Rezession im Superwahljahr: Politisch-Ökonomische Perspektiven 2024

Mo Sedlak, Die Flammende, Politisches Magazin des Arbeiter*innenstandpunkts, Frühjahr 2024, Infomail 1251

Die politischen Zeichen stehen auf Sturm, die Wirtschaft ist in der Flaute.

Die türkis-grüne Regierung hat keine Umfragemehrheit mehr und orientiert sich voneinander weg, hin zu einer schwarz-blauen beziehungsweise einer Ampelkoalition. Die FPÖ könnte klar auf Platz 1 gewählt werden und droht mit einem Regierungsprogramm des radikalen Rassismus und Sexismus, vor allem auch gegen queere Menschen. Die Rezession, die 2023 begonnen hat, kostet Arbeitsplätze und wird die Gewerkschaften zu einem noch zahmeren Verhandlungskurs bewegen. Die Inflation bleibt weiter hoch und über dem europäischen Durchschnitt, was Arbeiter:innen und Erwerbslose weiterhin sehr belastet. Seit dem Einbruch der Industrieproduktion letztes Jahr wird die österreichische Wirtschaft fast ausschließlich von der Konsumnachfrage getragen – die kann unter Arbeitsplatzverlusten, Inflation oder nicht erneuerten Staatshilfen jederzeit einbrechen. Durch die gestiegenen Zentralbankzinsen und die Großzügigkeit bei Corona-Unternehmenshilfen steht auch das Staatsbudget unter Druck. Sparpakete und Konsolidierungsmaßnahmen werden aber sicher nicht im Wahljahr beginnen – die nächste Bundesregierung wird dann aber ziemlich sofort zum Angriff auf soziale Absicherung und erkämpfte Errungenschaften übergehen.

2024 startet aber auch mit großem politischem Potential für linken Widerstand. Die SPÖ hat ihren linksten Parteivorsitzenden seit Jahrzehnten gewählt. Die KPÖ und ihre lokalen linken Verbündeten könnten erstmals seit Nationalratswahlen 1956 einziehen. Sie wären dann die einzige Oppositionspartei, die weder an eine Kapitalfraktion gebunden ist, noch über die Sozialpartnerschaft den österreichischen Kapitalismus verwaltet. Am Arbeitsmarkt steigt die Verhandlungsmacht der Arbeiter:innen durch Arbeitskräftemangel, Pensionierungswelle und abnehmender Ungleichheit zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen. Das hat es den Gewerkschaften erlaubt, die Lohnsteigerungen der letzten Jahre relativ breit zu verteilen, aber auch kämpferische Belegschaften zu beruhigen.

2024 wird auch ein Jahr der sich zuspitzenden imperialistischen Widersprüche. Internationalistische Forderungen werden die Arbeit von Revolutionär:innen prägen, internationalistische, anti-imperialistische und anti-militaristische Bewegungen sind aber auch an ihrem stärksten Punkt seit dem Irakkrieg. In den westlichen imperialistischen Ländern und besonders in Österreich wird der Anpassungsdruck hinter die Staatsräson mit zunehmender Propaganda und Repression ausgeübt, was zu steigendem Staatsrassismus aber auch zunehmenden Widersprüchen in der Linken führt.

Die Rechte treibt darüber hinaus eine Reihe von reaktionären Angriffen weiter, gegen die Rechte von Frauen, queeren Personen, Menschen mit Migrationsgeschichte und politischen Minderheiten. Die Hetze gegen trans Personen (und in der rechten Propaganda allen queeren Personen) ist zu einem Eckpunkt rechter Mobilisierungen geworden. Auch die ÖVP fordert die Rechte von queeren Personen einzuschränken, wenn sie beispielsweise ein Verbot von Drag Shows fordert oder für Förderungsstopps an queere Zentren eintritt. Der Rassismus der rechten Umfragemehrheit ist noch direkter und auf tödliche Weise wirksam. Das tausendfache Morden an den Außengrenzen, Schikanen und Polizeigewalt gegen Geflüchtete werden von der zunehmenden antimuslimischen Hetze angefeuert. Die Propaganda über „importierten“ muslimischen Antisemitismus reicht bis zu den Grünen und der SPÖ, dient aber vor allem dazu, den Antisemitismus von ÖVP- und FPÖ-Mandatar:innen zu rechtfertigen und die rassistisch diskriminierten Arbeiter:innen noch weiter zu marginalisieren. Dazu kommen offen diskriminierende Konstruktionen im Arbeitsrecht und Schikane-Anweisungen an das AMS, die die selbst konstruierten Sündenböcke für alles in einen entrechteten Mindestlohnsektor verbannen wollen.

Die sozialen Bewegungen sind in den letzten Jahren eher schwächer geworden. Linke Massendemonstrationen wie zu Black Lives Matter oder zum Rücktritt von Sebastian Kurz sind seltener geworden. Es gibt aber Ausnahmen: Die lang vorbereitete feministische Kampftagdemo am 8. März oder die Proteste der Elementarpädagog:innen. Die Mobilisierungsschwäche wird aber durch stärkere Strukturen und mehr Selbstbewusstsein ausgeglichen. Auch die Klimabewegung hat trotz immer kleinerer Demonstrationen einen aktivistischen Kern gehalten und ausgebaut. Diese klar außerparlamentarischen Strukturen werden in der Lage sein, den Regierungsangriffen mit Mobilisierungen zu antworten. Ob dieser Widerstand erfolgreich ist, hängt aber davon ab, ob eine gemeinsame Strategie und ein gemeinsames Aktionsprogramm gefunden werden können.

2023 war ein schlechtes Jahr, das hätte schlimmer sein können

In unseren politisch-ökonomischen Perspektiven für 2023 haben wir geschrieben, dass die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten schlittert. Das ist so auch passiert, darüber waren sich bürgerliche und marxistische Ökonom:innen aber sogar einig. In manchen europäischen Staaten ist aber zumindest die Preisexplosion zurückgegangen, auch die Wirtschaftsentwicklung schaut nur in einzelnen Kleinstaaten schlechter aus als in Österreich (Estland, Irland, Luxemburg und Ungarn). Der Hintergrund der Rezession waren die seit 2015 sinkenden Profiraten, die durch die massive staatliche Umverteilung während der Pandemie und eine stärkere Exportorientierung der österreichischen Industrie gedämpft wurden. Diese Gegentendenzen haben 2023 aber ihre dämpfende Wirkung verloren, auch unter dem Druck der Energiepreiskrise und der neuen Blockbildung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Die Rezession ist aber nicht in eine Krise übergegangen, Produktion und Reproduktion laufen weiter. Energieversorger und Industrie haben große Reserven, 2022 und 2023 haben sie sogar Rekordprofite gemacht. Die Wirtschaft wird vor allem durch die Konsumnachfrage der Arbeiter:innen stabilisiert, trotz der Kaufkraftverluste bei den unteren Einkommen . Wegen dem Arbeitskräftemangel und den hohen Profiten vor allem bei den stärksten Kapitalen hatten Firmen eine recht hohe Bereitschaft, Löhne zu erhöhen. Den Gewerkschaften ist es gelungen, viel von dieser Zahlungsbereitschaft in Kollektivvertragserhöhungen zu leiten statt in die individuelle Überzahlung von besonders gefragten Arbeiter:innen. Das stärkt die Konsumnachfrage und reduziert auch die Lohnungleichheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Gleichzeitig sind viele Abschlüsse hinter der Inflation zurückgeblieben, 2023 war für viele ein Jahr der Reallohnverluste.

Für die österreichische Industrie war der wichtigste Faktor im vergangenen Jahr aber die relative Stabilität auf den internationalen Güter- und Finanzmärkten. Die österreichischen Banken selber sind trotz der großen Investitionen in Russland ganz gut abgesichert. Eine internationale Finanzkrise hätte diesen dünnen Deich aber leicht überrollt, das war schon Anfang 2023 sichtbar:

„Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.“

Mitte März 2023 kam es mit dem „ersten Bankenwackeln“ bei der Silicon Valley Bank und der Signature Bank New York, dann mit dem Zusammenbruch der Credit Suisse, zu so einer instabilen Entwicklung. In nur einer Woche musste die amerikanische Fed mehr Hilfsgelder ausschütten als jemals zuvor in so einem kurzen Zeitraum, sogar mehr als während irgendeiner Woche in der Finanzkrise 2008.  Die Bankgewinne haben sich über das Jahr 2023 aber stabilisiert, auch wegen der Übergewinne durch die Zentralbank-Zinserhöhungen: Sie verlangen und bekommen jetzt einfach mehr Geld für ihre Bankleistungen. Die Anzahl der geschäftsgefährdenden Kreditausfälle oder Kursstürze ist aber klein geblieben. Unter dem steigenden Zinsdruck leiden vor allem Arbeiter:innen mit Hypotheken oder Konsumkrediten, aber nicht die Profite.

