländern als Co-Managerinnen der Krise. Die meisten von ihnen sicherten den industriellen und gewerkschaftlichen Frieden. In vielen Ländern wurden im Gegenzug für (unzureichende) staatliche Rettungspakete und Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und zur Begrenzung von Einkommensverlusten die gewerkschaftlichen Kämpfe faktisch ausgesetzt und Tarifverhandlungsrunden verschoben.

Das bedeutet nicht, dass wir in dieser Phase gar keine erlebten. Vielmehr wurden diese in Ländern wie Italien und Spanien zu Beginn der Pandemie organisiert, um Gesundheitsschutzmaßnahmen und Fabrikschließungen überhaupt erst durchzusetzen.

In den meisten Ländern suchten die etablierten Führungen der Arbeiter:innenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, Gewerkschaftsführer:innen und Linkspopulismus) in der Regel ein Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse und versuchten, (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und Sozialpartnerschaft zu bilden. Dies geschah entweder in Form einer direkten Regierungsbeteiligung oder politischen Unterstützung der „demokratischen“ bürgerlichen Parteien (US-Demokrat:innen, Liberale, Grüne). Diese Politik der offiziellen Führungen der Arbeiter:innenbewegung trug ihrerseits wesentlich zum weiteren Aufstieg der Rechten bei, was wiederum als weitere Legitimation für eine Politik der Klassenkollaboration herhalten sollte.

Diese Politik wird in vielen Ländern im Grunde bis heute fortgesetzt – nur diesmal unter dem Vorzeichen der notwendigen Zurückhaltung zugunsten der Unterstützung der Bourgeoisie im neuen Kalten Krieg und insbesondere in der Sanktionspolitik gegen Russland. Faktisch unterstützen im Krieg um die Ukraine sowohl alle großen sozialdemokratischen Parteien, die Führungen der meisten Gewerkschaftsverbände als auch zahlreiche Linksparteien die Kriegsziele des westlichen Imperialismus. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die dortigen staatsnahen Gewerkschaften verteidigen derweil den Angriffskrieg und die Eroberungen des russischen Imperialismus.

Gewerkschaften

Insgesamt hat die Politik der Klassenzusammenarbeit seit Jahren den anhaltenden Trend eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades weiter verschärft. Natürlich wird dieser nicht nur durch die falsche bürgerliche Politik der Führung bedingt, sondern ist  selbst eine Folge der Umstrukturierung des Kapitals und der damit verbundenen Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse. Die Gewerkschaften unter Führung der Bürokratie haben aber darauf keine Antwort gefunden. Vielmehr hoffen sie, die verlorene Organisationsmacht durch Korporatismus und Integration in ein System der Klassenkollaboration auszugleichen. Dies wird zum Teil auch mit aktivistischen Kampagnen (z. B. Organizing) verknüpft, die aber die Kontrolle der Bürokratie nicht in Frage stellen sollen (und können). Teilweise gelingt es den Gewerkschaftsapparaten in einigen Staaten noch, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Verhandlungsmacht auch in gewerkschaftlich schwach organisierten Bereichen aufrechtzuerhalten. Doch dies stellt nur ein Nebenprodukt ihrer Stellung im nationalen Gefüge von Korporatismus und Sozialpartner:innenschaft dar (und steht und fällt mit der Fähigkeit, diese aufrechtzuerhalten).

Dies wird aber immer schwieriger. Denn grundsätzlich schwächt die Politik der Klassenkollaboration die etablierten Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen. Sie werden reduziert auf Schichten der Arbeiter:innenaristokratie oder Beschäftigte im staatlichen Sektor. Auch dort findet diese Politik eine gewisse soziale Basis – allerdings eine, die tendenziell schrumpft, was zu einer Schwächung der Bürokratie, aber auch der Organisationen selbst führen könnte.

Die unmittelbare, sehr kurzlebige, Erholung und der Aufschwung nach der Rezession 2020/21 führten in einigen Ländern zu einer Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Militanz und zu teilweise sehr beeindruckenden Kämpfen um die Organisierung zuvor nicht organisierter Sektoren. Doch diese neue Schicht von Gewerkschaftsaktivist:innen wird sich nun unter veränderten Bedingungen massiver Preissteigerungen bewähren müssen. Die Auseinandersetzungen haben zwar kleinere oder größere Schichten von Aktiven und Kampferfahrungen hervorgebracht, aber die Kontrolle der bürokratischen Apparate nicht wesentlich in Frage gestellt (in einigen Fällen sogar gestärkt). In der Regel sind sie nicht über die Ebene der wirtschaftlichen Klassenkämpfe oder von der Bürokratie kontrollierten Mobilisierungen hinausgegangen.

Dies gilt auch für die massiven Streikbewegungen in Indien, die Hunderte von Millionen mobilisierten – allerdings letztlich für begrenzte eintägige Aktionen ohne weitere Kampfperspektiven.

Auch in Europa erlebten wir trotz Krieges gegen die Ukraine einen Aufschwung von politischen und gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen (Britannien, Spanien, Frankreich und sogar in Deutschland). Diese führen zweifellos zur Politisierung neuer Schichten. Die Strategie der Gewerkschaftsführungen stellt aber ein zentrales Hindernis im Kampf dar, so dass sowohl den Millionen, die im Kampf gegen die Rentenreform Macrons mobilisiert wurden, als auch den Tarifkämpfen in Britannien und Deutschland Ausverkauf und Niederlagen drohen.

Insgesamt befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – einer Krise, die allerdings in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annimmt.

Zugleich ist die Arbeiter:innenklasse in allen Ländern mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und Einschränkungen des Streikrechts konfrontiert. Aber diese fallen sehr unterschiedlich aus. In den meisten europäischen Ländern unterstützt die Bürokratie diese Gesetze nicht nur stillschweigend, sondern nutzt sie auch, um ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu festigen. In den USA hingegen ist die Machtposition der Gewerkschaften in der Gesellschaft wesentlich schwächer, so dass auch der Kampf um ihre Anerkennung eine größere Rolle einnimmt.

In diesen Ländern (aber auch in vielen lateinamerikanischen) stützen sich die Gewerkschaftsbürokratien entweder auf „ihre“ sozialdemokratischen Arbeiter:innenparteien oder auf ihre Verbindungen zu den Demokrat:innen oder populistischen Parteien, um auf nationaler Ebene jene Gesetze durchzusetzen, die ihnen einen branchen- und betriebsübergreifenden Gestaltungsspielraum für das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ermöglichen. Im Gegenzug sind sie bereit, als soziale Stütze der Regierungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaftsführungen betreiben aktiv eine Politik der Klassenkollaboration (die sich mitunter auch auf Arbeit„nehmer“:innenschichten stützen kann, insbesondere in den Großbetrieben).

Insgesamt ist auch eine weitere Zersplitterung der Gewerkschaften zu beobachten, deren Kehrseite die eher willkürliche Verschmelzung verschiedener Branchengewerkschaften darstellt. In den Halbkolonien ist diese Zersplitterung noch viel stärker ausgeprägt.

Wenn sich die Gewerkschaftsapparate und mit ihnen auch die Gewerkschaften selbst dem bürgerlichen Staat annähern (entweder direkt oder vermittelt über reformistische, populistische, nationalistische oder linksbürgerliche Parteien), wird umgekehrt der Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse kleiner. Zwar haben die Pandemiekrise und teilweise die Kosten des Ukrainekrieges dazu geführt, dass staatliche Hilfsmaßnahmen über Schulden finanziert und damit auch als Verhandlungserfolg der Gewerkschaftsbürokratie dargestellt werden konnten, doch droht die Inflation, dies nun aufzufressen, und die herrschende Klasse wird über kurz oder lang ihren finanzpolitischen Kurs ändern, was verstärkte Angriffe nach sich ziehen wird.

In den Halbkolonien hat dies alles längst viel dramatischere Formen angenommen. Dort findet zwar auch Korporatismus statt, aber auf einer viel schmaleren wirtschaftlichen Basis. Daher ist der Organisationsgrad im Allgemeinen niedriger, manchmal sogar extrem niedrig (weniger als 5 % der Klasse), und die Gewerkschaftslandschaft ist gleichzeitig viel stärker zersplittert. Zahlreiche kleine Gewerkschaften, die oft nur auf betrieblicher und regionaler Ebene existieren, verfügen über keine wirkliche Kampfkraft.

In diesen Ländern stellt die Organisierung der Unorganisierten und die Reorganisation der Gewerkschaften in Branchengewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf einer demokratischen, klassenkämpferischen Basis ein zentrales, unmittelbares Kampfziel dar.

In Ländern, in denen die Gewerkschaften unter diktatorischen Bedingungen arbeiten müssen, stehen wir einem weiteren, anders gelagerten Problem gegenüber. Auch dort stellt sich zwar das Problem der Einbindung staatlich anerkannter Gewerkschaften ebenso wie der Versuch des Staates, korporatistische Betriebsstrukturen für die Beschäftigten zu schaffen und damit Konflikte institutionell zu regeln. Verschärft wird dieses Problem jedoch durch die Illegalität bzw. eingeschränkte Legalität der politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, sogar der mit reformistischem Charakter.

Schließlich konfrontiert die aktuelle Situation die Gewerkschaften und betrieblichen Aktivist:innen mit politischen Fragen (Krieg, Pandemiepolitik), der tieferen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Klasse und dem Verhältnis zum Staat und den bürgerlichen Institutionen.

Politische Organisationen

Dabei verbinden die Gewerkschaftsbürokratien den Ökonomismus mit bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik. Dies geschieht entweder in Form eines Bündnisses mit offen bürgerlichen Parteien oder mit dem Linkspopulismus als deren linkester Variante.

Auch wenn der Linkspopulismus oft ähnliche Forderungen wie sozialdemokratische oder stalinistische Parteien vertritt, ist das Verhältnis von reformistischen und populistischen Parteien zur Arbeiter:innenklasse grundlegend verschieden. Reformistische Parteien stützen sich organisch auf die Arbeiter:innenklasse und sind durch einen inneren Widerspruch zwischen der proletarischen sozialen Basis und der bürgerlichen Politik gekennzeichnet. Die populistischen Parteien hingegen, die sich auf ein Bündnis verschiedener Klassen stützen, die zum „Volk“ ideologisiert werden, sind letztlich Volksfronten in Parteiform.

Die Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen Periode verschiedene Zwischen- und Übergangsformen, einschließlich linkspopulistischer (oder sogar liberal-bürgerlicher) Flügel, in reformistischen Parteien bilden, dass einige linkspopulistische Formationen noch keinen festen Rückhalt in Teilen der Bourgeoisie haben, bedeutet, dass an der gesellschaftlichen Oberfläche der Unterschied zwischen linkspopulistischen Parteien und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verschwinden scheint. Hinzu kommt, dass sowohl populistische als auch reformistische Parteien klassenübergreifende Blöcke und Bündnisse in Regierungen anstreben und daher auch als Teile einer bürgerlichen Koalitionsregierung oder einer Volksfront auftreten.

Diese direkte Suche nach Koalitionsregierungen mit dem „linken“ oder „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie, die Tendenz zur Volksfrontpolitik entspricht der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften und markiert einen weiteren Rechtsruck der traditionellen reformistischen Parteien. Dies geht oft mit deren Niedergang und manchmal auch mit internen Tendenzen einher, die organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse zu lösen.

All dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hinwendung oder der Wandel zum Populismus eine weitere Entwicklung weg von einer Politik bedeutet, die auf organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse beruht. So stellt das Schrumpfen des Reformismus zugunsten des Linkspopulismus eine allgemeine Schwächung der Arbeiter:innenklasse dar, auch wenn dies, wie z. B. das Wachstum der frühen „Grünen“ auf Kosten der Sozialdemokratie (und des Stalinismus), oberflächlich betrachtet, als Linksentwicklung erscheinen mag. Das kleinbürgerliche oder populistische Strohfeuer entpuppt sich regelmäßig als ein Weg nach rechts.

Im Grunde ist der Vormarsch klassenübergreifender Ideologien wie des Populismus Ausdruck der Niederlagen der Arbeiter:innenklasse und eine Folge der verräterischen Politik der Führungen von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.

Gleichzeitig ist der Vormarsch von Populismus, Identitätspolitik und Formen des bürgerlichen Individualismus (Queertheorie) nicht nur in der politischen und ideologischen Krise der Arbeiter:innenklasse begründet, sondern auch in der veränderten Situation der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und auch der Kleinunternehmer:innen in der Krise. Unter stabilen Bedingungen fungieren sie eigentlich als Stütze der bürgerlichen Ordnung und Demokratie.

In der Krise allerdings entdecken sie ihre „Unabhängigkeit“. Sie kritisieren die „Elite“, indem sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Strömungen des Kapitals unterscheiden; aber sie gerieren sich auch „radikal“ und fordern einen Bruch mit der „traditionellen Klassenpolitik“ oder dem, was Sozialdemokratie und Stalinismus daraus gemacht haben. Im linken Spektrum äußert sich diese kleinbürgerliche Strömung ideologisch auf unterschiedliche Weise: als linker Populismus, Identitätspolitik, Queertheorie, Befreiungsnationalismus, Postkolonialismus und in vielen anderen Schattierungen. Philosophisch-methodologisch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Postmoderne und, vermittelt durch diese, mit den reaktionärsten, oft subjektiv-idealistischen und irrationalistischen Strömungen der westlichen Philosophie.

Die gegenwärtige Krise wird auch weiterhin einen Nährboden für diese kleinbürgerlichen Ideologien bieten – natürlich nicht nur in ihren linken, sondern vor allem auch in ihren rechten Spielarten – zumal einige dieser Ideologien bereits tief in die organisierte Arbeiter:innenbewegung und die politische Linke eingedrungen sind.

Kleinbürgerliche Ideologien stellen schon längst eine besonders wichtige und prägende Kraft in der Frauen*streikbewegung und im zeitgenössischen Feminismus dar, aber auch in klassenübergreifenden Massenbewegungen (Ökologie, Antirassismus). Das Beispiel der Gilets Jaunes in Frankreich veranschaulicht die Gefahr, wenn Populismus zur führenden politischen Ideologie einer Massenbewegung wird. Die Gefahr, dass die radikale Rechte diese Bewegung auf elektoraler Ebene wie überhaupt im politischen Raum für sich vereinnahmt oder eine dominante Rolle ausübt, spiegelt einen weiteren Rückgang des sozialen Gewichts der Arbeiter:innenklasse wider.

Der Populismus und andere kleinbürgerliche Ideologien sind jedoch nicht die einzigen, die versuchen, die Krise der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien auf der Linken zu lösen.

In den letzten Jahren ist auch eine neue Strömung des linken Reformismus entstanden – zum Beispiel in Teilen der europäischen Linksparteien, im Corbynismus in der Labour Party oder auch in Teilen der DSA in den USA. Das Scheitern Corbyns zeigt deutlich die Grenzen dieser Strömung, ist aber keineswegs mit ihrem Ende zu verwechseln.

Zeitschriften wie „Jacobin“ oder die Stiftungen der ELP (Luxemburg Foundation) haben in den letzten Jahren begonnen, eine „neue“ reformistische Strategie zu etablieren und versuchen, sie als Alternative zur alten Sozialdemokratie, zu den „Grünen“ und zum Linkspopulismus zu verbreiten. Unter dem Titel „Transformationsstrategie“ berufen sie sich auf Theoretiker wie Kautsky, Gramsci, Poulantzas, um eine antibolschewistische, „sozialistische“ Strategie zu rechtfertigen, die den revolutionären Sturz der herrschenden Klasse und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch einen langwierigen Kampf um die „Hegemonie“ und eine „schrittweise Transformation“ von Staat und Gesellschaft ersetzen will. Dieser „neue“ Reformismus ist natürlich nicht neuer als seine historischen Vorbilder im marxistischen Zentrum der II. Internationale, dem Austromarxismus oder dem Eurokommunismus. Aber die Theoretiker:innen und Ideolog:innen dieser Strömung stellen ihn als Versuch dar, einen „neuen Marxismus“ zu begründen, der den Gegensatz von Reform und Revolution versöhnt. In Wirklichkeit entpuppt sich das als wieder aufgewärmter Revisionismus.

Die „radikale“ Linke und der Zentrismus

Im Allgemeinen konnte die „radikale“ Linke wenig oder gar nicht von den politischen Krisen des Reformismus und der Anpassung der Gewerkschaftsführungen an Kapital und Staat profitieren. Im Gegenteil, sie erlebt einen weiteren politischen Niedergang.

Die Linke aus „postmarxistischen“ und (post)autonomen Bewegungen schwankt zwischen einer opportunistischen Anpassung an andere Kräfte (kleinbürgerlich geführte Bewegungen oder auch den linken Apparaten in Gewerkschaften und reformistischen Parteien) einerseits und einer romantisierenden Rückkehr zu ultralinken Formen von „Militanz“ andererseits. Beiden gemeinsam ist eine Fetischisierung von Formen des spontanen Prozesses, die je nach ideologischer Ausrichtung durch Teile der Klimabewegung, Organizing-Kampagnen in den Gewerkschaften, „Nachbarschaftsarbeit“ oder direkte Aktionen verkörpert werden. Diese Fetischisierung der Form ersetzt jede systematische Entwicklung eines Programms, einer Strategie und Taktik.

Auch wenn diese Strömungen theoretisch und programmatisch in einer Sackgasse stecken und vor allem keine Antwort auf die Kriegsfrage und die zunehmende imperialistische Blockkonfrontation geben, können wir keineswegs ausschließen, dass sie – ähnlich wie verschiedene Spielarten des Anarchismus – Anziehungskraft auf sich radikalisierende Teile der Jugend und kämpferische Arbeiter:innen entwickeln können, gerade weil sie eine einfache Antwort auf den Niedergang des Reformismus und die Krise der Arbeiter:innenbewegung zu liefern scheinen.

Diese Formen des kleinbürgerlichen Linksradikalismus müssen von zentristischen Kräften unterschieden werden, also solchen, die zwischen Reform und Revolution, zwischen bürgerlicher und revolutionärer Arbeiter:innenpolitik schwanken. Der Zentrismus ist im Grunde ein kurzlebiges politisches Phänomen, denn ein länger andauerndes Pendeln zwischen diesen Polen im Klassenkampf ist für eine Partei, die bedeutende Teile der Klasse führt, unmöglich.

In den letzten Jahren, ja, sogar Jahrzehnten, hat sich keine zentristische Massenpartei gebildet, die mit der Partido dos Trabalhadores (PT = Arbeiter:innenpartei) bei ihrer Gründung oder der USPD im Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Einem solchen Phänomen am nächsten kam die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA = Neue antikapitalistische Partei), die es aber aufgrund ihrer inneren Widersprüche nie vermochte, über das Stadium einer großen Propagandaorganisation hinauszuwachsen und wirklich eine Partei zu werden.

Wir haben es heute entweder mit zentristischen Wahlfronten zu tun, wobei die erfolgreichste und größte zweifellos die Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (FIT-U = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) in Argentinien darstellt, oder mit rechtszentristischen Strömungen innerhalb reformistischer Formationen (z. B. in Teilen der Democratic Socialists of America, DSA).

Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass solche zentristischen Formationen in der nächsten Zeit eine größere Anhänger:innenschaft gewinnen werden. Solche können natürlich nicht nur aus sozialdemokratischen Formationen oder trotzkistischen Kräften entstehen, sondern auch aus linksstalinistischen oder politischen Differenzierungen innerhalb von Massenbewegungen. Wo diese Kräfte zu einem Phänomen werden, das bedeutende Teile der Avantgarde umfasst, müssen Revolutionär:innen in diesen Prozess eingreifen und für eine wirklich revolutionäre Ausrichtung kämpfen.

Im Allgemeinen befinden sich die trotzkistisch-zentristischen Organisationen jedoch in einer tiefen Krise. Mehrere Strömungen – allen voran das Vereinigte Sekretariat, das sich vor einigen Jahren ironischer Weise in Vierte Internationale umbenannt hat – sind nach rechts gerückt und haben Sektionen und Mitglieder verloren. Andere, wie die International Socialist Tendency (IST = Internationale Sozialistische Tendenz), treten kaum noch als internationale Strömungen in Erscheinung. Das Committee for a Workers International (CWI = Komitee für eine Arbeiter:inneninternationale) hat sich in zwei etwa gleich große Teile gespalten. Das Gleiche gilt für die Partido Obrero (PO = Arbeiter:innenpartei) und ihre internationale Strömung.

Unter den größeren zentristischen Strömungen haben sich die aus dem Morenismus hervorgegangenen (Liga Internacional dos Trabalhadores, LIT; Unidad Internacional de Trabajadoras y Trabajadores, UIT) konsolidiert, wenn auch mit einer abenteuerlichen Politik, die zwischen Opportunismus und Sektierertum schwankt. Nur zwei große internationale Strömungen sind gewachsen oder befinden sich im Wachstum: Die International Marxist Tendency (IMT = Internationale Marxistische Tendenz), die sich als eine eher „orthodoxe“ Form des Marxismus mit einer starken propagandistischen Ausrichtung präsentiert, und die Fraccíon Trotskista (FT) mit der argentinischen Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) als größter Sektion.

IMT und FT/PTS (wie letztlich auch LIT und UIT) versuchen, sich als orthodoxe Kräfte zu präsentieren, die eine marxistische oder klassenunabhängige Alternative zum Reformismus und verschiedenen kleinbürgerlichen Strömungen darstellen. Ihre Stärke liegt zweifellos in einer umfangreichen propagandistischen Tätigkeit und, insbesondere im Fall der FT, in einer sehr systematischen Nutzung der sozialen Medien. Die Frage der Neuformulierung des revolutionären Programms stellt sich bei beiden nicht wirklich (ebenso wie bei UIT und LIT). Beide sind ironischer Weise durch ein Abgleiten in Richtung Ökonomismus und Spontaneität und eine Ablehnung von Lenins Konzeption der Entstehung von Klassenbewusstsein (und damit des Kerns der leninistischen Parteitheorie) gekennzeichnet.

Beide Strömungen könnten in naher Zukunft weiter wachsen. Allerdings sind die inneren Widersprüche, die die jeweiligen Organisationen in eine Krise stürzen können, sehr unterschiedlich. Die IMT lebt von der Isolierung ihrer Mitglieder vom „Rest“ der Linken in einer höchst sektiererischen Weise. Es ist die Konfrontation mit der Realität des Klassenkampfes und verschiedenen anderen Strömungen, die das Weltbild der IMT-Anhänger:innen erschüttern kann und wird, wie bei früheren Abspaltungen dieser Strömung.

Die Widersprüche der PTS/FT-Strömung ergeben sich aus ihrer theoretischen Hinwendung zu Gramsci (und weg von Marx‘ Ideologiebegriff und Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein), den methodischen Schwächen ihres Imperialismusverständnisses (und der damit verbundenen Fehlcharakterisierung Chinas und Russlands), ihrem Missverständnis von Reformismus und Einheitsfronttaktik sowie den inneren Widersprüchen der FIT in Argentinien.

Wir müssen die Entwicklung sowohl der krisengeschüttelten als auch der wachsenden zentristischen Strömungen genau verfolgen und unsere Kritik vor allem an ihren inneren Widersprüchen und programmatischen Schwächen ansetzen.

Die Krise des Zentrismus hat auch zur Entwicklung kleinerer linksgerichteter Organisationen und Gruppen geführt, die als Opposition innerhalb bestehender internationaler Tendenzen agieren oder eine revolutionäre Umgruppierung vorantreiben wollen (so die International Trotskyist Opposition, ITO, oder die Internationale Revolutionäre Tendenz, TIR, oder der linke Flügel der NPA). Natürlich gibt es auch mit diesen Gruppen wichtige programmatische und methodologische Unterschiede. Aber ihre Entwicklung verweist darauf, dass sich in der kommenden Periode auch Gruppierungen nach links entwickeln oder in eine Krise geraten können, die eine Möglichkeit für revolutionäre Umgruppierung schafft, für den Aufbau einer größeren revolutionären Tendenz, die viel effektiver in den Klassenkampf weltweit eingreifen und sich auf eine neu entstehende Avantgarde beziehen kann, denn die aktuelle Krise wird alle Strömungen und Ideologien auf die Probe stellen.

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist dabei gezwungen, auf die Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mögen, so hat auch die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Es macht daher Sinn, sich wichtiger Lehren der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu besinnen, wie aus dem Zustand der Schwäche, ja, Marginalisierung eine Stärke der revolutionären Kräfte möglich ist, ohne in Sektierertum oder Opportunismus abzugleiten.

4. Historische Lehren

Schließlich stellt sich für alle Strömungen der „extremen Linken“ die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau einer revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der Arbeiter:innenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v. a. auch versuchen, Wege und Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse gegen den Faschismus hatten die Trotzkist:innen als „externe Fraktion“  für eine Reform der Kommunistischen Internationale gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen Linksopposition“, also den „Trotzkist:innen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v. a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre Arbeiter:innen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultralinken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führer:innen die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommnist:innen erleichtert und somit die Einheit der Klasse gegen die Faschist:innen und die Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter:innen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die Arbeiter:innenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der Linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzki nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich Arbeiter:innen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen  und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden sei, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 1930er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem Zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken auseinandergesetzt. Für uns geht es hier darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 1930er Jahren angewandt und entwickelt hat, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Blocktaktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Blocktaktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte sich Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden zentristischen Organisationen, die sich von Sozialdemokratie oder Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen zu einer zukünftigen Einheit mit den Reformist:innen oder Stalinist:innen offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene revolutionäre Alternative auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin aufzubauen.

Die beteiligten Organisationen waren die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden. Sie einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission: „a) mi der Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als der Geburtsurkunde der neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest); c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats; …“[xvii]

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte er sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik, auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse bezogen. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert habe, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gebe. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob an die Basis und Führung der Massenorganisationen oder, ob sie praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt.

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblich revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelte und zu einer dogmatischen, ultralinken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) degenerierte. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch deren Mentalität geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten und nur für begrenzte Zeit notwendig waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer:innen nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentrist:innen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten, bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentrist:innen der 1930er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen, um den nach links gehenden Sozialdemokrat:innen auf halbem Wege entgegenzukommen.

Falsch war daran nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich an sie programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und deren Führer:innen muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und ist notwendig, die unvermeidlichen Zickzacks der Partner:innen zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, sich auf organisatorischer Ebene überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernstnehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter von schroffen Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen auszusprechen, was ist.“[xviii]

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise sowohl innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken als auch in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten, …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für diese Taktik.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus, also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei, keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass Kommunist:innen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster Mitstreiter:innen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labourkandidat:innen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party aus. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013).

Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren Arbeiter:innenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte Arbeiter:innenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter:innenklasse bewahrt.”[xix]

Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunist:innen eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“[xx]

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninist:innen (wie die Trotzkist:innen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten Arbeiter:innen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung einer Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“[xxi]

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninist:innen erzielten, v. a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v. a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentrist:innen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“[xxii]

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933 – 1936) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiter:innenpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbstgefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“[xxiii]

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer:innen damals wie heute – „prinzipienlos“. Revolutionär:innen würden, so argumentierten z. B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“[xxiv]

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgt im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur Hunderte Mitglieder zählen, können auch nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei, solange es keine Kommunistische Partei gibt, selbst nur bedingt Avantgarde, sprich, sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist, also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Strategin der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften, oft in starken Industriegewerkschaften wie den Autoarbeiter:innen in Deutschland oder bis in die 1980er Jahre die Bergarbeiter in Britannien, formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. So führten z. B. die Kämpfe der Krankenhausbewegung in den letzten Jahren auch zur Bildung neuer Avantgardeelemente.

Entscheidend für uns ist dabei, dass die bloße Führung und größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z. B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z. B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v. a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien. Hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich diese in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten an die Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v. a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass linksreformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil deren (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. Revolutionär:innen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder kleinreden, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierer:innen und Ökonomist:innen.

Arbeiter:innenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der Arbeiter:innenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter:innen- und Bäuerinnenpartei“.

Die Entwicklung in den 1930er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer Arbeiter:innenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der Arbeiter:innenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiter:innenklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiter:innenklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.”[xxv]

In der gegenwärtigen Periode besitzt die Losung der Arbeiter:innenpartei in einer Reihe von Ländern auch eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten Revolutionär:innen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird, und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v. a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der Arbeiter:innenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht in der der politischen Organisation, in Taktiken zum Parteiaufbau. Aber zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue antikapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene steht heute unbedingt der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten, im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die Sammlung aller antibürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, an Schulen, Unis, in den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der Arbeiter:innendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d. h., es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus, Faschismus und Angriffe auf demokratische Rechte auch die nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v. a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der Arbeiter:innenklasse bilden einen unverzichtbaren Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Sozialismus oder imperialistische Barbarei“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigte, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vorrevolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf den Iran, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen können nur Impulse zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, kann die Notwendigkeit einer solchen bewusst werden, und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, kleinbürgerlichen oder zentristischen Fehlern findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformist:innen versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu verleihen bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form, zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der antikapitalistischen Linken, einen Kampf in  einer nach links gehenden reformistischen Partei oder den Bruch mit einer bestehenden handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse werden wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken oder auch eine Kombination dieser notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihnen das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformist:innen oder Zentrist:innen oder gar Populist:innen wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Doch den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen werde, ist der „Realismus“ von Passivität und vorweggenommener Kapitulation.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.


Endnoten

[i] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin/DDR 1971, S. 640

[ii] A. a. O., S. 657

[iii] OECD, World Economic Report 2014, http://dx.doi.org/10.1787/persp_glob_dev-2014-en

[iv] Vergleiche Krüger, Stephan: Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft, Hamburg 2019, S. 218/219

[v] ILO, World Work Report 2014, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/world-of-work/2014/lang—en/index.htm, S. 2

[vi] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/WCMS_865387/lang—en/index.htm, S. 12

[vii] ILO, World Work Report 2014, a. a. O., S. 6

[viii] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin/DDR 1959, S. 473

[ix] World Economic and Social Outlook, 2021, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook-october-2021

[x] Siehe Engels, Friedrich: England 1845 und 1885, MEW 21, Berlin/DDR 1975, S. 191 – 198

[xi] Lenin, W. I.: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in LW 23, Berlin/DDR 1972, S. 113

[xii] Siehe ILO Bericht 2023, a. a. O.

[xiii] Z. B. in Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy: Feminismus für die 99 % Berlin 2019. Zur Kritik siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/04/feminismus-fuer-die-99-prozent/

[xiv] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, a. a. O., S. 13

[xv]  Ebenda, S. 30

[xvi] Ebenda, S. 42

[xvii] Trotzki, Leo: Die Erklärung der Vier, in: Ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln 2001, S. 460

[xviii] Ders.: Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, a. a. O., S. 530

[xix]  Lenin, V. I.: Collected Works, Bd. 31, S. 199

[xx] Ebenda

[xxi] Trotsky, Leon: Writings, Supplement 1934-40, New York 2004,  S. 565/566

[xxii] Ders.: The Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1996, S. 125/126

[xxiii] Ders.: Writings 1939-40, New York 1973, S. 36

[xxiv] Ders: „The Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), a. a. O., S. 20 (Vorwort)

[xxv] Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin 2012, S. 156




Frankreich: Wird sich die wirkliche NPA durchsetzen?

Marc Lassalle, Infomail 1207, 19. Dezember 2022ranke

Der lange Todeskampf der französischen Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei NPA) hat sein Endstadium erreicht, nachdem die ehemalige Führung den jüngsten Parteitag verlassen hat. Diejenigen, die übrig geblieben sind, müssen die Bilanz des Experiments der pluralen Partei ziehen.

Was ist geschehen?

Was auf der fünften nationalen Konferenz der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), die am 11. Dezember in Paris stattfand, geschah, mag für diejenigen, die die französische extreme Linke nicht so genau verfolgen, ein Schock sein. Für ihre Aktivist:innen ist die Spaltung in zwei Gruppen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die Fortführung der NPA zu verkörpern, jedoch keine Überraschung.

Die NPA wurde 2009 mit einem Aufruf an die radikale Linke gegründet, sich der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR; französische Sektion der Vierten Internationale) anzuschließen und eine neue revolutionäre Organisation zu bilden.

Unter Führung von Olivier Besancenot, einem jungen Postangestellten, der als Kandidat der LCR bei den Präsidentschaftswahlen 2007 1,5 Millionen Stimmen erhalten hatte, zog die NPA schnell fast 10.000 Mitglieder an. Auf ihrem Gründungskongress verpflichtete sie sich zur Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms. Doch abgesehen von einigen politischen Kommissionen kam dies nie zustande. Stattdessen setzte sich die alte LCR-Gewohnheit der Spaltung in sich ständig bekriegende Fraktionen wieder durch und wurde endemisch.

In der Zwischenzeit wurde die Hoffnung der NPA, viele von der rechten sozialistischen Regierung von François Hollande entfremdete Linke zu gewinnen, durch die Intervention des ehemaligen Abgeordneten der Sozialistischen Partei, Jean-Luc Mélenchon, zunichtegemacht. Der ehemalige SP-Politiker gründete 2009 die Parti de Gauche (Linkspartei), die nach verschiedenen Umwandlungen den Kern von La France Insoumise (FI; Unbeugsames Frankreich) und NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) bildete. Da die Aussichten auf einen Durchbruch bei den Wahlen durch das Aufkommen einer linkspopulistischen Partei durchkreuzt wurden, verbrachte die NPA den größten Teil eines Jahrzehnts in einem langen Todeskampf, der von Spaltungen zur linken und rechten Seite geprägt war.

Plattformen

Angesichts dieser endgültigen Krise kämpften auf der Konferenz 2022 zwei Hauptströmungen um die Kontrolle über die zukünftige Ausrichtung der Organisation.

Die Plattform B (mit 48,5 % der Delegierten) wird von Besancenot und Philippe Poutou angeführt. Diese Strömung hat die NPA seit ihrer Gründung geleitet und stellt die Kontinuität mit der LCR und der Vierten Internationale (USFI) dar. Heute schlägt sie eine große Wende für die NPA vor: von einer unabhängigen Organisation, die sich dem Aufbau einer antikapitalistischen Partei verschrieben hat, die die reformistischen Parteien herausfordert, hin zu einer „einheitlichen“ Ausrichtung auf die FI und das breitere linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, das heute die Reste der Sozialistischen Partei, die Grünen, die Kommunistische Partei Frankreichs und andere kleinere Fische umfasst. Da es nicht gelungen ist, deren politischen Platz einzunehmen, besteht die Schlussfolgerung darin, sich ihnen anzuschließen.

Diese Wende ist nicht neu: Bei den Kommunalwahlen in Bordeaux 2021 warb Poutou (Besancenots Nachfolger als Präsidentschaftskandidat) für ein Bündnis mit der FI. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 unterstützte die NPA zum ersten Mal die Kandidat:innen der NUPES in den meisten Teilen des Landes.

Die Plattform B begründete die Wende auf der Grundlage einer Analyse des Kräfteverhältnisses auf nationaler und internationaler Ebene mit dem Argument, dass „die Arbeiter:innenklasse heute aus dem Gleichgewicht geraten ist, das Proletariat sich inmitten einer gesellschaftlichen Umstrukturierung befindet“ und „das Kräfteverhältnis ungünstig ist, da die herrschende Klasse in der Offensive ist“, weshalb „wir unsere einheitliche Ausrichtung behaupten und weiterverfolgen müssen. Wo immer es dynamische, kämpferische und offene Strukturen gibt, schließen wir uns ihnen an, um unsere Politik des einheitlichen Kampfes zu führen und zur Belebung unserer revolutionären Perspektiven beizutragen“.

Obwohl betont wird, dass dies nicht bedeutet, dass man sich der LFI tatsächlich anschließt, impliziert es doch eine strategische Ausrichtung auf die FI und den Block der sie umgebenden reformistischen Parteien, auch durch politische Allianzen. In der Tat war die Führung der NPA kurz davor, eine Vereinbarung mit der FI zu treffen, um der NUPES beizutreten und bei den letzten Parlamentswahlen Kandidat:innen der NPA unter deren Banner aufzustellen. Sie ist stolz darauf, dass der Slogan „Mélenchon auf den Stimmzetteln, Poutou auf der Straße“ sehr populär ist, was der NPA angeblich eine wichtigere Rolle als das reine Wahlergebnis verleiht.

Die Plattform C (mit 45 % der Delegierten) ist selbst ein Bündnis aus drei heterogenen Gruppen: L’Étincelle (Funke), eine ehemalige Tendenz der Lutte Ouvrière (LO; Arbeiter:innenkampf), ist die führende Kraft. Die nächstgrößere Gruppe ist Anticapitalisme & Révolution, eine Tendenz, die mit der linken Opposition in dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale verbunden ist. Schließlich gibt es noch die Democratie Révolutionnaire, die ihre Wurzeln in der Voix des Travailleurs (Arbeiter:innenstimme) hat, die aus der LO hervorging, bevor sie 1997 der LCR beitrat.

Die Plattform C behauptet, eine Mehrheit innerhalb der NPA zu vertreten, die in großen Städten wie Paris, Lyon, Marseille, Lille und Rouen und vor allem in der Jugendorganisation stark ist. Sie lehnt jedes politische Bündnis mit FI und NUPES ab und fordert eine offen revolutionäre NPA. Sie befürwortet „die Aktualität und Dringlichkeit der Revolution“, die durch eine starke Intervention in der Arbeiter:innenklasse vorbereitet werden soll: Sie organisiert tatsächlich kämpferische Arbeiter:innen in wichtigen Sektoren wie Transport, Automobil und Krankenhäusern.

Einvernehmliche Trennung?

Seit 2020 warnte die Besancenot-Poutou-Führung, dass eine Spaltung unvermeidlich sei, und schlug sogar eine „einvernehmliche“ Trennung als einzigen Ausweg vor. Der Austritt einer anderen Oppositionsfraktion, der CCR (Revolutionäre Kommunistische Strömung; die international mit der Trotzkistischen Fraktion verbunden ist), im Jahr 2021 stoppte diese Entwicklung für einen Moment, da die verschiedenen Strömungen der NPA in der Kampagne von Philippe Poutou für die Präsidentschaftswahlen 2022 eine vorübergehende Einheit fanden.

Die zugrundeliegenden Differenzen wurden jedoch nicht ausgeräumt. Das Funktionieren der NPA als Partei wird von ihren einzelnen politischen Gruppierungen mit ihren eigenen Zeitungen, Webseiten usw. völlig überschattet. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden die meisten NPA-Lokalgruppen von der einen oder anderen Tendenz dominiert. Die verschiedenen Gruppen halten getrennte Regionalversammlungen ab, führen getrennte Bildungsprogramme durch und zahlen getrennte Mitgliedsbeiträge. In einigen Betrieben gibt es sogar rivalisierende NPA-Bulletins. Während des jüngsten Eisenbahner:innenstreiks gab es sogar getrennte NPA-Basisausschüsse. Eine solche Verhöhnung der Parteieinheit muss ernsthaften Arbeiter:innenmilitanten und jungen Aktivist:innen skandalös erscheinen.

Trotz dieser gravierenden Probleme ist die von Plattform B vorgeschlagene „einvernehmliche Trennung“ eine absolute Travestie, ein zynisches bürokratisches Manöver, um die Opposition loszuwerden und die Kontrolle über den Apparat zu behalten. Warum also jetzt? Ganz einfach, weil sie denkt, dass es einen größeren Fisch zu fangen gibt!

Der Aufstieg von LFI/NUPES scheint eine neue Perspektive zu eröffnen – nämlich die Möglichkeit, über ihre Listen Sitze im Parlament und in regionalen und kommunalen Versammlungen zu erhalten. Präsident Emmanuel Macron verfügt nur über eine relative Mehrheit im Parlament, was die Regierung zwingt, mühsam entweder die Unterstützung der PS oder von Les Républicains (den rechten Gaullist:innen) zu suchen. Eine vorzeitige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen bilden eine mögliche Lösung für Macron, in der Hoffnung, eine klare Mehrheit zu erhalten. Diese zu erwartende Entwicklung stellt für die Plattform B eine verlockende Möglichkeit dar, da sie davon träumt, „mit der FI zusammenzuarbeiten“, wie Poutou es kürzlich in einem Interview unverblümt ausdrückte.

Dies ist jedoch nicht der einzige Grund. Eine Reihe von Abspaltungen nach rechts seit der Gründung der NPA hat die Strömung geschwächt, die heute von der Plattform B repräsentiert wird. Alle diese Abspaltungen, einschließlich führender Kader und wichtiger Teile des Apparats, wurden schnell von Mélenchons sich ständig verändernden Bewegungen und ihrer „Dynamik“ angezogen. Doch alle diese Gruppierungen wurden nach ihrem Austritt aus der NPA schnell politisch irrelevant. Die Folge war, dass die Plattform B nach und nach ihre Mehrheit und die Kontrolle über die NPA verlor, und diese Tendenz hat sich beschleunigt, wie das Wachstum der Jugendsektion zeigt, die mindestens ein Viertel der Mitglieder ausmacht und zu keinem Zeitpunkt unter der Kontrolle der Führungstendenz stand.

Auf der nationalen Konferenz wurde eine von der Plattform C eingebrachte Resolution, die die Weiterführung der NPA forderte, wahrscheinlich von einer Mehrheit der Delegierten angenommen. In der Tat waren selbst langjährige Anhänger:innen der Plattform B schockiert von der Idee, eine Organisation, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt loyal und geduldig aufgebaut haben, tatsächlich zu verlassen und aufzulösen. Einige von ihnen zögerten oder gingen vor der Konferenz zur Plattform C über, und dieser Trend hätte sich während der Debatten auf der Konferenz fortsetzen können. Daher beschloss die Plattform B, die Konferenz zu verlassen, bevor eine Abstimmung stattfand. Damit verletzte sie ihre Verpflichtung gegenüber denjenigen, die für sie gestimmt haben, sich an der Konferenz zu beteiligen und für ihre Politik zu kämpfen. Sie trägt auch eine schwere Verantwortung für die extreme Schwächung der NPA, die sich trotz ihrer Fehler und Schwächen gegen die rassistische extreme Rechte und den französischen Imperialismus gestellt, die Arbeiter:innenkämpfe und Selbstorganisation aufgebaut und sich für Elemente einer revolutionären Perspektive eingesetzt hat.