Für die Arbeiter:innen und die Industrie in Österreich ist 2023 schlecht gelaufen, aber nicht so schlimm wie es hätte kommen können. Zum Beispiel nicht so schlimm wie für die österreichische Regierung. Schon seit Jahresbeginn haben sich ÖVP und Grüne aneinandergeklammert wie zwei Betrunkene am Heimweg, eine Regierung ohne Umfragemehrheit, deren Minister:innen nicht anerkannt werden und die sich heftig streiten, miteinander und parteiintern. ÖVP und Grüne stehen für die politische Koalition einer politischen Mitte ohne Verbindungen in die organisierte Arbeiter:innenklasse (wie die SPÖ) oder in die außerparlamentarische Rechte. Sie ist vor allem der Versuch, zwei Kapitalfraktionen zusammenzubringen, die Profiteur:innen einer kapitalistischen grünen Wende und die Verwalter:innen des alten Fossilkapitalismus, die neidisch auf die Subventions-Extraprofite schielen.  Politisch und ökonomisch ist diese Allianz gescheitert. Den großen Teil der ÖVP zieht es zurück ins rechte, teilweise rechtsautoritäre Lager, eine relevante Minderheit will die sozialpartnerschaftliche Stabilität einer großen Koalition zurück. Die Grünen sehen mal wieder die Felle der Macht davonschwimmen, können aber schwer noch mehr Zugeständnisse machen. Und selbst die sichern keine weitere Regierungsbeteiligung mehr ab.

Die Schwäche der Regierung hat aber auch etwas Gutes: Weder im Jahr der Instabilität noch im Wahljahr stehen staatliche Konsolidierung, Sparpakete und Sozialabbau auf der Tagesordnung. Die werden der nächsten Bundesregierung überlassen, eine Horrorvorstellung für Arbeiter:innen, Erwerbslose und alle, die staatliche Unterstützung brauchen würden. Welche Parteien nach der Nationalratswahl ans Ruder kommen, macht also, wenn überhaupt, nur einen Unterschied in der genauen Ausformung der Politik gegen die arbeitende Bevölkerung.

Internationale Dynamiken: Krieg, Instabilität und neuerwachender Internationalismus

In einem kapitalistischen Weltmarktsystem hängen die einzelnen Volkswirtschaften eng miteinander zusammen. Wirtschaftspolitik, nationale konzentrierte Kapitalfraktionen und Arbeitsmarktdynamiken führen zu natürlich trotzdem unterschiedlichen Entwicklungen. Das zeigt zum Beispiel die beständig überdurchschnittliche Inflation in Österreich. Aber wenn eine globale Krise anrollt, bleibt kein noch so national abgegrenztes Auge trocken.

Dass die Rezession gerade 2023 begonnen hatte, ist auch einem weltpolitischen Auslöser zu verdanken. Der russische Angriff auf die Ukraine und die folgende innerimperialistische Konfrontation unterbrachen Lieferketten und ließen die Energiepreise explodieren. Das verstärkte aber nur den ohnehin schon bestehenden inflationären Druck: Wegen der fallenden Profitraten setzten Kapitale immer mehr auf Preiserhöhungen statt auf Ausweitung der Produktion, in Erwartung ihre neuen Anlagen gar nicht mehr so profitabel einsetzen zu können.

Aber schon vor 2023 waren die internationalen Spannungen zu einer Belastung für die nationalen Kapitale geworden (außer ihr „idealkapitalistischer“ staatlicher Vertreter war zufällig gerade am erfolgreichsten). Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China beziehungsweise der EU, die Konfrontation von US- und Russland-gestützten Kräften in Syrien, und die zunehmende Aggression zwischen den USA und China hatte gezeigt, dass die Neuaufteilung der Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder mal an ihre Grenzen gestoßen war. Auf die Periode der Globalisierung folgte eine neue Blockbildung mit ernsthaften Deglobalisierungstendenzen.

Seit Oktober 2023 ist diese Lage mit dem Krieg in Gaza und seiner langsamen Ausweitung auf die gesamte Region deutlich eskaliert. Die USA wollen ihrem engen Verbündeten Israel Zurückhaltung einreden, weil sie eine Neuorientierung der arabischen Staaten hin zu China und Russland befürchten. Gleichzeitig weiten sie selbst den Krieg auf den Jemen aus und eskalieren die Besatzung im Irak weiter.

Das Massaker der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die genozidalen Vertreibungsfantasien der israelischen Staatsspitze haben Arbeiter:innen und Jugendliche weltweit mobilisiert. Sie sind die Mehrheit der Menschen, die in der größten internationalistischen Solidaritätsbewegung seit dem US-Überfall auf den Irak auf die Straße gehen. Die Versuche von reaktionären Regierungen und Bewegungen, die Bewegung zu dominieren, scheitern an deren unehrlicher Haltung zur palästinensischen Bevölkerung. Solange die Bewegung weiterhin massenhaft mobilisiert, wird die Vereinnahmung auch weiterhin schwierig. Gleichzeitig stellt sie eine ernsthafte Herausforderung für den imperialistischen Konsens dar, sich hinter die israelischen Massaker zu stellen. Sie kann auch zur Gefahr für die despotischen Regierungen in der Türkei, Ägypten und in den Staaten des mittleren Ostens werden, wenn sie ihre Opposition gegen die israelische Gewaltherrschaft auf den Kapitalismus und die Zusammenarbeit mit Imperialist:innen ihrer eigenen Regierungen ausweitet.

Aufstieg der Linken

Die hoffnungsvollen Zeichen in Österreich sind verhaltener als die Massendemonstrationen gegen Krieg und Besatzung. Das letzte Jahr hat trotzdem Erfolge für linke Kräfte in der Arbeiter:innenbewegung gebracht. Der interne Wahlsieg von Andreas Babler hat statt einer Reihe an immer rechteren Elendsverwalter:innen einen tatsächlich linken Sozialdemokraten an die Spitze einer Massenpartei gebracht. Sein Sieg war auch die Folge davon, dass sich der sozialchauvinistisch-rechte Flügel um Doskozil und der bürgerlich-rechte der Partei hinter Rendi-Wagner nicht einigen konnten. Bablers Wahl auf dem Parteitag zeigte auch, dass wichtige Teile der Parteibürokratie, vor allem in Wien, ihn als geringeres Übel als Doskozil gesehen haben. Trotzdem oder gerade deshalb ist es schwierig für seine Anhänger:innen, die Parteistrukturen zu ändern. Auch die Programmatik der Partei bewegt sich nur langsam, trotz der linken Rhetorik des neuen Vorsitzenden. Dazu kommt ein handfestes Problem: Für eine traditionelle Sozialdemokratie mit linker Rhetorik und verantwortungsvollem Co-Management fehlt die politisch-ökonomische Basis. Die Sozialpartner:innenschaft als staatstragendes Projekt ist tot und ihre Strukturen dezentralisieren sich zunehmend. Wenn die SPÖ-Linke ihre Versprechen umsetzen will, muss sie auf eine Konfrontation setzen, vor der die Partei seit Jahrzehnten zurückschreckt.

Trotzdem ist klar: Das neue Versprechen der Sozialdemokratie, durch Reformen zwar keine bessere Welt aber zumindest langsamere Verschlechterungen zu erreichen, vertritt Babler glaubhafter als seine Vorgänger:innen. Wenn es ihm gelingt, die Partei auf Konfrontationskurs zu bringen, wird das die Verhandlungsposition der Arbeiter*innen erst einmal stärken.

Die Illusion der Sozialpartner:innenschaft und die schnelle Einreihung in die europa- und außenpolitische Linie des österreichischen Kapitals sind aber Bablers zwei Achillesfersen. Sie bieten den Arbeiter:innen keine Perspektive in den weiter eskalierenden Krisen. Will die Linke in der SPÖ sich behaupten, braucht sie einen Weg zur Macht und einen Bruch mit der reformistischen Mitverwaltungslogik, sie muss die soziale Rhetorik ihres Vorsitzenden auf Klassenkampf stützen. Dazu gehört auch, die verkrusteten bürokratischen Parteistrukturen aufzubrechen, was aber aktuell nicht abzusehen ist. Auch der Parteitag auf dem ursprünglich weitereichende innerparteiliche Reformen angedacht waren, entpuppte sich als sehr zahm. Lediglich die Direktwahl (aber nicht mehr eine Abstimmung über mögliche Koalitionsabkommen) wurden umgesetzt.

Auch neben der SPÖ erstarkt die parlamentarische Linke. Die KPÖ hat nach dem Bürgermeisterinnenposten in Graz auch stabile 4 Mandate durch 11,7 % bei den Salzburger Landtagswahlen erreicht. In der Stadt Salzburg ist sie sogar zweitstärkste Kraft geworden. Die KPÖ baut wachsende Strukturen in den Bundesländern auf, bei der Nationalratswahl scheint sogar zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren ein Einzug möglich, entweder durch Überspringen der 4%-Hürde oder durch ein Regionalmandat in der Steiermark.

Die KPÖ hat durch die politische Allianz mit der Jungen Linken in der selbst ausgerufenen „kommunistischen Bewegung“ einen Schwung neuer Aktivist:innen und Kader bekommen. Die neue Bundesspitze und der Salzburger Landtagswahlsieger kommen aus der Jugendorganisation. Der Wahlerfolg spiegelt aber auch wider, dass eine relevante Minderheit vor allem in den Städten von der SPÖ desillusioniert ist, ohne sich nach rechts zu orientieren. Am Weg zum Wahlerfolg hat die KPÖ sich aber auch noch einmal weiter in die Mitte bewegt. Der Programmprozess weg von den Flügeln stalinistischer und eurokommunistischer Linksreformismus hin zu einer fast sozialdemokratischen Ausprägung wurde fortgesetzt. Auch schafft es die KPÖ weiterhin nicht, klassenkämpferische Antworten auf den eskalierenden Rassismus und die Klimakrise zu anzubieten.

Die Erfolge der KPÖ zeigen aber trotzdem eine gesellschaftliche Orientierung nach links und bieten durchaus Potential, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung für klassenkämpferische und revolutionäre Forderungen einzutreten.

Regierungsrepression, Angriffe und das Damoklesschwert Konsolidierung

Babler und die KPÖ bekommen viel mediale Aufmerksamkeit. Das bedeutet auch viel medialen Druck. Bei Babler sind es vor allem die internationalistischen Positionen, für die er noch kurz vor der Vorsitzwahl eingetreten ist, die angegriffen und ins Lächerliche verzerrt werden. Bei der KPÖ wird die teilweise offene politische Bewunderung von Mitgliedern und einzelnen Funktionär:innen für das russische Regime angegriffen und der gesamten Partei vorgeworfen.

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und dem folgenden Krieg der israelischen Armee gegen die Bevölkerung des Gazastreifens richten sich die Angriffe von Regierung und Medien auch gegen jede friedens- und neutralitätspolitische Position in der parlamentarischen Linken. Die österreichische Regierung nimmt im internationalen Vergleich eine besonders rechte Rolle ein. Zusammen mit nur einer Handvoll Ländern stimmte sie gegen Waffenstillstands-Resolutionen, die Kanzlerpartei wird nicht müde zu betonen, dass sie jeden israelischen Militäreinsatz unterstützt. Sogar humanitäre Hilfe wird teilweise als materielle Terrorunterstützung verunglimpft. Dieser Anpassungsdruck wirkt auf alle Aspekte des politischen Lebens und sogar in die Linke hinein.

Die propagandistische Mobilisierung richtet sich aber nicht vor allem gegen die Linke. ÖVP und FPÖ hetzen vor allem gegen Muslim:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern, auch in der SPÖ, bei NEOS und den Grünen finden sich Unterstützer:innen für ungehemmten antimuslimischen Rassismus. Muslim:innen werden unter Generalverdacht gestellt, geschlossene Grenzen gefordert, SPÖ und ÖVP werfen sich gegenseitig vor, wegen „offener Grenzen“ Einladungen an Antisemit:innen ausgesprochen zu haben. ÖVP und FPÖ bereiten sich offensichtlich darauf vor, einen offen hetzerischen Wahlkampf zu führen. Die Toten in Israel und Palästina werden ihnen billige Stichwortgeber:innen für eine Kampagne sein, die Migrant:innen in Österreich weiter benachteiligen und das Morden an den europäischen Außengrenzen eskalieren wird. Das kaschiert auch den gängigen Antisemitismus von FPÖ-Spitzen und die Indifferenz der ÖVP gegenüber ihrer Koalitionspartnerin in mehreren Landtagen.

Neben Staatsrassismus und Hetze steigen aber auch Rassismus und Antisemitismus in der Bevölkerung an. Sowohl die israelitische Kultusgemeinde als auch die Meldestelle antimuslimischer Rassismus haben seit dem 7. Oktober eine Vervielfachung von Übergriffen und Straftaten berichtet. Kurz nach dem Kriegsbeginn wurden in Wien Autos mit Hakenkreuzen beschmiert (ein österreichischer Rechtsextremer wurde festgenommen) und ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs verübt. Die Hetze der staatstragenden Rechten wirkt auch in die Breite der Bevölkerung. Sie ist gemeinsam mit Queerfeindlichkeit, latenter Klimawandelleugnung und prinzipiellem Frauenhass die ideologische Klammer einer möglichen schwarz-blauen Regierung.

Widerständige Bewegungen

Es spricht einiges dafür, dass sich betroffene Communities das nicht so einfach gefallen lassen werden. Die Gegenmobilisierung rund um eine rechte Kundgebung rund um die Türkis Rosa Lila Villa brachte Tausende auf die Straße und in Blockadeversuche. Die feministische Kampftag-Demo am 8. März war so groß wie schon seit Jahren nicht mehr. Und Communities von rassistisch Unterdrückten, vor allem Muslim:innen, sind seit den Bombardements von Gaza immer wieder zu Tausenden auf die Straße gegangen. Während Teile der Bewegung, besonders Demonstrationen von bestimmten querfront-affinen Gruppen, rechts geführt sind, gilt das keineswegs für alle und nicht nur die kleinen linken Mobilisierungen stehen dagegen. Auch die Klimabewegung hat aus den Bewegungen rund um Fridays for Future und dann die radikalere Lobaubesetzung Strukturen und Netzwerke aufgebaut. Dazu gab es dieses Jahr auch wieder größere Reibungen im Zuge der Kollektivvertragsverhandlungen, insbesondere die Elementarpädagog:innen machten mit großem Protest und einem Streiktag auf sich aufmerksam.

Es existieren lose, aber mobilisierungsstarke Zusammenhänge rund um die Fragen, in denen die Rechte am radikalsten hetzt und wo SPÖ und KPÖ noch wenig Position beziehen. Diese Strukturen haben das Potential, Widerstand gegen die mögliche rechte Politik einer kommenden Bundesregierung aufzubauen. Dafür müssen sie sich aber, anders als bisher, auf eine Strategie und ein Aktionsprogramm einigen. Das muss sich gegen den gemeinsamen Nenner, bürgerliche Politik und deren Sponsor:innen im Kapital richten, statt die reaktionären ideologischen Versatzstücke als einziges Problem anzugreifen.

Selbstbewusste revolutionäre Organisierung

Die linken und linksliberalen Hoffnungen auf ein Superwahljahr 2024 könnten auf den ersten Blick entmutigend für Revolutionär:innen wirken, deren Aktivität nicht auf überhöhten Hoffnungen in Vertretungswahlen basiert. Die breiten Ängste vor einem weltweiten Rechtsruck und entsprechende Überlegungen über das kleinere, reformistische oder sogar konservative Übel als (selbsternannte) Brandmauer vor dem Rechtspopulismus schlagen in dieselbe Kerbe. Aber Entmutigung ist unangebracht. Die politisch aufgeladene Stimmung, die sichtbar großen Herausforderungen und die stärker werdenden internationalistischen Bewegungen sind ein Umfeld, in dem revolutionäre Arbeit notwendig und vielversprechend ist.

Die Eskalationen im Nahen Osten gehen weit über die grausamen Massaker hinaus, die nach dem Angriff am 7. Oktober vorherzusehen waren. Bombardements durch US-amerikanische und britische Truppen im Jemen, Beschuss zwischen irakischen Milizen und dem Iran, und der Schlagabtausch zwischen Israel und dem Libanon sind die Vorboten eines imperialistischen Kriegs auf mehreren Schlachtfeldern.

In der Ukraine wird nicht nur um die Selbstbestimmungsrechte gekämpft, sondern es stehen sich Vertreter:innen des westlichen und russischen Imperialismus gegenüber. Vor den türkischen Bombardements der kurdischen Selbstverwaltung fliehen selbst US-Truppen, eine Wiederkehr des IS wird in Kauf genommen. Das zeigt nicht nur den genozidalen Anspruch des NATO-Staates, sondern auch die Fragilität des ganzen Militärbündnisses. Der Konflikt zwischen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Imperialismus scheint vorerst nicht auszubrechen, spitzt sich aber immer wieder zu. In den Drohgebärden rund um Taiwan und gegenseitigen Sanktionsdrohungen offenbart sich, dass diese Konkurrenz fundamental ist. Sie wird nicht mit zwei Sieger:innen lösbar sein und sich bis zum 100-Jahres-Jubiläum des Volksrepublik China immer weiter zuspitzen.

Eine internationalistische Antwort ist in dieser Zeit schon richtig, aber nicht nur richtig. Sie wird viel mehr Menschen überzeugen, als wenn die Widersprüche weniger eskalieren, aber sie ist nicht nur überzeugend. Die imperialistischen Blöcke stehen sich wieder einmal direkt gegenüber. Weltweit sind Millionen auf der Straße, sie demonstrieren entweder für einen Rückzug der US- und EU-unterstützten Aggressionen oder gleich für deren Niederlage. Ein internationalistisches Programm ist notwendig und muss sich an eine internationale Massenbewegung richten.

Die Widersprüche in Österreich spitzen sich in fast unheimlicher Parallelität zu. Im wirtschaftlichen Abschwung 2024 eskaliert der Widerspruch zwischen ÖVP-Kürzungsplänen und SPÖ-Sozialstaatswünschen. Die Stoßrichtungen der Wahlprogramme lassen sich nicht mehr in einer großen Koalition oder der Sozialpartner:innenschaft zusammenfassen. Und keines davon bietet eine Perspektive für die Arbeiter:innen und Erwerbslosen, die von der Teuerung belastet und vom Arbeitsplatzverlust bedroht sind. Eine unabhängige, klassenkämpferische Antwort ist notwendig und setzt direkt an den Forderungen an, die Kolleg:innen in Warnstreiks fast aller großen Industriebranchen geäußert haben.

Die ÖVP geht mit Wahlprogrammen der FPÖ aus den 2010er-Jahren auf Stimmenfang. Neben ihrem Rechtsruck formuliert die FPÖ ein noch rechteres Programm: Massendeportationen, Jagd auf angebliche Volksverräter:innen, Angriffe auf Errungenschaften der feministischen Bewegung und Hetze gegen die LGBTQIA- Community. Die Pläne der deutschen AfD, millionenfach abzuschieben, sind durch investigative Recherchen öffentlich geworden, die FPÖ bekennt sich im Vergleich dazu ganz offen im Hauptabendprogramm zu Verfassungsänderungen, die so etwas möglich machen sollen. Dagegen sind Zehntausende auf die Straße gegangen. Auch wenn die zivilgesellschaftlichen Forderungen der Demonstrationen dem Rechtsruck nichts entgegensetzen können, zeigen sie zumindest das vorhandene Bewusstsein für eine notwendige Massenbewegung gegen Rechts.