Die Behauptung, dass die Plattform B durch ihren Austritt die „wahre“ NPA sei, ist ein Witz. Ehrliche NPA-Aktivist:innen, selbst für diejenigen, die sie früher unterstützt haben, erinnert er an die niederträchtigen Manöver der zynischsten stalinistischen Gewerkschaftsbürokrat:innen. Erst spaltet man sich ab, dann gründet man eine „zweite“ Gewerkschaft, und schließlich denunziert man die anderen als illegitim, weil sie einem nicht folgen. Wir verurteilen diese Art von Manövern aufs Schärfste, die nur dazu dienen, Revolutionär:innen zu diskreditieren und ihre Stimme zu schwächen.

Die Tatsache, dass die NPA all diese Tendenzen von Anfang an enthielt und Plattform B lange Zeit die Idee ständiger Fraktionen lobte, zeigt, dass sie die Aussicht, ihre Mehrheit und die Kontrolle über den Parteiapparat und die Ressourcen zu verlieren, wirklich „unerträglich“ fand.

Wohin jetzt?

Dieser entsetzliche Schlamassel ist jedoch nicht einfach das Ergebnis der mangelnden politischen Integrität der einen oder anderen Strömung. Er ist vielmehr die faule Frucht der zentristischen Tradition der LCR und des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale und ihrer Verachtung und ihres Missverständnisses des demokratischen Zentralismus. Die NPA wurde auf der Grundlage einer schwachen Grundsatzerklärung gegründet, mit dem Versprechen, eine ernsthafte programmatische Diskussion anzustoßen. Diese Diskussion fand jedoch nie statt, und die mehr oder weniger getrennte Existenz verschiedener Fraktionen innerhalb der NPA wurde auf der Grundlage „diplomatischer Vereinbarungen“ akzeptiert. Es war ein auf Sand gebautes Haus, das den Stürmen und Erschütterungen des politischen Alltags nicht standhalten konnte, geschweige denn dem sich verschärfenden Klassenkampf.

Das bedeutet, dass das Potenzial der NPA, das der extremen Linken, wenn auch nur zaghaft, die Aussicht bot, das Stadium einer kleinen Propagandagruppe zu überwinden, verschleudert wurde. In der Tat war es der Klassenkampf – die Frage des antimuslimischen Rassismus, die Frage der Taktik in den Gewerkschaften und die Herausforderung einer wieder auftauchenden reformistischen Linkspartei –, der die Notwendigkeit einer programmatischen, d. h. strategischen und taktischen Vereinheitlichung mit sich brachte.

Diese Notwendigkeit wurde verpasst, weil die LCR, wie auch LO, das Programm nie als eine Frage der kreativen Anwendung revolutionärer Prinzipien auf neue Perioden und Aufgaben des Klassenkampfes betrachtete. Die wiederholten Krisen seit 2009 haben dafür viele Gelegenheiten geboten. Ebenso hat sich die NPA nie wirklich als revolutionäre Strategin für den Klassenkampf verstanden, die auch kritisch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens mit Reformist:innen und allen Arten von fortschrittlichen Bewegungen sieht.

Kurz gesagt, die NPA hat es nicht geschafft, ein lebendiges Programm zu entwickeln oder auch nur die Debatte darüber zu organisieren, wozu sie sich verpflichtet hatte. Infolgedessen blieb sie einerseits von Wahlen besessen, andererseits blieb sie den linken Kräften in den Gewerkschaften auf den Fersen, wenn es um Bewegungen gegen die verschiedenen neoliberalen Reformen ging. Und je mehr sie sich der Aufgabe der politischen Klärung und Homogenisierung entzog, desto mehr kristallisierte sie sich in einander feindlich gesinnten Fraktionen und Plattformen heraus.

Die derzeitige Krise ist das Ergebnis dieses Versagens. Hinzu kommt, dass sich die politische Situation seit der Gründung der NPA dramatisch verändert hat. Der Populist Mélenchon ist ein ernsthafter Anwärter auf die Führung der Arbeiter:innenbewegung; reaktionäre und rassistische Ideen und Parteien sind mit der Rassemblement National (Nationale Sammlung) auf dem Vormarsch. Es liegt auf der Hand, dass eine starke und kohärente Partei benötigt wird, um sowohl die Rechte als auch den Neoreformismus zu bekämpfen.

In dieser Hinsicht wird die Spaltung an sich nichts klären. L’Etincelle, A&R und DR trennen durchaus grundlegende politische Differenzen und sie haben unterschiedliche Organisationen mit unterschiedlichen Methoden aufgebaut. Wir können ihr Bestreben, die NPA fortzuführen, unterstützen und werden uns daran beteiligen, auch wenn wir ernsthafte programmatische und politische Differenzen mit ihnen haben. Aber sie müssen zu den Versprechen von 2009 zurückkehren und sich um programmatische Einheit und ein Ende der ständigen Fraktionen bemühen. Das Recht, Fraktionen und Strömungen zu bilden, ist natürlich ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen – im Gegensatz zum bürokratischen – Zentralismus. Aber Zentralismus bedeutet, dass man sich auf eine Strategie und Taktik für die bevorstehenden Klassenkämpfe einigt und sich die Ortsverbände und Fraktionen in den Gewerkschaften zusammenschließen, um gemeinsam dafür zu kämpfen. Ohne dies wird die Einheit nur eine Fassade sein, die auseinanderbricht, sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung steht.

Eine glaubwürdige Neugründung der NPA muss notwendigerweise mit einer gründlichen Bilanz des Klassenkampfes in Frankreich und der Entwicklung einer neuen Periode der zwischenimperialistischen Rivalität auf internationaler Ebene beginnen, wobei die Schlussfolgerungen in einem Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse für die kommende Periode zusammengefasst werden.

Dies sind dringende Aufgaben, denen man nicht ausweichen oder sie einfach aufschieben kann. Die Arbeiter:innenklasse und die Jugend Frankreichs haben ihre Kampfbereitschaft gegen die neoliberalen Angriffe unter Beweis gestellt. Sie brauchen die Militanten der NPA, damit sie eine kohärente Kampfpartei wird, nicht ein loses Bündnis konkurrierender Fraktionen. Die Liga für die Fünfte Internationale ist gerne bereit, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und sich in den kommenden Jahren aktiv mit den Kämpfen der französischen Arbeiter:innen zu solidarisieren.




Die Dauerkrise der NPA

Martin Suchanek, Infomail 1153, 18. Juni 2021

In den letzten Jahren war es um die NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste; Neue Antikapitalistische Partei) still geworden. Zum Zeitpunkt ihre Gründung im Jahr 2009 galt sie bei europäischen Linken als Hoffnungsträgerin und Modell antikapitalistischer Einheit. Heute macht sie vor allem durch innere Krisen, Konflikte, angedrohte und wirkliche Abspaltungen von sich reden.

Schon im August 2020 veröffentlichte Le Monde einen Artikel, der von einer bevorstehenden Spaltung und Auflösung der NPA berichtete. Demzufolge strebe die traditionelle Führung um Besancenot und Poutou eine „einvernehmliche Scheidung“ auf einem Kongress an.

Dieser fand, sicher auch aufgrund der Pandemie, nie statt. Doch auch der Plan selbst scheint bis auf Weiteres in den Schubladen verschwunden zu sein. Dafür spitzte sich in den letzten Wochen der innere Konflikt mit einer der größten, wenn nicht der größten Minderheitsfraktionen, der CCR (Courant Communiste Révolutionnaire; Revolutionäre Kommunistische Strömung) zu, die auf internationaler Ebene mit der Fracción Trotskista (FT) verbunden ist.

Der angebliche Ausschluss der CCR

Am 10. Juni veröffentlichte die CCR ein Schreiben, in dem sie die Mehrheit der NPA beschuldigt, sie aus der Organisation ausgeschlossen zu haben: „Wenige Tage vor der nationalen Konferenz, die die Ausrichtung und den/die Kandidaten/Kandidatin der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) für die nächsten Präsident:innenschaftswahlen festlegen soll, sind wir gezwungen, unseren faktischen Ausschluss aus dieser Organisation anzunehmen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-fast-300-von-der-npa-ausgeschlossene-aktivistinnen-rufen-zum-aufbau-einer-neuen-revolutionaeren-organisation-auf/)

Es bliebe der CCR, so die Versammlung von fast 300 ihrer AnhängerInnen, keine andere Wahl, als den Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2022 außerhalb der NPA zu führen: „Deshalb beginnen wir heute, nachdem wir aus der NPA ausgeschlossen wurden, sofort mit dem Prozess der Gründung einer neuen Organisation, mit der Perspektive, eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innen aufzubauen, sowie mit der Suche nach den 500 notwendigen Unterschriften, damit Anasse als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2022 antreten kann.“ (Ebenda)

Die CCR stellt die Zuspitzung so dar, als hätten sich alle anderen Strömungen und Fraktionen gemeinsam gegen sie verschworen und würden sie gezielt aus der Organisation drängen. Der rechte Flügel um Poutou und Besancenot gebe dabei den Ton an und alle (!) anderen linkeren Fraktionen würde das stillschweigend akzeptieren.

Die Vehemenz, mit der die CCR die Anschuldigung erhebt, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass sie wegen ihrer Positionen und ihres unermüdlichen Kampfes gegen die rechte Führung der NPA ausgeschlossen worden sei. Doch schon eine nähere Betrachtung des Textes wirft die Frage auf, wann, wo und von wem sie ausgeschlossen worden wäre. Eine weitere Recherche, die Durchsicht der Protokolle und Berichte von NPA-Sitzungen ergeben freilich: diesen Beschluss gab es nicht. Es fand kein Ausschluss statt.

Im Gegenteil. Betrachten wir die Belege, die die CCR für ihren „de facto“ Ausschluss anführt, wird die Suppe immer dünner. Die Webseite der Gruppe verweist darauf, dass der faktische Ausschluss ein Resultat der Beschlüsse der NPA-Leitung vom 22. und 23. Mai gewesen wäre. Doch diese, nachzulesen in deren Vorkonferenzbulletin (https://nouveaupartianticapitaliste.org/sites/default/files/bicnmai2021.pdf), enthalten nichts von einem solchen Ausschluss. Die Leitung der NPA nahm vielmehr eine Resolution an, die Antragsfristen, Modalitäten der Delegiertenwahl usw. festlegt – und zwar mit 54 Pro-Stimmen bei 10 Enthaltungen und ohne eine einzige Gegenstimme. Die VertreterInnen der CCR enthielten sich bei einer Resolution der Stimme, die angeblich ihrem faktischen Ausschluss gleichkam! Diese Inkonsistenz hätte die CCR zumindest erklären müssen.

So bleibt nur der Fakt, dass es keinen Ausschluss gab. Die Frage bleibt aber: Warum behauptet sie diesen so hartnäckig?

Die Entwicklung der NPA

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir aber die Entwicklung der NPA in den letzten Jahren kurz Revue passieren lassen. In diesen gelang es der CCR, ihre Stellung deutlich zu stärken. Das lag vor allem am Austritt tausender Mitglieder sowie der Passivität der tradierten Mehrheit und auch der anderen linken Strömungen. Die CCR bildete zumeist den dynamischsten Flügel in der NPA, der aktiv in die sozialen Bewegungen und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse intervenierte und dort sichtbarer war als die anderen (was nicht notwendigerweise bedeutet, dass er mehr Verankerung in diesen Kämpfen aufwies oder eine größere Rolle als andere spielte).

Von den rund 9000 Mitgliedern zur Gründung der NPA 2009 sind heute nur noch 1000 bis 1500 verblieben. Der größere Einfluss der CCR geht also sowohl auf ihr Wachstum in absoluten Zahlen, vor allem aber auf den extremen Niedergang der NPA selbst zurück.

2020 spitzte sich die Lage weiter zu, insbesondere als die NPA-Führung bei den Regionalwahlen prinzipienlose Blöcke mit der linkspopulistischen La France Insoumise (Widerspenstiges Frankreich; FI) und anderen, weniger bedeutenden reformistischen oder kleinbürgerlichen Gruppierungen einging. Die, vom Standpunkt der NPA erfolgreichste Kandidatur stellte dabei „Bordeaux en lutte“ (Bordeaux im Kampf) dar. Diese von Poutou angeführte Liste erhielt über 12 % der Stimmen und war, weil sie stark von der NPA geprägt war, vergleichsweise links. Andere Listenverbindungen dominierte der Linkspopulismus offen, die NPA wurde zu deren regionalen Wasserträgerin.

Einige linke Fraktionen in der NPA (z. B. L’Etincelle; Der Funke) lehnten diese Verbindung von Beginn an ab. Die CCR stimmte dem Projekt ursprünglich zu, kritisierte es jedoch später vehement. Um diesen Schwenk zu rechtfertigen, stellte sie das ursprüngliche Konzept von „Bordeaux en lutte“ als grundsätzlich verschieden von den anderen Wahlbündnissen mit dem Linkspopulismus dar.

Zugleich wurde an diesen Fragen ein grundlegendes, bis heute ungelöstes Problem deutlich: Wie charakterisiert die NPA FI? Welche Taktik verwendet sie ihr gegenüber? Und noch grundlegender: Wie verhält sich die NPA zu nicht-revolutionären Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen?

Fast alle Strömungen in der NPA charakterisieren FI als reformistische, nicht als linkspopulistische Kraft. Der politische Bruch, den Mélenchon mit der Wende von der Parti de Gauche (Partei der Linken; PdG) zur FI vollzog, wird damit jedoch nicht ausreichend begriffen. Gegenüber dem Linkspopulismus wird im Grunde dieselbe Taktik verfolgt wie gegenüber reformistischen Parteien.

Das zweite Problem bestand darin, dass bei allen diesen Wahlblöcken die NPA auf ihr eigenes Programm zugunsten eines „Einheitsfrontprogramms“ verzichtete, das einmal „linker“, einmal direkt populistisch war.

Zweifellos stellt die Anpassung an den Linkspopulismus eine nach rechts dar. Damit sollte wahrscheinlich auch die Möglichkeit weiterer Bündniskandidaturen bis hin zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sondiert werden. Wie so oft bei opportunistischen Manövern rücken mittlerweile sogar viele der ehemaligen BefürworterInnen, also der langjährigen Mehrheit, von weiteren Bündnissen mit FI ab, da diese die NPA offenkundig in den meisten Listen über den Tisch gezogen hat.

Bei „Bordeaux en lutte“ und den anderen Kandidaturen wird darüber hinaus ein weiteres Problem deutlich, das die NPA von Beginn an prägt: ihr mangelndes Verständnis des Reformismus und der Taktiken ihm gegenüber.

Exkurs zu einem Gründungsproblem der NPA

Bei Gründung der NPA ging die damalige Parteiführung davon aus, dass der Reformismus in Frankreich und auch international abgewirtschaftet hätte und tot wäre. Die große Rezession und die historische Krise der Weltwirtschaft würden keinen Spielraum für reformistische Politik der graduellen Reformen mehr erlauben und damit auch keinen für die Entstehung neuer reformistischer Parteien oder die Wiederbelebung alter. Diese impressionistische und oberflächliche Sicht der Dinge schien im Jahr 2009 jedoch zumindest in Frankreich eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Die Parti Socialiste schien im freien Fall. Sie verlor 2009 bei den Europawahlen 12,4 % der Stimmen und erhielt desaströse 16,5 % (über die sie sich heute freuen würde). Die KP war als elektorale Kraft überaus geschwächt, auch wenn sie damals und heute noch immer Zehntausende Mitglieder hat und ein Vielfaches an gewerkschaftlicher Verankerung der gesamten radikalen Linken.

Vor allem aber hatte die NPA nicht mit einer linksreformistischen Neugründung und Konkurrenz, der PdG, von Melénchon gerechnet, die 2016 durch FI abgelöst wurde. Seither ist die NPA von einem stetigen Streit um die Haltung zum Linksreformismus (und auch zum Linkspopulismus) geprägt, in der zwei grundlegend falsche Positionen einander gegenüberstehen. Entweder wird eine Politik der Anpassung verfolgt bis hin zum Übertritt zahlreicher Mitglieder und ganzer Strömungen. Der Opportunismus nimmt verschiedene krasse Formen bis hin zur programmatischen Unterordnung an. Fast immer geht er mit einem Verzicht auf Kritik an zeitweiligen Verbündeten einher.

Der Anpassung wird in der NPA aber andererseits allzu oft eine sterile und letztlich sektiererische Haltung der scheinbar unversöhnlichen Abgrenzung, des faktischen Verzichts auf die Politik der Einheitsfront gegenüber reformistischer Basis und Führung gegenübergestellt und dies zur „Unabhängigkeit“ hochstilisiert.

In der gesamten Geschichte der NPA bildet die Frage des Verhältnisses zu reformistischen (oder linkspopulistischen) Parteien einen immer wieder kehrenden Punkt von inneren Auseinandersetzungen, politischer Konfusion und des Schwankens. Dies trifft letztlich auf alle Strömungen der NPA zu.

Bei den Regionalwahlen und in der Listenverbindung mit FI ging die Führung der NPA weit nach rechts. Die Kritik an diesen prinzipienlosen Verbindungen durch die CCR und andere linke Strömungen in der NPA trifft also zweifellos einen wichtigen und richtigen Punkt. Nicht minder richtig ist die Feststellung, dass gegen diese Anpassung ein politischer Kampf geführt werden muss. Damit die NPA diesen Geburtsfehler überwindet, reicht die Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Methode jedoch nicht aus. Die Organisation und ihre Mitglieder müssen vielmehr die Ursachen für diese Anpassung, aber auch das immer wiederkehrende Schwanken zwischen Opportunismus und Sektierertum in der Frage der Einheitsfront begreifen, um diese Fehler bewusst zu überwinden.

Das Manöver der CCR

Angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse in der Leitung der NPA und des Rechtsschwenks bei den Wahlblöcken mit den LinkspopulistInnen schien die Situation günstig für die linken Plattformen und Strömungen. Rein zahlenmäßig hätten sie die Führung der Organisation übernehmen können. Aber sie taten dies nicht – und konnten das auch nicht tun, weil sie selbst über kein gemeinsames Konzept zum weiteren Aufbau verfügten. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich in der Regel auf ein Nein zur langjährigen Führung.

Die CCR entschied sich in dieser Lage zu einem gewagten Manöver. Zuerst startete sie eine Kampagne zur „Einheit der revolutionären Kräfte“ in der NPA gegen alle jene, die einen Wahlblock mit der FI anstrebten. Nachdem sich dieser Block jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelte, versuchte die CCR Fakten gegenüber allen andere Strömungen, linken wie rechten, zu schaffen.

Ohne jede Diskussion in der NPA präsentierte sie einen Genossen aus den eigenen Reihen, den jungen Eisenbahner und lokalen Streikführer Anasse Kazib, öffentlich als Vorkandidaten der Partei zur Präsidentschaftswahl 2022. Mit diesem Manöver sollte den anderen Strömungen ein Kandidat ohne vorhergehende Diskussion aufgezwungen werden. Auch wenn die CCR diese Aktion als uneigennützigen Vorschlag und Angebot vor allem gegenüber den anderen linken Strömungen präsentierte, so durchschauten diese natürlich das durchsichtige und abenteuerliche Manöver.

Es scheiterte verdientermaßen. Keine Tendenz, keine Plattform innerhalb der NPA war bereit, diesen Schritt zu gehen und sich dem Druck zu beugen. Vielmehr wiesen alle den undemokratischen Affront zurück, der NPA ohne innere Diskussion, ohne Debatte unter den Mitgliedern und in deren Gremien einen Kandidaten aufzudrücken. Nachdem sich die anderen Strömungen der NPA, also die deutliche Mehrheit der Partei, nicht öffentlich unter Druck setzen ließen und das Manöver gescheitert war, war freilich auch jede Aussicht dahin, eine Mehrheit für Anasse als Präsidentschaftskandidaten zu gewinnen.

Nachdem die CCR ihren Kandidaten nicht durchsetzen konnte, nahm sie selbst offenkundig den Kurs auf einen Bruch mit der NPA. Sie trat die Flucht nach vorne an und erklärte ihrerseits alle, die ihre Manöver nicht mitmachen wollten, zu Kräften, die ihren Ausschluss vorbereiteten oder hinnehmen wollten. Teile der NPA haben in dieser Situation zwar auch mit einem Ausschluss der CCR gedroht oder darauf gedrängt. Fakt ist jedoch, dass kein Gremium der NPA den Ausschluss dieser Plattform oder auch nur eines einzigen ihrer Mitglieder beschlossen hat. Der angebliche Ausschluss fand nicht statt. Dennoch wird die CCR nicht müde, von einem „de facto“ Ausschluss zu sprechen oder von einer politischen Entwicklung, die einem solchen gleichkomme. Sie könne in der NPA nicht mehr arbeiten usw.

Ob eine weitere Arbeit in der NPA für sie Sinn macht oder nicht, muss natürlich die CCR, so wie jede andere Strömung und jedes Mitglied, für sich selbst entscheiden. Ein Ausschluss ist das jedoch nicht, und diese Fragen bewusst zu verwischen, bedeutet nur, politische Nebelkerzen zu werfen, die einzig der eigenen Legendenbildung dienen.

Die Rhetorik erfüllt die Funktion, den Bruch mit der NPA einem angeblichen undemokratischen und bürokratischen Manöver ihrer Führung (und aller anderen Strömungen) zuzuschieben. Wahrscheinlich hatte die CCR selbst auf einen richtigen Ausschluss spekuliert, um so ihrem Narrativ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nachdem dieser jedoch nicht stattfand, berichten CCR und ihre Schwesterorganisationen dennoch so, als ob einer stattgefunden hätte.

Diese Legendenbildung läuft auf eine bewusste Manipulation der Mitglieder der NPA, aber auch der eigenen Strömung und der internationalen Linken hinaus. Solche Manöver, die für kleinliche fraktionelle Interessen durchgezogen werden, tragen nicht nur zur längerfristigen Diskreditierung einer Strömung bei, sondern sind auch Wasser auf die Mühlen reformistischer, populistischer und anarchistischer GegnerInnen des Aufbaus einer revolutionären Organisation.

TrotzkistInnen haben ihre Spaltungen leider traurige Berühmtheit erlangt, und eine weitere wird zweifellos Ironie und Hohn von professionellen ZynikerInnen und BesserwisserInnen in aller Welt hervorrufen. Diese setzen dem die angeblich „große Breite“ der sozialdemokratischen Parteien oder des demokratischen Sozialismus entgegen. In diesen können miteinander unvereinbare Strömungen koexistieren, weil die eigentliche Politik der Partei von einer Elite parlamentarischer KarrieristInnen und BürokratInnen bestimmt wird.

Zu ihrer Zeit wurden auch die russische Sozialdemokratie und der Bolschewismus für ihre Spaltungen verspottet. Ernsthafte KämpferInnen werden daher nicht alle Spaltungen als schlecht und alle Fusionen als gut in einen Topf werfen. Jede Spaltung wirft jedoch für beide Seiten die Frage auf: Hat sie wichtige Fragen der Strategie und Taktik geklärt, die nach der Debatte dringend in der Klasse angewendet werden mussten und deshalb einen organisatorischen Bruch erforderten? Eine Spaltung, die keine solche Grundlage hat, ist prinzipienlos; erst recht, wenn es um eine Präsidentschaftswahl geht, bei der es höchst fraglich ist, ob eine der beiden Seiten überhaupt kandidieren kann.

Darüber hinaus haben beide Seiten, oder besser gesagt, alle Seiten, über zehn Jahre lang eine prinzipienlose Einheit aufrechterhalten, ohne entweder ernsthaft zu versuchen, die programmatischen Fragen zu lösen oder diszipliniert zusammenzuarbeiten. Hätten sie das getan, hätten sie eine kleine, aber effektive Kampfpartei aufbauen können, die an den entscheidenden Wendepunkten des Klassenkampfes eine echte Alternative zu den reformistischen Parteien und Gewerkschaften hätte bieten können. Selbst zu dieser späten Stunde könnten die zerstörerischen Auswirkungen des drohenden Zusammenbruchs der Partei rückgängig gemacht werden, wenn die Tendenzen in und um die NPA sich endlich der Frage zuwenden würden, ein Programm (nicht nur eine Wahlplattform) und einen konkreten Aktionsplan für den Kampf gegen Macron und Le Pen auf der Straße und in den Betrieben in den kommenden Jahren auszuarbeiten.

Der kommende Kongress und die Plattformen in der NPA

Die Abspaltung der CCR ist nach ihren eigenen Erklärungen ein Fakt. Die NPA verliert damit weitere 20–25 % ihrer AktivistInnen. Wahrscheinlich hat das gerade auch wegen des prinzipienlosen und manipulativen Schachzugs eine demoralisierende Auswirkung auf etliche Militante. Im Grunde bezweckt die CCR auch diesen Effekt, weil es dem Narrativ dienlich ist, dass sie den kleineren, aber dynamischeren Teil der Aktiven organisiere und die Demoralisierung weitere AktivistInnen anderer Strömung als Zeichen für die Richtigkeit des eigenen Manövers dargestellt wird.

Eine solche Darstellung mag zeitweilig der Festigung der eigenen Reihen dienen. Schließlich stellt der Gewinn von hunderten AnhängerInnen und dutzender betrieblicher KämpferInnen in den letzten Jahren für die CCR wie für jede Propagandaorganisation einen beachtlichen Erfolg dar. Betrachten wir jedoch das Kräfteverhältnis der Klassen in ihrer Gesamtheit, so bleibt er jedoch eine Marginalie, letztlich nebensächlich, verglichen mit dem Niedergang der „radikalen“ Linken im letzten Jahrzehnt und der tiefen Krise der NPA. Dass sich die CCR selbst in dieser Phase stärken konnte, ändert an der Gesamtdiagnose nichts. Es macht aber den leichtfertigen Optimismus ihre Erklärung fragwürdig, jetzt ohne den NPA-Ballast richtig durchstarten zu können.

Dies umso mehr, als nicht nur die Legendenbildung verlogen ist, sondern auch die politische Substanz der Spaltung fragwürdig. Die CCR behauptet, dass es in der NPA grundlegende, nicht weiter tragbare Differenzen über die politische Ausrichtung gab und gibt, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machen würden. Nun wird niemand grundlegende Differenzen in Abrede stellen wollen. Betrachten wir freilich das Diskussionsbulletin, das die Entwürfe aller Plattformen in der NPA zur Konferenz Ende Juni enthält, so ergeben diese ein anderes Bild. 5 von 6 Entwürfen sprechen sich für eine eigenständige Präsidentschaftskandidatur aus, nur eine kleine Plattform (Plattform 4) nicht.

Die CCR titelt ihren Vorschlag „Rompre avec la politique d’alliances avec la gauche institutionnelle, pour une candidature 100 % révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Mit der Politik von Allianzen mit der institutionellen Linken brechen! Für eine 100 %ig revolutionäre Kandidatur der NPA zu den Präsidialwahlen!). Die Plattform 5, die von den beiden großen linken Strömungen – L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution – gemeinsam vorgelegt wird, lautet: „Pour une candidature ouvrière, anticapitaliste et révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Für eine antikapitalistische und revolutionäre ArbeiterInnenkandidatur der NPA zu den Präsidentschaftswahlen!). Und der Vorschlag von Plattform 2, der größten Strömung um Poutou und Besancenot, trägt die Überschrift: „Face à la crise, il faut une candidature du NPA à la présidentielle: ouverte, anticapitaliste  et révolutionnaire!“ (Angesichts der Krise braucht es eine offene, antikapitalistische und revolutionäre Präsidentschaftskandidatur der NPA!).

Nicht nur die Namen, auch die Inhalte – ihre Stärken und Schwächen – sind verblüffend ähnlich. 5 von Plattform sprechen sich nicht nur für eine eigene, revolutionäre und antikapitalistische Kandidatur aus. Alle lehnen jede Anpassung an die bürgerliche Mitte (Macron) als kleineres Übel gegenüber Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen ab. Alle unterziehen auch die „institutionelle Linke“ – ein Sammelbegriff für FI, KP und Grüne – einer scharfen Kritik und betonen die Notwendigkeit eines eigenständigen Profils und einer eigenen Kandidatur und Plattform bei den Wahlen.

Sicherlich repräsentiert diese Einheit nur eine Momentaufnahme. Doch ändert das nichts daran, dass die Plattform 2 anscheinend einen Schwenk nach links vollzogen hat. Nachdem sie einen oder mehrere Schritte nach links ging, unterscheidet sich ihre Plattform nicht grundlegend vom Vorschlag der CCR oder von L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution. Letztere (Plattform 5) ist eigentlich der inhaltlich abgerundetste und klarer und präziser als jener der CCR.

Praktisch alle Plattformen inkludieren Losungen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse (Mindestlohn, Verbot von Entlassungen, Umwandlung prekärer Arbeitsverhältnisse in gesicherte), die Forderung nach Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle (insbes. im Gesundheitssektor und bei grundlegenden Industrien), gleiche StaatsbürgerInnenrechte für alle, die Legalisierung von Menschen ohne Papiere, eine Ablehnung imperialistischer Interventionen. Alle betonen die Notwendigkeit von Massenstreiks und einer Massenbewegung gegen die Krise sowie, dass nur eine ArbeiterInnenregierung einen Ausweg bieten kann.

Selbst die Schwächen teilen die Dokumente weitgehend. Zu vielen Punkten (Ökologie, Europa, EU, Internationalismus) sind sie sehr allgemein gehalten. So betonen alle durchaus richtig, dass der Kapitalismus die Umweltfrage nicht lösen kann. Es finden sich aber kaum unmittelbare oder Übergangsforderungen zur drohenden ökologischen Katastrophe in den Texten.

Während alle bezüglich der Notwendigkeit einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen Regierung, Kapital und die erstarkte Rechte und auch bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution und einer ArbeiterInnenregierung übereinstimmen, so findet sich eigentlich nur die Betonung der Selbstorganisation, der Kämpfe „von unten“ als Mittel zu diesem Ziel in den Papieren. Die Frage, wie eine solche Bewegung zustande kommen kann, wie angesichts der Dominanz von kleinbürgerlich-populistischen Kräften, z. B. bei den Gelbwesten, die ArbeiterInnenklasse eine Führungsrolle übernehmen kann, fehlt im Grunde. Bei allen Plattformen suchen wir eine Taktik und eine Politik gegenüber den bestehenden reformistischen Organisationen und vor allem gegenüber den Gewerkschaften vergeblich.

So verbleibt als Hauptdifferenz, dass die verschiedenen Plattformen verschiedene Kandidaten zur Präsidentschaftswahl vorschlagen: Poutou (Plattform 2), Besancenot (Plattformen 1 und 5) und Anasse (Plattform 6).

Auch wenn die Vorschläge zur den Präsidentschaftswahlen nur eine Momentaufnahme der Politik der einzelnen Strömungen darstellen, so sind die vorgeschlagenen Plattformen keineswegs so unterschiedlich, dass sie einen politischen Bruch in der Wahlfage rechtfertigen würden. Die meisten stellen – im Gegensatz zur Behauptung der CCR – eigentlich einen Schritt nach links dar.

Diese Momentaufnahme schließt logischerweise zukünftige opportunistische Schwankungen nicht aus. Aber diese verdeutlichen auch, dass wir es bei der NPA, einschließlich der größten Strömung um Besancenot und Poutou mit keiner reformistischen Kraft, sondern mit einer zentristischen zu tun haben, deren Politik von Schwankungen zwischen opportunistischen, revolutionären und sektiererischen Positionen gekennzeichnet ist.

In dieser Lage müssten RevolutionärInnen versuchen, diese zeitweilige Entwicklung weiterzutreiben und eine gemeinsame Kandidatur auf einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit einer systematischen Diskussion der Ursachen der Krise der NPA zu verbinden. Der Name der/s KandidatIn spielt dabei eine zweitrangige Rolle, solange er/sie einigermaßen das Vertrauen der gesamten Organisation genießt, was neben seiner Bekanntheit in der Öffentlichkeit für Besancenot sprechen würde.

In jedem Fall ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl nicht mit einer Lösung der Krise der NPA verwechselt wird. Schließlich ist es zur Zeit relativ einfach, eine revolutionäre, antikapitalistische Kandidatur zu proklamieren. Mélenchon hat viel an seiner Attraktivität eingebüßt, so dass seine Aussichten, die zweite Runde der Wahl zu erreichen, geringer ausfallen als 2017 und daher eine taktische Stimmabgabe und eine Unterordnung unter seinen Wahlkampf nicht sonderlich viel Sinn ergibt. Zum andern kann eine Kandidatur nicht nur eine radikale Plattform präsentieren, sie kann unter dem Nimbus der Einheit dazu führen, dass politische Probleme und Schwächen weiter aufgeschoben werden, die zum Niedergang der NPA geführt haben und weiter führen werden.

Die Lage in Frankreich und die Probleme der NPA

Dazu gehört unglücklicherweise auch die Einschätzung der politischen Lage und der Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in Frankreich selbst – ein Problem, das mehr oder minder ausgeprägt bei allen Plattformen auftaucht.

Frankreich machte in den letzten Jahren beachtliche Klassenkämpfe durch, die auch manche Angriffe bremsen konnten, und die Lohnabhängigen sind ungleich streik- und kampfbereiter als in Deutschland, Britannien und den meisten anderen imperialistischen Ländern in Europa. Nichtsdestotrotz profitierte vor allem die Rechte von den Krisen, die die Regierung Macron durchlebte. Die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung) und Marine Le Pen gelten heute als die größten HerausforderInnen Macrons. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es in die Stichwahlen bei der Präsidentschaftswahl schafft und dort könnte sie 40 % der Stimmen abräumen. Bei Regionalwahlen gehen rechtskonservative Parteien mittlerweile mit der RN einen Block ein. Drei Viertel aller FranzösInnen schließen nicht grundsätzlich aus, ihre Stimme für die RN abzugeben.

Zugleich setzen sich die Agonie der Sozialdemokratie und die öffentliche Marginalisierung der KP fort. Melénchon vollzog 2017 einen Rechtsschwenk vom Reformismus zum Linkspopulismus, hat aber seit 2017 deutlich an Anziehungskraft verloren.

Trotz sozialer Bewegungen und massiver Kämpfe konnte die „radikale“ Linke von dieser Lage nicht profitieren, sondern erlebte selbst einen dramatischen Niedergang, der vor allem einer der NPA ist. Von den ehemals 9000 Mitgliedern sind ca. 80 % verlorengegangen – entweder indem sie sich reformistischen oder populistischen Kräften zuwandten oder überhaupt aus der organisierten Politik ausschieden.

Dieses Kräfteverhältnis wird von der NPA jedoch nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Ein zentraler Grund dafür ist die falsche Einschätzung der Gilets Jaunes (Gelbwesten). Bei allen Plattformen treten diese als fortschrittliche Massenbewegung gegen die Regierung auf. Ihr kleinbürgerlicher Klassencharakter, ihre populistische Ausrichtung spielen in den Erwägungen keine Rolle. Daher werden auch unangenehmen Tatsachen ausgeblendet wie die überdurchschnittliche Unterstützung der RN von AnhängerInnen der Gelbwesten bei Wahlen. Umfragen zufolge stimmten 44 % der AnhängerInnen der Gelbwesten bei den Europawahlen für RN.

Statt dessen hoffen mehr oder weniger alle Flügel der NPA – die „linken“ zum Teil mehr als die „rechten“ – darauf, dass die Gelbwesten die Basis für eine radikale Bewegung gegen die Regierung und eine Erneuerung der ArbeiterInnenklasse abgeben. Diese impressionistische Methode erlaubt zwar eine „optimistische“, genauer eine beschönigende Einschätzung der politischen Lage. Sie macht aber blind dafür, dass mit den Gelbwesten das KleinbürgerInnentum als prägende Kraft in der politischen Konfrontation hervortrat und die ArbeiterInnenklasse in dieser Bewegung eine untergeordnete Kraft darstellte. Überhaupt fehlt den NPA-Strömungen ein Verständnis des Populismus und seines Unterschieds zum Reformismus, so dass der Rechtsschwenk von Mélenchon im Jahr 2017 überhaupt nicht in seiner Bedeutung zur Kenntnis genommen wird.

Die Stärkung des kleinbürgerlichen Populismus wurde glücklicherweise durch die großen Streiks und Kämpfe gegen die sog. Rentenreform Ende 2019/Anfang 2020 ein Stück weit gebrochen. Hier zeigte sich die Bedeutung und Rolle der ArbeiterInnenklasse. Aber der Streik konnte seine Ziele nicht erreichen und fragmentierte am Ende. Zugleich wurde in dieser Bewegung die zentrale Rolle der Gewerkschaften nicht nur bei Arbeitskämpfen, sondern auch bei politischen Klassenkämpfen mit der Regierung deutlich. Das trifft vor allem auf die CGT zu, die in dieser  Konfrontation faktisch wie eine politische Führung der Klasse agierte.

Während die Dokumente der NPA-Konferenz kein Wort der Kritik, der Problematisierung oder zur Einschätzung des Klassencharakters der Gilets Jaunes verlieren, tauchen die Gewerkschaften und ihre Führungen nur als BremserInnen und VerräterInnen auf. Zweifellos sind das auch viele BürokratInnen. Aber erstens spielen z. B. CGT und SUD/Solidaires in praktisch allen Konfrontationen eine linkere und kämpferischere Rolle als CFDT oder auch FO. Zweitens fehlen in allen Dokumenten Forderungen an die Gewerkschaften. Wie aber sollen in Frankreich politische Massenstreiks, große Klassenkämpfe auf betrieblicher Ebene zustande kommen ohne die Gewerkschaften? Auch wenn diese verglichen mit Deutschland oder Britannien relativ wenige Mitglieder haben, so sind sie viel stärker Vereinigungen aktiver gewerkschaftlicher ArbeiterInnen, also der aktiven KollegInnen in vielen Betrieben und Verwaltungen.

Gerade angesichts der aktuellen Defensive, laufender und drohender Angriffe und des Aufstiegs der Rechten kommt der Bildung einer ArbeiterInneneinheitsfront eine grundlegende Bedeutung zur Organisierung von Abwehrkämpfen zu, um von der Defensive in die Offensive zu kommen. Dies bedeutet aber auch, gerade gegenüber den Gewerkschaften (aber auch gegenüber reformistischen Parteien und selbst gegenüber den AnhängerInnen der FI) eine aktive Politik der Einheitsfront einzuschlagen. Es reicht nicht, diesen den Unwillen zur Mobilisierung vorzuwerfen. Die NPA müsste vielmehr versuchen, diese wo immer möglich in die Aktion, Einheitsfront zu zwingen.

Diese Methode, die natürlich auch auf den Kampf gegen Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung anwendbar ist, fehlt jedoch in den Dokumenten fast vollständig. Der Ruf nach Aktionskomitees, nach Mobilisierungen und Kontrolle der Kämpfe von unten stellt zwar einen wichtigen Aspekt jeder Einheitsfrontpolitik dar, aber er kann und darf eine systematische Politik gegenüber bestehenden Massenorganisationen nicht ersetzen.

Das Problem der Einheitsfront und des Verhältnisses von Aktionskomitees und Kampforganen der Klasse zu den politischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen taucht aktuell in der NPA nicht auf. Es handelt sich daher auch um keine revolutionäre Antwort auf vorhergehende Anpassung z. B. bei den Regionalwahlen, sondern nur das Ersetzen eines Fehlers durch sein nicht minder problematisches Gegenteil.

Ein falsches Verständnis der Einheitsfrontpolitik, von Reformismus und Populismus sind nur einige der Fehler, die die NPA seit ihrer Gründung begleiten. 2009 proklamierte sie noch richtigerweise, dass es ihre Aufgabe der NPA darin läge, ein Programm zu erarbeiten und zu konkretisieren. Dieser richtige Ansatz, der allein dazu in der Lage gewesen wäre, die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen zu überwinden, wurde jedoch nicht verfolgt. Vielmehr operierte die NPA als Organisation, in der an allen wichtigen Wendepunkten große und hitzige Differenzen auftauchten, die zu Mitgliederverlusten führten, ohne dass die Streitfragen geklärt wurden.

Hinzu kommt, dass ohne eine Überwindung ihrer programmatischen Differenzen die einzelne Strömungen von Beginn an wie getrennte Organisationen agierten, die Beschlüsse, die ihnen zuwiderliefen, einfach ignorierten. Die Handlungsfähigkeit der NPA wurde dadurch fortschreitend geringer.

Wenn die NPA ihre Krise überwinden will, wenn der aktuelle Kongress und die nächsten Monate nachträglich mehr sein sollen als ein weiteres Kapitel einer langgezogenen Agonie, dann muss sie diese Fragen angehen. Sie muss die Intervention in die Präsidentschaftswahl nutzen zur Kampagne für eine Massenbewegung gegen die Krise, zur Erarbeitung und Verbreitung eines Aktionsprogramms und zur systematischen Diskussion um die Überwindung der Differenzen zwischen den Strömungen. Nur auf diesem Weg kann aus der zentristischen Organisation eine revolutionäre werden.




Neue Strömungen in der Linkspartei: Alter Wein in neuen Schläuchen

Tobi Hansen, Neue Internationale 244, Februar 2020

Bereits im Mai 2019 hielt die neue Strömung „Bewegungslinke“ um den Europaparteitag der Linkspartei herum ihr Gründungstreffen ab. Um auch die formellen Kriterien einer Strömung zu erfüllen, gründeten 170 Versammelte die Strömung am 14./15. Dezember 2019 neu.

Teile der Sozialistischen Linken (SL), die früher dort gegen
das „Aufstehen/Wagenknecht“-Lager eintraten, vor allem Aktive und
MandatsträgerInnen vom Netzwerk marx21 (Buchholz, Gohlke, Wissler,
Movassat…), der Interventionistischen Linken oder deren Umkreis bilden den
Kern des Zusammenschlusses, der sich explizit gegen die Regierungsperspektive
„Grün-Rot-Rot“ ausspricht und für eine aktivistische, antikapitalistische Kraft
vor Ort eintritt, quasi das Gegenteil vom Status quo.