Gegen die Klimabewegung, Gleichstellungspolitik und die Aktivitäten von LGBTQIA- Aktivist:innen hetzen ÖVP und FPÖ, als ob sie voneinander abschreiben würden. Sozialdemokratie und Linksliberale haben dem außer Lippenbekenntnissen nichts entgegenzusetzen. Im Aktivismus ist von ihnen nichts zu sehen und ihre Programme für Klimawende und soziale Berechtigung gehen an der Dramatik der Krisen vorbei. Gleichzeitig sind die Protestinitiativen in diesen Bereichen zwar klein, aber gut vernetzt. Sie haben Erfahrung mit großen Mobilisierungen und längeren Kampagnen, kennen auch die Konfrontation mit der Polizei. Wenn sie sich auf eine Proteststrategie einigen und gemeinsam für klare politische Ziele kämpfen, ist erfolgreicher Widerstand möglich.

Ein Aktionsprogramm für den Widerstand gegen Massenentlassungen, Sparpakete, Rassismus, sexistische und queerfeindliche Politik und die Klimakrisenpolitik der Regierung ist nötig, aber auch möglich. Vor allem in Wien, aber auch in der Steiermark, Oberösterreich und Tirol gibt es Bündnisse, um die herum sich so ein Aktionsprogramm aufbauen und die es weiterbringen kann. Es braucht aber auch die Analyse, die Erfahrung und einen glaubwürdigen Aktivismus von Revolutionär:innen, damit solche Bündnisse ihren Widerstand in einen Machtkampf verwandeln können.

Es geht nämlich um nicht weniger als um einen Machtkampf. Rechtsruck und Krieg kündigen einen Regimewechsel der Herrschenden an: Schluss mit der postpandemischen Großzügigkeit, Schluss mit der nur schleichenden Verschlechterung unserer Lebensumstände, Schluss mit dem Verzicht auf offene Gewalt in der geordneten weltweiten Machtaufteilung.

Protest allein und Etappensiege ohne Folgeerfolg reichen hier nicht aus. Deshalb wird im dynamischen Bewegungsmosaik auch die Organisierungsfrage wichtig und entscheidend sein. Zwei Rechtsparteien, die Massenanhänge mobilisieren wollen, wahrscheinlich der Staatsapparat in ihren Händen und eine stärker werdende Propagandamaschinerie knicken nicht vor Demonstrationen ein, auch wenn die Zehntausende auf die Straße bringen. Was wir der Offensive der Herrschenden entgegenwerfen, muss stabil genug für deren Angriffe sein, ohne sich durch Starrheit in die Defensive drängen zu lassen.

Die Wahlerfolge der KPÖ in Graz und Salzburg, die Wahl des ersten linken SPÖ-Vorsitzenden in diesem Jahrtausend und die Arbeit von LINKS in Wien zeigen, dass Parteien als Ausdruck und Methode linker Politik alles andere als tot sind. Österreich erlebt eine bei Wahlen durchaus erfolgreiche Linke während dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Der kommt aber mit den Schwächen der jeweiligen Parteiprogramme und -methoden.

Es ist notwendig, die Organisierungsfrage innerhalb der Bewegungen, eng an den Linksentwicklungen der Parteien, zu stellen. Aber es reicht nicht aus, in breiten linken Bewegungen aufzugehen und dafür Programm und Methode hintanzustellen. Ganz im Gegenteil werden Revolutionär:innen ihre Verankerung und ihren Aktivismus nutzen, um Aktivist:innen von unserer Politik zu überzeugen und Vorschläge an Strukturen zu machen. Denn eine erfolgreiche linke Politk muss es schaffen, breit und radikal aufzutreten. Nur so kann sie sich dem gesellschaftlichen Rechtsruck, der herrschenden Klasse kampfkräftig und erfolgsversprechend gegenüberstellen.




China: Xi schottet die Partei ab

Peter Main, Neue Internationale 269, November 2022

Der zwanzigste Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verlief vorhersehbar und nach Plan. Nun ja, fast. Dem Parteivorsitzenden Xi Jinping gelang es endlich, alle 24 Plätze im Politbüro und die sieben Plätze im Ständigen Ausschuss mit seinen eigenen Anhänger:innen zu besetzen. Obwohl er 2012 die Unterstützer:innen von Hu Jintao und Li Keqiang, dem vorherigen Präsidenten und dem bis Ende diesen Jahres noch amtierenden Premierminister, ausgeschaltet hatte, war er gezwungen, sie bis jetzt im höchsten politischen Gremium, dem Ständigen Ausschuss, zu behalten.

Die einzige Unterbrechung der sorgfältig inszenierten Inszenierung monolithischer Einheit erfolgte in der letzten Sitzung, als der Kongress über seine geänderten Statuten, d. h. die Bedingungen der Parteimitgliedschaft, abstimmen sollte. Plötzlich wurde Hu von Beamt:innen von seinem Platz am obersten Tischende entfernt und weggeführt. Beim Gehen warf er einen Blick auf Xi und klopfte Li leicht auf die Schulter.

Episode

Wir werden vielleicht nie genau erfahren, was hinter dieser außergewöhnlichen Episode steckt, aber viele haben bemerkt, dass Hu unmittelbar vor seiner Absetzung die rote Mappe vor ihm geöffnet hatte, die Berichten zufolge geschlossen bleiben sollte, bis Xi gesprochen hatte. Wurde er, der frühere Parteivorsitzende, der die Erholung von der Großen Rezession beaufsichtigte, einfach wegen eines Verstoßes gegen das Protokoll abgesetzt? Befürchtete man, er könnte Xi unterbrechen? Oder war es einfach nur eine Demonstration, dass es absolut niemandem erlaubt ist, von dem von Xi festgelegten Drehbuch abzuweichen?

An die offizielle Version, dass Hu erkrankt war und ihm zu seinem eigenen Wohl weggeholfen wurde, scheint jedoch niemand zu glauben.

Was auch immer daran wahr sein mag, der gesamte Kongress hat auf jeden Fall deutlich gemacht, dass Xi jetzt die volle Kontrolle innehat. Für den Fall, dass irgendjemand Zweifel hatte, verpflichtet die Änderung der „Satzung“ alle Parteimitglieder, seinen Status als „Kern der Parteiführung“ zu wahren.

Eine solche Beweihräucherung, eine solche monolithische Einheit, wirft sofort die Frage auf: „Wovor hat er Angst?“ Sicherlich sind solche Maßnahmen nur dann notwendig, wenn es irgendeine Art von Bedrohung gibt. Selbst in einem so streng kontrollierten Land gibt es in der Tat Anzeichen von Dissens. Eine Woche vor Beginn des Kongresses erklärten zwei führende Mediziner, George Fu Gao und Zhong Nanshan, dass die durch Abriegelungen erzwungene Pandemiestrategie, die als das Markenzeichen von Xis Politik gilt, nicht mehr zu erreichen sei. Am nächsten Tag widerlegte die Tageszeitung People’s Daily diese Idee und lobte die Politik in den höchsten Tönen.

Am ersten Tag des Kongresses ließ eine einsame Figur ein Transparent von einer Straßenbrücke in Peking herunter, unter den vielen Slogans lautete der erste: „Wir wollen keine Tests, wir wollen Essen!“ Der „Brückenmann“, wie er jetzt genannt wird, in offensichtlicher Anspielung auf den „Panzermann“, der sich nach dem Tiananmen-Massaker im Juni 1989 einer Panzerkolonne widersetzte, fasste die Gefühle von Millionen Menschen treffend zusammen.

Er wies auch auf die entscheidende Schwäche von Xis Diktatur hin: Wenn seine Herrschaft so vollständig ist, dann ist er direkt für alle Fehler, alle Misserfolge verantwortlich – und angesichts der weltweiten Verbreitung von Covid wird die Abriegelungsstrategie scheitern. Die Gesundheitsbehörden wissen es, die lokalen Regierungsvertreter:innen wissen es, zweifellos wissen es auch viele Parteimitglieder – aber man darf es nicht sagen, und man kann es nicht korrigieren. In dieser Frage hat sich Xi selbst in eine Ecke gedrängt. Langfristig führt dies zu einer politischen Lähmung: Xi kontrolliert die Partei, die Partei kontrolliert alles, wenn Xi abgesetzt würde, wäre das gesamte Regime bedroht.

Wirtschaft

Die Abriegelung ist nur eines der Themen, aus denen Xis Gegner:innen in der Partei und im ganzen Land Kraft schöpfen werden. Ein weiteres ist die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten fand der Kongress vor dem Hintergrund einer sich abschwächenden Wirtschaft statt. Die Industrieproduktion ist 2022 bis Juli nur um 0,4 % gestiegen. Die Quartalsvergleichszahl des Bruttoinlandsprodukts, die während des Kongresses veröffentlicht werden sollte, sich aber bis an dessen Ende verzögerte, wies eine jährliche Wachstumsrate von 3,9 % auf, geplant waren 5,5 %.

Die von Xi verhängten Abriegelungen sind zum Teil dafür verantwortlich, da sie die Produktion, die Lieferwege und den Inlandsverbrauch stören. Seine Gegner:innen weisen auch darauf hin, dass die Vereitelung jeglicher Hoffnung auf eine Lockerung der Politik durch den Kongress internationale Folgen zeitigte. Am Morgen nach Ende des Kongresses erlitt der Nasdaq-Index der in den USA notierten chinesischen Unternehmen mit einem Minus von 14,4 % seinen bisher größten Tageseinbruch. Auch der Hang-Seng-Index Hongkongs verzeichnete mit einem Minus von 1,6 % den stärksten Rückgang seit der Krise von 2008.

Chinas wirtschaftlicher Abschwung ist jedoch nicht nur Ergebnis einer verfehlten Politik. Im Inland unterliegt es ebenso den zyklischen Mustern der kapitalistischen Produktion wie jede andere kapitalistische Wirtschaft. Das rasante Wachstum nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 endete in der Krise von 2008. Der Aufschwung wurde durch enorme staatliche Ausgaben für die Infrastruktur angeheizt, wurde aber durch den Börsencrash von 2016 gestoppt, der Xi dazu veranlasste, gegen einige der kapitalistischen Kreise vorzugehen, die er anfangs gefördert hatte. Seitdem sind die Wachstumsraten stetig gesunken.

Auf internationaler Ebene hat der Aufstieg des Landes zu einer großen kapitalistischen Wirtschaft, einer imperialistischen Macht, es in Konflikt mit den bereits bestehenden Weltmächten gebracht, vor allem mit den USA. Die US-Sanktionen gegen China, die unter Obama begonnen und seither aufrechterhalten wurden, bringen nun schwerwiegende Auswirkungen mit sich, vor allem in den Bereichen, in denen Spitzentechnologie nicht nur industriell, sondern auch militärisch genutzt werden kann.

Dies sind die Faktoren, die Xis Politik geprägt haben, die im Allgemeinen durch eine größere Kriegslust auf internationaler Ebene und die Unterdrückung potenzieller Rival:innen im Inland gekennzeichnet ist. Wie der Brückenmann gezeigt hat, gibt es jedoch weitverbreitete Ressentiments und Feindseligkeit gegenüber der Einparteiendiktatur und dem angeblich allmächtigen Führer. Er hat auch gezeigt, vor wem Xi Jinping wirklich Angst hat, nämlich nicht vor den Amerikaner:innen, sondern vor den Chines:innen.




Von Rüstungs- und Entlastungspaketen: 100 Milliarden Gründe gegen Scholz

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 263, April 2022

In stürmischen Zeiten des Krieges in der Ukraine und weltumspannender Sanktionsprogramme sitzt das Portemonnaie der Bundesregierung recht locker. Ende Februar brachte der Bundestag ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100.000.000.000 Euro auf den Weg. Ende März einigte sich die Ampelkoalition auf ein Entlastungsprogramm, um die Preissteigerungen des Krieges abzufedern. Hier möchten wir einen Einblick in die beiden Milliardenprogramme der Bundesregierung geben und diese bewerten.

Mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen und einer geplanten Erhöhung des Jahresbudgets für Verteidigung auf das von der Nato vorgegebene 2 %-Ziel des Bruttoinlandsprodukts, somit auf mehr als 70 Milliarden Euro, nehmen die Rüstungsausgaben einen gigantischen Kostenfaktor im Bundeshaushalt ein. Olaf Scholz liegt richtig, wenn er diesen Schritt als Zeitenwende bezeichnet.

Größtes Rüstungsprogramm

Denn nicht nur vom Geldvolumen her, auch bezogen auf die Anschaffungen haben wir es hier mit einer Wende in der zukünftigen militärischen Stellung zu tun. Der neue deutsche Militarismus soll die „Truppe“ im Ausland interventionsfähiger machen. Auch Verteidigungssysteme wie das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome könnten angeschafft werden.

#DerAppell, eine Petition gegen die Aufrüstungspläne der Bundesregierung, macht klar, welche Dimension das Sondervermögen im Gesamthaushalt einnimmt. „Diese Summe (des Sondervermögens) entspricht den Ausgaben mehrerer Bundesministerien, darunter so wichtige Ressorts wie Gesundheit (16,03 Mrd.), Bildung und Forschung (19,36 Mrd.), Innen, Bau und Heimat (18,52 Mrd.), Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12,16 Mrd.), Wirtschaft und Energie (9,81 Mrd.), Umwelt (2,7 Mrd.), Zusammenarbeit und Entwicklung (10,8 Mrd.) sowie Ernährung und Landwirtschaft (6,98 Mrd.).“ Der Jahresetat der Bundesregierung lag ursprünglich bei 443 Milliarden Euro, inklusive Corona-Hilfen. Finanzminister Lindner kündigte an, dass an anderer Stelle Kürzungen für dieses Sondervermögen erfolgen müssten.

Aktuell besteht ein Streit zwischen Finanzministerium und Unionsfraktion über das Gesamtvolumen der Rüstungsausgaben bis zum Ende der Legislaturperiode. Lindner will neben den 100 Milliarden Euro den jährlichen Verteidigungsetat auf der aktuellen Höhe deckeln (50 Milliarden Euro). Mit diesen Maßnahmen würde die Erhöhung selbst über das Zwei-Prozentziel hinaus durch die 100 Milliarden im Sondervermögen ermöglicht werden, jedoch weniger übererfüllt, als es sich die Union wünscht.

Welche Kriegsgeräte?

Die genauen Bestellscheine sind noch nicht fertig geschrieben, denn eines ist klar: Die 100 Milliarden Euro entsprechen weniger einem klaren Rüstungsprogramm, als dass sie ein politisches Statement darstellen. Diese Erhöhung als Abschreckung zu verstehen, wäre ein verkürztes Urteil. Es handelt sich um eine Umrüstung des deutschen Imperialismus hin zu einer kriegsfähigen Kraft auf dem Erdball. Das NATO-Jahresbudget (30 Mitgliedsstaaten) überstieg schon zuvor um ein Zwanzigfaches den russischen Rüstungsetat. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) dementierte, dass es sich um ein militaristisches Aufrüstungsprogramm handle und markiert es als notwendige Ausstattung für eine wehrhafte Demokratie. Wir aber sagen: Ein demokratischer Bomber bleibt ein Bomber.

Es ist eine Zeitenwende, die den deutschen Imperialismus wieder zu einer kriegsfähigen Nation gestalten soll. Dass der hochgerüstete deutsche Imperialismus Blockführer in zwei Weltkriegen war, muss dafür in den Hintergrund geraten.

Konkret steht die Anschaffung von atomwaffenfähigen F-35-Kampfflugzeugen, bewaffnete Kampfdrohnen und Schwertransporthubschraubern im Raum. Die Anschaffung eigener nuklearer Sprengköpfe wird vorerst umschifft. Im Kriegsfall sollen die in Deutschland gelagerten US-amerikanischen Atombomben genutzt werden – nukleare Teilhabe. Der FAZ ist das schon nicht mehr genug. Sie forderte bereits mehr oder weniger offen ein Atomwaffenprogramm Europas, in dem die BRD mit führend ist.

Das aktuell erfolgreichste Kampfmittel auf Weltebene seitens der USA und europäischer Staaten ist das Sanktionsprogramm, welchem das Ziel wirtschaftlichen Schadens für Russland in bislang ungeahntem Ausmaß innewohnt. Die Sanktionen und die weltweite Inflation sowie die stetige Gefahr, dass der Krieg zu einem weltweiten Flächenbrand auswächst, wirken sich global auf die Preise aus. Weltweit droht eine Hungerkatastrophe vor allem in den Ländern des Südens. Die Ukraine und Russland liefern rund 30 % des weltweiten Weizenexports. Eine erste Krise zeichnet sich bereits in Ägypten ab, dessen Währung einerseits in den letzten Wochen um 15 % im Vergleich zum Dollar abgefallen ist und das zu 80 % seinen Weizen aus Russland importiert. Die Regierung hat vorerst den Brotpreis gedeckelt.

Und das Entlastungspaket?

Um die Folgen dessen in der Bevölkerung der BRD abzufedern, hat die Bundesregierung ein Entlastungsprogramm auf den Weg gebracht. Es umfasst folgende Aspekte: Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe und Reduktion der ÖPNV-Ticketpreise auf 9 Euro für 90 Tage, 300 Euro Energiepauschale für Erwerbstätige, 100 für Sozialleistungsempfänger:innen und 100 pro Kind als Familienzuschuss.

Das Maßnahmenpaket folgt einer Gießkannenlogik. Dieser zufolge sollen alle ein bisschen gefördert werden, unabhängig von eigenen finanziellen Rücklagen oder regelmäßigen Einnahmen. Natürlich halten wir es für einen Erfolg, wenn indirekte Massensteuern wie die auf Kraftstoffe zurückgenommen werden. Wir stellen dem eine direkte progressive Steuer entgegen, die Reiche und Konzerne be- und die ärmeren Lohnabhängigen entlastet, die schärfer von Massensteuern betroffen sind wie beispielsweise der Mehrwertsteuer. Faktisch wird hier ein höherer Verbrauch mehr subventioniert.

Unter dem Deckmantel der auf den Individualverkehr angewiesenen ländlichen Bevölkerung werden SUV-Fahrer:innen in der Stadt mit bezuschusst. Dass Sozialleistungsempfänger:innen mit einer Einmalzahlung von 100 Euro abgefrühstückt werden, zeigt, wie unsozial dieses Programm ist. Das ÖPNV-Ticket sollte kostenlos sein, es wäre ein sinnvolles verkehrspolitisches Werkzeug für eine Mobilitätswende, auch wenn eine solche nur durch den massiven, flächendeckenden Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs erfolgreich sein kann. Darüber hinaus unterstützen wir die Initiative verschiedener Verkehrsminister:innen der Länder und aus einigen Kommunen, die für ein kostenfreies Ticket werben. Selbst für den Staat dürfte das günstiger sein, da Verfahrenskosten und Kosten für Verkehrskontrollen eingespart werden könnten.