Bei Lichte betrachtet, hält diese Opposition, wie die
bisherige Anpassung von marx21 an den Apparat zeigt, nicht, was sie verspricht.
Mit der Regierungspraxis der Partei bricht sie eben nicht programmatisch, den
Kampf um die Führung gegen die „RegierungssozialistInnen“ nimmt diese Allianz
aus ZentristInnen und linken ReformistInnen nicht wirklich auf.

Strategiedebatte vor Bundesparteitag

In Anbetracht des Zustands der Linkspartei wäre ein Kampf um
Programmatik und Taktik notwendig, es ist allerdings zu bezweifeln, dass dieser
stattfindet.

Während die Grünen inklusive der Umwelt- und Klimabewegung
nun mit Abstand führende parlamentarische Oppositionskraft sind und in den
Umfragen deutlich vor SPD, AfD, FDP und Linkspartei liegen, fordern führende
Mitglieder fast aller Lager der Partei, dass Ramelow Ministerpräsident bleiben
muss.

Dafür greift Ramelow sogar die Vorschläge des
Ex-Bundespräsidenten Gauck auf, die CDU-Thüringen zur Unterstützung einer
rot-rot-grünen Minderheitsregierung zu bewegen. Den Gang nach Canossa geht
letztlich freilich nicht Mohring, sondern Ramelow, der sein „Reformprojekt“ von
Gaucks Gnaden, v. a. aber die Linkspartei diskreditieren wird.

Doch genau an dieser „Praxis“ üben praktisch alle
Führungsfiguren keine Kritik, sonst gibt’s eigentlich wenig an Gemeinsamkeiten.
Die Wahl der neuen Fraktionschefin Amira Mohamed Ali gegen die Abgeordnete
Caren Lay bildete ein Paradebeispiel des Kampfes zwischen den verschiedenen
Lagern im Parteivorstand. Marx21 stimmte mit dem Parteivorstandslager für Lay,
während ehemalige „Linke“ wie Dehm und Co., die als UnterstützerInnen von
Wagenknecht gelten, wie auch das FDS (Forum Demokratischer Sozialismus) um
Fraktionschef Bartsch für Ali votierten. Letztere bildeten das sog.
„Hufeisenbündnis“. Manche Posten konnten wegen der massiven internen Friktionen
bis heute nicht besetzt werden und viele entblöden sich auch noch dazu nicht,
über die bürgerlichen Medien zweitrangige, aber „skandalträchtige“ Interna der
Fraktionskonflikte preiszugeben.

Bewegungslinke

In dieser Situation könnten die „Bewegungslinken“ wie auch
die Antikapitalistische Linke (AKL) zumindest die verbliebenen
anti-reformistischen, kämpferischen Teile der Partei sammeln und müssten einen
konsequenten Fraktionskampf zum Bruch mit den „RegierungssozialistInnen“
führen. Nur fehlt (nicht nur uns) der Glaube, dass dies noch möglich ist.

In den Verlautbarungen der „Bewegungslinken“ zur
Strategiedebatte – aktuell zwei aus Nordhessen – wird die kämpferische Kraft
vor Ort eingefordert, eine Partei, die mit und in der Klasse kämpft und
sämtliche Illusionen an Grün-Rot-Rot über Bord wirft.

Doch hier stellt sich die Frage, ob der Verweis auf einzelne
positive Beispiele einer organisierenden, kämpfenden Aktivität reicht, um den
reformistischen Charakter und die Praxis der Gesamtpartei zu ändern. Wer diese
Fragen gar gleichstellt, greift schon automatisch zu kurz. Stattdessen werden
in den Papieren gewissermaßen zwei Parteien einander gegenübergestellt. Eine vollstreckt
den bürgerlich-kapitalistischen Normalzustand im Parlament, in den
Landesregierungen oder in kommunalen Verwaltungen. Die andere soll vor Ort
antikapitalistisch für Sozialismus eintreten. Gewissermaßen ist dies seit
Beginn der Linkspartei „Normalzustand“ – ein Flügel regiert brav mit SPD und
Grünen, der andere verbreitet Illusionen in eine sozialistische,
antikapitalistische Partei.

Die Beiträge zur „Strategiedebatte“, deren Ergebnisse in den
Parteitag im Juni einfließen, sollen vom 29. Februar bis 1. März in Kassel
diskutiert werden. Dort stehen auch Neuwahlen zum Bundesvorstand an. Laut
Satzung ist die Amtszeit der Vorsitzenden auf 8 Jahre begrenzt. Im März wollen
sich Kipping und Riexinger erklären. Dass sie die Satzung ändern wollen, um
persönlich im Amt zu bleiben, wäre nach den schlechteren Ergebnissen 2018
wirklich eine Überraschung. Allerdings scheint derzeit auch unklar, wer die
Nachfolge antreten soll. Rund um die verbliebene Sozialistische Linke wird die
Idee einer Urabstimmung nach SPD-Vorbild beschworen, wohl mit dem
Hintergedanken, so z. B. Wagenknecht wieder ins Rennen zu schicken.

Auch die Bewegungslinke hat sich schon zum nächsten Vorstand
geäußert. Schließlich ist Janine Wissler, Vizevorsitzende der Bundespartei und
Fraktionschefin im hessischen Landtag, durchaus bereit, „Verantwortung“ zu
übernehmen. Wenn sich denn der aktuelle Vorstand erklärt hat, so könnte die
„linke“ Strömung schnell zur Vorstandsströmung werden.

Inhaltlich brauchen sich die „RegierungssozialistInnen“ vor der Bewegungslinken ohnedies nicht allzu sehr fürchten. Auch wenn sie in ihrer Grundsatzerklärung richtig festhält, dass der bürgerliche Staat „Eigentumsverhältnisse durch Gewalt und Konsens“ sichert, so darf der Verweis auf dessen positive Seiten nicht fehlen. „Gleichzeitig beinhaltet er historische Errungenschaften. Er ist Kräfteverhältnis und Kampffeld zugleich.“

Folgerichtig lehnt die Bewegungslinke die Beteiligungen an
einer bürgerlichen Regierung nicht grundsätzlich ab. Nur „manche“ betonen das
Scheitern linker Regierungsbeteiligungen, während andere auf die
„Strategie  einer Reformregierung,
die mit dem Neoliberalismus bricht und sozial-ökologischeEinstiegsprojekte auf
den Weg bringen kann“, setzen.

Links*Kanax

Neben der Bewegungslinken hat sich im Juni 2019 auch ein neues Netzwerk, LINKS*KANAX, gebildet, welches vor allem MigrantInnen in der Partei sammeln will. Anlass war die Debatte um Migration und Zuwanderung in der Linkspartei, speziell um die Positionen von Wagenknecht, Lafontaine und „Aufstehen“.

LINKS*KANAX will die programmatischen Positionen von offenen
Grenzen, von Flüchtlingshilfe, von legaler Einreise, von Integration in der
Partei verteidigen.

Ferat Kocak, der mehrmals Ziel rechter Anschläge wurde,
gehört dieser Strömung ebenso an wie Kreise des Medienportals „Freiheitsliebe“.

Es ist bezeichnend, dass es nach 2015 in der Linkspartei
notwendig geworden ist, eine antirassistische Strömung zu gründen. Eigentlich
sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass eine „linke“ Partei klar für
den Schutz der Geflüchteten und für offene Grenzen steht. Allerdings zeigte das
Wagenknecht-Lager, dass auch bei ihm der Rechtsruck wirkt.

Linkspartei vor dem Parteitag

All dies wirft nicht nur ein Schlaglicht auf den Zustand der
Partei, sondern erklärt zumindest zum Teil, warum die Linkspartei von der Krise
der GroKo und der SPD nicht profitieren kann.

Außerdem ist bislang nicht absehbar, welcher neue Vorstand
die Partei führen soll. Der Lager- und Ost/West-Proporz, der zur Wahl von
Riexinger und Kipping führte, scheint nicht gesichert bzw. gibt es wohl auch
keinen Plan, wie der neue Vorstand die Partei führen soll.

Dahinter stehen weniger politisch-programmatische
Unterschiede oder Klärungen als rein machtpolitische, opportunistische
Erwägungen. Die verschiedenen reformistischen Führungszirkel zanken nicht
darum, ob sie die Partei – falls parlamentarisch irgendwie möglich – in eine
„linke“ Bundesregierung führen sollen, sondern nur über das Wie.

In dieser Lage braucht es freilich nicht auch noch eine
„Opposition“, die linke Illusionen in eine Reformierbarkeit der Partei und eine
links-reformistische Reformpolitik verbreitet. Ohne einen klaren Bruch mit dem
reformistischen, programmatischen Kern der Partei und einen organisierten Kampf
gegen die Führung, verkommt eine „linke“ Strömung zur Begleitmusik der
herrschenden Politik der Partei.




Die Spaltung des CWI: Ein Bruch geht durch die Mitte

Martin Suchanek, Infomail 1066, 2. September 2019

Die Spaltung des CWI (Committee for a workers
international = Komitee für eine Arbeiterinternationale) stellte für die
Beteiligten wie für die außenstehenden BeobachterInnen des Prozesses sicher
keine Überraschung dar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Organisation in
zwei etwa gleich große Gruppierungen zerbrach. Beide beanspruchen für sich, die
„eigentliche“ internationale Strömung zu verkörpern und die politische und
programmatische Tradition des CWI fortzuführen.

Der folgende Artikel gliedert sich in zwei große
Abschnitte. Im ersten werden wir den Bruch nachzeichnen und auf einige
Eigentümlichkeiten der Form der Auseinandersetzung eingehen. Alle Teile, die
aus der Spaltung des CWI hervorgingen, reklamieren ebenso wie die ebenfalls aus
der CWI-Tradition entstandene IMT (International Marxist Tendency =
Internationale Marxistische Tendenz) das politisch-methodische Erbe ihrer
Strömung für sich und sehen im Anknüpfen an diese Tradition einen entscheidenden
Schritt zum Aufbau einer trotzkistischen, revolutionären Organisation. Genau
diese Vorstellung werden wir im zweiten Teil des Textes kritisieren. Wir werden
zeigen, dass in den politischen Grundlagen, die im CWI längst vor der Spaltung
mit der IMT Anfang der 1990er Jahre beschlossen wurden, schon das eigentliche
Problem angelegt war, das aufgrund der politischen Entwicklungen der letzten
Jahre verstärkt an die Oberfläche trat und schließlich zur Spaltung führte.

Spaltung

Formell vollzog die Fraktion „In Verteidigung
eines proletarischen, trotzkistischen CWI“ (In Defence of a Working Class
Trotskyist CWI) den Bruch, als sie am 21. Juli auf einer Konferenz der
Socialist Party, der Sektion in England und Wales, mehrheitlich den Kurs einer
„Neugründung des CWI“ (Refoundation of the CWI) beschloss. Schon zuvor hatte
die Fraktion mehrfach erklärt, dass sie unter keinen Umständen zulassen wolle,
dass die Ressourcen des CWI „in die falschen Hände“ fallen.

Die internationale Konferenz, die im Anschluss
an die Tagung der englischen und walisischen Sektion vom 22.–25. Juli stattfand
und zu der nur die AnhängerInnen der Fraktion eingeladen wurden, vollzog diesen
Bruch sodann auf internationaler Ebene. Die Spaltung war damit amtlich. Nach
eigenen Angaben beteiligten sich Delegierte aus folgenden Ländern: England und
Wales, Schottland, Irland, Deutschland, Frankreich, Österreich, Finnland,
Indien, Sri Lanka, Malaysia, Chile und den USA. UnterstützerInnen aus Südafrika
und Nigeria konnten wegen Visaproblemen nicht teilnehmen.

So optimistisch und zuversichtlich sich die
Verlautbarungen dieser Strömung auch lesen mögen, sie können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sie nur eine Minderheit der Sektionen des CWI unterstützt.

Diese andere Strömung, die heute als „provisorisches
Komitee“ des CWI auftritt, konnte sich formal immer auf eine Mehrheit im
Internationalen Exekutivkomitee (IEK) der Organisation stützen, also eine
Mehrheit des höchsten Leitungsorgans zwischen den internationalen Konferenzen.
Die Strömung um Peter Taaffe kontrolliert hingegen nur das kleinere, eigentlich
dem IEK verantwortliche und untergeordnete Internationale Sekretariat (IS).
Nachdem sich abzeichnete, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im IEK nicht mehr
ändern ließen, entschloss sich die Fraktion um Taaffe offenkundig dazu, Kurs
auf die Spaltung zu nehmen, indem sie sich weigerte, jedem Beschluss der
„kleinbürgerlichen Mehrheit“ auf dem IEK kategorisch zu folgen, und in jedem
Fall die Kontrolle über den Apparat der Organisation zu sichern gedachte. Dies
geht schon daraus hervor, dass sich das von der Fraktion geführte IS schon im
Frühjahr weigerte, eine Sitzung des IEK einzuberufen resp. einer solchen Folge
zu leisten, um so nicht abwählt werden zu können.

Praktisch hatte sich auch die Mehrheit des IEK
schon vor Ende Juli 2019 als eigene internationale Gruppierung zu formieren
begonnen. Wichtige Sektionen hatten schon seit Monaten ihre Beitragszahlungen
eingestellt und praktisch eine „Gegenfraktion“ zur „historischen Führung“ des
CWI um Peter Taaffe aufgebaut.

In diesem Sinn sprach die Mehrheit des IEK, die
sich auf die deutliche Mehrzahl der Sektionen stützt (wenn auch nicht unbedingt
auf die Mehrheit der Mitglieder des CWI, da die englisch/walisische Sektion
sicher noch immer die weitaus größte sein dürfte), durchaus zu Recht von einem
„Putsch“ und einem offenen Bruch des Statutes des CWI.

Nur einen Tag nach der Konferenz der Socialist
Party in England und dem Aufruf zur „Neugründung“ des CWI durch die
„proletarische“ Fraktion trat auch die Mehrheit des IEK an die Öffentlichkeit.
Während Taaffe und Co. das CWI neu gründen wollen, will die Mehrheit als CWI
weitermachen. So lässt deren „provisorisches Komitee“ verlauten:

Neben den kriminellen Handlungen einer unverantwortlichen degenerierten bürokratischen Führung hat diese Krise für unsere Organisation auch das Gegenteil gezeigt: dass das CWI eine gesunde und lebendige Organisation ist, in der es einer Mehrheit gelungen ist, sich gegen die bürokratische Degeneration zu behaupten und die Einheit der überwiegenden Mehrheit unserer Internationale aufrechtzuerhalten, obwohl sie sich dabei gegen einige ihrer Gründer*innen mit größter Autorität behaupten muss.

Die CWI-Mehrheit ist vereint, intakt und verfügt über beträchtliche Kampfkraft in über 30 Ländern rund um den Globus!“

Wie bei jeder Scheidung können wir erwarten,
dass in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr oder weniger heftig um das
Tafelsilber, also die Ressourcen der Organisation, gerungen wird – inklusive
wechselseitiger Vorwürfe bürokratischer oder gar „krimineller“ Machenschaften.

Auch wenn die Mehrheit des IEK
formal-demokratisch sicher im Recht ist, dass die Fraktion um Taaffe und die
IS-Mehrheit das Statut gebrochen haben, so kann ein Blick in die Geschichte des
CWI nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Vergangenheit beide Seiten an
solchen bürokratischen Manövern beteiligt waren – sei es beim Bruch mit der
IMT, sei es bei der Duldung der kriminellen Methoden führender Mitglieder ihrer
ukrainischen Sektion um die Jahrhundertwende, als diese gut ein Dutzend anderer
internationaler Strömungen finanziell betrog.

Die Schwierigkeiten der Ursachensuche

Vor allem aber erklärt der Verweis auf die
rasche und bürokratische Zuspitzung des Fraktionskampfes nicht, warum es
überhaupt zu diesen Verwerfungen und schließlich zur Spaltung kam. Schon die
Entstehung einer Fraktion um den Kern der internationalen Führung ist in
Organisationen mit einem revolutionären Anspruch verwunderlich. In der Regel
werden Fraktionen und Tendenzen zur Korrektur der politischen Linie der
Organisation gegen die bestehende politische Führung gebildet, nicht als
politisches Kampfmittel des Führungskerns.

Erst recht verwunderlich wird die Sache, wenn
wir den unmittelbaren Anlass zur Gründung der Fraktion um Peter Taaffe in Rechnung
stellen, nämlich eine Abstimmungsniederlage über die Tagesordnung auf einer
internationalen Leitungssitzung Ende 2018. Damals wollten Taaffe und das von
ihm geführte Internationale Sekretariat die Diskussion über die Arbeit der
irischen Sektion ins Zentrum der Tagung rücken. Dieser wurde eine
kleinbürgerliche Abweichung vom Programm des CWI vorgeworfen wurde. Die
IEK-Mehrheit folgte diesem Tagesordnungsvorschlag jedoch nicht, was die
Strömung um Taaffe als eine Tolerierung, wenn nicht Zustimmung zum
Opportunismus der irischen Sektion betrachtete.

Ein Blick auf deren Wahlkampagne und
Intervention in die Anti-Abtreibungskampagne offenbart, dass dieser Vorwurf
keineswegs unbegründet war. Wohl aber muss sich eine internationale Führung –
zumal eine mit etlichen Hauptamtlichen – die Frage gefallen lassen, warum sie
die Sitzung nicht mit einem Dokument zur Arbeit der Sektion vorbereitet hat und
warum sie ihre Kritik nicht allen IEK-Mitgliedern und der irischen Führung
schriftlich und anhand von Zitaten und Belegen zugänglich gemacht hat. Sie muss
sich die Frage gefallen lassen, warum sie erst zu diesem Zeitpunkt mit ihrer
Kritik rausrückte und eine opportunistische Entwicklung in der irischen Sektion
feststellte, nachdem diese jahrelang aufgrund ihrer Wahlerfolge als „Kronjuwel“
des CWI über den grünen Klee gelobt worden war.

Auf all diese Fragen folgte beredtes Schweigen.
Die internen Dokumente, die in den letzten Monaten über soziale Medien an die
Öffentlichkeit kamen, umfassen zwar mehrere hundert Seiten – sie erlauben es jedoch
kaum, die wechselseitigen Anschuldigungen anhand klarer Fakten und Argumente
nachzuvollziehen.

Der Fraktion um Taaffe kann immerhin zugutegehalten
werden, dass sie schwerwiegende politische Differenzen für die damals drohende
und nunmehr vollzogene Spaltung des CWI ins Feld führte, nämlich eine
kleinbürgerliche Abweichung vom Programm des CWI, eine Anpassung an den
kleinbürgerlichen Feminismus, die Identitätspolitik sowie eine Abkehr von der
ArbeiterInnenklasse als zentralem Subjekt der gesellschaftlichen Umgestaltung.
Die irische Sektion und die Mehrheit des CWI würden in die Fußstapfen des
„Mandelismus“, also der Politik des Vereinigten Sekretariats der Vierten
Internationale, treten, der immer wieder aufgrund von Opportunismus und, in
früheren Jahren, aufgrund von revolutionärer Ungeduld „Ersatzsubjekte“ für das
Proletariat gesucht hätte.

In diesem Sinn versucht die Fraktion um Taaffe,
eine politische Differenz ins Zentrum zu rücken, freilich ohne diese
politisch-faktisch schlüssig zu untermauern. Den durchaus umfangreichen
Dokumenten mangelt es nicht an scharfen Anschuldigungen, es fehlen aber
überzeugende Darlegungen und Beweisführungen. Die „kleinbürgerlichen
Abweichungen“ werden oftmals durch eher anekdotenhafte Erzählungen belegt, z. B.
durch Berichte über politisch problematische Referate einzelner, auch führender
GenossInnen der irischen Sektion. Eine Analyse ihrer Wahlplattformen oder eine
Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Anti-Abtreibungsplattform wurde
allenfalls angedeutet.

Beispiel Rosa

Die fehlende Propaganda für den Sozialismus durch die irische Sektion wurde unserer Meinung nach zu Recht angeprangert. Bemerkenswert ist freilich, dass in der gesamten „proletarisch-trotzkistischen“ Kritik überhaupt kein Bezug darauf genommen wurde, dass die von der CWI dominierte und angeführte Plattform „Reproductive rights against Oppression, Sexism and Austerity“ (Rosa) die Forderung nach unbefristeter und kostenloser Abtreibung auf Verlangen nicht aufstellte. Stattdessen beschränkte sie sich auf die nach einer 12-wöchigen Fristenlösung.

Es spricht zwar nichts dagegen, eine
Massenkampagne für eine 12-wöchige Fristenlösung gegen ein gesetzliches Verbot
der Abtreibung kritisch zu unterstützen. In Irland traten jedoch die schon
bestehenden Anti-Abtreibungskampagnen Abortion Rights Campaign (ARC) und Cork
Women’s Right to Choose Group im Gegensatz zu Rosa immer schon für die radikalere
Forderung nach Abtreibung ohne Fristenlösung ein. Die CWI-Sektion und die internationale
Führung präsentierten Rosa zwar als „radikalere“, weil angeblich
sozialistischere und proletarischere Kampagne, stellten aber bewusst die
Forderung nach einer Fristenlösung auf, weil sie so hofften, dass die Kampagne
dem bestehenden, oft auch katholisch beeinflussten „ArbeiterInnenbewusstsein“
leichter zu vermitteln wäre.

Dieser reale Opportunismus wie auch das Fehlen
eines Übergangsprogramm der Sektion, das den Kampf um demokratische Rechte,
soziale Forderungen mit dem Kampf um eine sozialistische Revolution verbunden
hätte, wurde nicht einfach von der Sektion auf eigene Rechnung vorangetrieben.
Über Jahre hindurch galten die Arbeit der Sektion, ihrer Abgeordneten, ihre breiten
Kampagnen und ihre elektoralen Erfolge als Musterbeispiel „richtiger“
sozialistischer Intervention. Erst spät „entdeckte“ die ehemalige CWI-Führung
die „Abweichungen“ – und „übersah“ dabei bis heute einen zentralen Aspekt des
Opportunismus der Anti-Abtreibungskampagne.

Der Grund dafür ist wohl darin zu suchen, dass
dies nicht ins Narrativ der „proletarischen“ Fraktion passt. Sicher hat diese,
wenn auch spät, zu Recht kritisiert, dass die irische Sektion keinen
Schwerpunkt darauf legte, Gewerkschaften in die Kampagne gegen die Abtreibung
zu ziehen, dass leichtfertig und kritiklos Aussagen
kleinbürgerlich-feministischer Autorinnen oder Vertreterinnen der
#Metoo-Bewegung übernommen wurden. All dies musste dann als Beweis für die
Übernahme von Positionen des Feminismus und von Identitätspolitik herangezogen
werden – freilich ohne selbst in langen Dokumenten zur „Identitätspolitik“
diese selbst einer marxistischen Kritik zu unterziehen oder deren theoretische
und programmatische Reflexion in der Politik der irischen Sektion nachzuweisen.
Stattdessen werden seitenweise die Errungenschaften der Frauenpolitik der
britischen Militant-Strömung und CWI-Sektion angeführt, die zumeist mehrere
Jahrzehnte zurückliegen.

Nicht minder bemerkenswert ist die Tatsache,
dass Sektionen, denen heute ein Abrücken vom Proletariat vorgeworfen wird, noch
im November 2018, also beim letzten Meeting eines gemeinsamen IEK, enorme
Fortschritte attestiert wurden. So hätte sich beispielsweise die soziale
Zusammensetzung der US-amerikanischen „Socialist Alternative“ positiv verändert
und sie ihren Schwerpunkt auf die Gewerkschaften verlagert. Heute steht sie im
Lager der „kleinbürgerlichen Abweichung“, des Opportunismus gegenüber Sanders
und der Demokratischen Partei. Dabei „vergisst“ die „proletarische Fraktion“ um
Peter Taaffe, dass der Opportunismus gegenüber Sanders, die Unterstützung seiner
Präsidentschaftskandidatur im Rahmen der Demokratischen Partei (wie zuvor schon
die Unterstützung grüner Kandidaturen wie der von Ralph Nader und Jill Stein)
international anerkannte CWI-Politik war.

Anekdoten statt Argumente

Bei der Ursachensuche und beim inhaltlichen
Nachvollzug der Spaltung ergibt sich generell eine Schwierigkeit. Auf
Schuldigungen, Vorwürfe … antworten beide Seite vor allem mit einer schier
endlosen Aufzählung vergangener Ruhmestaten. So verweist die Strömung um Taaffe
immer wieder auf die „glorreichen“ Zeiten des CWI, die sie offenkundig in den 1980er
Jahren und Anfang der 1990er Jahre ansiedelt.

Die Mehrheit des IEK wiederum versuchte, sich
gegen die Vorwürfe der Fraktion durch Relativierung und den Verweis auf eigene
politische Erfolge zu behaupten. Mantraartig warf sie ihrerseits der Strömung
um Taaffe vor, alles nur aufzubauschen und zu übertreiben.

Somit ergibt sich die Eigenart, dass nach
vollzogener Spaltung beide Seiten versprechen, ausführlichere Dokumente zur
Darlegung ihrer Kritik und ihres jeweiligen Standpunkts nachzureichen. Die
Geschichte der „revolutionären“ Linken mag zwar reich an Spaltungen sein. In der
Regel verfassten die im Streit liegenden Seiten jedoch ihre wichtigsten
Fraktionsdokumente im Laufe des Kampfes – und reichten sie nicht erst nach der
Spaltung nach.

Allein die Verlaufsform des Fraktionskampfes
wirft ein problematisches Licht auf das Innenleben und die „demokratische
Tradition“ des CWI. Gerade in solchen Kämpfen, die – darüber sollte sich kein/e
RevolutionärIn Illusionen machen, auch zum Leben und zur Entwicklung
kommunistischer oder sozialistischer Organisationen gehören –, zeigt sich auch
die Reife und Qualität einer Organisation.

Differenzen in grundlegenden programmatischen
Fragen werden immer wieder zu Spaltungen führen, sollten sie nicht in eine
Klärung münden (inklusive der Möglichkeit einer gemeinsamen, höheren revolutionären
Synthese). Die Frage der Einschätzung „neuer“ sozialer Bewegungen, der Taktik
und Politik in der entstehenden neuen Frauenbewegung, in der Umweltbewegung, in
nationalen Befreiungskämpfen, im Kampf gegen Rassismus, in der Haltung zum
Brexit und zur Krise der EU, der Taktik gegenüber Corbyn, die Charakterisierung
Chinas, die Einschätzung der Weltlage … stellen wirklich grundlegende Fragen
dar, die jede Organisation, die ernsthaft einen revolutionären Anspruch stellt,
beantworten muss.

Gerade in stürmischen Zeiten von Krise und
Instabilität, eines Vordringens der Rechten und des Rechtsrucks, aber auch von
Massenwiderstand in der Situation der Defensive braucht eine revolutionäre
Organisation vor allem Klarheit, Perspektive und deren Zusammenfassung in Form
eines internationalen Programms. Jede andere Haltung mag möglich sein, nur ganz
sicher ist sie weder proletarisch noch revolutionär.

Marxismus und Fraktionskampf

In diesem Sinne hätte der Fraktionskampf –
unabhängig davon, ob er zu einer Spaltung führte oder nicht – zu einer Klärung
und politischen Schulung für tausende Mitglieder werden können. So endete
z. B. der Fraktionskampf in der US-amerikanischen, trotzkistischen SWP
1939/1940 zwar mit einer Spaltung, zugleich aber führte die Auseinandersetzung zu
einer politischen Klärung grundlegender methodischer und programmatischer Fragen.
Es ist kein Zufall, dass im Laufe dieser Diskussion zwei „Klassiker“ zu Fragen
des Parteiaufbaus, Trotzkis „In Verteidigung des Marxismus“ und Cannons „Kampf
für die proletarische Partei“ entstanden.

Einen solchen erzieherischen, das Bewusstsein
und Verständnis des Leninismus und Trotzkismus hebenden Charakter kann die
Debatte freilich nur haben, wenn in einer Krisenperiode die innerparteiliche
Demokratie ausgeweitet wird, um so ein Klima der Konzentration auf die
politische Klärung zu schaffen. Trotzki ging in den 1930er Jahren sogar so
weit, einer kleinbürgerlichen Opposition in der US-amerikanischen SWP
parteiinterne Garantien innerparteilicher Demokratie und Loyalität zu geben –
unabhängig davon, wer bei der Konferenz eine Mehrheit gewinnen würde. Für den
Fall eines Sieges der bolschewistischen Mehrheit schlug er vor, der Opposition
in der SWP(US) weitere Rechte als Minderheit (einschließlich einer begrenzten
öffentlichen Debatte der Differenzen) zuzugestehen. Für den Fall des Sieges der
kleinbürgerlichen Opposition drängte er darauf, als loyale Minderheit für die
Richtungsänderung in der Partei zu kämpfen.

Im CWI hatte keine der beiden Strömungen eine
ernsthafte interne, klärende, die Mitglieder politisch weiterentwickelnde
demokratische und fraktionelle Auseinandersetzung im Sinn. Der demokratische
Zentralismus schien allenfalls als Lippenbekenntnis Bedeutung zu haben. Die
Fraktion um Taaffe zog aus einer möglichen Niederlage offenkundig den Schluss,
dass es besser sei, das Vermögen und die Strukturen des Ladens so weit möglich
in Sicherheit zu bringen, statt auch nur für ein Jahr um die Mehrheit
organisiert zu kämpfen.

Diese Haltung scheint jedoch keineswegs nur von
der „proletarischen“ Fraktion vertreten zu werden. Die Sektionen aus Spanien,
Portugal, Venezuela und Mexiko, die seit dem 21. Juli 2019 als „Internationale
Revolutionäre Linke“ agieren und auch in Deutschland MitstreiterInnen aus der
Hamburger SAV gewonnen haben, verhielten sich recht ähnlich. Ursprünglich waren
sie Teil der Fraktion um Peter Taaffe. Ende März 2019 traten jedoch auf einem
Fraktionstreffen größere Differenzen zum Vorschein, was nicht nur mit dem
Austritt der vier Sektionen aus der Fraktion, sondern auch gleich aus dem CWI
endete.

Die Mehrheit des CWI-IEK beteuerte lange, dass
die Differenzen eigentlich gar nicht real wären und alle auf dem Boden des
CWI-Programms stünden. Naturgemäß trug diese Position auch nichts zur Klärung
bei. Die scharfe Konfrontation auf dem IEK im November 2018 und die Gründung
einer Fraktion erschienen so als eigentlich rein persönlich-bürokratisches
Vorgehen, nicht als Ausdruck politischer Differenzen. Selbst wenn diese
wirklich nur „übertrieben“ gewesen wären, so hätte sich die Mehrheit zumindest die
Frage stellen müssen, was auf Seiten der Fraktion dazu geführt hatte, worin
also deren politischer Fehler bestand. In ihrer Antwort auf die Abspaltung ist
sie gezwungen, das gewissermaßen nachzuholen, wenn sie schreibt:

„Die ehemalige, für die tagtägliche Arbeit des
CWI zuständige Führung, die einen bürokratischen Putsch in der Organisation
durchgeführt hat (die Mehrheit des Internationalen Sekretariats und die
Minderheitenfraktion, die es um sich herum versammelt hat), zeigte mangelndes
Vertrauen bezüglich der Intervention in diese Bewegungen. Sie betonten die Befürchtung,
dass unsere Mitgliedschaft von der kleinbürgerlichen Identitätspolitik und
anderen ‚fremden Ideen‘ in diesen Bewegungen verwirrt sein könnte, und zogen es
nach ihren eigenen Worten vor, sich ‚einzugraben‘ und auf Ereignisse innerhalb
der offiziellen Arbeiter*innenbewegung zu warten.

Sie griffen unsere Sektionen in Irland und den USA, die erfolgreich große Kämpfe von Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen führten, in denen sie Siege erzielten und gleichzeitig das Banner des revolutionären Sozialismus prinzipientreu und flexibel hochhielten, für ‚Kapitulation vor kleinbürgerlicher Identitätspolitik‘ an. Die Mehrheit ist der Ansicht, dass eine solche Haltung nicht dazu geeignet ist, die proletarischen Prinzipien des Sozialismus zu schützen sondern unsere Mitgliedschaft unvorbereitet lassen würde und die kleinbürgerlichen Einflüsse in einigen der wichtigsten Massenmobilisierungen unserer Epoche unangefochten lassen würde.“ (Ein bürokratischer Putsch wird die Mehrheit des CWI nicht vom Aufbau einer starken revolutionär-sozialistischen Internationale aufhalten!)

Die falsche Methode, interne Auseinandersetzungen
zu führen, bedeutete nicht nur, dass die Spaltung bürokratische Formen annahm.
Der Fraktionskampf konnte so nicht einmal jene Funktion erfüllen, die er in einer
genuin revolutionären Organisation leisten sollte – Erhöhung des politischen
Niveaus der Organisation, Klärung und Schärfung der Argumente und damit auch
des Bewusstseins der Mitglieder. Solcherart könnte ein Fraktionskampf, selbst
wenn er in einer Spaltung endet, zumindest eine überaus intensive marxistische
Schulung mit sich bringen.

Dass es dazu nicht kam, erfordert jedoch selbst eine Erklärung. Diese muss unsere Meinung nach gerade dort gesucht werden, wo alle Spaltprodukte (einschließlich der lange zurückliegenden Abspaltung in Gestalt der IMT) ihre Stärke vermuten – in der ständig beschworenen „Tradition“ des CWI, die eng mit Grant, Woods, Taaffe verbunden ist. Wir werden an dieser Stelle nicht die gesamte Tradition „nacherzählen“, sondern verweisen auf einige in diesem Zusammenhang grundlegende Kritiken unserer Strömung (z. B. auf die Broschüre: Mit Nachtrabpolitik zum Sozialismus?).

Die „Tradition“ des CWI

Wir werden uns daher nur auf einige grundlegende
Eigenheiten dieser Tradition des Zentrismus, also einer Organisation, die
zwischen revolutionärem Kommunismus und Reformismus schwankt, eingehen, die zum
Verständnis der aktuellen Krise und Spaltung von größter Bedeutung sind.

Die Entwicklung des CWI als eigenständige
politische Strömung in Britannien und ab den 1970er Jahren auf internationaler
Ebene ist eng mit der Arbeit der Militant-Strömung und ihrer VorgängerInnen in
der Labour Party verbunden.

Um einen langfristigen, strategisch ausgelegten
Entrismus, also die organisierte Arbeit in der Labour Party (und später in
anderen reformistischen oder auch nationalistischen Parteien wie dem ANC) zu
rechtfertigen, entwickelten die GründerInnen der Strömung um Ted Grant ein
besonderes Verständnis von Entwicklung des Klassenbewusstseins und der
„Radikalisierung“ der ArbeiterInnenklasse.

Im Falle einer Zuspitzung des Klassenkampfes
würden die proletarischen Massen (wieder) in deren traditionelle Parteien
strömen, also in sozialdemokratische und, zur Zeit vor dem Zusammenbruch des
Ostblocks, auch in die stalinistischen. In manchen Ländern könnten de facto
auch links-bürgerliche oder nationalistische Formationen eine solche Funktion
übernehmen (z. B. ANC in Südafrika im Kampf gegen die Apartheid oder die
PPP in Pakistan).

Dahinter steckte nicht nur ein Schematismus, der
immer schon empirisch fragwürdig war. So schwollen im französischen Mai 1968
keineswegs einfach die „traditionellen“ Organisationen an, sondern die radikale
Linke erlebte einen massiven Aufschwung. Ebenso verhielt es sich in Italien
1969 und in den Folgejahren. All dies waren günstige Bedingungen für die
Schaffung direkt revolutionärer Parteien. Die Tatsache, dass die Gruppierungen
des ArbeiterInnenautonomismus, des Maoismus und Trotzkismus gegenüber den
reformistischen Parteien über keine ausreichende Taktik verfügten, offenbart
zwar eine fatale Schwäche dieser Organisationen, sie bestätigt aber keinesfalls
das Schema der Militant-Strömung.

Dieses wurde Anfang der 1990er Jahre – insbesondere
nach der Rechtswende der internationalen Sozialdemokratie – von der Mehrheit
des CWI um Peter Taaffe ein Stück weit in Frage gestellt. Im Gegensatz zu den
AnhängerInnen des CWI-Gründervaters und wichtigsten Theoretikers Ted Grant sahen
sie in der Arbeit in der britischen Labour Party keine weitere Perspektive mehr
und traten für den „eigenständigen“ Aufbau ein. 1992 erfolgte international die
Spaltung. Sicher ging auch diese nicht ohne bürokratische Manöver und Intrigen
vonstatten, aber das neu aufgestellte CWI konnte sich auf eine eindeutige
Mehrheit stützen und nahm Kurs auf den Aufbau eigener Organisationen außerhalb
der traditionellen Sozialdemokratie oder auf die Mitarbeit in „neuen“
Linksparteien, also linken reformistischen Parteien (wie z. B.
Rifondazione Comunista in Italien).

Die sozialdemokratischen Parteien – zuvor noch
als reformistische ArbeiterInnenparteien charakterisiert – änderten praktisch
überall ihren Charakter und wurden zu offen bürgerlichen Parteien erklärt.

Der Bruch war methodisch jedoch keineswegs so
grundlegend, wie es auf den ersten Blick erscheinen sollte. Während die
Charakterisierung der sozialdemokratischen Parteien geändert wurde, so
behielten beide Strömungen die falsche Vorstellung der Entwicklung revolutionären
Bewusstseins bei. Dem CWI erscheint das reformistische nämlich nicht als eine
Form bürgerlichen Bewusstseins, sondern als eine notwendige Entwicklungsstufe auf
dem Weg zum revolutionären Bewusstsein. Während die Strömung um Grant und
Woods, also die heutige IMT (in Deutschland: Der Funke) an dem klassischen
Schema und der Charakterisierung der Sozialdemokratie festhielt, führte das CWI
zwar das Schema fort, aber ohne Labour oder SPD als konkrete und notwendige Zwischenstufen
zur Entwicklung des Bewusstseins zu betrachten. Diese Rolle übernehmen entweder
diverse „Linksparteien“ (europäische Linkspartei, reformistische Strömungen in-
oder außerhalb bestehender Parteien), die Gewerkschaften oder der Aufbau
„eigener“ Parteien auf einem letztlich zentristischen Programm.

Programmatisch führte das Schema schon früh,
also lange vor der Spaltung von CWI und IMT, zu wichtigen Anpassungen an den
Reformismus bzw. an das (angenommene) vorherrschende Bewusstsein der
ArbeiterInnenklasse:

  • Die Militant-Strömung theoretisierte als einzige trotzkistische Strömung die Möglichkeit eines friedlichen, parlamentarischen Weges zum Sozialismus. Mittels einer Mehrheit und einer Massenmobilisierung der ArbeiterInnenklasse könne das Proletariat die Macht erobern und behaupten, ohne den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und die konterrevolutionären Umsturzversuche der Bourgeoisie niederwerfen zu müssen.

„All die Intrigen und Verschwörungen der Kapitalisten können auf der Basis einer kühnen sozialistischen Politik, die von der Massenmobilisierung der Arbeiterbewegung unterstützt wird, nichtig werden. In Großbritannien ist eine völlig friedliche Umwandlung der Gesellschaft möglich, aber nur, wenn die ganze Kraft der Arbeiterbewegung kühn dazu verwendet wird, um die Veränderung zu bewirken.“ (Militant, What We Stand For, 1985, Zitiert nach Colin Lloyd, Richard Brennner und Eric Wegner: Voran, Vorwärts und die Militant-Tendenz: Bruch und Kontinuität einer Wende, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm12/cwi.htm) Mit anderen Worten: Wenn die ArbeiterInnenklasse nur wolle, müsse der bürgerliche Staatsapparat eines der mächtigsten imperialistischen Länder der Welt nicht durch eine Revolution zerschlagen und die Konterrevolution gewaltsam niedergehalten werden. Militant und ihren Nachfolgern zufolge wird das Unmöglich möglich, hört die friedliche Umwandlung auf, ein reformistisches Hirngespinst zu sein, wenn die Massen nur „mobilisiert“ bleiben.

  • Dieser fundamentale Bruch mit der marxistischen Staatstheorie und deren Revolutionsverständnis hatte notwendige programmatische Konsequenzen, die sich praktisch in allen CWI-Programmen wiederfinden. Die Frage der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates, der Bewaffnung der Klasse (Milizen, Soldatenräte) bleibt außen vor. Dies folgt einerseits aus der theoretischen Revision, zum anderen aus der Anpassung an das vorherrschende nicht-revolutionäre Bewusstsein der Klasse, die man durch „Linksradikalismus“ nicht verprellen wollte.
  • Eine weitere Form der Anpassung bestand darin, dass die Militant-Strömung (ähnlich wie andere Gruppierungen des britischen Trotzkismus) schon sehr früh die Losung einer „Labour-Regierung auf einem sozialistischen Programm“ vertrat – eine Parole, die praktisch die Möglichkeit einer revolutionären Regeneration der Labour Partei oder anderer reformistischer Parteien implizierte.
  • In der Labour Party wie auch in der „unabhängigen“ Arbeit wurde die Anpassung an vorherrschende Stimmungen der ArbeiterInnenklasse – und darüber vermittelt an das bürgerliche System – noch vertieft. So weigerte sich Militant im Malvinas-Krieg zwischen Britannien und Argentinien von Beginn an, für die Niederlage des britischen Imperialismus, also der eigenen Bourgeoisie, einzutreten. In der Frage der „offenen“ Grenzen passte sich das CWI über Jahre an den Sozial-Chauvinismus in der ArbeiterInnenklasse an und lehnte es beständig ab, für die Abschaffung aller Einreisekontrolle einzutreten. Die Abschaffung jeder staatlichen Selektion zwischen „guten“ und „schlechten“, also für das Kapital verwertbaren und nicht verwertbaren MigrantInnen wäre der ArbeiterInnenklasse nämlich nicht „vermittelbar“. Statt also dem Chauvinismus in der Klasse politisch und argumentativ entgegenzutreten, wird dieser als „natürlich“ hingenommen. Diese Anpassung findet sich schließlich aktuell besonders deutlich beim sog. „Workers Brexit“, einer angeblich linken Variante des Brexit. Damit soll der Einfluss rechts-populistischer DemagogInnen wie Farage oder Johnson bekämpft werden – in Wirklichkeit läuft das CWI diesen hinterher und kehrt darüber hinaus all jenen Lohnabhängigen, die gegen den Brexit sind, den Rücken. Hier erweist sich die Nachtrabpolitik nicht nur als opportunistisch, sondern auch als nutzlos, blöde und kontraproduktiv.

Nachtrabpolitik

Die Nachtrabpolitik des CWI hat jedoch eine
theoretische Wurzel. Es lehnt – ebenso wie die IMT – bewusst die Lenin’sche
Konzeption der Entwicklung des Klassenbewusstseins ab, wie sie z. B. in
„Was tun“ dargelegt wird. So schreibt Alan Woods in „Bolshevism: road to
revolution“:

„Die Arbeiterklasse beginnt aus lebender Erfahrung mit Ausbeutung und Unterdrückung ein sozialistisches Bewußtsein zu entwickeln, angefangen mit der aktiven Schicht, die die Klasse führt. (…) Der Klassenkampf selbst schafft unausweichlich nicht nur ein Klassenbewußtsein, sondern auch ein sozialistisches Bewußtsein.“ (Zitiert nach RSO, CWI und IMT, Marxismus Nr. 30, Februar 2009, S. 57)

Wie zahlreiche andere RevisionistInnen, die die
Lenin’sche Polemik gegen den Ökonomismus für „überzogen“ halten und daher
meinen, seine gesamte Theorie verwerfen zu können, übersieht Woods, dass seine
Vorstellung nicht nur jener von Lenin und Kautsky, sondern auch der von Marx
diametral entgegensteht. Im ersten Band des Kapital legt Marx dar, dass das
Lohnarbeitsverhältnis selbst das Bewusstsein der Klassen prägt. Die
Transformation des Werts der Ware Arbeitskraft in Arbeitslohn inkludiert auch
eine ideologische, bewusstseinmäßige Verkehrung des realen
Ausbeutungsverhältnisses:

„Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort (in der Sklaverei; Anm. d. Autors) verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.

Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (Marx, Das Kapital, Band 1, S. 562)

Dies verdeutlicht wohl hinlänglich, dass sich aus
der „lebendigen Erfahrung mit Ausbeutung und Unterdrückung“ überhaupt kein
Klassenbewusstsein spontan entwickelt, sondern dass die „lebendige Erfahrung“,
der Verkauf der Ware Arbeitskraft und noch das Aushandeln der Verkaufsbedingungen
der Ware Arbeitskraft, also die regelmäßige Reproduktion des
Kapitalverhältnisses, notwendigerweise bürgerliches Bewusstsein hervorbringt.

Elementarformen des Klassenkampfes – z. B.
der Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen – können zwar in der
Aktion bestimmte Flausen, Mystifikationen (z. B. die Vorstellungen von
„Gerechtigkeit“, vom Staat, …) praktisch in Frage stellen. Aber sie führen
keineswegs spontan zur Bildung von Klassenbewusstsein, geschweige denn zum „sozialistischem
Bewusstsein“. Das rein gewerkschaftliche Bewusstsein, das zweifellos „spontan“
aus der Erfahrung in dieser Form des Klassenkampfes erwächst, stellt Marx und
Lenin zufolge noch immer eine Art bürgerlichen Bewusstseins dar. Der
Reformismus bürgerlicher ArbeiterInnenparteien wie z. B. der Labour Party,
der SPD oder der Linkspartei ist im Grunde nichts anderes als eine Ausweitung
dieser Form bürgerlichen Bewusstseins auf die politische Ebene. Gegenüber dem
rein gewerkschaftlichen stellt das zwar einen Fortschritt dar, weil es die
Notwendigkeit einer Partei der ArbeiterInnenklasse anerkennt – aber
nichtsdestotrotz bleibt auch eine solche, reformistische Partei eine
bürgerliche, auf dem Boden des Kapitalismus agierende politische Kraft, das
reformistische Bewusstsein daher bürgerliches Bewusstsein.

Der Boden für die Bildung revolutionären
Klassenbewusstseins wird zwar durch Krisen, Verwerfungen, Massenaktionen,
Aufstände usw. befördert, weil Fragen des Klassenkampfes und Machtfragen zu
unmittelbar praktischen werden. Nichtsdestotrotz erfordert die Hervorbringung konsequent
revolutionären Klassenbewusstseins auch dann eine theoretische Analyse, eine
wissenschaftliche Verallgemeinerung, die nicht nur und auch nicht vorrangig aus
der eigenen Erfahrung, sondern nur aus der verallgemeinerten Erfahrung aller
Klassekämpfe hervorgehen kann. Diese wird nicht spontan entwickelt, sondern bedarf
theoretischer Anstrengung. Revolutionäre Politik muss für den Marxismus auf
einer revolutionären Theorie fußen – ansonsten ist sie keine.

Diese Theorie muss in den Klassenkampf, in die
ArbeiterInnenklasse getragen werden – sei es durch politisch bewusste
Lohnabhängige, sei es durch kleinbürgerliche oder bürgerliche TheoretikerInnen,
die sich den wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht haben. In die
Klasse tragen darf dabei natürlich nicht mit „Aufklärung“ verwechselt werden,
sondern bedeutet, für ein Programm zu kämpfen, das eine Brücke zwischen Theorie
und Erfahrung schlägt, das einen Weg weist, die beschränkten Kämpfe für soziale
und politische Reformen mit dem für die sozialistische Revolution zu verbinden.

Die Vorstellung, dass Klassenbewusstsein aus der
Erfahrung oder dem spontanen Klassenkampf notwendig erwachse, stellt nicht nur
einen fundamentalen Bruch mit dem Marxismus dar – sie rechtfertigt logisch auch
eine Nachtrabpolitik, eine Anpassung an des bestehende Bewusstsein, wie es
Lenin an den ÖkonomistInnen kritisierte.

Sie unterstellt nämlich, dass rein
gewerkschaftliches oder reformistisches Bewusstsein schon einen halben Schritt
zum revolutionären darstellen würden, dass diese nur quantitativ erweitert
werden müssen und sich organisch in „revolutionäres“ verwandeln würden.

Ökonomischer Kampf als eigentlicher
Klassenkampf?

In Wirklichkeit bedeutet revolutionäres
Klassenbewusstsein jedoch einen qualitativen Bruch mit dem Reformismus. Der
Kampf für revolutionäre Politik beinhaltet daher in nicht-revolutionären Zeiten
immer ein Ankämpfen gegen das spontane, vorherrschende Bewusstsein – auch innerhalb
der ArbeiterInnenklasse. Der Verzicht z. B. auf den Kampf um „offene
Grenzen“ oder Anpassung an die sozialchauvinistischen Stimmungen in der
britischen ArbeiterInnenklasse in der Frage des „Workers Brexit“ stellt
hingegen eine Form der Nachtrabpolitik dar, der Anpassung an das vorherrschende,
nicht-revolutionäre Bewusstsein der Klasse, insbesondere an den
Sozial-Chauvinismus.

Das Zitat von Woods, das bis heute dem
Verständnis von Klassenbewusstsein und dessen Entwicklung bei allen Flügeln von
CWI und IMT zugrunde liegt, impliziert noch eine bestimmte Haltung zu den
Formen des Klassenkampfes. Bekanntlich unterscheiden Engels und in seiner
Nachfolge auch Lenin und andere MarxistInnen zwischen drei Hauptformen des
Klassenkampfes: dem gewerkschaftlichen, dem politischen und dem ideologischen
(oder theoretischen). Die Aufgabe einer revolutionären Partei besteht darin,
alle drei systematisch zu betreiben und im Rahmen einer revolutionären
Strategie zu verbinden, die auf die politische Machtergreifung der
ArbeiterInnenklasse ausgerichtet ist.

In der CWI-Tradition wird unwillkürlich – und im
direkten Gegensatz zu allen klassischen marxistischen TheoretikerInnen – der
ökonomische Kampf zum Kern des Klassenkampfes.

Die Verklärung des gewerkschaftlichen
Klassenkampfes zum eigentlichen Klassenkampf, des reformistischen
ArbeiterInnenbewusstseins zum eigentlichen Sprungbrett für „revolutionäres
Bewusstsein“ stellt letztlich eine ideologische Rechtfertigung des Workerismus
dar, der die CWI-Strömung seit ihrer Entstehung prägt.

Es ist daher kein Wunder, dass diese Tendenz
gegenüber Kämpfen der Unterdrückten – nationalen Befreiungsbewegungen,
antirassistischen Kämpfen, dem Kampf für Frauenbefreiung oder gegen sexuelle
Unterdrückung – immer wieder skeptisch, oft direkt sektiererisch auftrat. So
lässt sich das bis heute an der links-zionistischen Position zu Palästina oder
der sektiererischen Haltung zum nationalen Befreiungskampf in (Nord-)Irland
zeigen.

Wenn wir von einer ökonomistischen Vorstellung
der Entwicklung des Klassenbewusstseins ausgehen, so erscheint das nicht
sonderlich problematisch, ja sogar als eine Tugend, sich auf die „echten“
ArbeiterInnenfragen zu konzentrieren.

Von einem leninistischen Standpunkt aus ist das jedoch
fatal. In „Was tun“ erklärt Lenin schließlich nicht nur, dass Klassenbewusstsein
von außen in die Klasse getragen werden muss – er legt auch verständlich und
bündig dar, was revolutionäre Klassenpolitik inhaltlich auszeichnet.

„Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewußtsein der Arbeiterklasse ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selber lenkt, der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit nicht nur der theoretischen … sogar richtiger gesagt: nicht so sehr der theoretischen als vielmehr der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft. Darum eben ist die Predigt unserer Ökonomisten, daß der ökonomische Kampf das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in die politische Bewegung sei, so überaus schädlich und ihrer praktischen Bedeutung nach so überaus reaktionär.“ (Lenin, Was Tun, LW 5, S. 426)

Dass revolutionäre Organisationen eine klare
Position zum Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen die Unterdrückung der
Jugend, gegen Imperialismus, Rassismus und nationale Unterdrückung einnehmen,
dass sie mit einem Klassenstandpunkt in diese Bewegungen intervenieren und
einen revolutionären Kurs skizzieren, stellt keine „konjunkturelle“ Aufgabe
dar. Sie ergibt sich auch nicht nur negativ aus der Notwendigkeit, die Dominanz
bürgerlicher und kleinbürgerlichen Ideologien in Bewegungen der Unterdrückten
zu bekämpfen. Vielmehr folgt die Notwendigkeit, eine Politik zu entwickeln, die
sich gegen alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung wendet, aus dem
Charakter des proletarischen Befreiungskampfes selbst. Die ArbeiterInnenklasse
kann sich nämlich nur selbst befreien, wenn sie alle Verhältnisse umwirft, in
denen der Mensch eine erbärmliches, geknechtetes Wesen ist, indem sie sich
selbst durch die Revolution befreit und revolutioniert.

Das ökonomistische Schema von Woods hingegen
legt auf allen Gebieten nahe, dass der Kampf gegen soziale Unterdrückung oder
auch die „Staatsfrage“ durch das naturnotwendig stetig steigende Gewicht und
Bewusstsein der Klasse „letztlich“ und gewissermaßen automatisch gewonnen,
gelöst wird.

Die Krise des CWI ist eine Krise ihres Schemas

Die Krise des CWI muss unserer Auffassung nach
als eine Krise dieses Schemas und bestimmter damit verbundener Erwartungen an
die Entwicklung der ArbeiterInnenklasse, ihres Bewusstseins und des CWI selbst
verstanden werden.

Anders als viele konkurrierende trotzkistische
Strömungen – allen voran das „Vereinigte Sekretariat der Vierten
Internationale“, aber auch als der Morenoismus – schien das CWI nach der
Spaltung von der IMT mit großen Schritten voranzuschreiten. Die Führung der
Organisation setzte sich das Ziel, zur größten „trotzkistischen“ Strömung
weltweit zu werden. Nach der großen Krise 2008–2010 wurden diese Hoffnungen
anscheinend noch verstärkt zum Ausdruck gebracht.

Doch der Durchbruch kam nicht. Die
verschiedenen, öffentlich gewordenen Dokumente des Fraktionskampfes im CWI
legen vielmehr nahe, dass die Organisation international betrachtet in den
letzten 10 Jahren stagnierte. Zweitens offenbaren die wechselseitigen Vorwürfe
der Fraktionen, dass die Mitgliederzahlen jahrelang übertrieben wurden, um
andere Strömungen zu beeindrucken oder die Moral der eigenen Mitglieder zu
heben. Diese Beschönigung der Mitgliederstatistiken funktionierte anscheinend
jahrelang. Im Zuge der Krise hatte und hat das sicher eine demoralisierende
Wirkung auf viele GenossInnen, die schließlich jahrelang über den Zustand der
eigenen Organisation hinters Licht geführt wurden.

Drittens verschoben sich im CWI auch die
politischen Gewichte und das Verhältnis zwischen den Sektionen. Jahrelang galten
die Dominanz und politische Führungsrolle der englischen und walisischen
Sektion, der Socialist Party (SP), als unangefochten. Doch die Autorität von
Taaffe und Co. wurde ganz zweifellos unterminiert.

Politik der SP

Auch wenn die Fragen der Politik der SP selbst
in den fraktionellen Auseinandersetzungen kaum zur Sprache kamen und auch wenn
die Mehrheit des IEK diese praktisch nicht kritisierte, so war wohl
offenkundig, dass sie politisch nicht vorankam und „bestenfalls“ weniger an
Einfluss und Mitgliedern verlor als die andere große zentristische
Organisation, die SWP. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens das Festhalten am
„Workers Brexit“. Für die SP stellte die Mehrheit für den Austritt Britanniens
aus der EU einen Sieg der ArbeiterInnenklasse dar, die Führung der SAV in
Deutschland bezeichnete ihn als „Grund zu Freude“. Und die SP in Britannien
hält bis heute daran fest, dass sich Labour und die Gewerkschaften an die
Spitze einer imaginären „linken“ Brexit-Bewegung stellen müssten:

„Um erfolgreich zu sein, muss Corbyn diese Botschaft beharrlich, laut und deutlich aussprechen – einhergehend mit dem Versprechen, bezüglich des Brexit und darüber hinaus Maßnahmen für die Arbeiter*innenklasse durchzuführen. Auf dieser Grundlage könnten Labour und die Gewerkschaften Massen für einen Brexit im Interesse der Arbeiter*innenklasse mobilisieren und damit auch der Kampagne der Rechtspopulist*innen gegen die EU etwas entgegensetzen.“ (https://www.sozialismus.info/2019/04/sozialistinnen-und-der-brexit/)

Eine „Partei“, die zwischen Sieg und Niederlage
nicht zu unterscheiden weiß, die meint, die Brexit-Bewegung mit einem
nationalen Weg zum Sozialismus schlagen zu können, und dabei all jenen
Lohnabhängigen und MigrantInnen den Rücken kehrt, die gegen den
nationalistischen Brexit-Wahn kämpfen wollen, benötigt weder die britische noch
sonst eine ArbeiterInnenklasse.

Zweitens weigerte sich die SP, in die Labour
Party unter Corbyn einzutreten und auf Hunderttausende nach links gehende AktivistInnen
zuzugehen. Statt ihre eigene, vorschnelle Erklärung der Labour Party als „rein
bürgerliche Partei“ zu redividieren, klammerte sich die Taaffe-Führung an
dieser falschen Einschätzung fest und wählte die Selbstisolation außerhalb von
Labour. Zweifellos hätte eine Revision der Charakterisierung der Labour Party
kritische Fragen bezüglich der eigenen Vergangenheit aufgeworfen. Politisch
geholfen hat diese sture Verteidigung des eigenen Fehlers sicher nichts.
Erschwert wurde dieser Fehler sicher auch dadurch, dass die Labour Party unter
Corbyn auf einem links-reformistischen Programm antrat, von dem sich die SP
viel schwerer inhaltlich abzusetzen vermochte. Ihre falsche Haltung zum Brexit
und ihre Ablehnung offener Grenzen führten außerdem dazu, dass sie in diesen
zentralen Fragen des Klassenkampfes rechts von vielen Labour-AktivistInnen
stand und steht.

Entwicklung anderer Sektionen

Während die SP auf dem absteigenden Ast war,
errangen andere Sektionen des CWI – insbesondere die irische und US-amerikanische
– durchaus beachtliche Wahlerfolge auf kommunaler oder gar nationaler Ebene.

Nicht nur Größenverhältnisse änderten sich, auch
die politische Schwerpunktsetzung der einzelnen Sektionen wandelte sich und
wurde unterschiedlicher. Das CWI der 1970er und 1980er Jahre folgte einem
weitgehend einheitlichen Aufbauplan seiner Sektionen – der Arbeit in
bestehenden Massenparteien und in den Gewerkschaften. Alle Strömungen, die eine
entristische Arbeit verweigerten, wurden als „SektiererInnen am Rande der ArbeiterInnenbewegung“
denunziert. Eine solche oberflächliche Immunisierung der eigenen Mitglieder
gegenüber der „restlichen Linken“ war naturgemäß nach dem Austritt aus Labour
oder SPD nicht mehr oder nur noch bedingt möglich.

Hinzu kam, dass einige Sektionen ihren
Schwerpunkt in „neuen“ reformistischen Linksparteien suchten, andere wie die SP
in England auf den eigenen Aufbau setzten. Die Aufbautaktik wurde somit uneinheitlicher.
Mit dem Linksschwenk von Labour unter Corbyn stellte sich natürlich auch die
Frage, warum eine Arbeit in der zahlenmäßig stagnierenden deutschen Linkspartei
unbedingt notwendig sei, während ein organisierter Kampf in der Labour Party
abgelehnt wurde. Während man sich in Britannien von der „Corbyn-Bewegung“ fernhielt,
wurde zugleich die Präsidentschaftskampagne von Sanders in der offen
bürgerlichen Demokratischen Partei unterstützt.

Auch die Arbeit in den Gewerkschaften, jahrelang
in Form opportunistischer Anpassung an die linke Bürokratie ein Aushängeschild
der englischen Sektion, wurde angesichts von Niederlagen der organisierten
ArbeiterInnenklasse wie des Aufstiegs neuer sozialer Bewegungen in einigen
Ländern depriorisiert. So agierte die irische Sektion vor allem in der
Frauenbewegung und der Kampagne gegen Abtreibung.

Anpassung an unterschiedliche Milieus

Diese verschiedenen Taktiken und Aufbaumethoden
folgten mehr und mehr den unmittelbaren Bedürfnissen einzelner Sektionen.
Zugleich mussten sie früher oder später die Frage der Aufbaumethode, der
Klassenpolitik (Haltung zu den DemokratInnen in den USA), der Position zu kleinbürgerlich
geführten Bewegungen usw. aufwerfen.

Eine offene Diskussion über all diese Fragen war
jedoch über Jahre zurückgestellt worden. Es wurde eine einheitliche Linie
suggeriert, auch wenn diese in der Realität mehr und mehr aufgeweicht wurde.

Eine revolutionäre Organisation, die auf Basis
eines gemeinsamen, wissenschaftlichen Programms agiert, kann mit solchen
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen nationaler Sektionen eigentlich leicht
leben, da es das internationale Programm erlaubt, ebendiese in einen
gemeinsamen Kontext zu stellen. Für eine ökonomistische Organisation verhält es
sich grundsätzlich anders. Gehen wir davon aus, dass das revolutionäre
Bewusstsein direkt aus dem Klassenkampf entsteht, so tendiert natürlich eine
Verschiebung des jeweiligen Fokus auch dazu, dass sich das Milieu, aus dem das
Bewusstsein organisch erwachsen soll, grundlegend ändert.

Solang alle einen Schwerpunkt auf einigermaßen
ähnliche Gewerkschaftsarbeit und auf reformistische Parteien legen, werden sich
noch einigermaßen ähnliche „Bewusstseinsansätze“ ergeben.

Anders wird es freilich, wenn verschiedene
Sektionen in unterschiedlichen Milieus und Bewegungen agieren und intervenieren
– und das noch umso mehr, als manche davon einen klassenübergreifenden
Charakter tragen. Der Kampf schafft dabei selbst kein gemeinsames revolutionäres
Bewusstsein, sondern unterschiedliche nicht-revolutionäre Bewusstseinsformen.
Diese können Formen der Identitätspolitik und des bürgerlichen oder kleinbürgerlichen
Feminismus (wie in Irland darstellen), es können ebenso Spielarten des
Reformismus und Sozial-Chauvinismus wie in Britannien sein.

So richtig daher der Vorwurf der ehemaligen
IS-Mehrheit um Peter Taaffe auch hinsichtlich der Anpassung der irischen
Mehrheit und ihrer UnterstützerInnen an die Identitätspolitik sein mag, so bleibt
die ganze Kritik blind gegenüber der Tatsache, dass diese Anpassung durchaus
aus der ökonomistischen Vorstellung der Entwicklung von Klassenbewusstsein
entspringt, die dem CWI immer schon zugrunde lag.

Wenn die „proletarische Tendenz“ von einer
Rückkehr zur „ArbeiterInnenpolitik“ spricht, so meint sie letztlich eine
Rückkehr zu den echten, ökonomistischen Wurzeln des CWI. Dieser Appell mag zu
einem Zusammenrücken der verbliebenen AnhängerInnen führen, zu einer Lösung der
Probleme des CWI wird er nicht führen – erst recht nicht mit einer Anpassung an
das vorherrschende linke, gewerkschaftliche ArbeiterInnenbewusstsein.

Umgekehrt sind bei der Mehrheit des IEK weitere
Anpassungen an kleinbürgerliche Kräfte und Ideologien, vor allem aber eine
Tendenz zum Föderalismus und zur Beliebigkeit zu erwarten. Anders als die
Strömung um Taaffe stellt sie eher eine Koalition von GegnerInnen der „alten“
Führung dar – über einen einheitlichen Gegenentwurf dürfte sie nicht verfügen.
Es handelt sich vielmehr um eine Gruppierung nationaler Sektionen, für die ihr
jeweiliger „nationaler“ Aufbau im Zentrum stehen dürfte – und damit ist
entweder Beliebigkeit oder weitere Spaltung vorprogrammiert.

Mit der Spaltung wird in jedem Fall die Krise
des CWI nicht vorüber sein. Die politischen Fehler der letzten Jahre – wie
Brexit, … – werden in den kommenden erst recht ihren Tribut fordern. Während
von der Strömung um Taaffe eher eine sektiererische Haltung zur neuen
Frauenbewegung oder zur Umweltbewegung zu erwarten ist, werden andere auf
Anpassung setzen. Und solche kann – nehmen wir nur den Aufstieg populistischer
Bewegungen wie der Gilets Jaunes – zu weit größeren Fehlern als eine Adaption
an Identitätspolitik oder Reformismus führen. Eine solche Entwicklung ist auch
deshalb zu befürchten, weil alle Strömungen des CWI bislang eine Verharmlosung
der reaktionären Entwicklungen der letzten Jahre eint.

Weltlageeinschätzung

So geht ihre letzte und einstimmig
verabschiedete, gemeinsame Weltlageeinschätzung mit keinem Wort auf deren
veränderten Charakter seit der Niederlage des Arabischen Frühlings in Syrien
und Ägypten und der von Syriza ein. Natürlich bestreitet das CWI dabei nicht,
dass es diese Niederlagen gegeben hat, wohl aber dass diese für die Entwicklung
des globalen Kapitalismus einen Rechtsruck und eine reaktionäre Phase bedeuten.

Wie wir sehen können, kann diese selbst
Massenwiderstand wie z. B. in Brasilien, Generalstreiks wie in Indien oder
gar Revolutionen wie im Sudan hervorbringen. Aber das ändert nichts daran, dass
die ArbeiterInnenklasse in einer Situation der Defensive agiert – einer
Defensive, die nicht nur die Schwäche der Klassenorganisationen, sondern auch
das Vordringen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien in den Bewegungen
der Widerstandes wie in der ArbeiterInnenklasse selbst beinhaltet. Eine
Hauptgefahr – aber sicher nicht die einzige – stellt dabei der (Links-)Populismus
dar.

In den Thesen des CWI vom November 2018
erscheint dies jedoch vielmehr als Prozess, als Polarisierung, bei der erstens
nicht ausgemacht werden könne, welche Kraft – Reaktion oder Revolution – im
Vormarsch ist, und bei der die Entwicklung des Klassenbewusstseins letztlich
nur als eine Frage der Zeit erscheint, also der spontanen Entwicklung von Massenmobilisierungen.
So heißt es in dem Papier:

„Der Aufstieg des politisch nebulösen Populismus wurzelt in der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und ihren Folgen. Bürgerliche Analyst*innen, darunter Francis Fukuyama und eine Reihe von Kommentator*innen, spotten darüber, dass es nicht diese Linke, sondern die Rechte war, die am meisten von den politischen Folgen dieser Krise profitierte. Das stellt die Realität völlig auf den Kopf. Die Arbeiter*innenklasse wandte sich in vielen Ländern zunächst einmal der Arbeiter*innenbewegung und der Linken zu, um eine Erklärung und Lösungen für die Krise zu finden. Die Linke hätte angesichts der Schwere der Rezession, die zur Diskreditierung des Kapitalismus und seiner politischen Vertretung führte, erheblich gewinnen können.“ (https://www.sozialismus.info/2019/01/die-lage-der-welt-das-kapitalistische-system-steht-vor-politischen-und-sozialen-umbruechen)

Hier flüchtet sich das CWI einhellig in den
Konjunktiv. Zur Bestimmung des aktuellen Kräfteverhältnisse ist leider nicht
entscheidend, was hätte kommen können, sondern wie sich Bewusstsein und
Kräfteverhältnis real entwickelten.

Hinter dieser Formulierung steht letztlich ein
objektivistisches Hoffen, dass die „Radikalisierung“ und Bewusstseinsbildung
der ArbeiterInnenklasse einem „gut aufgestellten“ CWI bei den nächsten größeren
Mobilisierungen Massen in die Arme treiben würden. Die letzten Jahre zeigen,
dass die Weigerung des CWI, ihren eigenen Ökonomismus kritisch zu hinterfragen
und abzulegen, die Organisation zur Spaltung getrieben hat. Nur wenn das CWI,
einzelne Abspaltungen oder GenossInnen die falschen methodischen Grundpfeiler
ihrer Tendenz in Frage stellen, kann aus dieser Krise Positives erwachsen.




Antidogmatismus als Attitüde

Michael Eff,
Infomail 1065, 20. August 2019

Eine kurze Replik zu Manuel Kellners „Wortmeldung“ „Zum Aufbau revolutionärer Organisationen heute“, (scharf links, 12.8.19)

Zugegeben,
das Thema ist umfassend, und es ist durchaus legitim, öffentlich einige
Gedankensplitter zu dieser Problematik zu äußern, ohne gleich ein
„Aufbaukonzept“ aus der Tasche ziehen zu müssen. Aber M. K. hat hier einen ganz
eigenwilligen Argumentationsstil unfreiwilliger Komik entwickelt. Wie geht er
vor?

Zunächst einmal wird versichert: „Es geht nicht um Rechthaberei. Wir so
wenig wie Karl Marx (eine leicht größenwahnsinnige Bezugnahme, M. E.) wollen
hören oder sagen: ,Hier ist die Wahrheit, hier knie nieder!‘ “

Was
sich so bescheiden gibt, entpuppt sich sehr schnell als rituelle Floskel, denn
dann zieht M. K. vom Leder:

Alle Gruppen mit „revolutionärem Anspruch“ (ob sie sich nun selbst für
eine revolutionäre Partei oder nur für einen der Kerne einer zukünftigen
revolutionären Partei halten) – „Alle diese Gruppen irren sich“, verkündet
unser Gegner von Rechthaberei. Und dann erklärt er uns, „was sie in Wahrheit
sind“ (wie sich ihre Mitglieder darstellen und was sie tun):

  • ein
    Trotzki aus der Tube
  • Lenin
    aus der Westentasche
  • ein
    Liebknecht im Reichstag
  • diese
    Gruppen leisteten eine „Interpretation der Überlieferung als einer Enzyklopädie
    von zutreffenden Behauptungen“, die selbstständiges, kritisches Denken ersetze
  • in
    blinder Nachahmung der Bolschewiki „brandmarken“ „Samuel Sekterisch und Kumbert
    Kleingruppenhäuptling“ die „zentristischen und reformistischen Weicheier“
  • der
    Zweifel sei unangebracht
  • „Marx
    und andere komplizierte Sachen müssen sie nicht lesen, kennen sie doch die
    zutreffenden Kurzfassungen“
  • sie
    stünden an Ständen und erzählten den Leuten „ungefragt einen vom Pferd“
  • man
    dürfe die „Kontrolle“ nicht verlieren, „Hauptsache, die eigene
    Selbstreproduktion geht nicht hops und die eigenen Hauptamtlichen bleiben im
    Brot.“
  • wer
    solche Gruppen führe, dem gehe es darum, dass sein „Fußvolk dir aufs Wort
    glaubt“
  • Mitglieder
    müssten „in ihren öffentlichen Äußerungen immer einer Meinung sein“
  • es
    würden „Mitglieder scheinrevolutionärer Gruppen in das Hemd von Verrätern
    gesteckt“, wenn sie Meinungsverschiedenheiten öffentlich machten
  • die
    Mitglieder müssten „strammstehen“
  • gleichsam
    „kanonisierte Texte“ vergangener Erfahrungen dienten als „Blaupausen für das,
    was heute zu… machen ist“
  • sie
    „erziehen neue RekrutInnen so, dass sie ihren FührerInnen zustimmen“
  • die
    Gruppen pflegten mit ihrer Schulungsarbeit „ein hagiographisches
    Geschichtsbild“
  • bestenfalls
    seien diese Gruppen (vorgeblich ,trotzkistischer‘ und vergleichbarer Gruppen)
    ein „Flohzirkus“ und „scheinrevolutionär“.

Vermutlich ist die Liste nicht vollständig.
Nicht, dass es die angesprochenen Probleme gar nicht gäbe (das Papier selbst
beweist es ja…), aber nirgendwo wird etwas belegt, nirgendwo wird beispielhaft
illustriert und vor allem bleibt man im Vagen, weil nirgendwo Ross und ReiterIn
beim Namen genannt werden. Diese Methode des selbsternannten Gegners der
Rechthaberei ist perfide. So pauschal formuliert, so unspezifisch adressiert
bleibt nur eine Einordnung: Es handelt sich um blanke Verleumdungen.

Differenzierung ist nicht sein Ding. Er kann
nur pauschal „alle“ meinen. Doch halt, Rettung naht – es gibt eine
Ausnahme: der eigene Verein:

  • Unsere Vierte Internationale heute schafft
    es…zur gemeinsamen Reflexion, Positionsbildung und Bildungsarbeit auf hohem
    Niveau zusammenzuführen
  • Sie verbreitet nicht die Fiktion, ihre
    führenden Mitglieder hätten die marxistische Weisheit mit Löffeln gefressen
  • Wir haben keine Obermacker
  • Weil wir nicht in doktrinärer
    Selbstgewissheit auftreten
  • Wir geben nie auf und kämpfen bis zum letzten
    Atemzug (wörtlich!! M. E.)

Dort die verspinnerten DoktrinärInnen (eben alle anderen), – hier die
undogmatischen HeilsbringerInnen. M. K. ist um sein schlichtes Weltbild zu
beneiden.

Die Sache hat aber durchaus Methode. Wie schon bei seiner Bilanz der NaO
ersetzen die Verleumdungen anderer die inhaltlichen Auseinandersetzungen
mit ihnen. Auf acht Seiten wird zum Thema „Aufbau revolutionärer Organisationen“
kein einziges inhaltliches/programmatisches Wort verloren. Wir verlangen ja
keine „Lösungen“, aber die wichtigsten Probleme in der Welt und in unserer
Zeit, um deren Klärung (wie unvollständig und vorläufig auch immer) sich
revolutionär verstehende Organisationen bemühen müssten, sollten schon benannt
werden.

In seinem Papier gib es einen Abschnitt mit der Überschrift „Der Umgang
mit der Überlieferung“. Dort werden zwei historische Beispiele angeführt.

1. Die Bedenken, die führende USPD-Mitglieder (Crispien, Dittmann)
äußerten über die Art und Weise, wie die KomIntern organisiert bzw. geführt
werden solle. Da wird´s dann bei M. K. kryptisch. Einerseits lässt M. K. seine
Sympathien (angesichts der späteren Entwicklungen) für diese Bedenken durchblicken,
andererseits heißt es: „Natürlich empfinden wir gleichwohl die Argumente und
Positionen der damaligen Revolutionäre und Revolutionärinnen…für in der Tendenz
(?? M. E.) die besseren.“ Alles klar???

2. Der Fall Paul Levi. Ich persönlich teile Paul Levis Kritik an der
„Märzaktion“ im Wesentlichen. Auch die Umgangsweise der KomIntern mit Levi
halte ich für falsch. Jedenfalls kann man das diskutieren. Aber wozu versteigt
sich M. K.? „…wenn das Denken von überhaupt jemandem dieser Zeit auch heute
noch danach schreit…in Hinblick auf Probleme, die sich Linken heute stellen,
ausgewertet zu werden, dann seines.“ So eine Aussage kann man nicht einfach in
den Raum stellen, ohne zumindest anzudeuten, wieso Paul Levi so ein seltenes
und überragendes Exemplar ist. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Vermutlich haben die ritualhaften Zeremonien des „Undogmatischen“, das
Vermeiden inhaltlicher Auseinandersetzungen, die Sympathien mit eher
rechtskommunistisch und linkssozialdemokratischen Strömungen ihre Wurzel in der
eigenen Praxis. Auffällig ist jedenfalls, dass in dem Abschnitt des Papiers
„Linke Neuformierung“ über die brasilianische PT diese Partei lobend erwähnt
wird, weil sie „…eine Vielfalt linker Strömungen zum gemeinsamen politischen
Handeln und zur gemeinsamen Meinungs- und Positionsentwicklung zusammenführte.“
Wie harmonisch, aber leider muss auch M. K. konstatieren: „Bekanntlich ist auch
die PT gescheitert.“ Dass dies auch etwas mit der von ihm so gefeierten
Struktur der PT und ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu tun haben könnte, kommt
M. K. nicht in den Sinn. Jedenfalls ist in diesem Papier kein Wort davon zu
finden (aber immerhin die Aufforderung, die Gründe für das Scheitern zu analysieren).

Dann kommt er, so nehme ich an, zum Kern seiner Motivation, der Arbeit
in der Linkspartei. Nachdem er, wie ich finde, weitgehend richtig, die beiden
klassischen Ausformungen der Taktik des Entrismus dargestellt hat und beide für
sich zurückweist, folgt seine strategische Ausrichtung: „Die Partei Die Linke
und natürlich ganz besonders ihre antikapitalistisch und mehr oder weniger
revolutionär gesonnenen Strömungen sind keine ,feindliche Umgebung‘, sondern
einfach Teil der zeitgenössischen Neuformierung der Linken, wenn auch unter
starkem Anpassungsdruck (??, M. E.). Wer dazu beitragen möchte, diesem
Anpassungsdruck (?) zu widerstehen, tut gut daran, die Partei und diese
Strömungen mit aufzubauen und zugleich in deren Mitgliedschaft kritische
Reflexion zur genannten Problematik anzuregen und zu befördern.“

Ich habe da einen Präzisierungsvorschlag zu machen, nämlich mit der
„kritischen Reflexion“ des Scheiterns der PT zu beginnen. Vielleicht führt das
ja zur „kritischen Reflexion“ der eigenen Vorgehensweise.

Nur um nicht missverstanden zu werden. Ich bin der Meinung, dass es
durchaus Situationen gibt, in denen es für RevolutionärInnen richtig sein kann,
in der Linkspartei mitzuarbeiten, aber dann mit Sicherheit nicht, um gemeinsam
„kritisch zu reflektieren“.

Eine Stärke hat allerdings das Papier von M. K., nämlich wenn er
verkündet, dass der Gründungsanspruch „ der IV. Internationale endgültig passé
ist, nämlich den offiziellen Kommunismus…als die authentisch
revolutionär-marxistische Führung abzulösen.“ Rechthaberisch, wie wir sind,
möchten wir dazu nur bemerken, dass wir das seit Jahrzehnten wissen.

Am verblüffendsten an M. K.s Papier ist allerdings der Schlussteil „Zur
Assoziierung revolutionärer organisierter Strömungen“. Nachdem er uns auf den
ersten Seiten belehrt hat, dass „Organisationen mit revolutionärem Anspruch“
grundsätzlich falsch lägen, denn „Alle diese Gruppen irren sich…in Hinblick auf
das, was sie sind“, nachdem kübelweise Verleumdungen auf Gruppen „mit
revolutionärem Anspruch“ ausgekippt wurden, ohne Ross und ReiterIn zu nennen,
kommt folgender Vorschlag: „Vielleicht sind Formen der Assoziierung solcher
organisierter Zusammenhänge (,kleine Strömungen der revolutionär gesonnenen
Linken‘) möglich, die die Besonderheiten der verschiedenen Gruppen
respektieren…“ Wer, bitte schön, soll denn das sein, nachdem man alle
Organisationen mit revolutionärem Anspruch für politisch nicht ganz
zurechnungsfähig erklärt hat??

Auch eine Assoziierung (sofern denn so etwas möglich wäre) bräuchte doch
auch einige inhaltliche Gemeinsamkeiten. Es müsste doch geklärt werden,
was man vertagen könnte und was unabdingbar wäre. Dazu von M.
K. kein einziges Wort. Kein Wunder, man müsste sich ja inhaltlich
positionieren.




Krise, Klasse, Umgruppierung – Strategie und Taktik in der aktuellen Periode

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Historische Krisen verändern alles. Sie stellen alle gesellschaftlichen Verhältnisse, alle Beziehungen zwischen den verschiedenen Klassen wie die „Ordnung“ zwischen den Staaten rasch, oft bruchartig in Frage.

War die vorhergehende Periode von einem mehr oder weniger stabilen „Gleichgewicht“ geprägt, innerhalb dessen sich die sozialen und politischen Verhältnisse entwickelten, das wie eine Schranke der gesellschaftlichen Konflikte wirkte, so zeichnet eine Krisenperiode gerade aus, dass dieses Gleichgewicht nachhaltig gestört, ja zerstört ist. Erst durch eine Reihe von Klassenkämpfen und eine globale politische Neuordnung kann ein neues Gleichgewicht überhaupt re-etabliert werden.

Eine solche Krisenperiode begann 2007. Die Maßnahmen, die die herrschenden Klassen der führenden imperialistischen Staaten zur Bekämpfung der Krise durchführten, haben jedoch bislang keineswegs zur Beseitigung der Ursache der Krise – der Überakkumulation von Kapital – geführt. Im Gegenteil, das überschüssige Kapital, das sich in den Händen der großen Monopole auf dem Finanzsektor und in der Industrie der imperialistischen Staaten konzentriert, wurde auf Kosten der Gesellschaft – v.a. der ArbeiterInnenklasse, der Bauernschaft, der städtischen und ländlichen Armut, aber auch von Teilen des Kleinbürgertums und der Mittelschichten – „gerettet“.

So können zwar kurzfristig Profite gesichert und Anlagesphären für das vagabundierende Finanzkapital geschaffen werden, allerdings nur um den Preis der nächsten, größeren wirtschaftlichen Explosion, der weiteren Anhäufung der Ursachen der Krise. Denn die Vernichtung überschüssigen Kapitals, das keine produktive Verwertung mehr in der Industrie finden kann, ist unvermeidlich, um dem Fall der Profitrate in allen zentralen Wirtschaftssektoren entgegenzuwirken. Das ist letztlich nur durch einen Schock, die Zerstörung enormer Überhänge von Kapital und auch realer produktiver Kapazitäten der Gesellschaft sowie einer historischen Niederlage der ArbeiterInnenklasse und aller nicht-ausbeutenden Schichten möglich.

Imperialismus als ein globales politisches und ökonomisches System bedeutet dabei, dass zwischen den Kapitalien und auch zwischen den großen Staatenblöcken ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt um die Frage, wer welche Kosten der Krise tragen muss, welches nationale Gesamtkapital (und das heißt v.a., welches Monopolkapital) siegt. Diese Konkurrenz wird keineswegs nur auf ökonomischer Ebene ausgetragen, ja sie muss unvermeidlich auch politisch und militärisch ausgefochten werden.

Im Rahmen des Kapitalismus kann die Krise nicht gelöst werden ohne eine Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten. Daher ist die Formierung imperialistischer Blöcke um alte und neue Mächte (USA, China, Japan, Deutschland, Frankreich, Britannien, Russland), das Eingreifen verschiedener Mächte in alle Konflikte auf dem Globus eine notwendige politische Folgeerscheinung der gegenwärtigen Periode.

Im folgenden Artikel wollen wir uns freilich nicht mit den Ursachen der Krise, ihrer Verlaufsform und der inner-imperialistischen Konkurrenz beschäftigen. Dazu haben wir in früheren Ausgaben des „Revolutionären Marxismus“ (RM) grundlegende Artikel veröffentlicht (1). Zur Krise der Europäischen Union und zu den Ambitionen des deutschen Imperialismus findet sich ein Text in diesem RM (2).

Unser Hauptaugenmerk gilt vielmehr der ArbeiterInnenklasse, genauer ihrer politischen Umgruppierung in der gegenwärtigen Periode. Die Bedeutung des Themas lässt sich kaum zu gering veranschlagen.

In den letzten Jahren sind auf der ganzen Welt „neue“ politische Parteien, Formationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten entstanden. Innerhalb der „radikalen“ Linken findet eine rege Diskussion statt, wie auf diese Veränderung der Klasse zu reagieren, ob und wie in diese Neuformierungen zu intervenieren sei.