Fazit

Das Rüstungsprogramm lehnen wir kategorisch ab. Es dient nicht nur der imperialistischen Blockkonfrontation, es bereitet diese Nation darauf vor, wieder kriegsfähig zu werden. Für imperialistische Nationen bleibt der Krieg das letzte Mittel im Kampf um das begrenzte Territorium, das im Widerspruch zu unbegrenzter Kapitalanhäufung steht.

Gegenüber dem Entlastungspaket ist unsere Haltung etwas komplexer. Schließlich ist es für die Masse der Bevölkerung eine wirkliche wirtschaftliche Hilfe. Wir lehnen die allgemeine Förderung ab. Auch wenn wir die Streichung von Massensteuern prinzipiell befürworten – vermögende Haushalte und Konzerne brauchen keinen Cent an Subventionen! Sie sollten viel eher durch Progressivsteuern und Sonderabgaben belastet werden. Denn an welcher Stelle gekürzt werden wird, um die Milliardenförderung (und die Aufrüstung!) zu ermöglichen, das bleibt unklar. Es zeichnet sich langsam ab, dass die Mittel u. a. bei der Pandemiebekämpfung eingespart werden.

Gleichzeitig offenbart die Fokussierung auf Kraftstoffe, welchen Blickwinkel diese Bundesregierung auf soziale Fragen hat. Drückt sich die Verteuerung doch bereits seit Pandemiebeginn in den Lebensmittelpreisen und weiter steigenden Mieten aus. Aber nein, die BILD schreit vor allem: Der Sprit ist zu teuer! Der arme deutsche Zweieinhalbtonnenstraßenpanzerfahrer! Real sind die Spritpreise auch Machwerk der Raffineriekartelle, die sie massiv, weit über die Verteuerung des Rohölpreises hinaus angehoben haben und nun Milliardengewinne erzielen. Die Preiskontrolle über diese Kartelle würde eine reale Entlastung mit sich bringen. Doch gegen das eigene Kapital wird es keinen Kampf durch die Ampel geben. Diese Aufgabe steht u. a. den Gewerkschaften zu, die angesichts von Pandemie und Krieg aus ihrer sozialpartnerschaftlichen Servilität überhaupt nicht mehr herauskommen.

Für Revolutionär:innen ergeben sich hier also zwei Ansatzpunkte in der sich verschärfenden Krise. Erstens der Kampf gegen die Aufrüstung, zweitens um die Frage der Preiskontrolle durch Organe der Arbeiter:innenbewegung:

  • Kein Cent, kein Mensch für die Bundeswehr!
  • Wir zahlen nicht! Weder für Pandemie, noch Krieg!



Der Januar-Aufstand und die Massenstreiks in Kasachstan

Gastbeitrag von Sozialistische Bewegung Kasachstans, 24. Januar 2022, Infomail 1177, 1. Februar 2022

Wir veröffentlichen eine vorläufige Analyse der Ereignisse im Januar 2022 in Kasachstan. Der Text wurde zuerst am 24.01.2022 auf Russisch auf der Website www.socialismkz.info veröffentlicht (http://socialismkz.info/?p=26989) und von Christoph Wälz übersetzt.

Ursachen der Proteste

Die soziale Explosion selbst ist herangereift und zum jetzigen Zeitpunkt längst überreif. Dies liegt daran, dass Kasachstan zu einer Rohstoffkolonie der entwickelten kapitalistischen Länder geworden ist. 30 Jahre lang führten die ehemaligen Spitzenfunktionäre der sowjetischen Partei- und Jugendorganisation, angeführt von Nasarbajew, härteste Marktreformen durch, die auf die Privatisierung der Großindustrie und vor allem des Bergbaus abzielten. Das Sozialversicherungssystem wurde abgeschafft und das Rentenalter wurde angehoben, so dass der ehemalige Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans Lob von Margaret Thatcher und den Titel ihres besten Schülers unter den Präsidenten im postsowjetischen Raum erhielt.

Millionen von Menschen fielen unter die Armutsgrenze und verloren Mitte der 90er Jahre durch die Betriebsschließungen im verarbeitenden Gewerbe und die erzwungene Schließung landwirtschaftlicher Kollektivbetriebe über Nacht ihre Arbeit. Infolgedessen konzentrierte sich die gesamte Großindustrie im Westen Kasachstans in den Ölfördergebieten, wo sich seit 1993 US-amerikanische und europäische Unternehmen angesiedelt haben und zwei Drittel der Produktion kontrollieren, und im Zentrum Kasachstans, wo die wichtigsten Unternehmen „Arcelor Mittal Temirtau“ des britischen Milliardärs Lakshmi Mittal und der „Kazakhmys“-Konzern sind. In Bezug auf den Bezirk Mangistau und die Regionen Westkasachstans, in denen die ersten Proteste ausbrachen, können wir sagen, dass sich dort alle sozialen Widersprüche und Unzufriedenheiten am stärksten konzentrierten, was zu Streiks und Massendemonstrationen führte, über die wir im Folgenden berichten werden.

Erstens sind die Bezirke Mangistau, Aktobe, Atyrau, Westkasachstan und Kyzylorda Regionen der Massenarbeitslosigkeit, in denen es außer Betrieben im Öl- und Gassektor praktisch keine andere Arbeit gibt. Die dortige Industrie aus der Sowjetzeit wurde in den 90er Jahren fast vollständig zerstört. Und genau dort in Zhanaozen und Aktau, wo die ersten Kundgebungen und Streiks verzeichnet wurden, gibt es 7-8 weitere arbeitslose Verwandte und erwachsene Kinder pro arbeitendem Ölarbeiter. Und deshalb haben die Streikenden und Demonstrant:innen unter anderem den Aufbau neuer Industrien gefordert.

Unter so harten Bedingungen und auch schwierigen klimatischen Bedingungen, da es sich um Halbwüstenregionen handelt, bildeten Betriebskollektive und die lokale Bevölkerung eine starke Verbindung zueinander. Solidarität und Zusammenhalt wurden zum Schlüssel des Erfolgs bei der Durchführung zahlreicher Streiks, die seit Beginn der 2000er Jahre durchgeführt wurden.

Zweitens führten die Inflation im Sommer und Herbst letzten Jahres und der Anstieg der Lebenshaltungskosten zu einer Abwertung der Landeswährung Tenge und zu einem Rückgang der Kaufkraft der Löhne. Das zeigte sich besonders in der Region Mangistau, die sich geografisch in einer „Sackgasse“ befindet, in der alle Produkte und Waren importiert werden müssen und deren Preise zwei- bis dreimal so hoch sind wie im Landesdurchschnitt. Außerdem stiegen die Preise für Kraftstoffe sowie für alle Arten der öffentlichen Versorgung. Es war klar, dass die Verdopplung des Preises auf Flüssiggas zum 1. Januar zum Auslöser einer Explosion der Unzufriedenheit nicht nur der Autofahrer:innen wurde, da diese Kostensteigerung auch einen starken Anstieg der Preise von auf der Straße transportierten Produkten bedeutete.

Drittens war der Aufstand alles andere als eine völlig unerwartete und zufällige Überraschung, wie sie uns glauben machen wollen. Denn das ganze Jahr 2021 über wurden der Bezirk Mangistau und alle Regionen Westkasachstans von ständigen Kundgebungen und Streiks von Ölarbeiter:innen und Arbeiter:innen in Dienstleistungsunternehmen überzogen, überwiegend bei Unternehmen, an denen ausländisches Kapital beteiligt ist. Das waren größtenteils Besetzungsstreiks, bei denen Zelte und Jurten auf dem Gelände von Betrieben oder vor den Toren aufgestellt wurden, um zu verhindern, dass die Produktionsanlagen herausgebracht oder Streikbrecher hereingebracht werden. Die lokale Bevölkerung und benachbarte Betriebskollektive brachten ebenso wie Anfang Januar Lebensmittel, Wasser, Kleidung und sammelten sogar Spenden bei den Kundgebungen.

Viertens wurden – obwohl durch die Streiks Lohnerhöhungen durchgesetzt werden konnten – die wichtigsten Forderungen ignoriert. Dazu gehörten die Forderungen nach einem Ende von Rationalisierungen und nach einer Rückführung von Servicebetrieben in den Mutterbetrieb, nach Gewährleistung der Freiheit der Gewerkschaftstätigkeit und nach der Legalisierung und Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften, die von den Arbeiter:innen selbst gegründet wurden. Es sei darauf hingewiesen, dass infolge der von westlichen Manager:innen durchgeführten Rationalisierung Hunderttausende von Ölarbeiter:innen ihre Gehälter und Sozialleistungen verloren haben.

Fünftens wurden im Dezember 2021 auf dem Tengiz-Ölfeld beim „Tengizchevroil“-Joint Venture im Bezirk Atyrau, wo 75 Prozent der Anteile im Besitz der US-Konzerne Chevron und Exxon Mobil sind, 40.000 Arbeiter:innen aus Dienstleistungs- und Bauunternehmen mit sofortiger Wirkung ohne Bereitstellung irgendwelcher Ersatzarbeitsplätze entlassen. Die gleiche Gefahr von Entlassungen hing über den Arbeiter:innen von Dienstleistungsunternehmen im Bezirk Mangistau.

Zu berücksichtigen ist auch, dass in Mangistau die zu Sowjetzeiten entdeckten Vorkommen bereits schwinden und viele bis 2030 erschöpft sein werden. Hier müssen alle Ölarbeiter:innen der Perspektive eines bevorstehenden Arbeitsplatzverlustes ins Auge blicken. Drohende Entlassungen und der bevorstehende Zusammenbruch der ganzen Branche in diesem Bezirk schufen daher eine aussichtslose Situation.