Um die politischen Veränderungen der Klasse zu verstehen, reicht es freilich nicht aus, nur die ideologischen Neuformationen zu konstatieren. Der Grund für die Entstehung neuer und, bei Lichte betrachtet, oft keineswegs so „neuer“ politischer Parteien liegt auch darin, dass die Klasse selbst und ihre „tradierten“ gewerkschaftlichen und politischen Organisationen grundlegende Veränderungen durchmachen – und so überhaupt erst das Bedürfnis nach einer Neuorganisation bei größeren Teilen der Avantgarde, der politisch fortgeschrittenen Schichten der ArbeiterInnenklasse, tw. auch bei der Masse, schaffen.

A Die Krise und die Veränderungen der Klasse

Die ArbeiterInnenklasse war seit ihrer Entstehung nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. V.a. aber ist für den marxistischen Klassenbegriff im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie entscheidend, die „Klassenzugehörigkeit“ als ein Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen, zwischen Klassen zu fassen, nicht als eine Ansammlung von individuellen Attributen (Berufsstand, Einkommensgröße …). Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals ist es dabei, die wesentlich die Zusammensetzung, Umwälzung, Neuzusammensetzung der Klasse bestimmt. Die gegenwärtige Krisenperiode hat daher – wenig überraschend – die ArbeiterInnenklasse weltweit grundlegend verändert.

Schon in der vorhergehende Periode, jener der „Globalisierung“, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten (3), begann das Proletariat, weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durchzumachen. In mancher Hinsicht haben die Entwicklungen der letzten Jahre jene der Globalisierungsperiode noch verschärft und beschleunigt. Zugleich stehen wir jedoch auch vor neuen Tendenzen, deren volle Ausprägung wir selbst heute erst in ihrem Entstehen beobachten können. Im ersten Abschnitt des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

Die Verlagerung der industriellen ArbeiterInnenklasse

In den letzten zwei Jahrzehnten ist die ArbeiterInnenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v.a. nach Asien. Das betrifft v.a. das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und Brasilien. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der ArbeiterInnenklasse in China haben heute insbesondere ökonomische Auswirkungen, als sie die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion bieten – aber es ist auch eine neue ArbeiterInnenklasse entstanden, die sich ihrer potentiellen politischen, gesellschaftlichen Macht (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivitäten) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die ArbeiterInnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Ebenso ist Brasilien ein Land mit einer der konzentriertesten Industriegebiete der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So wichtig daher das Anwachsen der ArbeiterInnenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist – letztlich handelt es sich um die Formierung einer ArbeiterInnenklasse in halbkolonialen Ländern, deren Entwicklung jedoch stark vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt.

Auch wenn sich Russland als imperialistische Macht (4) neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit zahlenmäßig nur einem Bruchteil der ArbeiterInnen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist heute gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrie der Welt hatte.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen.

Die letzten Jahrzehnte (und besonders die Krise) haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und hat seither noch immer nicht das Niveau der Phase vor 2007 erreicht. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen – Krise, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008 (5).

Die Entwicklung in den USA und Deutschland stellen jedenfalls die Ausnahmen dar. Die USA, weil sie mehr als jede andere Nation die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrenten in der Eurozone basiert.

Dieser „Erfolg“ geht zugleich mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich v.a. in Griechenland der Prozess rasant fortgesetzt. Rund ein Viertel der ArbeiterInnenklasse ist arbeitslos, mehr als die Hälfte der Jugend. Es folgt damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde und nur einzelne Länder oder einzelne industrielle „Inseln“ als Zulieferer oder Vorproduzenten von westlichen Konzernen überleben konnten.

Die nächste potentiell dramatischere Entwicklung steht in Europa allerdings noch ins Haus – massive Angriffe auf die Industrie Spaniens, Italiens und Frankreichs, die mehr und mehr von der deutschen Konkurrenz an die Wand gedrückt werden.

Außerhalb Europas ist die Lage noch weitaus dramatischer, v.a. in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch de-industrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige  Länder der arabischen Welt.

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiterschaft, ja die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusam-menhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen – sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die ArbeiterInnenklasse insgesamt in den letzten Jahrzehnten (noch) gewachsen ist, haben weltweit die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zugenommen.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Schichten der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden einen wachsenden Teil der Klasse, der von „Niedriglohn“ leben muss. Damit ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der ArbeiterInnenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter ihren Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten und selbst einigen Halb-Kolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 50er, spätestens jedoch in den 60er und auch 70er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der ArbeiterInnenklasse materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

In der Tat war es auch so. Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rivalen (v.a. Deutschland und Japan), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse während des Kriegs in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung einer klaren Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten, damit des Dollar als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der ArbeiterInnenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Mit der „neoliberalen Wende“, den Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse unter Reagan und Thatcher wie auch der neoliberalen Umstrukturierung in Lateinamerika änderte sich das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee – und veränderte zugleich das globale Kräfteverhältnis und stärkte für mehr als ein Jahrzehnt die hegemoniale Position der USA. Immer größere Teile der Klasse werden unter ihr Reproduktionsniveau gedrückt.

All diese Veränderungen haben dazu bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt. Erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D.h. ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft trotz oft drakonischer Strafmaßnahmen durch die bürgerlichen Staaten permanent nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v.a in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut (6).

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von ArbeiterInnen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z.B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar  mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich von erbärmlichen Wohn- und Lebensverhältnissen für Abermillionen ProletarierInnen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

Rund 1,2 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 1,25 Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern, Landlosen, Flüchtenden usw. – aber eben auch Abermillionen EinwohnerInnen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen von weniger als 1,25 Dollar/Tag (7).

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v.a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren wurden samt einer überausgebeuteten IndustriearbeiterInnenschaft. So haben die „WanderarbeiterInnen“ – die weltweit größte und wichtigste Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wird „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten am Land hat, von industriellen Investoren angezogen und folgt ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer, manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive ArbeiterInnenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als GelegenheitsarbeiterInnen, als kleine „HändlerInnen“, als Kriminelle, Paupers usw. verdingen müssen. Ihnen allen ist gemein, dass sie ins Lumpenproletariat abzurutschen drohen. Der Kapitalismus hat für sie selbst als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentlich Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreibt Marx eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des Lohnsklaven als Lohnsklaven immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter hingegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern“. (8)

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantasten können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v.a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko u.a.  zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen versucht dabei in die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu kommen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen, Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu kommen.

Dort droht ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von MigrantInnen, bis heute als „AusländerInnen“ behandelt, als „GastarbeiterInnen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch zugespitzterer Form in manchen Halbkolonien, v.a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im wesentlich aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von MigrantInnen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten ArbeiterInnen-klasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt für die ArbeiterInnenklasse. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, sie untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ ArbeiterInnen (einschließlich früherer Generationen von MigrantInnen), sie schaffen länder- und sprachenübergreifende Verbindungen.

Die Integration der ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge in die ArbeiterInnenbe-wegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist jedoch eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Alte und neue Arbeiteraristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die besser gestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels (9) bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiteraristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in die Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war. Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „besser gestellten“ ArbeiterInnen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol ab, und aus der starken ökonomischen Stellung dieser ArbeiterInnenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken von Engels auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der ArbeiterInnenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848-1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit die Oberhand behalten kann.“ (10)

Gegen Lenins Theorie der Arbeiteraristokratie sind viele Einwände in den letzten hundert Jahren gemacht worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi-kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relative gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den ArbeiterInnen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Arbeitskraft über eine längere Periode über dem Wert der Ware Arbeitskraft zu verkaufen (was nichts daran ändert, dass sie weiter LohnarbeiterInnen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Arbeiterschichten sein kann).

Zweitens bedeutet die Zugehörigkeit zur ArbeiterInnenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So waren z.B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig ein Teil der ArbeiterInnenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer ArbeiterInnenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistischerweise mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung der ArbeiterInnenaristo-kratie und damit auch bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher ArbeiterInnenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maß und konnte sich über eine historisch außergewöhnlich lange Periode als solche reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer (wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren) „Aristokratie“ lassen sich auch in den halb-kolonialen Ländern, v.a. in den industriell fortgeschritteneren, wie auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten konstatieren.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v.a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie (z.B. die Bergarbeiter und Docker unter Thatcher, die Fluglotsen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja teilweise zu bevorzugten Zielen. Die Niederlagen dieser Kernschichten hatten unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der ArbeiterInnenaristokratie beobachten können.

Erstens wurden traditionelle Schichten der Nachkriegsaristokratie aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der ArbeiterInnenaristokratie entstanden infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer  zuvor oft nur formell unter das Kapital subsumierten Arbeit.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v.a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z.B. den BRIC-Staaten, eine neue Arbeiteraristokratie entstanden oder im Falle Chinas im Entstehen.

Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Stalinismus haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die ArbeiterInnenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Produkten für globale Märkte von Gütern und Dienstleistungen. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z.B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten hunderte Millionen Lohnabhängige in multi-nationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – etabliert wird.

Der Kapitalexport und die globalen Geldströme, spekulative Anlagen – kurz sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, zur massiven Veränderung der Eigentums-struktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der Hand des imperialistischen Monopolkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche Seite des Internationalismus.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei Niederreißen für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der ArbeiterInnenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Die Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat wird letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber Instrument der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke hat – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr von der Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die ArbeiterInnenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht – insbesondere, weil ganze Gruppen von ArbeiterInnen, ganze „Standorte“, ja ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat es auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktion geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktion selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der ArbeiterInnenklasse noch dabei sind, sich auf Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophische Entwicklung ab. An einem bestimmten Punkt wird die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umschlagen (was bis zu einem Zusammenbruch des Weltmarktes gehen kann). Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einen gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Zusammenbruch letztlich unvermeidlich.

Reproduktionsprozess

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der ArbeiterInnenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden so Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung.

Andererseits geht es v.a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt – und somit eine Erhöhung der Masse des Profits.

Zugleich hat die Absenkung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen für die Frauen, die Jugend, Kranke und RentnerInnen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von den Kürzungen, von der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

B Auswirkung auf die Organisationen der Klasse

Die Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse folgt generell der Kapitalbewegung. Dies ist jedoch nie Resultat „rein“ ökonomischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen. Vielmehr setzten grundlegend veränderte Ausbeutungs- und Akkumulationsbedingungen immer auch entscheidende Verschiebungen im Verhältnis zwischen den Klassen voraus. Tiefer gehende und zugleich längerfristige Verbesserungen der Ausbeutungsrate, der Möglichkeit, Extraprofite aus Halbkolonien zu ziehen oder Krisenkosten rivalisierenden Staaten aufzuhalsen usw. sind daher nicht nur Resultat ökonomischer Krisen oder Einbrüche, sondern erfordern auch politische Offensiven der herrschenden Klasse, sind immer Resultat von politischen Kämpfen.

Es zeigt sich darin nur, dass die bürgerliche Gesellschaft eben nicht nur auf einer ökonomischen Basis – dem Kapital/Lohnarbeitsverhältnis beruht – sondern eine Totalität samt politischem, ideologischem Überbau, staatlicher und internationaler „Ordnung“, verschiedenen Zwischenklassen und Zwischenschichten, also eine ganze Gesellschaftsformation darstellt. In dieser Gesamtheit stellt sich Politik letztlich als konzentrierte Ökonomie dar – müssen daher alle wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen auch politisch ausgefochten werden.

Die Veränderungen der letzten Jahre und v.a. seit der Krise haben generell zu einer Erhöhung der Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse geführt. Das ist ein wesentlicher Faktor für die Sicherung der Monopolprofite und enormen Gewinne des Großkapitals selbst in der Krisenperiode, während der Fall der durchschnittlichen Profitrate nicht gestoppt werden konnte, weil die „Anti-Krisenpolitik“ gerade auf die Verhinderung der Vernichtung überschüssigen, in den Händen der Monopole konzentrierten Kapitals angelegt war.

Für Überakkumulationsperioden ist es kennzeichnend, dass die Ausbeutungsrate v.a. über die Steigerung des absoluten Mehrwerts erreicht werden soll und Kürzung der Einkommen der Lohnabhängigen und anderer subalterner Schichten und Klassen, was notwendig zur Einschränkung ihres Konsums führt.

Die Krise hat die globale ArbeiterInnenklasse hart getroffen. Aber ihre Wirkungen verschärfen auch die Gegensätze in der Klasse. Das hat einerseits mit der ungleichzeitigen Auswirkung der Krise selbst zu tun. Länder wie Deutschland erholten sich nach einer tiefen Rezession sehr rasch, entpuppten sich als Krisengewinnler, konnten die Arbeitslosigkeit selbst in der Krise relativ gering halten und große Teil der industriellen ArbeiterInnenklasse, die Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie, erhalten und befrieden.

Andere Länder machten einen enormen Niedergang durch, befinden sich praktisch seit 2008 ständig in Rezession, die nur von kurzfristigen Phasen der Stagnation und minimalen Wachstums unterbrochen wird. Dort schrumpfte die Klasse und selbst ehemals sehr kampfkräftige Teile sind ökonomisch massiv geschwächt.

Zugleich vergrößerte sich die soziale Differenz nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse. Die Unterschiede zwischen den „besser gestellten“, aristokratischen Schichten, dem Durchschnitt wie den unteren Schichten des Proletariats haben sich deutlich vergrößert. Das trifft nicht nur auf die etablierten imperialistischen Staaten, sondern auch auf aufstrebende Mächte wie China und die halb-kolonialen Länder zu, wo die Einkommensdifferenz zwischen Aristokratie und Masse oft sehr viel größer ist.

Die Vertiefung der inneren Spaltung der Klasse hat auch zu einer Schwächung ihrer Organisationen geführt, z.T. zum Entstehen neuer Bewegungen und politischer Formationen. Wir stehen am Beginn einer historischen Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse und auch einer Umwälzung ihrer Organisationen.

Gewerkschaften und betriebliche Organisationen

Die Gewerkschaften gelten nicht von ungefähr als „Grundorganisationen“ der Lohnabhängigen. Auf sich allein gestellt, ohne kollektive, gemeinsame Vertretungen sind die ArbeiterInnen letztlich nicht einmal in der Lage, ihre Arbeitskraft zum ihr entsprechenden Preis, also entsprechend ihrer Reproduktionskosten, zu verkaufen.

Es ist kein Wunder, dass Gewerkschaften (und erst recht betriebliche Organisationsformen) der Klasse in einer Krisenperiode in die Defensive geraten müssen. Der „nur-gewerkschaftliche“ Kampf, der Kampf um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft stößt hier unausweichlich an seine Grenzen.

Generell ist der gewerkschaftliche Organisierungsgrad weltweit in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gesunken. In den meisten europäischen Ländern ist der Organisationsgrad in den letzten Jahren gesunken (Ausnahmen: Italien, Belgien, Norwegen, Zypern, Luxemburg, Malta). Besonders dramatisch ist die Lage in Osteuropa seit dem Zusammenbruch des Stalinismus. In der Europäischen Union beträgt – bei enormen nationalen Unterschieden – der durchschnittliche Organisationsgrad gerade 24 Prozent. (11)

Natürlich war es immer schon ein Mythos, dass alle oder auch nur die Mehrheit der Klasse gewerkschaftlich organisiert wäre. Das traf immer nur auf bestimmte Regionen/Ländergruppen zu – in der Regel die dominierenden, relativ starken imperialistischen Länder, die nicht nur eine starke ArbeiterInnenaristokratie haben, sondern wo die Gewerkschaften auch als regelnder Faktor in das System der Klassenzusammenarbeit über längere Perioden erfolgreich einbezogen werden konnten.

Die Veränderungen der Klasse haben dabei ihrerseits wesentlich zum Erodieren des gewerkschaftlichen Organisationsgrades beigetragen. Das war und ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, weil Gewerkschaften als Mittel zur Führung des ökonomischen Kampfes v.a. defensive, reagierende Organisationen sind – wie der ökonomische Kampf selbst seinem Wesen nach einen reaktiven Charakter hat und als Gegenaktion auf Angriffe des Gegners, auf Zumutungen des Kapitals, auf Veränderungen der ökonomischen Struktur der Gesellschaft verstanden werden muss.

Daher haben es historische Krisen, ökonomische Einbrüche aber auch politische Generalangriffe, revolutionäre Aufstände und Bürgerkriege (also höhere Formen des Klassenkampfes) an sich, dass sie auch die Schwächen der rein-gewerkschaftlichen oder reformistisch geführten Gewerkschaftsarbeit offenbaren, weil sie die Grenzen des ökonomischen Klassenkampfes verdeutlichen.

In den letzten Jahrzehnten haben die Umstrukturierungen der ArbeiterInnenklasse in vielen „neuen“ Industrien und Dienstleistungsbranchen fast zu gewerkschaftsfreien Zonen geführt. Die Verbände erwiesen sich in der Regel als unfähig, sowohl die Lohnabhängigen in „neuen“ Branchen (selbst wenn diese recht privilegiert waren) wie auch jene in den ausgelagerten, prekarisierten Sektoren zu organisieren.

In vielen Ländern wurde – sofern es dies je gab – die landesweite oder branchenweite Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen ausgehebelt. Schon seit den 80er Jahren greift die betriebliche Aushandlung von Löhnen mehr und mehr um sich.

Zugleich hat die Umstrukturierung des Produktionsprozesses zu einer Schwächung und Aushöhlung des Prinzips der Industriegewerkschaften geführt (sofern es je durchgesetzt war).

Heute begegnen wir zwei, tw. einander ergänzenden Entwicklungen. Einerseits einer massiven Zersplitterung der Gewerkschaften. Gerade in den Halbkolonien, Ländern wie Pakistan, Indien, Sri Lanka, geht ein sehr geringer Organisationsgrad mit der Existenz tausender kleiner und kleinster Gewerkschaften einher.

Andererseits (und tw. in Kombination) mit der obigen Tendenz erleben wir die Fusion von Gewerkschaften unterschiedlicher Branchen, die Entstehung konkurrierender Dachverbände und unterschiedlicher Gewerkschaften in einem Betrieb. Die Existenz politisch konkurrierender Verbände oder „politischer“ Gewerkschaften – so verständlich die Spaltungen mitunter sein mögen – erweisen sich selbst als eine Spielart und als Teil des Problems.

Die Schwächung der Gewerkschaften und betrieblichen Interessenvertretungen war natürlich kein Selbstläufer, sondern war und ist auch Resultat politischer und unternehmerischer Angriffe. Weltweit wurden Einschränkungen der Rechte der Gewerkschaften, der Aktivität im Betrieb, des Streikrechts durchgesetzt und werden weiter forciert. Die „Tarifeinheit“ in Deutschland ist nur ein Teil (und international betrachtet sogar nur ein relativ marginaler Teil davon).

Freilich wären diese Angriffe nicht oder jedenfalls nicht mit so wenig Widerstand durchsetzbar gewesen ohne die Kooperation der Gewerkschaftsführungen und des Apparats der Gewerkschaftsbürokratie wie ihrer betrieblichen Entsprechung in Form der Betriebsräte/Personalräte, v.a. in den Großunternehmen und im Öffentlichen Dienst. Bei allen Unterschieden lässt sich feststellen, dass sich die Gewerkschaften mehr und mehr zu Organisationen der besser gestellten Lohnabhängigen in Großbetrieben und im Staatsapparat verengen. Sie waren natürlich auch schon die meiste Zeit im 20. Jahrhundert wesentlich von der ArbeiterInnenaristokratie bestimmt, zogen aber lange Zeit auch wirtschaftlich weniger kampfkräftige Schichten an. Heute erleben wir eine Tendenz der Verengung der Gewerkschaften auf die ArbeiterInnenaristokratie.

Die politische Ausrichtung auf Co-Management, New Realism, Sozialpartnerschaft usw. war die Reaktion der Führungen der Gewerkschaften auf Angriffe, Niederlagen und den Wunsch der Bürokratie, ihre eigene Vermittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit auch unter ungünstigeren Bedingungen aufrechtzuerhalten.

Schon die gesamte Nachkriegsperiode war davon gekennzeichnet, dass die Gewerkschaften und die betrieblichen Vertretungen der Klasse in den Staat oder die Unternehmensführung integriert wurden. Trotzki hat auf diese Tendenz des Monopolkapitalismus in seiner Schrift „Die Gewerkschaften in der imperialistischen Epoche“ sehr ausdrücklich hingewiesen.

„Der Monopolkapitalismus fußt nicht auf Privatinitiative und freier Konkurrenz, sondern auf zentralisiertem Kommando. Die kapitalistischen Cliquen an der Spitze mächtiger Trusts, Syndikate, Bankkonsortien usw. sehen das Wirtschaftsleben von ganz denselben Höhen wie die Staatsgewalt und benötigen bei jedem Schritt deren Mitarbeit. Ihrerseits finden sich die Gewerkschaften in wichtigen Zweiten der Industrie beraubt, die Konkurrenz zwischen den Untenehmen auszunutzen. Sie haben einen zentralisierten, eng mit der Staatsgewalt verbundenen kapitalistischen Widersacher zu bekämpfen. Für die Gewerkschaften – soweit sie auf reformistischem Boden bleiben, d.h. soweit sie sich dem Privateigentum anpassen – entspringt daraus die Notwendigkeit, sich auch dem kapitalistischen Staat anzupassen und die Zusammenarbeit mit ihm anzustreben.

Die Gewerkschaftsbürokratie seiht ihre Hauptaufgabe darin, den Staat aus der Umklammerung des Kapitalismus zu ‚befreien‘, seine Abhängigkeit von den Trusts zu mildern und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Diese Einstellung entspricht vollkommen der sozialen Lage der Arbeiteraristokratie und der Arbeiterbürokratie, die beide um Abfallbrocken aus den Überprofiten des imperialistischen Kapitalismus kämpfen.“ (12)

Die Bindung von Gewerkschaften an den Staat und die Monopole ist längst keine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, sondern ist schon lange etabliert – einschließlich der Verwendung der Gewerkschaften als außenpolitische Agenturen großer imperialistischer Staaten und Konzerne. Hier hat nicht nur die AFL-CIO eine unrühmliche, konterrevolutionäre Geschichte vorzuweisen. Auch die DGB-Gewerkschaften machten sich beim „Export“ des deutschen Modells industrieller Beziehungen (Betriebsverfassungsgesetz, Tarifsystem, Mitbestimmung) in Osteuropa für das Kapital nützlich. Die chinesische Regierung lässt aus gutem Grund das „deutsche System“ der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung studieren, um so die Beziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten zu „regulieren“.

Sozialdemokratische und stalinistische Massenparteien

Der Dominanz der Bürokratie und ihre soziale Basis und Verankerung v.a. in der ArbeiterInnenaristokratie entspricht die fortgesetzte Dominanz der Gewerkschaften durch bürgerliche ArbeiterInnenparteien sozialdemokratischen oder labouristischen Zuschnitts (zumeist in Europa, aber auch in Brasilien oder Australien), durch den stalinistischen Reformismus (z.B. in Indien) oder durch bürgerlichen Nationalismus und Populismus (u.a. in Argentinien oder Venezuela). Im schlimmsten Fall sind sie weiter an „linke“ bürgerliche Parteien der imperialistischen Bourgeoisie wie in den USA oder eng an den Staatsapparat gebunden (Russland, China, Türkei).

Unbestreitbar haben die letzten Jahrzehnte und die Jahre seit der Krise die historische und wesentlich noch über die Gewerkschaften bestehende organische Bindung dieser Parteien an die ArbeiterInnenklasse geschwächt. In einzelnen Fällen (Italien) hat sich eine ehemalige bürgerliche ArbeiterInnenpartei durch die Fusion mit einem Teil der Christdemokratie zu einer offen bürgerlichen Partei gewandelt – was freilich die Führung des größten Gewerkschaftsverbandes nicht hindert, sich auch dieser Partei politisch unterzuordnen.

Es wäre jedoch impressionistisch, verkürzt und politisch fatal, auf den unvermeidlichen Abgesang der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien als quasi-automatischen Prozess zu hoffen.

Die bürgerliche ArbeiterInnenpolitik hat vielmehr selbst ihre Wurzeln im Lohnarbeitsverhältnis und in der Verlängerung des gewerkschaftlichen Kampfes zur Sozialreform auf politischer Ebene. Die imperialistische Epoche schafft außerdem mit der Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie auch die Voraussetzung einer sozial-chauvinistischen-bürgerlichen ArbeiterInnenpartei und deren Reproduktion, macht sie zu einer für das politische System typischen Erscheinung.

Die aktuelle Krise unterminiert zwar ihre soziale Basis, sie zerstört sie aber keineswegs vollständig. In der Tat wird es die Basis für eine bürgerliche, reformistische Strömung in der ArbeiterInnenklasse solange geben wie das imperialistische System selbst. Die Vorstellung, dass die Krise automatisch solche Parteien und deren Einfluss in der ArbeiterInnenklasse erledigte, ist rein mechanisch und hat sich in zahlreichen Ländern als fatale Fehleinschätzung entpuppt. So hatte die NPA-Führung in Frankreich bei Gründung der Partei immer wieder proklamiert, dass der Reformismus als politische Formation erledigt sei. Kurz darauf formierten sich jedoch nicht nur die links-reformistische Konkurrenz der Parti de Gauche und die Front de Gauche als Block mit der KP, sondern selbst die Parti Socialiste von Hollande konnte sich noch einmal, wenn auch kurzfristig, als politische Alternative zu den Konservativen profilieren und gewann bei den Präsidentschaftswahlen.

Zur Begründung des (vorgeblichen) Verschwindens des Reformismus wird gern ein falscher, auf eine bestimmte Form bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik beschränkter Begriff von Reformismus verwandt. Dieser sei wesentlich durch die politische Zielsetzung gekennzeichnet, den Kapitalismus über Reformen zu überwinden, also den „Weg zum Ziel“ zu machen. Wie aber schon Rosa Luxemburg nachwies, ist das jedoch nichts anderes als eine ideologische Beschönigung und Selbstrechtfertigung. Der Reformismus zeichnet sich wie jede bürgerliche ArbeiterInnenpolitik keineswegs nur dadurch aus, dass er auf einem anderen (friedlichen, parlamentarischen usw.) Weg zum gleichen sozialistischen Ziel will. In Wirklichkeit verändert sich gegenüber der revolutionären Politik auch das Ziel. Die Reform, der Kampf um Verbesserungen wird zum eigentlichen Zweck – und damit die Ausgestaltung des bestehenden Systems, nicht dessen Sturz. Diese Politik hat einen bürgerlichen Charakter unabhängig davon, ob der „Sozialismus“ als Ziel proklamiert wird oder nicht. Auch wenn etliche bürgerliche ArbeiterInnenparteien ursprünglich den Sozialismus proklamierten. v.a. jene, die aus der marxistisch geprägten Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts entstanden, macht das keineswegs das Wesen der reformistischen Parteien aus. Manche – wie die Labour Party – traten nie für den Sozialismus ein und gaben nie vor, marxistische Organisationen zu sein. Bestätigt hat sich jedoch seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder, dass die reformistische Partei das kapitalistische und bürgerliche System gegen die Revolution verteidigt.

Mit dem Verrat von 1914 gingen diese Parteien ins Lager des Sozialchauvinismus über, auch wenn ihre sozialen und historischen Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse bestehen blieben. Für die Bestimmung des Klassencharakters dieser Parteien ist es nebensächlich, ob sie den Sozialismus als „Endziel“ beschwören, entscheidend ist vielmehr, welches gesellschaftliche System sie verteidigen. Sie hören daher nicht auf, bürgerliche ArbeiterInnenparteien zu sein, weil sie eine Politik der „Gegenreformen“ oder gar direkt der Konterrevolution wie im Ersten Weltkrieg oder danach durchführen. Entscheidend dafür, ob eine Partei bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist oder nicht, ist ihr Verhältnis zur Klasse, nicht ihre Ideologie.

Unter den Bedingungen der Krise ist freilich unvermeidlich, dass die Fähigkeit dieser Parteien, die Lohnabhängigen mit Reformen, mit Brosamen vom Tisch der Herrschenden zu integrieren, schwinden muss. Generell führt die Krise dazu, dass die sozialdemokratischen Parteien (wie auch die von ihr dominierten Gewerkschaften) weiter nach rechts gehen. Im Extremfall versuchen sie, ihre historischen und sozialen Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse zu lösen und sich eine neue soziale Basis zu verschaffen. So waren der „Dritte Weg“ von Tony Blair oder die „Neue Mitte“ von Schröder Ideologien, die ihren Parteien eine Basis in den lohnabhängigen Mittelschichten verschaffen und sie unabhängiger von den Gewerkschaften machen sollten. Diese Politik hat zwar die reformistischen Parteien noch rechter, hilfloser und willfähriger gemacht, die neuen „Mittelschichten“ haben sie in der Regel jedoch nicht gewinnen können.

Wie aktuell die Kandidatur von Jeremy Corbyn in der britischen Labour Party zeigt, können unter bestimmen Bedingungen durchaus auch Massenbewegungen zu einer „Wiederbelebung“ dieser Parteien entstehen. Derartigen Brüchen in der Sozialdemokratie, in Labour oder auch Differenzierungen in populistischen Massenparteien (wie der PSUV in Venezuela) müssen RevolutionärInnen immer ein besonderes Augenmerk schenken.

Die Notwendigkeit einer besonderen, taktischen Herangehensweise an reformistische Parteien (wie auch die Massengewerkschaften) – also die Anwendung der Einheitsfronttaktik in all ihren Spielarten – ergibt sich freilich nicht erst mit deren „linkerer“ Erscheinungsweise, sondern besteht im Grunde immer und solange, wie diese Parteien Masseneinfluss haben oder im schlimmsten Fall gar die Avantgarde der Klasse dominieren.

Linke Gewerkschaften?

Die Betrachtung der tradierten ArbeiterInnenbewegung wäre unvollständig, würden wir nicht die oppositionellen Regungen in den Gewerkschaften, die Bildung neuer Verbände oder Kämpfe bislang eher passiver Teile der Klasse betrachten.

Zu konstatieren bleibt jedoch, dass die Brüche insgesamt weitgehend organisatorischer Natur blieben. Die schon länger bestehenden, kleineren „radikalen“ Gewerkschaften (COBAS in Italien, SUD in Frankreich) erwiesen sich in der Krise allenfalls verbal radikaler als die großen Verbände. Eine politische Alternative vermochten auch sie nicht zu weisen – weil sie letztlich nur einen radikaleren Syndikalismus verkörpern.

Hinzu kommt, dass ihre Verankerung in den Betrieben zu gering war und ist, um eigenständige, längere oder gar unbefristete Branchenstreiks durchzusetzen. Das heißt, sie waren auch nicht in der Lage, einen besseren gewerkschaftlichen Kampf zu führen.

Neue Gewerkschaften wie die Labour Qaumi Movement (13) in Pakistan oder selbst alte, ehemals sehr konservative Berufsgewerkschaften wie die GdL erwiesen sich hier als kampffähiger und wirkungsvoller, weil sie die Mehrheit der Beschäftigten in einer Branche oder Berufsgruppe vertreten und mobilisieren können und damit einer zentralen Bedingung jedes erfolgreichen ökonomischen Kampfes – der größtmöglichen Einheit – viel direkter Rechnung tragen als kleine „linke“ oder gar vorgeblich „revolutionäre“ Gewerkschaften, die jedoch nur eine Minderheit der Klasse vertreten. Letztere sind in Wahrheit nur eine Fraktion, eine bestimmte politische Strömung in den Gewerkschaften oder Betrieben – aber eine, die ohne jedes Bewusstsein dieser Tatsache die organisatorische Eigenständigkeit fetischisiert.

Die Lösung des Problems besteht darin, für eine klassenkämpferische, demokratische Einheit der Gewerkschaften nach dem Prinzip „Ein Betrieb, eine Branche, eine Gewerkschaft“ zu kämpfen, statt die gesonderte Organisierung der kämpferischeren Minderheit auf dieser Ebene zu forcieren. Vielmehr sollte diese politisch bewusstere Minderheit den Kampf für gewerkschaftliche Einheit mit der politischen Organisierung dieser Minderheit in einer Partei kombinieren. Doch diese kommunistische und einzig angemessene Lösung des Problems lehnt der Syndikalismus (einschließlich seiner linken und links-radikalen Spielarten) aus doktrinären Gründen, aufgrund der Überhöhung des ökonomischen Kampfes zum „eigentlichen Klassenkampf“, ab.

Die Grenzen des spontanen Gewerkschaftertums offenbaren sich besonders dramatisch im Kernland der Arabischen Revolution, in Ägypten. Die unter dem Mubarak-Regime in der Illegalität entstandene unabhängige Gewerkschaftsbewegung war und ist zweifellos eine der beeindruckendsten, vielleicht die beeindruckendste der Welt. Sie vermag Millionen anzuführen. Beim Sturz des alten Regimes kam ihr durch die Drohung eines Generalstreiks eine Schlüsselrolle zu – wie auch durch die Streikwellen vor dem Sturz von Mursi.

Aber politisch konnte sie der Revolution keine Richtung geben, sondern musste die politische Initiative den Islamisten der Moslembruderschaft, pro-westlichen „liberalen“ Quacksalbern, kleinbürgerlichen Phantasten aus der „sozialen Bewegung“ und schließlich den „säkularen“ Putschisten, Nationalisten und Militärs überlassen.

Die starke Tendenz zum „reinen“ Syndikalismus als falscher Alternative zur sozialdemokratischen oder stalinistischen Beherrschung der Gewerkschaften ist eine der Hauptursachen der Schwäche der gewerkschaftlichen Linken einschließlich linker Abspaltungen in der Krise. Bei allen reformistischen Schwächen bildet die Initiative der NUMSA in Südafrika hier ein Ausnahme in die richtige Richtung – nämlich die Initiative zur Bildung einer Klassenpartei der ArbeiterInnen, die sich gegen die Politik der Klassenkollaboration des ANC und der CPSA stellt.

Revolutionen, Konterrevolutionen und neue soziale Bewegungen

Die Einbindung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in die „Anti-Krisenpolitik“, Angriffe auf und Befriedung der ArbeiterInnenklasse sowie die politische Schwäche der gewerkschaftlichen, betrieblich-oppositionellen Kräfte haben zwei zentrale Phänomene der letzten Jahre hervorgebracht: einerseits „neue“ Parteiformationen (die wir weiter unten betrachten), andererseits neue Bewegungen wie Occupy oder die Indignados.

Ob dieser Entwicklungen wird oft der Unterschied zu politisch weitaus entwickelteren Formen der gesellschaftlichen Widersprüche „übersehen“: zu den Arabischen Revolutionen, zur vor-revolutionären Periode in Griechenland oder zum Bürgerkrieg in der Ukraine.

In den arabischen Ländern hatten wir es mit genuinen „Volksrevolutionen“ zu tun, also Revolutionen, die alle Klassen, alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung setzten, zum Sturz jahrzehntelang etablierter Regime führten oder zu Bürgerkriegen um die politische Macht. Natürlich spielten dabei Massendemonstrationen/Ansammlungen an zentralen Plätzen wie dem Tahrir in Kairo eine Schlüsselrolle (wie in allen Revolutionen der Kampf um die Hauptstadt von zentraler Bedeutung ist). Aber in Kairo war er der Sammelpunkt einer revolutionären Zuspitzung im Kampf um die Macht.

In Griechenland waren die Besetzungen des Syntagma-Platzes in Athen ebenfalls politischer Ausdruck einer langen, vor-revolutionären Periode, die schon 2008 begonnen und immer wieder Phasen der politischen Ebbe und Flut durchlaufen hatte. Die Platzbesetzungen waren dabei aber nur eine Form des Kampfes, die wie andere (durchaus höhere Formen wie z.B. die Aufstände der Jugend 2008, unzählige unbefristete oder politisch wichtige Betriebsbesetzungen) allesamt am Mangel an revolutionärer Führung litten, die die vorrevolutionäre Lage durch ihr bewusstes Agieren in eine revolutionäre hätte verwandeln können.

In Kiew hat der konterrevolutionäre Putsch Anfang 2014 zu einem gerechtfertigten Massenwiderstand im Osten geführt, der rasch die Form des Bürgerkriegs annahm. Wie in Griechenland und den Arabischen Revolutionen zeigte sich auch dort die Tiefe der Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer revolutionären Kaderpartei.

Es ist jedoch für Teile der „radikalen“, genauer der radikalen kleinbürgerlichen, Linken typisch, die Bewegungen in den Arabischen Revolutionen oder auch am Syntagma in eine Reihe mit Blockupy oder den Indignados zu stellen.

Ohne die Bedeutung eines landesweiten Massenprotests und der Besetzung innerstädtischer zentraler Plätze zu schmälern, war Blockupy eindeutig eine kleinbürgerliche Bewegung. Sie artikulierte eine tief greifende Unzufriedenheit auch von ArbeiterInnen, der Armut und selbst der Mittelschichten und entwickelte eine Dynamik, die auch eine große internationale Ausstrahlungskraft hatte. Andererseits aber kam auch sie nicht über einen radikalen Populismus hinaus. Blockupy war nicht der Ausdruck einer Bewegung, die alle Klassen der Gesellschaft umfasste und erst recht nicht die ArbeiterInnenklasse, sondern v.a. jener der Mittelschichten.

Die Indignados und auch viele andere Massenkampagnen in Spanien hatten zweifellos eine tiefere soziale Verankerung und basierten auch auf Massenkampagnen gegen Wohnungsnot, Wasserprivatisierung usw. Aber auch sie waren von der organisierten ArbeiterInnenbewegung relativ getrennt, ja standen nicht nur der PSOE, sondern auch den Gewerkschaften, der IU und selbst den organisierten, radikaleren linken Kräften oft offen feindlich gegenüber. Die Besetzungsbewegung in Spanien war letztlich stark populistisch geprägt, was durch den Einfluss anarchistischer und libertärer Strömungen und deren Anti-Politizismus noch gefördert wurde. Es ist kein Zufall, dass sich aus dieser Bewegung auch der Aufstieg von Podemos, einer populistischen Massenbewegung und neuen Partei, speiste.

Die kommende Periode wird weitere solche Bewegungen hervorbringen – gerade aufgrund des Verrats der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaftsführun-gen sowie der Passivität der „Linksparteien“. Es ist notwendig, in solche Bewegungen zu intervenieren, ihre Mobilisierungen zu unterstützen, wo sie einen fortschrittlichen Charakter haben. Gegenüber ihren politischen Fehlern, ihrem kleinbürgerlichen Populismus darf es jedoch keine Zugeständnisse geben, zumal etliche von ihnen auch leicht dazu führen können, dass (Teile) dieser Bewegungen zum Spielball rechter, demagogischer Kräfte werden.

C Neue politische Formationen

Die Rechtsentwicklung und Krise der sozialdemokratischen Parteien und des Labourismus einerseits, die Grenzen von „reiner“ Bewegungspolitik andererseits haben in vielen Ländern schon vor und auch nach der Krise zur Entstehung neuer politischer Parteien geführt, die sich als politische Alternative anbieten.

Die oft kursorische Betrachtung dieser Parteien hat freilich den Mangel, dass darunter oft sehr verschiedene Formen in einen Topf geworfen werden. Dieser Artikel ist nicht der Ort, um diese Parteien im Detail zu analysieren – wohl aber ist es notwendig, sie hinsichtlich ihres Klassencharakters und ihres Verhältnisses zur ArbeiterInnenklasse, deren Avantgarde und den sozialen Bewegungen zu charakterisieren.

Linke reformistische Parteien

Das erste und zahlenmäßig wohl bedeutendste Phänomen stellen die links-reformistischen Parteien dar. Programmatisch betrachtet repräsentieren sie oft eine mehr oder weniger linke Variante der klassischen sozialdemokratischen Politik der Nachkriegsperiode, wobei klassische Reformkonzepte mit antizyklischer keynesianischer Wirtschaftspolitik kombiniert werden.

Viele dieser Parteien sind keineswegs so „neu“, sondern gehen auf ehemalige stalinistische Parteien zurück, die sich eurokommunistisch und links-sozialdemokratisch gewendet haben (Synaspismos, später Syriza in Griechenland; KP Portugal, KPF, IU, RC in Italien, Linkspartei in Schweden, PDS/DIE LINKE in Deutschland). Tw. kommen sie aus Abspaltungen der Sozialdemokratie (Parti de Gauche; WASG/DIE LINKE in Deutschland; im Grunde auch PSOL in Brasilien). Einige von ihnen sind auch maßgeblich durch die Politik zentristischer Organisationen, v.a. aus der Vierten Internationale oder auch ehemaliger Maoisten, entstanden (Einheitsliste in Dänemark, Linksblock in Portugal, Niederlande/Belgien).

Das zeigt schon, dass viele dieser „neuen“ Parteien keineswegs ganz so neu sind, sondern oft schon eine lange Tradition mit einem bürokratischen Apparat haben. Einige von ihnen waren im Grunde schon vor der Krise politisch schwer diskreditiert aufgrund ihrer parlamentarischen Fixierung, reformistischen Politik und der Beteiligung an Koalitionen mit der Sozialdemokratie (KPF) oder Volksfrontregierun-gen (RC in Italien).

Wichtig für diese Parteien ist, dass sie in bestimmten Perioden in der Lage waren, für Schichten der ArbeiterInnenklasse aus der Sozialdemokratie oder links-nationalistischen Parteien (PASOK in Griechenland) sowie für soziale Bewegungen zum Anziehungspunkt zu werden. Alle diese Parteien konnten zu bestimmten Perioden zu einem Anziehungspunkt für die politisch bewussteren, reformistisch geprägten ArbeiterInnen werden, waren aber aufgrund eben der Begrenzungen ihrer elektoral und reformerisch ausgerichteten Politik nicht in der Lage, mehr zu werden als der linke Flügel des parlamentarischen Spektrums.

Nur eine dieser Parteien – Syriza – hat es geschafft, zur stärksten Partei in der ArbeiterInnenklasse ihres Landes und von einer kleinen reformistischen Partei zu einer Massenpartei zu werden, die auch große Teile der Avantgarde des Landes organisiert.

Dieses Wachstum hatte zwei Ursachen: erstens die tiefe gesellschaftliche Krise und der Zusammenbruch der etablierten Parteien, zweitens vermochte Syriza als einzige Partei, die sich auf die ArbeiterInnen und sozialen Bewegungen stützte, eine, wenn auch reformistische Antwort auf die Regierungsfrage in den Mittelpunkt ihrer Agitation zu stellen.

Die Lage in Griechenland (und im Grunde in allen „Krisenländern“) erfordert eine konkrete Antwort auf die Machtfrage. Über zahlreiche Mobilisierungen und aufgrund permanenter Verarmung haben die Massen gelernt, dass es einer politischen Lösung bedarf, um zu verhindern, dass die Krise weiter auf ihrer Kosten „gelöst“ wird. Syriza (und alle Reformisten) antworten darauf, dass es notwendig ist, an die Regierung zu kommen – auch wenn sie eine Koalition mit sozialdemokratischen und offen bürgerlichen Parteien vorziehen. So hat die Syriza-Spitze in Griechenland von Beginn an eine Volksfrontregierung mit der erz-reaktionären, rassistischen und anti-semitischen ANEL einer Alleinregierung oder dem Kampf um eine ArbeiterInnenregierung vorgezogen.

Hinter der „Macht“politik von Syriza wie aller Linksparteien verbirgt sich zwar die Illusion, mit dem bürgerlichen Staatsapparat eine Politik durchsetzen zu können, die sich gegen den Neo-Liberalismus wendet und eine Umverteilung zugunsten der Ausgebeuteten längerfristig durchsetzt. Aber die Anerkennung der Tatsache, dass in der gegenwärtigen Krise die Machtfrage von entscheidender Bedeutung für die Frage ist, welche Klasse der Gesellschaft ihr „Anti-Krisen-Programm“ aufzwingen kann, hebt Syriza und den linken Reformismus von den utopischen und illusorischen Konzepten ab, die davon ausgehen, dass die Krise nur durch den Kampf der „sozialen Bewegungen“ gestoppt werden könne.

Die Unfähigkeit von KKE und Antarsya, auf diese Frage der Macht eine konkrete taktische Antwort jenseits allgemeiner Formeln zu liefern, war ein zentraler Grund, warum Syriza mehr und mehr AnhängerInnen in der Klasse und den sozialen Bewegungen gewann und als einzige Alternative zu ND und PASOK erschien. Zugleich hat der Wahlsieg von Syriza die Grenzen der reformistischen Politik, ihren illusionären Charakter offenbart. Vom „erratischen Marxismus“ und vom „ehrenhaften Kompromiss“ ist nur die nicht allzu ehrenhafte Kapitulation übrig geblieben. Aber zugleich eröffnet der Verrat auch die Möglichkeit, große Teile von Syriza für einen Bruch und eine Neugruppierung der griechischen ArbeiterInnenklasse, für die Schaffung eine Partei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms zu gewinnen. Die größten Hindernisse sind dabei freilich der passive, links-reformistische oder zentristische Kurs der ehemaligen Syriza-Linken, der FührerInnen der heutigen „Volkseinheit“, die einen Bruch mit Tsipras nicht offensiv vorbereiteten, sondern letztlich vermeiden wollten, die sektiererische Spielart des Reformismus der KKE und die fehlende Klarheit und taktische Flexibilität von Antarsya.

Im Gegensatz zu Syriza sind die anderen Parteien der europäischen Linkspartei in den letzten Jahren weit weniger gewachsen, auch wenn sie sich in den meisten Ländern stabilisiert haben. In Spanien verliert die IU zugunsten von Podemos gewaltig. Andererseits könnte es in Britannien bei einem Sieg des Linksreformisten Corbyn bei der Abstimmung um die Labour-Führung oder im Falle eines Fraktionskampfes seiner AnhängerInnen zu einem Bruch in Labour kommen.

Außerhalb Europas sind kaum Phänomene wie die Linksparteien zu finden, obwohl in einigen Ländern die Basis für eine solche Entwicklung durchaus vorhanden wäre. So betreiben die indischen KPen – immerhin die größten bürgerlichen ArbeiterInnenparteien der Welt – seit Jahren eine widerliche Koalitionspolitik mit der Kongresspartei auf Provinzebene. In Brasilien zeichnet sich nicht nur ein Ende des „Wirtschaftswunders“ ab, sondern auch eine tiefe Regierungskrise und eine Krise der PT, was eventuell dazu führen könnte, dass sich die PSOL als links-reformistisches Partei stärkt oder Teile der PT wegbrechen.

Schließlich schafft die Krise in vielen Ländern, die keine oder nur verschwindend schwache reformistische (zumeist stalinistische) Parteien kennen, die Bedingungen zur Bildung neuer ArbeiterInnenparteien. Das trifft insbesondere auf Südafrika zu, in gewisser Weise aber auch auf Pakistan, wo die AWP eigentlich auch als Keim einer solchen fungieren müsste.

Im Grunde steht die Frage der ArbeiterInnenparteitaktik in zahlreichen Ländern – nicht nur der halbkolonialen Welt, sondern insbesondere auch den USA auf der Tagesordnung.

Bei den „neuen Parteien“ haben wir es aber nicht nur mit der Bildung von linken, reformistischen, also bürgerlichen ArbeiterInnenparteien zu tun, die im Einzelfall sogar zentristische Formen annehmen können.

Bürgerlicher und kleinbürgerlicher Populismus

Schon Ende der 90er Jahre konnten wir in Lateinamerika die Bildung neuer, populistischer Parteien und Bewegungen im Gefolge der venezolanischen Revolution beobachten, die heute die Regierungsgewalt in Ländern wie Bolivien, Venezuela, Ecuador ausüben. Die „bolivarischen“ Parteien sind in Wirklichkeit bürgerlich-populistische Parteien oder solche geworden. Nichtsdestotrotz war es politisch richtig, in deren Formierung zu intervenieren, insbesondere in der Gründungsperiode der PSUV in Venezuela. In den letzten Jahren haben wir es aber auch mit der Entstehung neuer, linker kleinbürgerlicher Parteien in Europa zu tun, die sich als politische Antwort auf die Krise der Gesellschaft anbieten.

Das betrifft einerseits die HDP (Demokratische Partei der Völker) in der Türkei, die sich wesentlich auf die kurdische nationale Befreiungsbewegung stützt, einschließlich der nach wie vor brutal verfolgten PKK, wie auch auf Teile der türkischen radikalen Linken und der Bewegungen der letzten Jahre wie die Gezi-Park-Bewegung und Chancen hat, die Spaltung zwischen kurdischer und türkischer ArbeiterInnenklasse zu überwinden.

Doch die HDP ist keine bürgerliche ArbeiterInnenpartei, sondern vielmehr eine kleinbürgerliche Partei, die v.a. eine unterdrückte Nation und ihren Befreiungskampf politisch vertritt. In der Partei (und in der kurdischen Bewegung) findet unter der Oberfläche schon jetzt der Kampf um ihre Ausrichtung statt. Soll sie eine „linke Volkspartei“, eine Form der türkischen Grünen oder eine türkische Variante von Sinn Fein nach dem Good-Friday-Abkommen werden? Soll sie eine links-reformistische Partei werden? Oder eine sozialistische, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei? Für letztere Perspektive sollten MarxistInnen in der Türkei in der HDP kämpfen.

In Spanien ist mit Podemos eine linke populistische Partei entstanden, die erfolgreich die IU in Bedrängnis gebracht und auch große Gewinne von der PSOE erzielen konnte. Politisch ist sie stark vom Chávismus inspiriert. Von der ArbeiterInnenklasse ist wenig zu hören, an ihre Stelle tritt das Volk. Zweifellos erfordert auch Podemos die Intervention von RevolutionärInnen, um dort für den Bruch der proletarischen und revolutionären Kräfte mit der populistischen Führung zu kämpfen.

Im Unterschied zu Podemos gibt es für die HDP zur Zeit kaum Spielraum, sich in das autoritäre politische System der Türkei und als feste Größe im Parlamentarismus zu etablieren. Das Regime Erdogan ist vielmehr dabei, einen Krieg gegen die KurdInnen zu entfachen und will die HDP zerschlagen. Die Tatsache, dass die türkische Regierung und die Armee zur Ausschaltung der HDP und der PKK sogar bereit sind, das Risiko eines Bürgerkriegs in Kauf zunehmen, obwohl diese ihre Bereitschaft zu einem Friedensprozess immer wieder zum Ausdruck gebracht haben, zeigt, dass selbst in relativ starken halbkolonialen Ländern wie der Türkei große Teile der herrschenden Klasse nicht bereit sind, die Festigung einer radikaleren, demokratischen „Volkspartei“ einer unterdrückten Nation oder eine reformistische Massenpartei zuzulassen. Dieses Problem trifft zahlreiche Länder der „Dritten Welt“. Aber es trifft auch einige imperialistische Staaten wie China, Russland, wo der Kampf um eine ArbeiterInnenpartei – zumal eine, die frei vom Mief des Stalinismus, Nationalismus und der offenen Bindung an den Staat ist – nur unter Bedingungen der Illegalität oder Halblegalität geführt werden kann. Selbst in westlichen Demokratien wie den USA ist klar, dass jede neue ArbeiterInnenpartei (oder selbst eine populistische  Partei), die sich auch auf die rassistisch Unterdrückten stützen würde, mit Repression, Infiltrationen, rassistischen Übergriffen durch Polizei und faschistoide Kräfte rechnen müsste.

Podemos ist in dieser Hinsicht anders. Die neue Partei könnte in nächster Zukunft sogar zur Regierungspartei im imperialistischen Spanien werden.

Die Bildung der linken populistischen Parteien war bisher in Europa ein recht wenig bekanntes Phänomen (im Unterschied zu Lateinamerika). Die Krise bringt jedoch mit sich, dass die reformistische ArbeiterInnenbewegung – v.a. wo sie mit in der Regierung sitzt – die Lohnabhängigen verrät. Erst recht bietet sie den Mittelschichten und dem Kleinbürgertum, das selbst von Deklassierung betroffen ist, keine Perspektive. Podemos o.ä. Parteien erscheinen heute als eine solche, linke Alternative für die „Mitte“ der Gesellschaft wie für Arbeitslose und Verarmte. Allerdings kann die nächste Enttäuschung mit dem linken Populismus leicht dazu führen, dass sich diese Massen dann nach rechts wenden, um dort den nächsten populistischen Führer zu finden.

Die reformistischen Parteien erweisen sich als unfähig, den Mittelschichten oder dem Kleinbürgertum einen Ausweg aus der Krise zu bieten – nicht nur an der Regierung, sondern auch schon, weil ihre ganze Politik eng auf die Interessen bestimmter Schichten der Lohnabhängigen fixiert ist. Ihre darüber hinausgehende „Gesellschaftspolitik“ ist oft genug wenig mehr als ein eklektischer Mix aus politischen Angeboten anderer Klassen und Bewegungen, wobei sie sich in allen entscheidenden Fragen an die Vorgaben des Finanzkapitals halten.

In der Krise wird eine genuin revolutionäre ArbeiterInnenpolitik für Teile der Mittelschichten und das Kleinbürgertum viel eher attraktiv werden als der Reformismus, da eine revolutionäre Organisation ein Programm vertritt, das sich nicht auf „Arbeiterfragen“ beschränkt, sondern eine grundlegende Umwälzung der gesamten Gesellschaftsordnung anstrebt.

Neue „antikapitalistische Parteien“

In den letzten Jahren entstanden neben „neuen“ Parteien unterschiedlichen Charakters auch Umgruppierungsprojekte und Vereinigungsprojekte. Zweifellos ist das Fehlen revolutionärer Parteien und einer revolutionären Internationale heute das Kernproblem der ArbeiterInnenklasse. Die letzte, die Vierte Internationale Leo Trotzkis ist zwischen 1948 und 1951 politisch degeneriert und seit 1953 auch organisatorisch zerfallen (14). Anders als die ersten drei Internationalen hatte sie, von einigen Ländern und kurzen Perioden abgesehen, nie Masseneinfluss, ja war selbst in der Avantgarde der Klasse nur eine marginale Kraft.

Heute sind die Gruppierungen und Strömungen, die sich auf den Trotzkismus beziehen, zentristische Organisationen. Sie sind alle keine „Parteien“, also Organisationen, die signifikante Teile der ArbeiterInnenklasse anführen, sondern mehr oder weniger große Propagandagesellschaften, die eigentlich vor der Aufgabe stehen, revolutionäre Avantgardeparteien zu schaffen.

Dasselbe trifft auf andere Strömungen der „radikalen Linken“ zu, die sich auf die ArbeiterInnenklasse beziehen. Die „Marxistisch-Leninistischen“ Strömungen basteln an ihren „Internationalen“ ebenso wie andere Strömungen des linken Stalinismus. Auch sie sind letztlich in der Regel keine Parteien im eigentlichen Sinn. Hinzu kommt, dass sie anders als die „trotzkistischen“ Strömungen oft nur nationale Existenz haben, ihre „Internationalen“ wenig bis keine Verbindlichkeit aufweisen.

Darüber hinaus agiert je nach Land eine Vielzahl von „revolutionären“ Strömungen unterschiedlichster politischer Traditionen: linke AutonomistInnen, linke Flügel in bestehenden Massenparteien, linke, syndikalistische Strömungen in Gewerkschaften, links-nationalistische Strömungen in den Halbkolonien usw. usf. Sie alle proklamieren die Notwendigkeit einer revolutionären „Neuformierung“, auch wenn sie darunter höchst Unterschiedliches verstehen.

Eine Reihe von linken Organisationen hat in der letzten Periode auf die Notwendigkeit, die Möglichkeiten zu revolutionärer Einheit, der Schaffung einer politischen und organisatorischen Alternative zum Reformismus reagiert. Allerdings mit mehreren politischen Schwächen und Fehlern behaftet, die immer wieder zur Krise oder zum Zerfall dieser Formationen führen.

Lange Zeit galt die Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) in Frankreich als Modell für diese Formationen. Die NPA wurde 2009 gegründet, nachdem die LCR mit Olivier Besancenot einen extrem erfolgreichen Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl geführt und alle anderen linken Kandidaten – einschließlich der KPF – deutlich hinter sich gelassen hatte. Die LCR entschied sich damals korrekterweise, aufbauend auf diesem Erfolg, die Initiative zur Gründung einer neuen, antikapitalistischen Partei als Alternative zur Sozialdemokratie und zur abgewirtschafteten KPF zu nutzen. Die Resonanz war sehr positiv und die NPA wuchs rasch auf rund 10.000 Mitglieder.

Auch wenn die LCR mit der Gründung der NPA formell programmatische Positionen des Trotzkismus verwarf, so änderte das nichts daran, dass die NPA eigentlich einen Schritt nach links gegenüber der LCR darstellte. Ziele wie „Diktatur des Proletariats“, zu denen sich die LCR auf dem Papier noch bekannte, hatte die Vierte Internationale schon längst über Bord geworfen und für die LCR hatten sie ebenso wenig reale Bedeutung wie ihr abstraktes Bekenntnis zum „Trotzkismus“.

Die Gründung der NPA stellte einen Schritt nach links dar. Sie war ein Bruch mit der damaligen strategischen Orientierung der LCR, der Bildung einer „pluralen Linken“ (gauche plurielle) mit der KPF, den Grünen, kleinbürgerlichen Bewegungen wie Bovés Confédération Paysanne (Bauernbund). Der rechte Flügel der LCR um Christian Picquet lehnte folgerichtig auch die Gründung der NPA ab, was jedoch etliche seiner AnhängerInnen nicht daran hinderte, in der NPA weiter ihr Unwesen zu treiben.

Die NPA nahm 2009 ein relativ linkes „provisorisches“ zentristisches Programm (15) an, das jedoch im Zuge der folgenden Jahre nicht weiterentwickelt wurde. Politisch kontroverse Punkte blieben „offen“, eine Klärung oder Weiterentwicklung gab es nicht. Statt die anderen Parteien der Linken oder ArbeiterInnenbewegung vor sich herzutreiben, wurde sie rasch selbst von der Front de Gauche unter Druck gesetzt. Strittigen politischen Fragen versuchte sie auszuweichen, passte sich an oder schwieg sich aus. Hinzu kam, dass sie aus den Klassenkämpfen gegen die Sarkozy-Regierung und die Rentenreform – einschließlich riesiger Massenmobilisierungen und trotz großer Aktivität der Mitglieder – wenig gewinnen konnte, v.a. weil sie (selbst ein Erbe der LCR) zu einer zentralisierten, verbindlichen Intervention nicht in der Lage war und auch nicht zu einer Politik, die sich von der Gewerkschaftsbürokratie abhob (v.a. jener der CGT, die relativ links agierte).

Die NPA scheiterte letztlich daran, dass sie die Schaffung einer zentristischen Partei, also einer Partei, die zwischen revolutionärer, kommunistischer Politik und Programm und Reformismus schwankt, als strategisches Ziel proklamierte. Die „Einheit“ der anti-kapitalistischen Linken sollte durch Kompromisse oder Vertagen grundlegender politischer und programmatischer Differenzen erreicht werden.

Eine solche Politik ist jedoch eine Utopie. Der Klassenkampf selbst stellt immer wieder Aufgaben, die eine klare Linie, ein konsequentes Programm erfordern. Das stimmt schon für eine kleine Gruppierung. Für eine Organisation mit rund 10.000 Mitgliedern, die also wirklich die Avantgarde der Klasse in der nächsten Periode gewinnen könnte, die sich zur Aufgabe stellen müsste, eine revolutionäre Partei für Zehntausende zu werden, kann jede Halbheit in entscheidenden Fragen nur zur Zersetzung führen. Wird die Halbheit zur Methode, ist der Zerfall vorprogrammiert.

Die NPA ist keineswegs das einzige Phänomen in dieser Richtung. Auch in anderen Ländern kam es zur Gründung von neuen, antikapitalistischen und revolutionären Allianzen von ihrem Wesen nach zentristischen Gruppierungen.

Ähnliche zentristische Projekte stellen Antarsya in Griechenland oder die FIT (Front der Linken und ArbeiterInnen) in Argentinien dar. Auch diese basieren auf einem zentristischen Programm oder einer ebensolchen Wahlplattform. Ein ähnliches Phänomen stellt auch die AWP in Pakistan dar, auch wenn sie sich mehr und mehr zu einer reformistischen Organisation entwickelt. Wegen deren geringer Größe (weniger als 10.000) verfügt sie jedoch (ähnlich wie NPA, FIT, Antarsya) über keinen starken Apparat. Ihre Führung mag sich bürokratisch verhalten – eine nennenswerte Parteibürokratie wie bei etablierten reformistischen Massenparteien haben diese Formationen nicht.

Die Parteien der Europäischen Linkspartei oder die kleinbürgerlichen Parteien wie Podemos und die HDP sind in der Regel Massenparteien oder jedenfalls welche mit einem signifikanten Anhang in der Klasse, national Unterdrückten, im Kleinbürgertum oder den Mittelschichten. Mit ihrer Etablierung haben diese Parteien auch einen Parteiapparat und eine große, über parlamentarische Vertretungskörperschaften vom Staat alimentierte Schicht geschaffen, die eine Bürokratie bilden, die diese Parteien beherrscht (oder um diese Herrschaft ringt). Im Fall der HDP stellt sich die Lage etwas anders dar. Hier stellen eine aus dem Stalinismus entstandene Partei, die PKK, sowie die Guerilla-Strukturen den Kern eines bürokratischen Apparats, der die Organisation beherrscht.

Die neuen „antikapitalistischen“ Parteien haben einen vergleichbaren Apparat nicht, was sie auch instabiler macht. Entscheidend ist jedoch, dass es für sie nur drei Optionen gibt. Erstens können sich die antikapitalistischen Parteien zu reformistischen entwickeln. Diese Möglichkeit ist jedoch eher gering, v.a. in Ländern, wo es schon eine oder mehrere bürgerliche ArbeiterInnenparteien gibt und eine weitere, schwachbrüstige Miniaturvariante des Reformismus nicht gebraucht wird.

Zweitens können die Parteien über gemeinsame Praxis und programmatische Vereinheitlichung den Schritt zu einer genuin revolutionären neuen Partei machen. Dieses in jedem Fall wünschenswerteste Resultat setzt aber voraus, den „Pluralismus“, der jedem Umgruppierungsprojekt eigen ist, die programmatischen und politischen Differenzen, nicht als Ziel, sondern als zu überwindenden Zustand zu begreifen.

Gerade die historischen Beispiele zentristischer Parteien wie der USPD in Deutschland oder der POUM im Spanischen Bürgerkrieg zeigen, dass (a) der Zentrismus keine konsistente Alternative zum Reformismus, Anarchismus oder reinen Syndikalismus bieten kann und (b) zentristische Parteien nur vorübergehender Natur sein können.

Daher ist die dritte Möglichkeit – die Bildung einer zentristischen Partei – letztlich keine dauerhafte Lösung und kann es auch nicht sein. Solche Blöcke/Umgruppierungsprojekte können nur von vorübergehender Natur sein.

Ähnlich wie bei der NPA in Frankreich sind es dabei weniger die inneren Differenzen,  auch wenn es den Beteiligten so erscheinen mag, sondern die Anforderungen des Klassenkampfes, die die Probleme aufwerfen.

Im Fall von Antarsya war es die Weigerung, eine Taktik gegenüber den Reformisten von Syriza (und KKE) anzuwenden, der von diesen die Übernahme der Regierung und die Bildung einer ArbeiterInnenregierung gefordert hätte, um so die Illusionen der Massen in diese Parteien einem Test zu unterziehen in einer Form, die den objektiven Erfordernissen des Klassenkampfes entsprach.

Hinzu kommt, dass die einzelnen Komponenten von Antarsya in der ganzen letzten Periode selbst kein gemeinsames Aktionsprogramm für Griechenland erarbeiten konnten – der Block also selbst keinen Schritt weiter kam, eine revolutionäre Partei zu formieren. Das hinderte letztlich auch daran, in den Aufschwung wie in die Krise von Syriza durch eine Fraktionsarbeit, organisatorischen Anschluss oder Entrismus zu intervenieren. Heute müsste Antarsya eigentlich versuchen, die linke Plattform in Syriza in Kampf um eine Mehrheit und den Bruch mit Tsipras zu unterstützen und vor sich herzutreiben, und so für die Schaffung einer revolutionären Partei zu kämpfen. Doch Antarsya bevorzugt hier Abwarten und Passivität, nicht zuletzt, weil jede solche Taktik, jedes offensive Manöver gegenüber einer reformistischen Massenpartei auch die Differenzen in Antarsya aufs Tapet bringen würde.

Die FIT in Argentinien kam nie über ein Wahlbündnis hinaus. Auch wenn sich seine Hauptorganisationen (Partido Obrero und PTS) gern als „orthodoxe“ Trotzkisten hinstellen und daher die FIT gern als „Modell“ anpreisen, so ist doch bemerkenswert, dass das Wahlbündnis selbst kein revolutionäres Programm hat (16). Die PTS proklamiert zwar, dass aus der FIT eine revolutionäre Partei werden soll, lehnt aber zugleich die Bildung von Grundstrukturen der FIT zwischen den Wahlen ab. Die Differenzen sind nicht geringer als jene in Antarsya oder in der NPA. So vertreten die drei Hauptorganisationen (PTS, PO, IS) zur Ukraine drei unterschiedliche Positionen. PO verteidigt den Widerstand gegen das Kiewer Regime, IS unterstützte den Maidan. Die PTS lehnt es ab, den Widerstand gegen Kiew zu unterstützen und nimmt eine „neutrale“ Haltung ein. Die konkrete Solidarität wird durch eine Abstraktion, den Aufruf zum gemeinsamen Arbeiterwiderstand, ersetzt.

Heute droht eine Spaltung der FIT. Trotz beachtlicher Wahlerfolge ist sie eine reine Wahlfront geblieben, die nun mit zwei gegeneinander antretenden Listen in die Vorwahlen gegangen ist. Diese Ausscheidung hat die PTS gewonnen, war zweifellos eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses im Block darstellt. Dass sich nach geschlagener Vorwahl die unterlegene Liste freudig in den „gemeinsamen“ Wahlkampf einreihen wird, darf jedoch bezweifelt werden.

Noch problematischer ist das Fehlen einer offensiven Taktik gegenüber den peronistisch geführten großen Gewerkschaftsverbänden. In Argentinien zeichnet sich eine neue, tiefe Krise ab. Gerade hier dürfte sich der Kampf für den Bruch mit dem Peronismus nicht auf die Aufforderung zur Wahl eines linken Wahlbündnisses beschränken. Von den Gewerkschaften einschließlich ihrer Führungen müsste auch der Bruch mit der peronistischen Partei und die Gründung einer ArbeiterInnenpartei gefordert werden. RevolutionärInnen sollten dabei klarmachen, dass sie sich daran beteiligen würden – und zugleich dafür kämpfen, dass eine solche Partei von Beginn an ein revolutionäres Programm hat, ohne dies jedoch zur Bedingung ihrer Mitarbeit zu machen.

Die vielleicht größte Schwäche des Wahlblocks der FIT besteht freilich darin, dass die beteiligten zentristischen Gruppierungen des Wahlprogramm als ein revolutionäres ausgeben – und das, obwohl es die Frage der Regierung noch ganz allgemein darstellt. Die Notwendigkeit, dass sich eine ArbeiterInnenregierung auf Räte, auf Milizen stützen und den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss, wird im ganzen Text nicht angesprochen. Obwohl die Parteigänger der FIT diese gerne als „revolutionäre“ Alternative zur opportunistischen NPA hinstellen, findet sich im ganzen „revolutionären Programm“ kein Wort von Räten oder ArbeiterInnenmilizen!

Wir haben es hier – mit Ausnahme von Antarsya und bis zu einem gewissen Grad der NPA – mit Umgruppierungsprojekten im trotzkistischen Spektrum zu tun und mit Gruppen, die schon länger existieren.

Die gegenwärtige Periode kann aber auch dazu führen, dass Umgruppierungs-projekte aus recht neuen Gruppen, zentristischen Gruppierungen oder gar Parteien entstehen, weil unter dem Druck des Klassenkampfes auch Abspaltungen von reformistischen Organisationen oder militante ArbeiterInnenschichten in diese Richtung tendieren. Diese Entwicklung, die z.B. in der 68er Bewegung sehr viel ausgeprägter war, ist bislang sehr schwach – sie kann aber durchaus in der nächsten Periode bei eine Vertiefung der Krise und des Widerstands stärker ausfallen, zumal die Massen wie die Avantgarde mit neuen politischen Erfahrungen in die Auseinandersetzung gehen werden.

Ein Beispiel für eine zentristische Gruppierung, die in den letzten Jahren entstanden ist und in Westeuropa eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, ist Borotba (Kampf) aus der Ukraine. Borotba entstand aus einer Abspaltung von der Kommunistischen Jugend der Ukraine gegen die Politik die Unterstützung des Janukowytsch-Regimes durch die KPU.

Anfänglich war Borotba ein politisch heterogener Zusammenschluss, der v.a. aus jungen GenossInnen mit einem Kaderkern und einigen hundert AktivistInnen bestand und sich stark auf anti-faschistische Aktivität konzentrierte. Mit dem Maidan und dem Putsch wurde die Organisation gezwungen, sich wie eine politische Partei oder Vorform einer solchen zu verhalten. Hinzu kam, dass sie außer im Osten im ganzen Land praktisch in die Illegalität gedrängt wurde, ihre Mitglieder auf den „Terrorlisten“ der Regierung auftauchten, ihre Führung praktisch ins Exil gehen musste.

Die Organisation zeigte trotzdem große Stärken und Heroismus, als sie praktisch die einzige größere Gruppierung der radikalen Linken war, die nicht vor dem Maidan-Putsch kapitulierte und auf den Widerstand orientierte, ohne vor dem russischen Imperialismus zu kapitulieren. Zugleich machten sich ihre programmatischen Schwächen, so z.B. eine Faschismusanalyse, die stark an Dimitroff angelehnt ist, wie überhaupt das Fehlen eines Programms und einer programmatischen Methode bemerkbar.

Auch wenn die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) in Deutschland mit den anderen Umgruppierungsprojekten zahlenmäßig nicht vergleichbar ist und z.Z. eine schwere Krise durchläuft, so zeigt auch sie, dass ein solcher Umgruppierungs-prozess immer vor die Frage gestellt wird, ob er sich Richtung programmatischer Vereinheitlichung entwickelt – oder auseinandertreibt.

D Die zentralen Fehler der ‘radikalen’ Linken

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist gezwungen, auf die Veränderungen in der ArbeiterInnenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mag, so hat die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen  einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Sie hat den Problemen der „spontanen“ Neugruppierung neue hinzugefügt. Hier zu den wichtigsten Fehlern:

Eine fatale Reaktion bestand darin, den politischen Formierungsprozess zugunsten der Bewegungen abzulehnen. Entstehende Massenbewegungen im Aufschwung erzeugen bei ihren UnterstützerInnen oft den Eindruck, dass eine breite, aktive Bewegung alle Hindernisse aus der Welt schaffen könne, dass politische Organisationen, Programme, „Parteienstreit“ nur zur Spaltung führen würden. Diese Position spiegelt in naiver Form die erste Erfahrung des gewerkschaftlichen Kampfes oder des Kampfes um soziale Verbesserungen wider.

Aber in jeder Bewegung zeigt sich auch, dass es den scheinbar über allen Parteien stehenden, von allen „Außeneinflüssen“ freien Kampf nicht gibt und nicht geben kann. Mag der Ruf nach „Parteilosigkeit“ auch die Enttäuschung über die bestehenden Parteien ausdrücken, die vorgeben, die ArbeiterInnenklasse zu vertreten, so ist er letztlich ein Fallstrick für jede proletarische, jede progressive Bewegung. Die Bewegung „fern“ von der Politik, vom offenen Kampf politischer Ideologien, Strömungen, Parteien zu halten, läuft in Wirklichkeit nur darauf hinaus, dass die schon vorherrschenden Ideologien bzw. jene, die sich auf dem Stand des Bewusstseins spontan entwickeln, dominieren werden. Das heißt, es werden Formen, Spielarten bürgerlichen Bewusstseins, politische Ausrichtungen und Parteien dominieren, die einen in letzter Instanz bürgerlichen Charakter haben.

Wer linke oder revolutionäre Parteien aus dem Kampf um die politische Führung in Bewegungen heraushalten will, verkennt, dass sich revolutionäres Klassenbewusstsein nie spontan entwickeln kann. Eine solche Gruppierung verkennt, dass revolutionäres Klassenbewusstsein von außen in die Klasse und ihre Kämpfe getragen werden muss. Ein revolutionäres Programm entsteht nie einfach „aus der Bewegung“, „von unten“, sondern ist immer Resultat einer wissenschaftlichen, theoretischen Verarbeitung vergangener und aktueller Erfahrung. Nur so kann die Theorie überhaupt, nur so kann das Programm die aktuelle Praxis anleiten, ihr einen Weg weisen.

Der Autonomismus, Anarchismus, die Libertären und linken SyndikalistInnen wiederholen hier auf unterschiedliche Weise die Fehler des Ökonomismus – die Anbetung der Spontanität.

Das führt sie dazu, dass sie bestimmte Formen des Kampfes, nämlich die Formen von „Neuformierung“ auf betrieblicher oder gewerkschaftlicher Ebene samt ihrer Irrwege (insb. der Gründung von separaten Gewerkschaften, Ablehnung der bewussten Intervention in die politischen Neuformierungen) über andere stellen und als  „eigentlichen“ Klassenkampf betrachten. Die Bewegungsfetischisten, die an die Stelle bestimmter Sektoren der Klasse bestimmte, oft kleinbürgerlich-utopische, tw.  populistisch inspirierte Bewegungen zur zentralen Form der „Neuformierung“ machen, sind ihnen ähnlich.

Laufen die einen ideologisch der betrieblichen Selbstverwaltung (oft genug irrtümlich zu einer Form der „ArbeiterInnenkontrolle“ überhöht) hinterher, so die anderen bestimmten Formen des utopischen oder kleinbürgerlichen Sozialismus oder seiner Wiederkehr in neuen Farben. So erfreuen so unterschiedliche Utopien wie der Populismus von Blockupy, die Zapatisten, der „demokratische Konföderalismus“ der PKK oder die Verfechter der „Commons“ ihre Unterstützer. Es herrscht kein Mangel an diesen kleinbürgerlichen Ideologien. Neben Bewegungen und Organisationen, deren mehr oder weniger bewusster Ausdruck sie sind, ist die links-akademische Produktion voll von solchen Ideologien (Negri, Holloway, Naomi Klein).

All diesen Strömungen ist neben einer entschiedenen Ablehnung von „Parteipolitik“ das Fehlen eines klaren, politisch verbindlichen Programms eigen. Ihre Utopien blühen immer wieder auf als scheinbar nahe liegende Reaktion auf den politischen Reformismus und dessen „Staatsfixiertheit“.

Die Fetischisten des ökonomischen Kampfes oder der „reinen“ Bewegung machen es zu ihrem Markenzeichen, die Staatsmacht erst gar nicht erobern zu wollen. Das ändert zwar nichts daran, dass sie in den seltenen Fällen, wo ihnen Regierungsmacht zufällt, als Träger, als regierende Kraft handeln müssen (z.B. in Rojava). Statt diesen Umstand jedoch als ein reales Problem zu begreifen, das ihre Ideologie praktisch in Frage stellt, wird es gern durch allerlei ideologische Notbehelfe verkleistert.

In der Regel führt das „Raushalten“ aus der Politik, der Verzicht auf den bewussten politischen Kampf um die Macht dazu, dass die „linke“ Politik denen überlassen wird oder bleibt, die sie bisher schon betrieben haben – den linken, reformistischen, echten Massenparteien oder auch linken populistischen Parteien/Bewegungen.

So reproduzieren in der Regel die „BewegungsaktivistInnen“ und deren Organisationen eine für das bürgerliche System typische Arbeitsteilung, wenn auch in einer linkeren Variante. Die Trennung von Politik und Ökonomie ist für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv, was sich auch in der Trennung von StaatsbürgerIn und Privatmensch widerspiegelt. In der herkömmlichen Form bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik, wie sie v.a. in Europa etabliert wurde, erscheint diese Trennung als Trennung von wirtschaftlichem Kampf, für den die Gewerkschaften zuständig sind, und Politik, die von der reformistischen Partei betrieben wird.

In den sozialen Kämpfen, in zahlreichen Mobilisierungen der letzten Jahre wurde die Bewegungsmacherei den „AntikapitalistInnen“, v.a. der post-autonomen, post-… Linken überlassen – und die „eigentliche“ Politik, Wahlen, die Vorstellung von „Alternativen“  den linken oder populistischen Parteien.

Die neueren reformistischen und populistischen Parteien haben es umgekehrt ganz gut verstanden, sich viele „Linksradikale“, die vorgeben, die Bewegung über die Partei zu stellen, als ein zuverlässiges Fußvolk heranzuziehen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass viele solcher „libertärer, anti-autoritärer“ Kräfte bei den Auseinandersetzungen der reformistischen Parteien mit deren Spitze oder gar deren rechten Flügeln gehen – nicht zuletzt, weil diese dem „traditionellen“ Etatismus des Reformismus ferner stehen würden.

In der Tat hat der traditionelle Reformismus den bürgerlichen Staatsapparat und den Parlamentarismus als ein Mittel betrachtet, durch den, gestützt auf die Masse des Volkes, Schritte zur einer Umgestaltung der Gesellschaft vollzogen werden könnten (im Maximalfall bis zum Sozialismus). Allenfalls müsste dazu der bürgerliche Staat noch weiter demokratisiert und von den reaktionärsten Elementen gesäubert werden.

Der Reformismus hat sich selbst von diesem Programm seit Jahrzehnten weit entfernt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zumeist durch den Keynesianismus ersetzt, der seinerseits auch auf einen Staat setzt, der in die krisenhafte Entwicklung der Ökonomie eingreift.

Ironischerweise kritisieren viele der Bewegungslinken am Reformismus freilich nicht seine Illusionen, seine Fixiertheit auf den bürgerlichen Staat, sondern lehnen jede Notwendigkeit ab, dass sich die ArbeiterInnenklasse der Staatsmacht bemächtigen müsste, dass sie ihren eigenen Rätestaat aufbauen, dass sie die Wirtschaft in ihren Händen zentralisieren und gemäß eines gesellschaftlichen Plans reorganisieren müsste. Den „Bewegungslinken“ erscheint das Programm des Marxismus nicht als eine grundsätzliche Alternative zur bürgerlichen Politik, sondern auch der Räte-Halbstaat als Fortsetzung des „Staatsfetisch“, weil der Marxismus auf den Zentralismus, auf zentraler Planung beharrt.

Die Formierung neuer, reformistischer oder „radikaler“ kleinbürgerlicher Parteien hat die „revolutionäre Linke“ zweifellos vor die Notwendigkeit gestellt, darauf politisch-taktisch zu reagieren.

Der rechteste Teil der Zentristen hat freilich daraus einen fatalen Schluss gezogen. Er tritt für die Schaffung „breiter neuer Parteien“ ein, da die Schaffung von anti-kapitalistischen Organisationen „verfrüht“ sei, weil sie dem Bewusstsein der Klasse nicht angemessen wären. Für diesen Flügel der „radikalen Linken“ geht es letztlich darum, Parteien vom Schlage der europäischen Linkspartei zu schaffen, diese entweder als eigenständige Formationen zur Anpassung an den Reformismus zu führen oder den Aufbau „echter“ anti-kapitalistischer oder revolutionärer Formationen auf eine ferne Zukunft zu verschieben.

Diese Taktik hat nicht nur zur Spaltung der NPA in Frankreich geführt. So wurde auch der Linksblock in Portugal weiter und weiter nach rechts getrieben. Ähnliches gilt für PSOL in Brasilien. Am schlimmsten wirkt diese Methode in Podemos in Spanien. Das Problem ist dabei nicht die Intervention in diese Formationen, sondern der Verzicht auf einen organisierten politischen Kampf.

In der letzten Periode wurde diese Politik der Anpassung noch extrem gesteigert. Anders als die Parti de Gauche oder Syriza sind Parteien wie Podemos keine Parteien, die organisch in der ArbeiterInnenklasse verankert sind, sie sind keine bürgerlichen ArbeiterInnenparteien. Zweifellos ist es richtig, in diesen Formationen für eine revolutionäre Ausrichtung und für eine Spaltung entlang der Klassenlinie zu kämpfen, wenn diese große Teile der Avantgarde oder nach links gehender Schichten der Klasse anziehen oder organisieren. Aber eine gezielte revolutionäre Intervention beinhaltet auch ein klares Verständnis, worin überhaupt interveniert wird – und zu welchem Zweck. In der zentristischen Linken, v.a. unter den rechten Zentristen, ist es Mode, die grundlegenden Unterschiede des Klassencharakters von Parteien herunterzuspielen und so zu tun, als gehörten diese Fragen einer längst vergangenen Periode an.

Dabei zeigt gerade die aktuelle Entwicklung, wie wichtig ein solches Verständnis ist. Alle, die z.B. erklärt hatten, dass die Labour Party längst eine „ganz normale“ offen bürgerliche Partei geworden wäre, die sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zur ArbeiterInnenklasse keinen Deut von jeder liberalen, jeder offen bürgerlichen Partei unterscheide, sind durch die Kampagne von Jeremy Corbyn blamiert. Ihre Einschätzung hat sich angesichts von 100.000 Neueintritten, 300.000 weiteren stimmberechtigten UnterstützInnen und der Bildung einer Unterstützungsbewegung tausender, v.a. junger AktivistInnen als falsch und empiristisch erwiesen.

Umgekehrt ist die Kampagne von Sanders in den USA, der bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei viel Zuspruch erlebt und von Teilen der Gewerkschaftsbürokratie unterstützt wird, damit nicht gleichzusetzen. Während Corbyn um die Wiederbelebung einer, wenn auch bürgerlichen, ArbeiterInnenpartei kämpft, hat Sanders‘ Wahlkampagne keinerlei Auswirkung auf den Klassencharakter der Demokratischen Partei. Diese ist eine der wichtigsten Parteien der imperialistischen Bourgeoisie. Sanders‘ Kampagne dient letztlich dazu, ArbeiterInnen an diese Partei zu binden. RevolutionärInnen sollten zwar in die Kampagne intervenieren, aber dabei erklären, dass die Demokraten die Partei des Klassengegners sind, dass sie keine organische Bindung zur Klasse haben und Sanders und seine UnterstützInnen auffordern, mit ihnen zu brechen und für den Aufbau einer ArbeiterInnenpartei zu kämpfen.

Noch wichtiger als das Verwischen des Unterschiedes von reformistischen, kleinbürgerlichen oder offen bürgerlichen Parteien ist freilich das Negieren des Unterschieds von revolutionären, kommunistischen Parteien zu nicht-revolutionären Formationen. RevolutionärInnen unterscheidet von anderen Anti-KapitalistInnen nicht, dass wir die Notwendigkeit anerkennen, unter bestimmten Bedingungen in reformistischen, zentristischen oder klein-bürgerlichen Organisationen zu intervenieren. Aber es unterscheidet uns das Ziel. Für uns hat jede Taktik nur Sinn als Mittel zum Aufbau einer revolutionären Partei oder jedenfalls zur Stärkung ihrer Vorform.

Während für einen Teil der Zentristen die Bildung einer reformistischen Partei in der aktuellen Periode den Charakter eines strategischen Etappenziels angenommen hat, lehnen viele diese falsche Konzeption ab. Sie treten für den Aufbau einer „breiten antikapitalistischen Partei“ (im Unterschied zu einer „breiten Partei“) ein. Das ist zwar ein Schritt nach links, aber es ist ein inkonsequenter Schritt. Wir haben schon weiter oben das Problem dieser Taktik betrachtet, sowohl in ihren linkeren wie rechteren Spielarten.