Soziale Explosion

Anlass für die Explosion der Unzufriedenheit wurde die Entscheidung der Regierung, Flüssiggas für Autos an der Börse zu verkaufen und den Preis dem Markt zu  überlassen. In der Folge profitierten die Monopole, die den Preis gleich am ersten Tag spekulativ erhöhten. Der Kraftstoffpreis ist von 60 auf 120 Tenge (24 Euro-Cent) pro Liter gestiegen. Dies führte dazu, dass am nächsten Tag, am Sonntag, dem 2. Januar, Bewohner:innen von Zhanaozen und Arbeiter:innen lokaler Öl-Unternehmen, die gasbetriebene Fahrzeuge benutzen, begannen, zu spontanen Kundgebungen zu gehen und Straßen zu blockieren.

Sie wurden sofort von Einwohner:innen und Arbeiter:innen aller örtlichen Zentren des Bezirks unterstützt. Am Abend kam es bereits zu einer Kundgebung im Bezirkszentrum Aktau, bei der die Polizei zunächst erfolglos versuchte, die Menge vom zentralen Yntymak-Platz zu vertreiben. Infolgedessen wurden auch dort alle zentralen Straßen blockiert und die Menschen weigerten sich rundweg, sich zu zerstreuen. So entstanden zwei Protestzentren – Zhanaozen und Aktau, wo die Teilnehmer:innen beschlossen, eine unbefristete Kundgebung abzuhalten, bis ihre Forderung vollständig umgesetzt sein würde – die Senkung des Benzinpreises auf 50 Tenge pro Liter (10 Euro-Cent). Parallel dazu stellten die Demonstrant:innen eine weitere Forderung auf – eine Lohnerhöhung um 100 Prozent.

Anschließend begannen sich in der Nacht und dann am Morgen und Mittag des 3. Januar Betriebskollektive den Demonstrant:innen anzuschließen und gaben Unterstützungsbekundungen ab. Auf den Plätzen wurden Zelte und Jurten errichtet, die lokale Bevölkerung organisierte warme Mahlzeiten und begann, Spenden zu sammeln. Die aktuellen Proteste können daher als Fortsetzung der Massenstreiks des letzten Jahres gegen die von der westlichen Unternehmensführung auferlegte Rationalisierungspolitik bezeichnet werden, bei der viele Service-Einheiten aus den Mutterunternehmen ausgegliedert wurden.

Am 3. Januar erregten Informationen über die Verlegung von Militärtransportflugzeugen mit Truppen die Empörung der Demonstrant:innen. Infolgedessen weitete sich der Protest noch weiter aus, und Einwohner:innen und Arbeiter:innen des Bezirkszentrums blockierten alle Zufahrtsstraßen zum Flughafen.

Diese Reaktion war auch zu erwarten, da alle noch frische Erinnerungen an die Erschießung von Streikenden in Zhanaozen im Dezember 2011 haben. Deshalb rief die Nachricht Schmerz hervor und bereits nachts und morgens begann als Reaktion auf diese Maßnahme der Behörden ein Generalstreik der Ölarbeiter:innen im Bezirk Mangistau. Im benachbarten Bezirk Atyrau stellten Arbeiter:innen die Produktion auf dem Tengiz-Ölfeld ein.

Es waren die Ölarbeiter:innen des Unternehmens Tengizchevroil, an dem zu 75 Prozent US-Kapital beteiligt ist, die in den Streik traten. (Chevron besitzt 50 Prozent, ExxonMobil 25 Prozent und das kasachische Unternehmen KazMunayGas nur 20 Prozent.) Dort waren kurz vor Neujahr  40.000 Arbeiter:innen auf die Straße geworfen worden. Aber danach erfassten die Streiks nicht nur alle Ölförderunternehmen der fünf Bezirke Westkasachstans, sondern auch die gesamte Bergbauindustrie des Landes und die Metallindustrie.

Infolgedessen traten am 4. Januar Bergleute und Metallarbeiter:innen des Unternehmens „ArcelorMittal“ in der Region Karaganda sowie Arbeiter:innen aus Bergwerken und Kupferhütten des Kazakhmys-Konzerns, an dem britisches Kapital beteiligt ist, in den Streik. Örtliche Metallarbeiter:innen besetzten die Stadt Khromtau im Bezirk Aktobe vollständig.

Wichtigste soziale Forderungen der Streikenden wurden eine Absenkung der Preise für bestimmte Waren, höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, ein Ende der Entlassungen, die Freiheit der Gewerkschaftstätigkeit und der Bau neuer Fabriken – die Schaffung einer modernen Fertigungsindustrie, um die Zukunft der Region zu gewährleisten.

Am 5. Januar wurden in Zhanaozen, das zum eigentlichen politischen Hauptquartier der gesamten Arbeiter:innenbewegung wurde, auch politische Forderungen gestellt: der Rücktritt von Präsident Tokajew und allen Beamten aus dem Umkreis von Ex-Präsident Nasarbajew, die Freilassung politischer Gefangener und Inhaftierter, eine Rückkehr zur Verfassung von 1993, die die Freiheit garantiert, zu streiken und Gewerkschaften und Parteien zu gründen. Dort wurde aus Vertreter:innen aller Branchen der sogenannte Ältestenrat gewählt, der zum Koordinierungsgremium der Bewegung in der Region wurde und ein Beispiel für die Schaffung solcher Komitees und Räte in anderen von Streiks erfassten Regionen gab.

Die Rolle der Arbeiter:innenbewegung bei diesen Ereignissen war entscheidend, da es die Betriebskollektive waren, die zum Kern der Proteste in den Industrieregionen wurden und den Anstoß zu Massenkundgebungen in allen Städten Kasachstans gaben.

Die Ereignisse in Almaty und die Verhängung des Kriegsrechts

Gleichzeitig begannen am Dienstag, dem 4. Januar, auch schon zeitlich unbefristete Kundgebungen in Atyrau, Uralsk, Aktjubinsk, Kyzyl-Orda, Taraz, Taldykorgan, Turkestan, Shymkent, Ekibastuz, in den Städten des Bezirks Almaty und in Almaty selbst, wo die  Straßenblockaden bereits in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar zu einem offenen Zusammenstoß zwischen Demonstrant:innen und der Polizei führten, in dessen Folge das Rathaus vorübergehend eingenommen wurde. Dies veranlasste den Präsidenten Kassym-Zhomart Tokajew, am Morgen des 5. Januar den Ausnahmezustand auszurufen. Anzumerken ist, dass an diesen Protesten in Almaty hauptsächlich arbeitslose Jugendliche und Binnenmigrant:innen teilnahmen, die in den Vororten der Metropole leben und in befristeten oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Und Versuche, sie mit Versprechungen zu beruhigen, indem der Gaspreis für die Bezirke Mangystau und Almaty auf 50 Tenge (10 Euro-Cent) gesenkt wurde, haben schon niemanden mehr zufrieden gestellt.

Die Entscheidung von Kassym-Zhomart Tokayew, die Regierung zu entlassen und dann Nursultan Nasarbajew vom Posten des Vorsitzenden des Sicherheitsrates zu entfernen, hat die Proteste ebenfalls nicht gestoppt, da es bereits am 5. Januar zu Massenkundgebungen in den Bezirkszentren Nord- und Ostkasachstans kam, wo es sie zuvor nicht gegeben hatte – in Petropawlowsk, Pawlodar, Ust-Kamenogorsk, Semipalatinsk. Gleichzeitig wurde in Aktyubinsk, Taldykorgan, Shymkent und Almaty versucht, die Gebäude der Bezirksverwaltungen zu stürmen.

Viele Aktivist:innen beobachteten den Einsatz organisierter Provokateure durch die Behörden am 5. Januar, als die Proteste ganz Kasachstan erfassten und Polizei und Armee die Demonstrant:innen nicht länger zurückhalten konnten. So gab es in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar und im Verlaufe des 5. Januars in Almaty, dem Bezirk Mangistau, in Shymkent, Taldykorgan, Taraz und anderen Städten zahlreiche Fälle von Polizisten und Soldaten aus den unteren Rängen, die auf die Seite der Aufständischen überliefen.

Daher setzte der Geheimdienst „Nationales Sicherheitskomitee“ ausgebildete Kampfgruppen ein, die schon seit Langem in abgeschlossenen Stützpunkten und Lagern ausgebildet worden waren, um eine „Chaos-Zone“ in Almaty und Südkasachstan zu schaffen. Diese ausgebildeten Gruppen von jungen Menschen sowie dem Geheimdienst unterstellte kriminelle Gruppierungen verübten Pogrome, Plünderungen, Angriffe auf staatliche Einrichtungen und verfügten über Waffen.

Der Einsatz dieser Provokateure zielte darauf ab, alle Demonstrant:innen des „Terrorismus“ zu beschuldigen und den Beschuss friedlicher Kundgebungen und Streiks anzuordnen. Deshalb versuchten sie im Fernsehen und in Zeitungen, alle Demonstrant:innen als Plünderer, Räuber, Mörder und sogar Terroristen darzustellen. Am 6. Januar wurden Einheiten der Armee und der Nationalgarde nach Almaty gebracht, die viele unbewaffnete Demonstrant:innen sowie diejenigen jungen Arbeitslosen erschossen, die, nachdem sie am Tag zuvor die örtliche Polizei und Militäreinheiten entwaffnet hatten, zu den Waffen gegriffen haben, um das Nasarbajew-Regime zu stürzen.