Eine Sonderform dieser Politik besteht darin, die Frage der „Umgruppierung“ auf ein bestimmtes ideologisches Spektrum oder auf bestimmte Formen der Radikalisierung festzulegen. Die Frage, mit wem zu welchem Zeitpunkt eine Umgruppierung zur Bildung revolutionärer Einheit sinnvoll ist, ist keine Frage, die nur mit einem Abgleich von „Grundsätzen“, „Prinzipien“ oder dem Bekenntnis zu einer bestimmten historischen Tradition zu erledigen ist. Entscheidender als die formelle Ähnlichkeit der Positionen ist die Bewegungsrichtung anderer Strömungen, um überhaupt die Basis für eine Umgruppierung zu ergeben. Zweitens setzt die Möglichkeit zu einer organisierten Diskussion und Entwicklung einer größeren, revolutionären Formation in der Regel eine Krise bei den beteiligten zentristischen Gruppierungen oder anderen Strömungen voraus.

Wir lehnen jedoch die Vorstellung, dass es um die Einheit einer bestimmen „geschichtlichen Strömung“ gehe, grundsätzlich ab. Die Frage der „Einheit des Trotzkismus“ oder der „Wiedervereinigung“, Neugründung, Bildung ihres vorgeblich linken Flügels ist ein überholtes Konzept, eine Chimäre. Als einheitliche Strömung ist „der“ Trotzkismus, ist die Vierte Internationale tot. Ihre Spaltprodukte stehen der Möglichkeit revolutionärer Einheit, also der Überwindung grundsätzlicher programmatischer Differenzen und der Entwicklung einer gemeinsamen programmatischen Grundlage für eine zukünftige revolutionäre Internationale grundsätzlich nicht näher als andere Strömungen der „radikalen Linken“.

Zweitens verengt die Frage dieser „Einheit“ den Blick auf die Notwendigkeit der entschlossenen Intervention in die historische Neuformierung der Klasse und ihrer Avantgarde. Diese wird unterschiedlichste politische Taktiken des Eingreifens in die Klassenbewegung auf politischer wie ökonomischer Ebene erfordern. Jede Fetischisierung einer bestimmten Variante kann dabei nur zur Anpassung oder zur Selbstisolation vor wichtigen Veränderungen der Klasse und ihrer Avantgarde führen. Sie führt zum:

a) Fetischisieren eines oder mehrerer Elemente realer Bewegungen;

b) zum Verzicht auf flexiblen Zugang zu anderen Phänomenen;

c) Ersetzen von Taktik durch eine Strategie;

d) Verzicht auf Erarbeitung eines revolutionären Programms.

E Trotzkis Lehren

Für alle Strömungen der „extremen Linken“ stellt sich die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit dem Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten können und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau eine revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der ArbeiterInnenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v.a. auch versuchen, Wege und  Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen ArbeiterInnenklasse gegen den Faschismus hatten die TrotzkistInnen für eine Reform der Kommunistischen Internationale als „externe Fraktion“ gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen linken Opposition“, also den „TrotzkistInnen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v.a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre ArbeiterInnen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen ArbeiterInnenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultra-linken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führern die Ablehnung der Einheitsfront mit den KommnistInnen erleichtert, die Einheit der Klasse gegen die Faschisten und die Gewinnung der sozialdemokratischen ArbeiterInnen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die ArbeiterInnenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzkis nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich ArbeiterInnen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen sei und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden wäre, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 30er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken (17) auseinandergesetzt. Für uns geht es an dieser Stelle darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 30er Jahren angewandt hat und entwickelte, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Block-Taktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Block-Taktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden, zentristischen Organisationen, die sich von der Sozialdemokratie oder dem Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen, neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen einer zukünftigen Einheit mit den Reformisten oder den Stalinisten offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene, revolutionäre Alternative aufzubauen auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin.

Die beteiligten Organisation – die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden – einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission „a) zur Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als Geburtsurkunde einer neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest), c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik“ (18).

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte der Block sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert hat, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeitereinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gibt. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob sie an die Basis und Führung der Massenorganisationen zu richten sei (oder praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt).

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblichen revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelt und zu einer dogmatischen, ultra-linken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) wurde. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch die Mentalität der Sozialdemokratie geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke, die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten, notwendig nur für begrenzte Zeit vorhanden waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentristen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentristen der 30er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen um den nach links gehenden Sozialdemokraten auf halbem Weg entgegenzukommen.

Falsch war daran  nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich daran programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit – und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und ihren Führern – muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und es ist notwendig, die unvermeidlichen Schwankungen der Partner zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, auf organisatorischer Ebene sich überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernst nehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter schroffer Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen, auszusprechen, was ist.“ (19)

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken oder in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für Entrismus.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus – also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei – keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass KommunistInnen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster MitstreiterInnen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labour-KandidatInnen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party an. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013). Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren ArbeiterInnenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte ArbeiterInnenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiterklasse bewahrt.” (20) Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunisten eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“ (21)

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninisten (wie die TrotzkistInnen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese Taktik nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten ArbeiterInnen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern dass die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung eine Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme, wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“ (22)

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninisten hatten, v.a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v.a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentristen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“ (23)

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933-36) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiterpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbst-gefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“ (24)

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer damals wie heute – „prinzipienlos“. RevolutionärInnen würden, so argumentierten z.B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“ (25)

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgen im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, dass sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur hunderte Mitglieder zählen, können nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei – solange es keine Kommunistische Partei gibt – selbst nur bedingt Avantgarde, sprich sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist – also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Stratege der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften – oft in starken Industriegewerkschaften wie den AutoarbeiterInnen in Deutschland oder bis in die 80er Jahre die Bergarbeiter in Britannien – formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. Entscheidend für uns ist dabei, dass die Führung, größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z.B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z.B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v.a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien, hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich dies in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen Strömungen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten in den Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v.a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass links-reformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil der Avantgarde (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. RevolutionärInnen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder herabspielen, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierern und Ökonomisten.

ArbeiterInnenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der ArbeiterInnenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser Taktik fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter- und Bauernpartei“.

Die Entwicklung in den 30er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer ArbeiterInnenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der ArbeiterInnenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z.B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiterklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiterklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.” (26)

In der gegenwärtigen Periode hat die Losung der ArbeiterInnenpartei in vielen Ländern auch heute eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten RevolutionärInnen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v.a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie oder stalinistischer Parteien hat heute in einigen Ländern die Möglichkeit geschaffen, dass die ArbeiterInnenparteitaktik auch angewandt werden kann, wenn es schon eine etablierte, reformistische Partei gibt (z.B. in Deutschland bei Formierung der WASG).

F Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der ArbeiterInnenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht auf die Frage der politischen Organisation, auf Taktiken im Parteiaufbau. Zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue anti-kapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf aber grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene stehen heute zweifellos der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, der Kampf für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die  Sammlung aller anti-bürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, Schulen, Unis, den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der ArbeiterInnendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d.h. es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus und Faschismus, Angriffe auf demokratische Rechte auch die Frage nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v.a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der ArbeiterInnenklasse sind ein unverzichtbarer Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Imperialistische Barbarei oder Sozialismus“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigt, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vor-revolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf Griechenland oder die Ost-Ukraine, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen kann nur ein Impuls zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, die Notwendigkeit bewusst werden – und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, klein-bürgerlichen oder zentristischen Fehlern, findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformisten versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu geben bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der anti-kapitalistischen Linken, einen Kampf in der Labour Party oder den Bruch in einer Partei wie Syriza handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der ArbeiterInnenklasse sein wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken (Blocktaktik, Entrismus, ArbeiterInnenpar-teitaktik) oder auch eine Kombination dieser Taktiken notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihm das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch die meisten der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformisten oder Zentristen oder gar von Populisten wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Freilich, den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen wird, ist der Realismus des Vorweg-Kapitulanten.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil sich, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren müssen, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.

Endnoten

(1) Siehe: Revolutionärer Marxismus 39, Finanzmarktkrise und fallende Profitraten. Beiträge zur marxistischen Imperialismus- und Krisentheorie, Berlin 2008; Markus Lehner, Finanzmarktkrise – Rückblick und Ausblick, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin 2010, S. 5 – 42, Markus Lehner/Peter Main, Schwache Erholung, massive Aggression, kommende Krise, in: Revolutionärer Marxismus 46, Berlin 2014, S. 214 – 227

(2) Tobi Hansen, Sparpakete, Krise, Widerstand: Welche Perspektive für das EU-Projekt, in: Revolutionärer Marxismus 46, S. 87 – 113; Tobi Hansen, Dritter Anlauf um den Platz an der Sonne, in: Revolutionärer Marxismus 47, S. 56

(3) Unter degenerierten ArbeiterInnenstaaten verstehen im Anschluss an Leo Trotzkis Analyse der Sowjetunion und des Stalinismus Staaten, wo zwar das Kapital enteignet und die Herrschaft der Kapitalistenklasse gebrochen wurde, die politische Macht jedoch nicht von der ArbeiterInnenklasse ausgeübt, sondern von einer bürokratischen Kaste usurpiert wurde. Mehr zu unserer Analyse siehe unsere Broschüre: Gruppe Arbeitermacht, Aufstieg und Fall des Stalinismus, 2009 (http://www.arbeitermacht.de/broschueren/stalinismus/vorwort.htm). Umfassender und ausführlicher: Workers Power, The Degenerated Revolution. The Rise and Fall of the Stalinist States, London 2012

(4) Frederik Haber, Die Auferstehung des russischen Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 46, S. 114 – 143

(5) OECD, World Economic Report 2014

(6) ILO, World of Work Report 2014, S. 2

(7) Ebenda, S. 6

(8) Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 473

(9) Friedrich Engels, England 1845 und 1885, in: MEW 21, S. 191 – 198

(10) Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung der Sozialdemokratie, in LW 23, S. 113

(11) de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Quer-durch-Europa/Gewerkschaften#note1

(12) Trotzki, Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, Intarlit, Dortmund 1977, S. 36

(13) Labour Qaumi Movement (LQM) ist eine Gewerkschaft von Webern in Pakistan, die noch unter der Diktatur Musharaffs gegründet wurde und heute rund 45.000 Arbeiter, v.a. in Faisalabad, einem Zentrum der Textilindustrie des Landes, organisiert. Siehe dazu auch: Martin Suchanek, LQM – eine etwas andere Gewerkschaft, http://www.arbeitermacht.de/ni/ni189/lqm.htm

(14) Zur ausführlichen Darstellung siehe die Broschüre: Gruppe Arbeitermacht, Der letzte macht das Licht aus, http://www.arbeitermacht.de/broschueren/vs/index.htm

(15) Zur Gründung der NPA und zur Kritik ihres provisorischen Programms siehe: Dave Stockton, The New Anticapitalist Party in France: a historic opportunity, in: Fifth International Vol. 3, Issue 2, London 2009

(16) Zur Kritik des Programms der FIT siehe: Christian Gebhardt, Wie weiter für die radikale Linke in Argentinien? http://www.arbeitermacht.de/infomail/711/argentinien.htm

(17) Zur Darstellung der Entrismustaktik, der ArbeiterInnenparteitaktik und der Taktik des organisatorischen Anschlusses siehe: Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, S. 107 – 181; zur Entrismustaktik: Dave Stockton, Turn to the Masses, in: Trotskyist International 24, 1998, Seite 32 – 46, zur Blocktaktik: Dave Stockton, Trotsky and revolutionary unity: The fight for the Fourth International, http://www.fifthinternational.org/content/trotsky-and-revolutionary-unity-fight-fourth-international

(18) Trotzki, Die Erklärung der Vier, in: Trotzki, Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, S. 460

(19) Trotzki, Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, S. 530

(20) Lenin, Collected Works, Bd. 31, S. 199

(21) Ebenda

(22) Trotzki, Writings, Supplement 1934-40, S. 494

(23) Trotzki, Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1977, S. 125/126

(24) Trotzki, Writings 1939-40, S. 34

(25) Vorwort aus Leo Trotzkis „Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), New York 1977, S. 20

(26) Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, S. 176




Krise der NaO: Revolutionäre Einheit oder plurale Beliebigkeit?

Martin Suchanek, Neue Internationale 201, Juli/August 2015, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Die Krise des NaO-Prozesses ist offensichtlich. Wenn es auch sonst wenig Einigkeit geben mag – dass der Prozess schon länger in der Krise ist, darüber gibt es wohl wenig Dissens.

Damit ist es mit der Einigkeit auch vorbei. Trotz beachtlicher politischer Initiativen ist der Prozess an einem Scheideweg angelangt. Ende 2013 war die NaO durch die Verabschiedung eines Gründungs-Manifests und im Februar 2014 durch die Gründung der Berliner NaO als Ortsgruppe von einer Aufbruchstimmung geprägt.

In Berlin und auch bundesweit erlangte die NaO eine gewisse Ausstrahlungskraft. Sie wuchs nicht nur in Berlin und einzelnen Städten, sie konnte auch über ihre formelle Größe hinaus andere Strömungen in Diskussion ziehen oder wurde von diesen als Referenzpunkt betrachtet – und sei es durch die Notwendigkeit der Abgrenzung.

Die positiven Seiten zeigten sich in der Annahme eines vorläufigen Manifests und der darin enthaltenen Verpflichtung, auf eine revolutionäre Vereinigung hinzuarbeiten. Der strömungsübergreifende Charakter der NaO wurde nicht als Ziel an sich, sondern als Mittel zur Schaffung einer größeren, schlagkräftigeren revolutionären, anti-kapitalistischen Organisation betrachtet.

So heißt es im NaO-Manifest: “Dieses Manifest stellt die Grundlage für das Handeln der NAO, die Basis für unseren Aufbau dar. Es ist jedoch noch weit davon entfernt, ein Programm einer revolutionären Organisation darzustellen, in der die politischen Differenzen der jeweiligen Strömungen überwunden wären. Die Erfahrungen der antikapitalistischen Organisationen in anderen Ländern haben gezeigt, dass Differenzen nicht totgeschwiegen oder hinter Formelkompromissen versteckt werden dürfen. Gerade in einer Umbruchperiode werden Anti-KapitalistInnen rasch vor politische und programmatische Fragen gestellt, die in Zeiten längerfristig relativ stabiler Entwicklung in weiter Ferne schienen.

Eine Aufgabe der NAO wird sein, an der Diskussion und Überwindung dieser Differenzen und an der Ausarbeitung eines Aktionsprogramms zu arbeiten. Für uns steht diese Arbeit nicht im Gegensatz zur gemeinsamen Praxis und zum Aufbau – vielmehr sollen und können diese einander wechselseitig befruchten.“ (Manifest für eine Neue antikapitalistische Organisation, www.nao-prozess.de)

Erfolge

Auf die Gründung der NaO erfolgten unserer Meinung nach wichtige politische und praktische Initiativen und Fortschritte.

  • Die NaO nahm mehrere revolutionäre Stellungnahmen zur Ukraine, zum Kampf gegen das Kiewer Regime, zum Massaker in Odessa und zur Unterstützung des anti-faschistischen und sozialen Widerstands an. Sie initiierte und organisierte Veranstaltungen mit Genossen von Borotba und Demonstrationen gegen die Ukraine-Politik der Bundesregierung und der westlichen Imperialisten.
  • Sie unterstützte den Kampf gegen die rassistische Politik des zionistischen Staates und die Soli-Demos im Sommer 2014 sowie Solidaritätsdemonstrationen und -aktionen zum Nakba-Tag in Berlin und Stuttgart.
  • Am revolutionären Ersten Mai in Berlin trat die NaO als eine zentrale Kraft hervor. Wir prägten 2014 und 2015 die Demonstrationen entscheidend mit und schafften es auch, ihren Bezug zum internationalen Klassenkampf gegen Krise und Krieg ins Zentrum der Mobilisierung zu rücken.
  • Gruppen aus der NaO waren im Refugee-Schulstreik sehr aktiv wie auch im Kampf gegen die rassistischen Ableger der Pegida.
  • Wir initiierten die Kampagne „Waffen für die YPG/YPJ! Solidarität mit Rojava!“, waren bei zahlreichen Mobilisierungen aktiv und entwickelten zugleich unsere Position zum Kampf um nationale Befreiung und zur Rolle der PYD/PKK in Kurdistan.
  • Zu Griechenland war die NaO nicht nur an Solidaritätsaktivitäten beteiligt. Wir entwickelten auch eine Position, die eine sozialistische Perspektive für Griechenland vertritt, sich gegen den deutschen und internationalen Imperialismus, aber auch gegen die politische Ausrichtung der Syriza/Anel-Regierung wendet, den Bruch mit der rassistischen Anel fordert und für eine ArbeiterInnenregierung eintritt.
  • Die NaO organisierte regelmäßig Veranstaltungen, tw. mit hunderten TeilnehmerInnen, und sehr erfolgreiche „Internationalismustage“ im Herbst 2014.

Ursachen der Krise

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Wichtig ist es jedoch zu sehen, worin die Ursachen für die aktuelle Krise der NaO liegen.

Sie erklärt sich z.T. aus der geringen Dynamik des Klassenkampfs in Deutschland, die es  erschwert, eine neue anti-kapitalistische revolutionäre Organisation zu schaffen, zumal der größte Teil der „radikalen Linken“ politisch nach rechts ging. Nicht nur die Linkspartei steht dafür, sondern auch ein großer Teil des „postautonomen Spektrums“.

Die politischen Schritte vorwärts, v.a. die Positionen zur Ukraine und  zu Griechenland, rückten auch die Differenzen in der NaO in den Vordergrund. Von Beginn an standen der RSB (aber auch die ISL, also beide Sektionen der sog. „Vierten Internationale“) dem Aufbau einer aktiven Mitgliederorganisation und der verbindlichen Teilnahme der Mitglieder der NaO-Gruppen an deren vereinbarten Aktivitäten, vorsichtig ausgedrückt, skeptisch gegenüber.

Die Bildung der NaO Berlin bedeutete aber auch, dass eine Ortsgruppe und eine Koordinierung geschaffen wurden, die nur aufgebaut werden können, wenn sich die NaO zu wichtigen politischen Fragen laufend positioniert. Nur so kann sie gemeinsame Handlungsfähigkeit erzielen und zugleich auch einen Schritt zur Überwindung politischer Differenzen und Herstellung von Gemeinsamkeiten leisten.

Dieser Prozess ist unvermeidlich immer auch mit der Möglichkeit des Gegenteils – der Verfestigung von Differenzen und des Bruchs – verbunden. Es gibt zu ihm aber keine realistische Alternative, es sei denn, man betrachtet Inaktivität und Schweigen als solche.

Daher entwickelten sich die Berliner NaO und deren Koordinierung praktisch bundesweit zur maßgeblichen Gruppierung. Andere Ortsgruppen folgten entweder deren politischen Initiativen oder verhielten sich mehr oder minder passiv.

In jedem Fall spitzen sich die Konflikte in der NaO massiv zu. In der Frage der Ukraine oder Griechenlands, der Haltung zum Maidan oder zum Widerstand gegen das Kiewer Regime, zur Anel-Koalition und zur Frage der ArbeiterInnenregierung in Griechenland vertreten die GenossInnen von Arbeitermacht und Revolution einen klaren, proletarischen Klassenstandpunkt – ISL/RSB, wie die ganze „Vierte Internationale“, jedoch nicht.

Hier handelt es sich nicht um „Stilfragen“ oder Fragen von mehr oder weniger Rücksichtnahme, sondern um grundlegende Klassenpositionen, wo es auch keinen Spielraum für Kompromisse geben kann. Da die NaO-Mehrheit in den grundlegenden politischen Fragen eine linke Position einnahm, stimmen ISL und RSB beim NaO-Aufbau mit den Füßen ab. Statt eine Auseinandersetzung zu suchen, wichen sie den politischen Fragen aus.

Die Krise der NaO liege ihrer Meinung nach nicht in den grundlegenden Differenzen, wo sich die NaO eben für diese oder jene Richtung entscheiden muss, sondern in der „Dominanz“ der GAM und von REVOLUTION, in deren „Stil“.

Ginge es nur darum, wären die Probleme der NaO leicht zu lösen. In Wirklichkeit ist damit eine weitere, grundlegende Differenz verbunden, die wir nicht nur zu ISL/RSB, sondern auch zu den GenossInnen der ARAB und etlichen aus der ehemaligen SIB in der NaO haben. Es geht darum, worin eigentlich das Ziel des Prozesses besteht, was aus der NaO schließlich werden soll?

Ziel und grundlegende Fragen der Umgruppierung

Für uns war immer klar (und wir haben das immer klar formuliert): Die NaO ist ein Mittel zum Zweck beim Aufbau einer größeren revolutionären Organisation auf Basis eines revolutionären Programms.

Programm und Aktivität sind dabei für uns nicht entgegengesetzt, sondern ergänzen sich. Letztlich muss aber die NAO ihren Wert darin behaupten, ob sie eine richtige politische Orientierung liefern kann und mit dieser auch auf andere Milieus, Gruppen, Umgruppierungsprojekte einwirkt und so eine breitere Umgruppierung voranbringt.

Der rechte Flügel der NaO sieht das anders. Er hat sich vor kurzem als Strömung „NaO Wolken“ formiert, praktisch eine Anti-GAM/REVO-Fraktion.

Die politische Grundlage der „Wolken“ ist rein negativ. Bei allen Unterschieden wollen sie keine politisch ausgewiesene, genuin revolutionäre Organisation. Die meisten von ihnen wollen weniger „Aktivismus“, also eine weitere Reduktion des öffentlichen Profils der NaO. Und sie wollen gar keinen ernsthaften Versuch der Überwindung politischer Differenzen. Statt dessen beschwören sie den „politischen Kompromiss, die Suche nach Konsens“. Man müsse das „Gemeinsame“ vor das „Trennende“ stellen.

Diese Formeln erwiesen sich anhand jeder wichtigen aktuellen politischen Frage als leer, als vollkommen unzureichend. Jede politische Organisation braucht zu grundlegenden Fragen wie zu Kernfragen des Klassenkampfes eine einheitliche Position. Der Versuch, in einer tiefen Krisenperiode diese Fragen durch „Formelkompromisse“ oder durch die Beschränkung auf einige Aktionslosungen zu lösen, bedeutet unvermeidlich, dass eine solche Organisation den an sie objektiv gestellten Anforderungen nicht gerecht werden und auch keine revolutionäre, anti-kapitalistische Alternative zum Reformismus entwickeln kann.

Das verweist auf die Kerndifferenz mit den NaO Wolken. Sie wollen eine „plurale“, breite, antikapitalistische Organisation, die kein revolutionäres Programm hat und das auch gar nicht anstreben soll. Die politische Vereinheitlichung eines Umgruppierungsprozesses, dessen Bestandteile aus unterschiedlichen Traditionen und Strömungen kommen, halten sie für unmöglich. Programmatische Klarheit würde zur Verengung führen.

Das Gegenteil ist richtig. Der Verzicht auf politische Klärung führt inhaltlich unwillkürlich zur Anpassung an den Reformismus, allenfalls zu einer schwankenden zentristischen Politik, die im „extremsten“ Fall ultra-linke Abenteuer mit biederer Routine verbinden mag. Eine solche Ausrichtung würde unwillkürlich zum Scheitern der NaO führen und den Bruch mit der im Manifest der NaO enthaltenen Idee bedeuten, eine revolutionäre Organisation auf Basis eines gemeinsamen Aktionsprogramms zu schaffen.

Dieser Weg mag, ja wird über eine ganze Reihe von Vermittlungsschritten führen – sein Ziel erreichen kann er nur, wenn er aktive politische Außenorientierung mit programmatischer Klärung verbindet.




Die Ukraine und RIOs Unverständnis revolutionärer Politik

Franz Ickstatt, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Nicht dass alle schriftlichen Ergüsse linker Gruppierungen über die Lage in der Ukraine von hoher Bedeutung wären. Die große Schande des Großteils der deutschen, ja der weltweiten Linken bleibt die faktische politische Unterordnung unter den westlichen Imperialismus, vorzugsweise ihren „eigenen“. Ergänzt wird dies durch die neutralistische Position eines weiteren großen Teils der Linken, dessen Passivität letztlich auch den Imperialisten dient.

Zu solchen Neutralisten gehört zum Beispiel die MLPD, die u.a. den „Abzug aller fremden Panzer“ fordert, was nur als Entwaffnung des legitimen Widerstandes im Osten gegen den Krieg der Kiewer Regierung interpretiert werden kann. Auch sonst verweigert die MLPD die Solidarität mit der Bewegung in der Ostukraine, ruft aber zu Solidarität mit „den Linken“ in der Ukraine auf. Konkret meint sie damit die KSDR, ein Mitglied ihrer internationalen Strömung ICOR. Unter AktivistInnen aus dem Land ist diese Gruppe allerdings völlig unbekannt, dem Rest der Welt sowieso. Sie führt ein politisches Leben nur auf den Seiten der MLPD und des ICOR. Es gibt von dieser Gruppe keinerlei Veröffentlichungen, lediglich ein einziges Interview in der Roten Fahne. Die Solidarität der MLPD beläuft sich in der Praxis darauf, ihr eigenes potemkinsches Dörfchen in der Ukraine zu basteln.

Which side are you on?

Würde die MLPD in der Praxis auf der richtigen Seite stehen – wie es die DKP tut, trotz falscher Begründung (1) – könnte dies zumindest in Deutschland zu einer erheblich besseren Mobilisierung gegen die Politik des deutschen Imperialismus beitragen. So bleibt der Hauptfeind im eigenen Land von der MLPD in dieser Frage unbehelligt.

Gleiches gilt auch für RIO. Diese Gruppe könnte zwar zahlenmäßig deutlich weniger zu einer Mobilisierung beitragen als die MLPD, aber sie hat zum Thema mehr – wenn auch mehr in sich Widersprüchliches – verfasst. Im Aufruf der internationalen Strömung der MLPD, der ICOR, wird der Konflikt in der Ukraine als „Stellvertreterkrieg“ bezeichnet, werden die gegenläufigen Interessen der russischen und westlichen Imperialisten benannt und wird dann zur Ostukraine selbst nur gesagt: „Wenn auch die NATO der Hauptaggressor ist, heißt das nicht, dass sich revolutionäre Organisationen auf die Seite des russischen Imperialismus stellen oder die Gebiete Donezk und Lugansk als ‚befreite Gebiete‘ ansehen können. Es ist sehr auffällig, wie nicht nur Kiew, sondern auch Putin mit Faschisten zusammenarbeitet.“ (2) Dürftiger geht’s wohl nicht mehr.

Anders RIO. Im Gegensatz zu ihrer internationalen Strömung „Trotzkistische Fraktion“, die auf ihrer Web-Seite zuletzt im September 2014 eine Stellungnahme veröffentlichte (3), präsentierte RIO in ihrem Blatt „Klasse gegen Klasse“ Nr. 9 nicht nur eine Analyse der Lage in der Ukraine (Stand September 2014) (4), sondern auch eine Auseinandersetzung mit anderen Linken unter dem Titel „Debatte: Muss man das „kleinere Übel“ unterstützen?“ (5). Dem ging ein erster Artikel im August 2014 voraus (6). Jetzt folgte eine Polemik „Verwirrung und Verzweiflung“ (7), der sich auch mit Positionen anderer linker Gruppen, vor allem aber unserer Stellungnahme sowie der von Borotba befasst.

Aber auch schon in „Debatte: Muss man das „kleinere Übel“ unterstützen?“ ging das Feuer in diese Richtung. Gehen wir über die völlig frei erfundene Behauptung des Autoren Wladek Flakin hinweg, dass die kritisierten Organisationen – seien es diejenigen, die die Maidan-Bewegung, oder jene, die die Bewegung im Osten unterstützen – dies mit der Begründung des „kleineren Übels“ täten. Das tun sie definitiv nicht. Stellen wir der unzureichende Kritik an den Maidan-Unterstützern wohlwollend die Bewertung „stets bemüht“ aus und widmen uns dann dem Teil, der sich mit den von ihm so bezeichneten „AntifaschistInnen“ auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung ist mehr als doppelt so lang wie die andere mit den Maidan-„DemokratInnen“ und offensichtlich der Hauptzweck des Artikels.

Während hier komplett das (ex-)stalinistische/reformistische Lager, z.B. die DKP, unerwähnt und somit unkritisiert bleibt, schreibt Flakin einiges über Borotba, die er einmal als „stalinistisch“ bezeichnet und dann der Vertretung „nationalistischer Positionen“ beschuldigt. Belegen kann er weder das eine noch das andere. Dann folgt eine Auseinandersetzung mit der Jalta-Konferenz, die Anfang Juli 2014 auf der Krim stattgefunden hat. Sie wurde organisiert von einem gewissen Anpilogow, der als russischer Nationalist bezeichnet wird. Er soll dann auch einen Monat später eine Konferenz mit verschiedenen Nationalisten und gar Faschisten aus Europa organisiert haben. Damit habe er „Linke und Rechtsextreme für die gleiche Front mobilisiert“.

Unserem Genossen Brenner, der an der Konferenz in Jalta teilgenommen hatte, wird dabei „eine defensive Verteidigung seiner Position“ und der „Zusammenarbeit mit rechtsextremen ‚AntifaschistInnen’“ nachgesagt. In der Fußnote distanziert sich Flakin zwar von der „sozialimperialistischen AWL“, die diese „Fakten zusammengetragen habe“, aber sie seien „schwer zu widerlegen“. Das ist dann der Fall, wenn man politische Analyse durch eine linke Version der Klatschspalten der Regenbogenpresse ersetzt: Wer hat mit wem getanzt, getrunken oder gar geknutscht?

Revolutionäre MarxistInnen unterscheiden sich aber von OpportunistInnen aller Art auch und vor allem in ihrer Methode.

Wer mit wem oder wer für was?

Unserem Genossen eine „Zusammenarbeit mit Rechtsextremen“ zu unterstellen, ist eine schlichte Lüge der AWL (Alliance for Workers‘ Liberty; britische rechtszentristische Organisation). Der Besuch einer Konferenz ist noch lange keine Zusammenarbeit, schon gar nicht, wenn diese nicht mal anwesend sind. Auch wenn Anpilogow selbst ein Rechtsextremer wäre, wäre er einer der sehr seltenen Rechtsextremen, die für Linke Konferenzen organisieren. Hinzu kommt, dass Anpilogow zwar bei der Konferenz anwesend war, die maßgebliche Person bei der Organisierung jedoch Boris Kagarlitzki war, ein international bekannter russischer Linker.

Aber mal unterstellt, es wäre bekannt gewesen, dass Anpilogow nach der Konferenz der Linken eine ebensolche der Rechten organisieren würde, dann stellt sich die Frage doch so: „Dürfen Linke auf Konferenzen gehen, die von dubiosen, möglicherweise nationalistischen Personen oder Organisationen organisiert werden?“

In der gleichen Ausgabe ihrer Zeitung berichten andere GenossInnen von RIO von ihrem Besuch auf der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di organisierten Konferenz „Erneuerung durch Streik“ in Hannover und erklären, dass dies „eine gute Gelegenheit zur Vernetzung“ gewesen sei, „die es sonst selten gibt“ (8). Unabhängig von und im Widerspruch zu ihrem schönen Namen organisiert diese Stiftung aber auch Veranstaltungen mit übelsten Zionisten und anderen Nationalisten und Rassisten sowie UnterstützerInnen des deutschen und US-Imperialismus, was RIO vermutlich genauso sieht wie wir.

Die Frage, ob eine Teilnahme an einer Konferenz sinnvoll und legitim ist, beantwortet hier RIO aber offensichtlich ganz anders. Die Tatsache, dass einer der Hauptredner in Hannover das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban war, der als Mitglied der Linken die entsprechende Rhetorik beherrscht, der in der Praxis aber die ganze rechte korporatistische Standort-Deutschland-Politik dieser Gewerkschaft einschließlich der Unterstützung für den Angriff auf das Streikrecht durch die Bundesregierung mitträgt, ist den RIO-GenossInnen keine Erwähnung wert – was schade ist – und kein Grund für sie, nicht nach Hannover zu gehen -was korrekt ist.

Zu Recht kritisiert RIO übrigens, dass in Hannover die Verabschiedung einer Resolution zur Flüchtlingsfrage verhindert worden ist. Es gab nur eine zur Verteidigung des Streikrechts. Auf der Jalta-Konferenz, der bis dahin einzigen „Gelegenheit zur Vernetzung“ der Linken, die die Bewegung im Osten unterstützen, gab es anders als in Hannover eine gemeinsame Schlusserklärung. Diese würden wir als Mischung von reformistischen und linkspopulistischen Ideen charakterisieren. Mit anderen Worten, diese Erklärung und damit die Konferenz hat mit den Positionen der Rechtsextremen, die sich ein paar Wochen später in Jalta versammelten, politisch aber auch gar nichts gemeinsam! Und das ist auch noch für jedeN überprüfbar – im Unterschied zu Konferenzen, die ohne Erklärung zu Ende gehen. Zweitens gibt eine Erklärung immer die Möglichkeit, inhaltliche Kritik zu üben und Gegenvorschläge zu formulieren – auch für Flakin oder die AWL. Es ist aber bemerkenswert, dass alle Kritiker der Konferenz von Jalta mit keinem Wort auf deren Hinhalt eingehen – obwohl der Text seit langem in verschiedenen Sprachen, darunter auch in deutscher Übersetzung vorliegt (9).

In den Texten wird einfach politische Analyse und Kritik durch Kolportage ersetzt, um so davon abzulenken, dass RIO die Verteidigung des Donbas gegen die Angriffe der ukranischen Armee und faschistischer Milizen neuerdings rundweg ablehnt. Diese Vermutung bestätigt sich mit dem Artikel, den Alexej Geworkian im Mai 2015 für RIO verfasste (10) und der sich erneut vor allem auf unsere Position sowie auf BOROTBA konzentriert. Wir werden zeigen, dass die Methoden RIOs weiterhin zentristisch sind und ihre Politik ebenfalls. RIOs Abkehr von revolutionärer Methodik und Programmatik läuft aber letztlich auf die Unterstützung der westlichen Imperialisten hinaus.

RIOs Zentrismus: Linksradikale Worte – passive Praxis

Die grundlegenden Fehler von RIO in der Ukrainefrage haben wir bereits in Auseinandersetzung mit ihrem Artikel vom August 2014 ausführlich analysiert.

„Waren die beiden Seiten zuerst noch ‚qualitativ‘ ungleich, sind wenige Zeilen später ‚beide Seiten gleichermaßen reaktionär.‘

Um die Verwirrung perfekt zu machen, heißt es gegen Ende des Artikels: ‚Vor dem Hintergrund der notwendigen Verteidigung gegen militärische Angriffe muss ein sozialistisches Programm entwickelt werden.‘  Das heißt aber für jeden klar denkenden Menschen nichts anderes, als dass sich die Arbeiterklasse auf einer Seite im Konflikt positionieren soll/muss – ansonsten ist ja die Verteidigung einer Seite gegen Angriffe vollkommen sinnfrei.

Die ganze Verwirrung kommt daher, dass RIO die Bewegung im Osten einmal als reaktionär definiert, weil die Führung eine Volksfront ist. An anderer Stelle sieht sich die Gruppe aber wieder genötigt anzuerkennen, dass ein Teil der Bewegung im Osten und auch die ‚Volksrepubliken‘ qualitativ verschieden von der Kiewer Seite wären.

Das Problem ist an sich leicht zu lösen. Als RevolutionärInnen unterscheiden wir auch in Donezk und Lugansk zwischen der sozialen Basis, den Zielen und Potenzen einer Bewegung und einer reaktionären Führung. Trotz des reaktionären Charakters der Spitzen der ‚Volksrepubliken‘ müssen RevolutionärInnen diese gegen die Angriffe der Reaktion verteidigen. Wir bekämpfen diese Führungen dabei immer auch politisch und treten für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei ein – aber wir tun dies auf eine Art und Weise, die den Sieg gegen die Kiewer Reaktion herbeiführen soll. Und das heißt im Bürgerkrieg, um die Führung in der militärischen Verteidigung zu kämpfen.“ (11)

Die zentristische Methode führt RIO dabei zu folgenden Fehlern:

  • In der Analyse der Kräfte im Osten unterschätzt RIO völlig den Einfluss der ArbeiterInnenklasse und untersucht nicht das Verhältnis zwischen örtlichen Kräften und den Zielen Moskaus.
  • In der Frage, ob es sich in erster Linie um einen Bürgerkrieg oder um einen Krieg zwischen Russland und Moskau handelt, gibt es ständige Schwankungen; in der Tendenz neigt RIO aber zu letzterem.
  • Die mangelhafte Bestimmung der Bewegung der ArbeiterInnenklasse führt dazu, keine Taktiken für die Klasse vorzuschlagen, höchstens die radikal klingende, aber im Bürgerkrieg völlig untaugliche Forderung nach einem Generalstreik.
  • So endet RIO in Passivität und konzentriert ihre Angriffe auf die Kräfte, die politisch am effektivsten im Osten eingreifen bzw. diesen Kampf verteidigen, wie z.B. Borotba und die Liga für die Fünfte Internationale.

Wir werden diese Fehler im Einzelnen anhand der Aussagen RIOs analysieren und darstellen.

Der Unterschied zu RIO

Den Fehler, aus einer halb-richtigen Analyse die ganz falschen Schlüsse zu ziehen, setzte RIO in der Herbst-Nummer 2015 ihres Magazins fort. Die „Igitt, was für Leute!“-Geste, die aus Flakins Artikel strömt und der er entweder selbst unterliegt („schwer zu widerlegen“) oder mit der er hofft, andere in die Irre führen zu können, hat ihre Grundlage aber in einem Unverständnis revolutionärer Taktik, das neben RIO auch andere Zentristen teilen, ja es ist für sich genommen ebenfalls ein Kennzeichen dieses Schwankens zwischen Revolution und Reform.

RIO nimmt eine „neutrale“ Position im Ukraine-Konflikt ein und damit zugleich eine untätige. Sie erklärt den ArbeiterInnen, dass sie sich unabhängig organisieren müssten. Da sie dies aber – in den Augen RIOs – nicht tun, steht RIO weiterhin mit erhobenem Zeigefinger am Rande des Geschehens, zu dem sie selbst sagen: „Der BürgerInnenkrieg in der Ukraine ruft die größten geopolitischen Spannungen seit dem Ende des kalten Krieges hervor.“

Wir dagegen suchen nach den Punkten, wo die ArbeiterInnenklasse tätig wird. Wir suchen die Klassenfronten. RIO versucht schon das wegzureden, indem sie uns unterstellt, wir würden das „kleinere Übel“ (Flakin) oder die „fortschrittliche Seite“ (Geworkian) suchen.

Damit soll offenkundig Suggestion an die Stelle einer konkreten Einschätzung der konkreten Situation treten. Eine Niederlage des Widerstandes im Osten, der Volksrepubliken, würde trotz des reaktionären Charakters der Führungen einem Sieg des Regimes der Oligarchen gleichkommen. Er wäre ein entscheidender Schlag gegen die ArbeiterInnenklasse, gegen alle unterdrückten Schichten in der Ukraine. Wahrscheinlich würde er mit einer Pogromstimmung gegen die „Separatistenkämp-ferInnen“ einhergehen wie auch gegen die Kommunistische Partie und linke Organisationen wie Borotba. Die faschistischen und nationalistischen Bataillone, große Teile der Nationalgarde, ja auch der Armee würden sich von brutalen Massakern kaum abhalten lassen.

All das stellt eine besonders brutale und abscheuliche Form der Festigung der Klassenherrschaft der ukrainischen Bourgeoisie, der Festigung ihrer Kontrolle über das Land dar – eine für große Teile des Proletariats im unmittelbaren Sinn vernichtende Niederlage. Ein solcher Sieg würde selbstverständlich auch die Eigentumsfrage usw. im Donbass „lösen“. Für revolutionäre KommunistInnen ist daher ihre Pflicht, den Klassencharakter des Konflikts und der beteiligten Kräfte, nicht nur die Ideologien von Parteien zu untersuchen. Daraus ergibt sich, welchen Platz die ArbeiterInnenklasse in einem Konflikt einnehmen muss. Gibt es eine „fortschrittliche Seite“ in einem Bürgerkrieg, so ist es die Pflicht des Proletariats, diese trotz all ihrer Schwächen gegen die Reaktion zu unterstützen.

RIO ersetzt diese Aufgabe durch die für sich genommen immer richtige Wahrheit, dass sich die Klasse „unabhängig“ organisieren müsse. Diese Erkenntnis verkommt jedoch zur reinen Abstraktion, wenn sie nicht mit der realen Auseinandersetzung vermittelt wird, wenn hinter allgemeinen Formeln geleugnet wird, dass der Widerstand im Osten einen fortschrittlichen Charakter hat. Es bedeutet nichts anderes, als das Proletariat in Stich zu lassen.

Die Klassenfronten in der Ukraine sind die Klassenfronten in Europa

RIO hält umso hartnäckiger an ihrer falschen Einschätzung fest, je klarer die Klassenfronten im Donbass werden. Dass diese offener zu Tage treten, ist allerdings nicht den passiven Ultimaten von RIO zu verdanken.

  • Mit Bombardierung der Zechen im Osten wurde die Masse der Bergleute erst in den Streik getrieben und dann an die Front. Sie bilden die Hauptstütze der „Roten Kosaken“. Das war nicht immer so. Vor dem Bürgerkrieg war der Vorsitzende ihrer Gewerkschaft, der Unabhängigen Gewerkschaft NPGU, für Julia Timoschenkos Vaterlandspartei im Parlament. In Donezk selbst hatte sich die Gewerkschaft gespalten, die Mehrheit wird schon länger von Michail Krylenko vertreten. Unbestreitbar hat hier auch eine Radikalisierung nach links stattgefunden.
  • Ein zweiter Konfliktpunkt ist die Frage der Fabriken und Minen, die von der Kiewer Regierung oder den Oligarchen aufgegeben oder bombardiert wurden. Die Janukowytsch-Leute, russische Nationalisten und Putin-Agenten wollen sie unter die Kontrolle russischer Oligarchen bringen. Die ArbeiterInnen haben offensichtlich andere Absichten. Sogar die „Unabhängige Bewegung Noworossija“, eine kleinbürgerlich-populistische Vereinigung, drückt dies in ihrer programmatischen Erklärung aus: „Großes Eigentum, industrielles und finanzielles Vermögen sollen dem Staat gehören. Der Nationalrat setzt sich zusammen aus Delegierten aus Räten von nationalen und Arbeitskollektiven und soll die höchste gesetzgebende Körperschaft von Noworossija werden.“ Ein offensichtliches Zugeständnis an die Arbeiterklasse.
  • Drittens geht es um die Verteilung der Hilfsgüter: Bestimmt die Administration aus prorussischen Janukowytsch-Leuten oder bestimmen die kämpfenden Einheiten? Diese stellen oft die progressiveren Elemente. Einige treten für Komitees der Bevölkerung ein. Ende des Jahres 2014 gab es zunehmend Konflikte um diese Frage. Etliche Kommandeure der „Roten Kosaken“ griffen das Staatsoberhaupt der „Volksrepublik Lugansk“, Plotnitzki, an, weil er zu wenig für die Bevölkerung täte und Material für sich abzweige. Dieser seinerseits beschuldigte Alexander Bednow, den populären Verteidiger der Stadt in den Augustkämpfen, der Unterschlagung und der Folter von ZivilistInnen. Dies geschah, nachdem Bednow unter nicht geklärten Umständen mit einigen seiner Leute durch eine (vermutlich russische) Spezialeinheit liquidiert worden war.
  • Viertens traten diese Konflikte auch bei den Wahlen im November zutage, bei denen in Donezk die KP an der Kandidatur gehindert wurde, ebenso wie Bednow in der Volksrepublik Lugansk. Genauso stellt die Gefangennahme von 4 Mitgliedern von BOROTBA Ende 2014 einen Beweis für die sich vertiefenden Konflikte im Osten dar. Die Freilassung nach zwei Wochen beweist aber auch das Gewicht der linken Kräfte.
  • Fünftens ist auch der Aufbau von explizit linken Kampfverbänden einerseits etwas, was keine Entsprechung in den Kiewer Truppen findet und andererseits ein Beweis, dass sich die linken Kräfte verstärken konnten. Herausragendes Beispiel ist die „Gespenster“-Brigade des legendären Kommandanten Alexander Mosgowoj. Innerhalb der Brigade gibt es ein Kommunistisches Bataillon, ein sehr internationalistisches Bataillon, in dem KommunistInnen aus vielen Ländern unter roten Fahnen kämpfen. Er organisierte auch eine politische Abteilung zur Schulung der Kämpferinnen und zur Produktion von linker Propaganda. Er warb SozialistInnen und KommunistInnen für diese Posten an.

RIO braucht im Ukraine-Konflikt keine Taktik, weil sie diese durch Allgemein-plätze ersetzt und die reale Bewegung ignoriert.

Einheitsfronttaktik im Bürgerkrieg ist zwar etwas anderes als Einheitsfronttaktik in Gewerkschaften. In jenen sind unsere Gegner/potentiellen Verbündeten meist ReformistInnen, die sich immerhin auf ArbeiterInnenbewegung und Streik beziehen, wie z.B. die Linkspartei-Mitglieder auf der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Bürgerkrieg hat man es dagegen oft auch mit nationalen und nationalistischen Positionen und Konflikten zu tun, wie generell der Bürgerkrieg „verworrener“ ist, weil er eine höhere Form des Klassenkampfes darstellt als der gewerkschaftliche Kampf. Im Bürgerkrieg werden alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung gesetzt, alles wird umgeworfen im Kampf um die politische Macht.

Die grundlegende Herangehensweise ist jedoch auch von zwei zentralen Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Sowohl in gewerkschaftlichen wie politischen Klassenkämpfen sind RevolutionärInnen gezwungen, zeitweilige Bündnisse mit nicht-revolutionären Kräften einzugehen. Die Basis dafür besteht in der Verfolgung gleicher Ziele gegen einen gemeinsamen Gegner. Zugleich müssen solche Bündnisse immer mit der strikten Unabhängigkeit der revolutionären Organisation verbunden sein, also ihrem Recht/ihrer Möglichkeit, jederzeit auch Kritik am „Partner“ zu üben. Zweifellos werden daher in vielen Fällen (ob nun in gewerkschaftlichen Kämpfen wie auch im Bürgerkrieg) Einheitsfronten nicht zustande kommen trotz der Anwendung der Taktik der Einheitsfront, also der Forderung an andere, trotz fundamentaler politischer Differenzen den Kampf gemeinsam zu führen.

Die Ablehnung der Einheitsfront oder ihr Nicht-Zustandekommen ändert dabei nichts daran, dass ein fortschrittlicher Kampf weiter unterstützt werden muss.

Hinzu kommt, dass in Bürgerkriegen – und nicht nur dort – soziale Fragen oft die Form von demokratischen oder nationalen Konflikten annehmen. Soziale Forderungen verbergen sich hinter nationalen oder demokratischen Forderungen. Das entspringt aus der einfachen Tatsache, dass die Bourgeoisie zum Zwecke der Ausbeutung von Klassen, die viel zahlreicher an Menschen sind als die ihre, diese auch unterdrücken muss. Gegen diese Unterdrückung begehren dann die in ihren demokratischen und nationalen Rechten Unterdrückten auf. Der soziale Konflikt, die Ausbeutung, erscheint untergeordnet. Die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen – auch wenn die Klassenkämpfe die Form von Kriegen und Bürgerkriegen annehmen. Trotzki präzisierte diese Aussage des Kommunistischen Manifestes noch: „Der Sektierer ignoriert einfach, dass der nationale Kampf, als eine der verworrensten und unübersichtlichsten, aber zugleich äußerst wichtigen Formen des Klassenkampfes, nicht durch bloßen Verweis auf die künftige Weltrevolution entschieden werden kann.“ (12) Als ob er RIOs Erklärungen zur Ukraine gelesen hätte!

Es ist also vollkommen sektiererisch, wenn man in einem Bürgerkrieg nicht Partei ergreift, obwohl man erkennt, dass die eine Seite einen berechtigten Kampf führt – nur weil die Klassenfrage noch nicht offen zu Tage liegt. Es ist zentrale Aufgabe jeder ArbeiterInnenorganisation, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, den Klasseninhalt durch ihren eigenen Kampf sichtbar zu machen!

Welche Taktiken dann für revolutionäre Organisationen in Bürgerkriegen zulässig sind, werden wir weiter unten erläutern. Wir müssen uns noch damit befassen, dass RIO den Bürgerkrieg in der Ukraine zu einem Krieg umdeutet.

Imperialistischer Krieg und/oder Bürgerkrieg

RIO weicht einer wirklichen Analyse der kämpfenden Kräfte in der Ost-Ukraine auch dadurch aus, dass kurzerhand alles in den Volksrepubliken als von Russland gelenkt und kontrolliert dargestellt wird.

Dann erklärt Geworkian, dass RevolutionärInnen in einem Konflikt zwischen Imperialisten keine Partei ergreifen dürfen. Zugleich charakterisiert RIO aber die Russische Föderation als entwickelten Kapitalismus, lehnt es aber ab, dabei von einer imperialistischen Macht zu sprechen. Würde Geworkian seine eigenen Gedanken ernst nehmen, so müsste er sich die Frage stellen, wer hier eigentlich stellvertretend für wen agiert? Um einen imperialistischen Stellvertreterkrieg kann es sich ja schlecht handeln, wenn eine Seite gar keine imperialistische Macht darstellt.

Mit seinen „allgemeinen“ Erwägungen erspart sich Geworkian aber vor allem eine konkrete Analyse. Er unterstellt, dass der Krieg ein „imperialistischer auf beiden Seiten“ wäre, ohne das überhaupt zu untersuchen. Dabei ist genau das die Frage.

Der vorherrschende Charakter dieses Konflikts ist welcher? Handelt Kiew mit seiner Armee einschließlich der faschistischen und nationalistischen Paramilitärs als reine Schachfigur der USA und der EU oder verfolgt es eigene Interessen? Das eine muss das andere nicht ausschließen und sicher hatte der Maidan das Überlaufen der Mehrheit der ukrainischen Bourgeoisie ins westliche Lager zum Ergebnis. Der Hauptaspekt des Krieges ist aber ein sozialer und interner Konflikt: die ukrainische Regierung und ihre Hilfstruppen kämpfen mit der Waffe in der Hand für ein brutales Sparprogramm, für die Abwälzung der exorbitanten Krisenlasten auf die Massen, was natürlich auch im Interesse der EU, der USA und des IWF geschieht. Die arbeitenden Massen im Ostteil des Landes bekämpfen das, teilweise unter Waffen stehend. Es handelt sich also von beiden Seiten vorwiegend um einen Bürgerkrieg: zum einen, weil Russland nicht Kriegspartei ist, zum anderen, weil die Kiewer Regierung nicht überwiegend als Stellvertreterin des Westens agiert.

Wenn Kiew lediglich eine westliche Marionette wäre und Moskau die Volksrepubliken wirklich kontrollieren würde, dann hätte der Krieg einen anderen Charakter und ein anderes Ziel – die Schwächung Russlands bzw. deren Verhinderung – und nähme einen anderen Verlauf, wenn die westlichen Imperialisten ihre Kiewer Marionetten militärisch lenken würden.

Es handelt sich aber auch nicht in erster Linie um einen militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Das ukrainische Bürgertum führt vielmehr einen Bürgerkrieg gegen seine ArbeiterInnenklasse. Im Falle einer Invasion Russlands müsste die ukrainische ArbeiterInnenklasse einen Zweifrontenkrieg gegen zwei gleich große Übel führen, sofern der Charakter des Konflikts sich nicht z.B. in einen gegen nationale Unterdrückung durch Russland änderte und die ukrainische Bourgeoisie den sozialen Bürgerkrieg zurückstellen müsste. Diese Situation könnte z.B. im Vorfeld einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Russland und der EU sowie deren Verbündeten eintreten, wenn Russland die gesamte Ukraine annektierte, die damit das Schicksal z.B. Tschetscheniens teilen müsste. Eine Invasion der Ostukraine durch Russland könnte hingegen von der Mehrheit der dortigen Bevölkerung durchaus nicht als nationale Unterdrückung empfunden werden, wie das Beispiel der Krim zeigt, sondern sogar als „Befreiung“ aufgefasst werden (Noworossija). Nichtsdestotrotz müsste dann die ostukrainische ArbeiterInnenschaft sowohl Kiews wie Moskaus Truppen bekämpfen, denn beide Seiten würden mit den dort, in den Volksrepubliken, erkämpften proletarischen Errungenschaften, Milizen, Betriebsbesetzungen und -übernahmen wie Räteansätzen, gründlich aufräumen, die ohne Wenn und Aber als Faustpfande einer kommenden ArbeiterInnenrevolution verteidigt werden müssen, auch wenn in diesem Kriegsszenario der Bürgerkrieg einen untergeordneten Charakter angenommen hätte und der Krieg Russlands gegen die Ukraine in den Vordergrund gerückt wäre. Vor allem: wenn es sich aber nach wie vor um einen Bürgerkrieg handelt, kommen „RevolutionärInnen“ doch in arge Not, ihre Passivität zu rechtfertigen.

Auch wenn der Bürgerkrieg das dominierende Element in einem Konflikt ist, mischen sich die Imperialisten natürlich ein. Vielen Linken reicht der Hinweis auf imperialistische Einmischung, um Bürgerkriegsfronten zu entscheiden, wenn auch meistens falsch. So wurden von vielen Linken die Revolutionen und Bürgerkriege in Libyen und Syrien kurzerhand zu Projekten des US-Imperialismus erklärt und die Rebellen und revolutionären Kräfte zu seinen Marionetten. Aber im Zeitalter des Imperialismus gibt es keinen und kann es auch keinen Bürgerkrieg geben, den Imperialisten nicht für ihre Konkurrenz-Konflikte nutzen. Ein Bürgerkrieg hört aber weder im Nahen Osten noch in der Ukraine auf, ein Bürgerkrieg zu sein, nur weil sich Imperialisten einmischen. Der spanische Bürgerkrieg blieb eben von Anfang bis Ende ein solcher, obwohl sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien „einmischten“ – wie auch der degenerierte Arbeiterstaat UdSSR. Beide Lager – auch das Francos – agierten deshalb aber nicht schon überwiegend als verlängerter militärischer Arm ihrer imperialistischen Unterstützer.

Nebelkerzen

Noch ist also das dominierende Element der Bürgerkrieg. Wer kämpft denn da auf der Seite des Ostens? Geworkian unterstellt uns: „Die GAM scheint Borotbas Analyse geteilt zu haben, dass in der Ostukraine so etwas wie eine anfängliche soziale Revolution vonstattenging, die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zielte. Hierzu ließ sie sich von der sowjetischen Nostalgie der russischen NationalistInnen mitreißen, die ihre Scheinparlamente gern ‚Sowjets‘ nennen. Doch diese Volksrepubliken entstanden und entwickelten sich unter direkter Führung des kapitalistischen russischen Staates. Auch ein Programm von ‚Verstaatlichung‘ beschränkt sich auf die Notwendigkeiten der Kriegsführung und des Aufbaus einer pro-russischen Enklave wie Transnistrien/ Pridnestrowien – wo Verstaatlichungen die angeschlagene kapitalistische Marktwirtschaft am Laufen halten.“ (13)

Wenn es eine „direkte Führung“ der „Volksrepubliken“ durch den russischen Staat gegeben hätte, wären sie eben keine „Volksrepubliken“ geworden. Transnistrien oder Nord-Ossetien nennen sich nicht Volksrepubliken, gerade weil der direkte russische Einfluss dort so etwas nicht will. Im Unterschied zur Krim – und auch die wurde nicht einfach annektiert – sind Lugansk und Donezk auch kein Bestandteil Russlands geworden. Ein Neu-Russland als Teil der Russischen Föderation ist eher ein Albtraum für Putin und ausgesprochen nicht seine Absicht.

Das, was uns Geworkian unterstellt, war nie unsere Analyse und Geworkian weiß das. Acht von dreizehn Verweisen in seinem Artikel beziehen sich auf GAM bzw. NAO. Er kennt also unsere Artikel. Der Maidan und die Übergriffe der neuen Regierung provozierten einen „Anti-Maidan“ im Osten, eine Massenbewegung, die Zehntausende auf die Straße brachte. Wir sind hingefahren und haben uns das angeschaut. Wir wollten wissen, wie die soziale Zusammensetzung ist, welche Parteien politisch dominieren, wofür die Bewegung kämpft, haben also dieselben Kriterien als Maßstab angelegt, mit denen wir den Maidan be- und verurteilt haben. Schon damals war klar, dass russisch-nationalistische Kräfte dort Einfluss suchen, dass es sich aber um eine Massenbewegung handelt, die vor allem aus der Arbeiterklasse besteht.

Wir haben diese Bewegung weiterverfolgt und untersucht. So haben sich z.B. größere Teile der Bergarbeiter erst später angeschlossen. Wir haben untersucht, ob und wie sich Forderungen der Klasse in diesem Bürgerkrieg ausdrücken.

Anders RIO heute. Während Baran Serhad im August 2014 noch eine differenziertere, wenn auch in sich widersprüchliche Analyse versuchte (14), ist für Geworkian nur noch ein „BürgerInnenkrieg zwischen reaktionären Banden“ zu sehen.

Wo ist denn eigentlich die Arbeiterklasse im Donbass geblieben? Während Serhad noch feststellte, dass es Demonstrationen dieser gegen die „Antiterror-Operation“ gegeben habe, tauchen ArbeiterInnen bei Geworkian real nicht mehr auf. Sind die alle geflohen? Sitzen die zu Hause rum wie RIO und kritisieren diejenigen, die kämpfen?

Bemerkenswert ist, dass Serhad noch analysierte: „Diese sogenannten Milizen stützen sich auf Arbeitslose, bankrottes Kleinbürgertum, NationalistInnen aus Russland, Armeekräfte und SondereinsatzpolizistInnen der alten Regierung. Doch von einem konkreten russischen militärischen Einsatz wie auf der Krim kann in der Ostukraine nicht die Rede sein.“ (15) Während Geworkian schreibt: „ … der ‚antifaschistische Widerstand‘ in der Ostukraine, der russische Militärs, GeheimdienstlerInnen, BürokratInnen und SöldnerInnen sowie einheimische KapitalistInnen umfasst,…“. (16) Die Arbeitslosen, also immerhin ein Teil der Arbeiterklasse, sind plötzlich verschwunden, dafür kämpfen die einheimischen KapitalistInnen. Und der „konkrete russische Einsatz“, den Serhad noch explizit ausschloss, ist bei Geworkian durch die „russischen Militärs“ dann gegeben.

Das wirkliche Problem, wie die ArbeiterInnenklasse, die im Süd-/Osten der Ukraine eben im Verbund mit anderen Kräften kämpft, sich in diesem Kampf als eigene Kraft formieren und ausdrücken kann, wird von RIO jetzt dadurch erledigt, dass sie einfach nicht mehr vorkommt.

Damit sich die ArbeiterInnenklasse aber unabhängig organisieren kann – was natürlich eine notwendige Voraussetzung für revolutionäres Handeln der Klasse ist – müssen RevolutionärInnen in die Kämpfe eingreifen, in denen die Klasse und vor allem ihre Avantgarde für ihre Interessen kämpfen, auch wenn sie dies nicht mit offenem Banner tun.

Serhad schlug vor einem Jahr noch vor: „Um die Unabhängigkeit von der Bourgeoisie zu schaffen, ist gerade in den Volksrepubliken die Bildung von ArbeiterInnenräten in Fabriken nötig, die sowohl die Funktion von Kampforganen haben als auch die Funktion der Verwaltung auf der lokalen und regionalen Ebene.“ (17) Für Geworkian haben aber Schritte, die in diese Richtung gehen, nichts mit der Klasse zu tun: „Auch ein Programm von ‚Verstaatlichung‘ beschränkt sich auf die Notwendigkeiten der Kriegsführung…“. (18)

Wir als GAM aber stellen klar, dass die Übernahme und Kontrolle von Betrieben durch ArbeiterInnen in der Ostukraine natürlich deren Willen und Kraft zeigt und dass hier eine revolutionäre Politik ansetzen kann und muss. Dass diese Entwicklung auch aus der Not des Krieges geboren wurde, sagt weniger über die Lage im Osten der Ukraine aus als über das Unverständnis von RIO für reale Klassenkämpfe. Historisch betrachtet wurden Maßnahmen wie Verstaatlichungen oft aus der Notwendigkeit anderer politischer Ziele geboren.

Diese Übernahmen von Fabriken und Kolchosen müssen ergänzt werden durch ein Programm zur Enteignung aller (auch der russischen) Oligarchen und der Errichtung von ArbeiterInnenkontrolle und Räten. Sie sind in der Tat ein hervorragender Beleg für die Notwendigkeit und die Durchführbarkeit eines solchen Programms – so wie die von der Trotzkistischen Fraktion unterstützte Besetzung und Weiterführung der Keramikfabrik Zanon in Neuquén ein Ansatz für ein entsprechendes Programm für Argentinien ist, obwohl sie selbst nur aus der ökonomischen Notwendigkeit der ArbeiterInnen geboren wurden, die in der Krise 2001 nicht arbeitslos werden wollten.

Aber selbst wenn die Verstaatlichung von Fabriken im Donbass aus dem Besitz von Oligarchen rein aus militärischer Logik durchgeführt würde, wie Geworkian behauptet: Seit wann lehnen wir eigentlich Verstaatlichungen ab, wenn sie vom ideellen Gesamtkapitalisten, dem bürgerlichen Staat, durchgeführt werden? Die Forderung aus dem Übergangsprogramm nach „Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle und entschädigungslose Enteignung der FabrikbesitzerInnen“ verlangt diese explizit dann, wenn der bürgerliche Staat noch existiert. Im ArbeiterInnenstaat wäre diese Forderung überflüssig. Trotzki kritisierte übrigens gerade das republikanische Spanien dafür, dass die Regierung nicht genügend Anstrengungen zum Aufbau einer eigenen Kriegsindustrie unternommen habe.

Wir wissen auch sehr gut, was Räte sind und fallen bestimmt nicht auf nostalgische Begriffsverwendung rein, wie Geworkian behauptet: „Hierzu ließ sie sich von der sowjetischen Nostalgie der russischen NationalistInnen mitreißen, die ihre Scheinparlamente gern ‚Sowjets‘ nennen.“ Im Unterschied zu RIO überlegen wir uns aber auch, warum russische NationalistInnen in Russland ihre Scheinparlamente nicht „Sowjets“ nennen, russische NationalistInnen – und eben auch andere politischen Kräfte – im Donbass aber von „Volksrepubliken“ und „Sowjets“ reden, überlegen, ob das was mit ArbeiterInnenklasse zu tun hat und wie diese ihren Klassenkampf aus seiner verdeckten Form befreien kann.

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur auf der Basis ihres Kampfes unabhängig organisieren. RIO lehnt es de facto ab, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, sich aus ihrer „Unterordnung unter bürgerliche“ Kräfte zu befreien, wenn sie den realen, fortschrittlichen Kampf der Klasse ignoriert bzw. desavouiert.

Taktiken im Bürgerkrieg

Mit solcher Vernebelung und Verdrehung glaubt RIO es sich auch weiterhin leisten zu können, die Taktiken zu verleumden, die der Klasse helfen, sich zu formieren. Die Verteidigung gegen das reaktionäre bürgerliche Regime ist aus demokratischen (Recht auf eigene Sprache und gegen nationale Unterdrückung) wie aus sozialen Gründen (gegen die Verelendungsprogramme des IWF und die Ausbeutung durch Oligarchen) völlig berechtigt. Natürlich ist auch der Widerstand gegen die Faschisten nicht nur berechtigt, sondern völlig notwendig, wenn die Arbeiterklasse eigene Organisationen aufbauen bzw. verteidigen will.

In diesem Kampf können Organisationen der ArbeiterInnenklasse – oder diejenigen, die solche aufbauen wollen – eine militärische Front mit anderen, auch mit bürgerlichen, Kräften bilden. Linke dürfen natürlich nicht sich dem bürgerlichen „Antifaschismus“ oder jeder anderen bürgerlichen Politik unterordnen. Es ist völlig klar, dass trotz dieser gemeinsamen militärischen Front es massive politische Konflikte gibt und geben muss, je stärker die Linke wird – wenn auch RIO diese im Donbass gerne ignoriert, um ihr Zerrbild aufrechtzuerhalten.

So schreibt Geworkian : „Gleichzeitig will sie (die GAM) mit SoldatInnen der russischen Armee in einer ‚militärischen Front‘ zusammenstehen, und zwar gegen den Faschismus. Für MarxistInnen ist es eine Frage grundlegender Prinzipien, konsequent gegen den Imperialismus zu kämpfen. Eine solche ‚Einheitsfront‘ (Volksfront) mit einer imperialistischen Macht kann nur Verrat an den Interessen der Unterdrückten bedeuten – auch und gerade im Namen der ‚Demokratie‘ oder des ‚Antifaschismus‘.“

Halten wir zunächst fest: es kämpft im Donbass nach wie vor nicht die russische Armee, was – wie oben gesagt – die Lage ändern würde. Von einer „Einheitsfront mit einer imperialistischen Macht“ kann also keine Rede sein (mal abgesehen davon, dass RIO und ihre Internationale ansonsten gern erklären, dass Russland keine imperialistische Macht wäre). Eine solche war z.B. Stalins Weltkriegspolitik oder der Burgfrieden der sozialdemokratischen Parteien mit „ihren“ Imperialismen.

Nicht jede Einheitsfront mit Bürgerlichen ist allerdings Klassenverrat und umgekehrt nicht jedes klassenverräterische Bündnis mit der Bourgeoisie eine Volksfront. Letztere ist eine Regierung aus opportunistischen ArbeiterInnenparteien und offen bürgerlichen Parteien, Einzelpersonen oder Institutionen (Militär) in einer (vor-)revolutionären Situation oder Periode. Eine Einheitsfront selbst mit dem Bürgertum (oder Teilen davon) kann wiederum völlig legitim sein (19). Wir würden unter 3 Bedingungen Einheitsfronten eingehen: gemeinsame Ziele; Aktions- und Bewegungsfreiheit, Freiheit von Kritik und Propaganda; keine Vermischung der Fahnen oder gemeinsame Aufrufe außer zum Zwecke unmittelbarer Mobilisierung. Wir würden aber immer für die Linie der ArbeiterInnenbeinheitsfront eintreten, also z.B. in einem Anti-Nazi-Bündnis, in dem auch die GRÜNEN und Kirchen sitzen, für physische Konfrontation und Selbstverteidigung der ArbeiterInnenorganisationen, was eine direkte Konfrontation mit den bürgerlichen Kräften in einem solchen Bündnis bedeuten würde.

Kommt keine Einheitsfront zustande, weil auch nur eines der o.a. 3 Kriterien nicht erfüllbar ist, können trotzdem zeitweilige Absprachen durchaus sinnvoll sein, um die Widersprüche im Lager des Feindes auszunutzen: z.B. mit der Résistance im besetzten Frankreich während des 2. Weltkriegs, obwohl TrotzkistInnen schon allein deren Ziel (Niederlage Deutschlands, Sieg Frankreichs)  nicht teilten, sondern im Konflikt Deutschland gegen Frankreich für revolutionären Defaitismus eintraten. Man merkt RIO deutlich an, dass ihr „Trotzkismus“ deutlich kindisch-sektiererische Züge annimmt, die Prinzipien aus einer Reihe auswendig gelernter Formeln bestehen. So läuft jede Tuchfühlung mit nichtproletarischen Kräften oder rückständigen ArbeiterInnenmassen Gefahr, als Verrat verteufelt zu werden.

Armer Trotzki

Geworkian versucht sogar Trotzki zu ent-trotzkisieren: „Wir bedauern, dass die GAM heute schlussfolgert, eine ‚Verteidigung der Volksfrontregierung gegen Franco‘ sei in Spanien notwendig gewesen. Damals haben die RevolutionärInnen in einer Front mit den SoldatInnen der Republik gegen die faschistischen Truppen gestanden – aber im Rahmen dessen dafür argumentiert, die bürgerliche Republik durch eine Räterepublik zu ersetzen. Als die ArbeiterInnen Barcelonas im Mai 1937 gegen diese repressive bürgerliche Regierung einen Aufstand begannen, standen die TrotzkistInnen mit ihnen auf den Barrikaden – eine „Verteidigung der Volksfront” war das sicher nicht, eben nur eine Verteidigung der Bastionen der ArbeiterInnen, um den Sturz der Volksfront zum frühstmöglichen Zeitpunkt vorzubereiten. Die wirkliche Lehre Trotzkis aus dem spanischen BürgerInnenkrieg ist also tatsächlich ‚1:1′ auf den ukrainischen zu übernehmen: Nur die politische Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse gegen jeden bürgerlichen Pseudo-Antifaschismus kann den Sieg gegen den Faschismus bringen.“ (20)

Interessant schon mal, dass es für RIO in Spanien möglich war, „in einer Front“ mit Kämpfern für eine bürgerliche Republik zu stehen und gleichzeitig für revolutionäre Ziele zu argumentieren – was sie für die Ukraine bestreiten.

Aber dann lügt sich Geworkian einiges in die Tasche: Die „RevolutionärInnen“ in Spanien waren nur zum Teil in eigenen Truppen aufgestellt (CNT/FAI, POUM). Der überwältigende Teil der klassenbewussten ArbeiterInnen einschließlich der Sozialdemokraten und Stalinisten kämpfte in den Truppen der Republik. Es ist aber schlechterdings unmöglich, mit den Truppen der Republik zu kämpfen, ohne diese zu verteidigen. Deshalb verbanden Trotzki und die RevolutionärInnen im Bürgerkrieg die Verteidigung der Republik mit dem Kampf für die Revolution. Was Trotzki bekämpfte, war die Unterordnung der revolutionären Ziele unter diese Republik und ihre Verteidigung, wie sie von Zentristen der POUM und den Stalinisten vertreten wurde. Das ist genau der Weg, wie RevolutionärInnen in einen Bürgerkrieg eingreifen, der auf beiden Seiten von bürgerlichen Kräften geführt wird, in dem die Arbeiterklasse aber auf der einen Seite kämpft.

Geworkian beschreibt die Taktik der Revolutionäre in Spanien wie folgt: „Sie haben zwar in der ersten Reihe gegen Francos Schergen gekämpft, behielten aber dabei ihre völlige politische Unabhängigkeit von der bürgerlichen Republik und bereiteten den Kampf für eine ArbeiterInnenregierung vor.“ (21) Die politische Unabhängigkeit behält man in einer gemeinsamen Front mit bürgerlichen Kräften, indem die revolutionären Ziele und Forderungen eben nicht untergeordnet oder zurückgestellt werden. So dass für alle nachvollziehbar ist, wenn die gemeinsame Front aufgelöst werden kann und muss, weil der Weg zur Revolution, zur ArbeiterInnenregierung beschritten werden kann bzw. die revolutionären Errungenschaften gegen die bürgerliche Regierung verteidigt werden müssen, die man zuvor noch gegen die Faschisten unterstützte.

Natürlich ist die Situation dann klarer, wenn sich die RevolutionärInnen und die Bürgerlichen gegenüberstehen. Klar, Genosse Geworkian, dass ihr „1937 mit den TrotzkistInnen gemeinsam auf den Barrikaden Barcelonas gestanden“ (22) hättet. Fein, und vorher? Erkläre uns doch, ob RevolutionärInnen in den Gegenden in der spanischen republikanischen Armee kämpften, wo eine Teilnahme an anarchistischen oder POUM-Milizen unmöglich war, weil es keine gab. „In der ersten Reihe gegen Francos Schergen“ schreibt Geworkian. Der „ersten Reihe“ von was?: der gemeinsamen Front zur Verteidigung der Republik natürlich! Da hilft alles RIO-Schamanentum nichts, weder die Geschichte noch diese grundlegende bolschewistische Taktik kann Geworkian wegzaubern. RIOs Methode zur Bewahrung ihrer unbefleckten Unabhängigkeit aber hätte auch in Spanien ein weitgehendes Raushalten aus dem Bürgerkrieg bedeutet!

Wir bedauern, dass RIO dies nicht mal verstehen will, wenn es Trotzki erklärt. Zum Glück stellen Kriege höchste Anforderungen an Programme, Strategien und Taktiken von Linken, so dass sich hier wie nirgendwo anders ihr wahrer Gehalt zeigt: der eines zusammenhängenden Systems von Handlungsanleitungen, die jederzeit auf der Höhe sich möglicherweise rasch verändernder Situationen stehen oder der einer nachgekauten dünnen Bettelsuppe leerer Phrasen und Beschwörungsformeln hinter der „trotzkistischen“ Fassade.

Die Unabhängigkeit der Klasse erkämpfen

Um der Klasse und den Linken zu helfen, die von RIO so beschworene „Unabhängigkeit“ zu erreichen, ist natürlich nötig, dass sich linke, ja revolutionäre Programmatik entwickelt und mit der Klasse bzw. ihrer Avantgarde verbindet. Neben der – sicher schwierigen – direkten Intervention in die Kämpfe sind dazu die Debatten mit den Kräften nötig, die das tun.

Dazu war die schon erwähnte Konferenz in Jalta die wichtigste Gelegenheit im letzten Jahr. Dieses Jahres gab es eine Konferenz zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus, die am 9./10. Mai 2015  in Lugansk und Altschewsk stattfand. Eingeladen hatte die KP von Lugansk (23), gekommen waren 177 Delegierte von 31  kommunistischen und sozialistischen Organisationen aus 17 Ländern. Wohl die bisher größte internationale linke Konferenz auf dem Boden der Ukraine. Nachdem die Regierung von Lugansk sie verbieten wollte, lud Mosgowoj die Konferenz nach Altschewsk ein. Ihre Beteiligung an der Demonstration und das Konzert von Banda Bassotti, einer antifaschistischen italienischen Band, wurden von der Bevölkerung gefeiert.

Geworkian gefällt sich darin, Mosgowoj mit dem Verweis auf seine Religiosität und seinen Sexismus zu erledigen. Wir kritisieren das eine wie das andere. Wir halten aber fest, dass er ein heftiger Kritiker der Regierungsorgane war, für einen ukraine-weiten Kampf gegen die Oligarchen aufrief und kommunistische Propaganda in seinem „Gespenster“-Bataillon nicht nur zuließ, sondern ausdrücklich förderte.

Klassenkämpfe und Bürgerkriege können sprunghafte Radikalisierungen nach links bewirken, was auch zu Widersprüchlichkeiten bei den KämpferInnen führen kann. Sie können auch zur politischen Degeneration nach rechts führen. Wie das Beispiel RIO zeigt, erzeugt aber auch dieser Prozess Widersprüchlichkeiten.

Geworkian ist nicht nur ignorant, sondern fälscht auch. Während sein Genosse Flakin noch feststellte, dass die Jalta-Konferenz von jemand organisiert wurde, der später auch mit Rechten zusammenarbeitete, erklärt jener: „Richard Brenner, führendes Mitglied der Liga für die Fünfte Internationale (L5I, internationale Strömung der GAM), ließ sich zuerst zur Teilnahme an einer von Rechtsextremen organisierten Konferenz und dort noch zur Unterstützung von ‚Neurussland‘ hinreißen, wie wir bereits kritisiert haben.“ Wir haben oben dazu genug geschrieben. Bemerkenswert ist hier nur, dass bei Flakin unser Genosse noch auf einer Konferenz von Linken war, jetzt wird der Eindruck erweckt, da seien Rechtsextreme gewesen.

Solidarität mit BOROTBA!

Die von RIO – wie von den meisten anderen Zentristen angefeindete und oftmals verleumdete – Organisation BOROTBA hat sicher politische Schwächen. So verteidigen, ja glorifizieren die BorotbistInnen ihre programmatische Schwäche, die sich im Fehlen von Analysen zeigt und darin, dass zum Beispiel den programmatischen Erklärungen der Jalta-Konferenz keine eigenen Losungen gegenübergestellt werden. Leninzitate auf Facebook können das nicht ersetzen. Historisch hat das natürlich seine Ursache in der Entstehungsweise von BOROTBA, der Sammlung von GenossInnen unterschiedlicher Überzeugungen auf aktivistischer Grundlage. Der Verzicht darauf, revolutionär-marxistische Programmatik zu entwickeln – was natürlich im Bürgerkrieg nicht die einfachste Aufgabe ist –  kann in der Zukunft noch zu größeren Schwankungen führen als bisher.

So hat BOROTBA die völlig richtige militärische Allianz mit verschiedenen nationalistischen Kräften im Donbass mit einem gewissen Verzicht auf politische Kritik verbunden. Sie haben also die gleiche falsche, zentristische Auffassung von Bündnispolitik wie RIO – nämlich dass ein militärisches Bündnis zugleich auch eine gewisse politische Partnerschaft beinhaltet -, aber sie ziehen den umgekehrten Schluss. Damit stehen sie zwar im Kampf auf der richtigen Seite und haben die Möglichkeit – anders als RIO – in den Klassenkampf einzugreifen. Sie tun das auch, wenn auch zu sehr mit dem Fokus auf Aktion, zu wenig auf politische Propaganda. Ohne diese wird aber das politische Bewusstsein der Klasse, das sich derzeit vor allem in vagem „Linkssein“, im Bezugnehmen auf die Sowjetunion und im antifaschistischen und anti-oligarchischen Kampf ausdrückt, sich nicht auf die Höhe der Aufgaben heben können.

Eine Sache ist es, im Bürgerkrieg verlassene Fabriken oder landwirtschaftliche Betriebe zu besetzen und unter eigener Kontrolle zu führen wie die Kolchose in Altschewsk, eine andere aber, diese dann auch politisch zu verteidigen. Das verlangt danach, den bürgerlichen Parlamenten und Verwaltungen, sei es im Donbass oder der ganzen Ukraine, Arbeiterräte und Milizen entgegenzusetzen, um die Macht der Oligarchen zu brechen und in Richtung Revolution zu marschieren.

Diese unzureichenden Angriffe auf die russischen Nationalisten berechtigen aber keineswegs dazu, BOROTBA selbst als nationalistisch zu bezeichnen, genauso wie die unzureichende Aufarbeitung des Stalinismus in der Organisation als Ganzes dazu berechtigt, BOROTBA als stalinistisch zu titulieren. Solche Logik – angewandt auf RIO, Flakin und Geworkian – würde diese als Agenten des US- oder EU-Imperialismus oder des Kiewer Regimes abqualifizieren. Dagegen würden wir sie genauso in Schutz nehmen.

Aber offensichtlich ist es das wichtigste Anliegen RIOs, jegliche Handlungsper-spektive und praktische Solidarität zu verbauen. Das gipfelt in ihren ständigen Angriffen auf und Verleumdungen gegen BOROTBA, die sich von denen ukrainischer Nationalisten wie der LINKEN OPPOSITION oder zu den Faschisten übergelaufenen Anarchisten inhaltlich nicht unterscheiden. Geworkian aber versucht dabei jetzt, uns zu instrumentalisieren:

„In diesem Zusammenhang kritisiert die GAM erstmalig auch Borotba, weil diese auf ‘eine ausreichende politische Kritik an [den NationalistInnen im Osten] verzichtet’. Ist Borotba erst Anfang dieses Jahres so geworden – oder warum bekam die Gruppe vorher die politische Unterstützung der GAM?“ (24)

Dazu stellen wir fest, dass wir weiter solidarisch mit BOROTBA zusammenarbeiten. Die Tatsache, dass wir ihre Kritik an den NationalistInnen – die selbst Geworkian nicht leugnet – für nicht ausreichend halten, steht dem überhaupt nicht entgegen. Wir, wie die GenossInnen von BOROTBA, betrachten das als eine solidarische Kritik.

Im Bürgerkrieg in der Ukraine sind Tausende gestorben, darunter etliche linke KämpferInnen. Andere sind im Exil oder im Gefängnis. Europa ist hart an die Grenze eines Krieges gerutscht. Das Mindeste, was Linke in Europa angesichts dieses Dramas tun können und müssen, ist, neben der Organisierung von Solidarität die aufgeworfenen Fragen zu klären. Einige Strömungen haben sich in der Ukraine-Frage völlig disqualifiziert und desavouiert.

So der überwiegende Rest der ukrainischen Linken, vor allem die „Linke Opposition“, die in sich nicht weniger uneinheitlich ist als BOROTBA. Alle diese Figuren haben ihre Anpassung an die verschiedenen bürgerlichen Kräfte, die den Maidan dominierten, danach konsequent fortgesetzt bis dahin, die Angriffe der Armee auf den Osten und die Aktionen der Faschisten in Odessa zu rechtfertigen.

In allen Ländern gibt es Linke, die solches Anschmieren an Reaktion und Konterrevolution gutheißen und selbst praktizieren. Mit diesen Kräften werden die deutschen wie alle anderen Imperialisten nicht zu bekämpfen sein. Sie stehen auf deren Seite.

Die Neutralisten, die Schwankenden, die Verwirrten – vor allem auch RIO – sollten sich den Problemen ernsthaft stellen und auch die eigene Methodik überprüfen.

Das Vorgehen von RIO, von den ArbeiterInnen im Donbass zu fordern, dass sie sich erst einmal klassenmäßig organisieren und am besten gleich die Führung der Volksrepubliken übernehmen müssten, ist schlicht ultimatistisch. Wie immer geht linker Radikalismus Hand in Hand mit Opportunismus, in diesem Fall gegenüber der deutschen Bourgeoisie und ihrer Politik wie gegenüber den Maidan-Linken, die angefangen von libertären und anarchistischen KleinbürgerInnen über den rechten Flügel der „Trotzkistischen Familie“ (Mehrheit der „Vierten Internationale“, SAV/CWI, Marx21/IST, AWL,…) bis hin zu den Grünen reichen. Dabei dürfte die Anpassung an die „Trotzkisten“ für RIO der Hauptbeweggrund sein.

Was immer aber ihre Beweggründe sein mögen, je klarer die Klassenfronten werden, desto abenteuerlicher, unmarxistischer und inkonsistenter wird RIOs Position zur Ukraine-Frage. Verwirrung und Verzweiflung liegen ganz auf ihrer Seite.

Endnoten

(1) In den Reihen der DKP gibt es unterschiedliche Begründungsmuster; manche sehen Russland als den „besseren“ Imperialismus an, andere als kapitalistisch, aber nicht imperialistisch, manche scheinen noch in alten Ost-West-Reflexen verhaftet. Überwiegend sehen aber auch sie den Konflikt als vor allem einen zwischen den westlichen Imperialisten und Russland und unterschätzen die Dimension des Bürgerkrieges, die für uns bis heute das dominierende Element ist.

(2) http://www.icor.info/2015-1/aufruf-der-icor-zum-antikriegstag-2015

(3) Die Trotzkistische Fraktion hat übrigens auch nicht die Artikel RIOs übersetzt oder auf ihrer internationalen Seite veröffentlicht.

(4) http://www.klassegegenklasse.org/nach-dem-waffenstillstand/

(5) http://www.klassegegenklasse.org/debatte-muss-man-das-kleinere-ubel-unterstutzen/

(6) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(7) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(8) http://www.klassegegenklasse.org/erneuerung-von-oben/

(9) Die Erklärung von Jalta, http://kai-ehlers.de/texte/thesen/2014-07-16-erklaerung-von-jalta. Zur inhaltlichen Auseinandersetzung und Kritik der Erklärung siehe auch: Dave Stockton, A populist, not a communist manifesto, http://www.workerspower.co.uk/2014/09/ukrain-yalta-conference-manifest

(10) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(11) Martin Suchanek: „Die Ukraine und die Verwirrung des trotzkistischen Zentrismus“, RM 46, Oktober 2014, S. 175/176

(12) Trotzki, Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe, In: Trotzki Schriften 1.2., Rasch und Röhring, Hamburg 1988, S. 1246

(13) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(14) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(15) Ebenda

(16) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(17) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(18) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(19) BRKI, Thesen zur anti-imperialistischen Einheitsfront, RM 36, S. 77 – 84

(20) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(21) Ebenda

(22) Ebenda

(23) Die KP von Lugansk hat die sich neu formiert aus Mitgliedern der KP der Ukraine, die in einem hilflosen Versuch, der Repression zu entfliehen, alle ihre des „Separatismus“ verdächtigen Mitglieder ausgeschlossen hat.

(24) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/