Infolgedessen wurde nun in Kasachstan ein strenges Kriegsrecht verhängt, das auf Befehl Kassym-Zhomart Tokayews eingeführt wurde, um Volksaufstände und Streiks von Arbeiter:innen in der Rohstoffindustrie wie auch in den Metallbetrieben im Besitz US-amerikanischer und europäischer Konzerne mit militärischer Gewalt zu unterdrücken.

Bis heute wurden nach offiziellen Angaben mehr als 10.000 Menschen festgenommen, 225 Menschen starben in Almaty und einigen Städten im Süden Kasachstans. Tatsächlich gab es jedoch viel mehr Tote, da es richtige Kämpfe gegen das aufständische Volk gab. Außerdem kam es zu Erschießungen in Qysyl-Orda, Aktyubinsk, Atyrau und anderen Städten, in denen es überhaupt keine Pogrome gegeben hatte. Der Präsident nannte die Demonstrant:innen Terroristen und behauptete, dass 20.000 Bewaffnete von außen auf das Territorium Kasachstans vorgedrungen seien. Aber das ist nicht wahr!

Um ein Blutvergießen zu verhindern, haben die Ölarbeiter:innen Westkasachstans sowie Metallarbeiter:innen, Kupferschmelzer:innen und Bergleute der Minen des Bezirks Karaganda am Samstag, dem 8. Januar, organisiert ihre Kundgebungen und Streiks beendet. Aber seit dem 2. Januar gelang es den Arbeiter:innen in den Industrieregionen, wo die Arbeiter:innenklasse den Kern der Proteste ausmachte, den Protestcharakter der Aktionen sicherzustellen.

Über eine angebliche Beeinflussung der Ereignisse von außen

In den Medien und sozialen Netzwerken sowie von vielen linken und kommunistischen Parteien wurden Verschwörungstheorien über eine Einmischung der Vereinigten Staaten, der Ukraine, Großbritanniens, der Türkei und anderer Staaten verbreitet. Diese würden angeblich versuchen, eine „Farbenrevolution“ in Kasachstan zu organisieren. Tatsächlich hat sich das US-Außenministerium bereits am 6. Januar für das bestehende Regime in Kasachstan ausgesprochen, ebenso wie die Europäische Union sowie die Führungen Russlands und Chinas. Das heißt, es gab eine echte Manifestation der bürgerlichen Klassensolidarität im Kampf gegen die Massenbewegung der Arbeiter:innen und breiter Volksschichten.

Es gibt auch keine 20.000 islamistischen Terroristen, die Präsident Tokajew in seiner Erklärung erwähnt hat. Ihm zufolge sind sie angeblich aus arabischen Ländern nach Kasachstan eingedrungen. Bis heute hat man jedoch unter den Toten, Verletzten und Festgenommenen keinen einzigen Araber gefunden. Dieser Mythos einer externen Invasion wurde benötigt, um den Einsatz von Panzern und schweren Waffen gegen Demonstrant:innen und Streikende zu rechtfertigen und andererseits die Notwendigkeit zu erklären, Truppen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ nach Kasachstan zu verlegen. Außerdem wird auf diese Weise versucht, in den Augen der Werktätigen anderer ehemaliger Sowjetrepubliken das Bild von Arbeiteraufständen und Massenprotesten der Bevölkerung zu verteufeln.

Bisher spielen in dieser Protestbewegung oder bei Arbeiteraufständen keinerlei politische Kräfte eine Rolle, da das politische Feld im Moment vollständig gesäubert ist, alle Oppositionsparteien und -bewegungen, einschließlich der Kommunistischen Partei, wurden verboten. Alle unabhängigen Gewerkschaften wurden aufgelöst. Alleine nach der Verabschiedung des arbeiterfeindlichen Gewerkschaftsgesetzes im Jahr 2014 wurden mehr als 600 Gewerkschaften im Land per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Zuletzt wurde der „Verband Unabhängiger Gewerkschaften Kasachstans“ 2017 durch ein Gerichtsurteil verboten, vier seiner Vorsitzenden wurden zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt.

Natürlich wird es in Zukunft Versuche der bürgerlichen Kräfte geben, die Protestbewegung anzuführen, aber bisher ist dies nicht geschehen, und es gibt keinerlei Anführer:innen oder politische Vereinigungen, die im Namen dieser Massen sprechen könnten. Dies beweist einmal mehr, dass das, was passiert ist, eine soziale Explosion und eine Massenbewegung an der Basis war, die eine Reihe gerechter wirtschaftlicher, sozialer und politischer Forderungen vorbrachte bis hin zur Abschaffung des derzeitigen Regimes.

Bisher gelang es Präsident Tokajew, die Lage durch die Einführung eines Militärregimes vorübergehend zu stabilisieren. Aber das ist vorübergehend, denn trotz des nationalen Populismus seiner jüngsten Reden bleiben alle Klassengegensätze und das politische System selbst sowie die Dominanz transnationaler Konzerne unverändert bestehen. Bemerkenswerterweise wandten sich US-amerikanische und europäische Unternehmen als erste an den Präsidenten mit der Bitte, die Ordnung wiederherzustellen, und am 5. Januar gab er eine Erklärung ab, dass das Eigentum und die Investitionen ausländischer Unternehmen durch die Staatsmacht geschützt würden. Und tatsächlich sind jetzt Truppen zum Tengiz-Ölfeld geschickt worden, wo zuvor streikende Ölarbeiter:innen die Eisenbahnstrecke und die Autobahn blockierten, um das Eigentum der US-Konzerne Chevron und ExxonMobil zu schützen.

Wir glauben nicht, dass dies eine endgültige Niederlage der Arbeiter:innenbewegung ist. Im Gegenteil, Ölarbeiter:innen, Bergleute und Metallarbeiter:innen haben unschätzbare Erfahrungen in Klassenkämpfen gesammelt und zum ersten Mal gab es einen Generalstreik in der Bergbauindustrie. Die Behörden haben es nicht geschafft, die Proteste und Streiks der Arbeiter:innen im Westen und im Zentrum Kasachstans niederzuschlagen, wo die Arbeiter:innen die Proteste organisiert beendeten. Das bedeutet, dass der Generalstreik erneut begonnen werden kann, allerdings mit bereits konkreteren Forderungen und einer entwickelten Kampftaktik.

Unsere Aufgabe ist es, den Aufbau von klassenkämpferischen Gewerkschaften zu unterstützen, die Aufhebung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 2015 zum Verbot der Kommunistischen Partei und die Legalisierung der Sozialistischen Bewegung zu erreichen und der Arbeiter:innenklasse zu zeigen, dass der Sozialismus die einzige Alternative ist, die ihre Interessen zum Ausdruck bringt.

Sozialistische Bewegung Kasachstans

Der Text wurde zuerst am 24.01.2022 auf Russisch auf der Website www.socialismkz.info veröffentlicht (http://socialismkz.info/?p=26989) und von Christoph Wälz übersetzt.




China: Xi Jinping rüstet sich gegen stürmisches Wetter

Peter Main, Infomail 1170, 19. November 2021

Eine Schlagzeile aus China lautet, dass das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Parteiam 11. November eine „historische Resolution“ zur Geschichte der Partei verabschiedet hat, in der Xi Jinping der gleiche Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) und Deng Xiaoping zuerkannt wird. Zusammen mit der vorangegangenen Verfassungsänderung, mit der die Begrenzung auf zwei Amtszeiten für PräsidentInnen aufgehoben wurde, unterstreicht diese Auszeichnung Xis Machtkonsolidierung innerhalb der Partei. Zumindest hat es den Anschein.

Die wichtigste Nachricht aus China aber ist, dass der zu erwartende Konkurs von Evergrande die Zahlungsunfähigkeit vieler anderer großer Immobilienunternehmen in den Fokus rückt und die Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. (Siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/)

Andere große Unternehmen wie Sinic, Fantasia und China Modern Land sind mit Tilgungen ihrer Anleihen in Verzug geraten und auch Kaisa, eine Immobilienverwaltungsgesellschaft, ist gefährdet. Die Lage von Evergrande wurde durch die Enthüllung verschlimmert, dass das Unternehmen große Summen von einer Bank geliehen hatte, die ihm teilweise gehört, was einen Verstoß gegen die Bankvorschriften darstellen könnte.

Auf internationaler Ebene brachten die Schwierigkeiten von Evergrande verheerende Auswirkungen auf die auf Dollar lautenden Anleihen, mit sich die andere chinesische ImmobilienentwicklerInnen Finanzmittel beschaffen. Im Juni boten diese 10 Prozent Zinsen, jetzt müssen sie 29 Prozent offerieren, was weit in den Bereich der „Schrottanleihen“ hineinreicht. Das bedeutet, dass chinesische BauträgerInnen keine internationalen Kredite aufnehmen können.

Am 12. November berichtete die Financial Times außerdem, dass chinesische Anleihen in der Regel zu einem höheren Kurs, aber einer niedrigeren Umlaufrendite als andere angeboten wurden, weil sie als sehr risikoarm galten – der „China-Aufschlag“. KommentatorInnen sprechen jetzt von einem „China-Abschlag““ – was bedeutet, dass die Anleihen zu einem niedrigeren Kurs, aber einer höheren Marge angeboten werden müssen, weil das Risiko höher eingeschätzt wird.

Partei

Hat irgendetwas davon Einfluss auf Xi Jinpings neuen und erhabenen Status? Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Die Kommunistische Partei ist für das gesamte chinesische Regierungssystem von derart zentraler Bedeutung, dass sich jede Veränderung ihrer Struktur, ihrer Führung oder ihrer propagandistischen Schwerpunkte mit Sicherheit in umfassenden Entwicklungen in der Gesellschaft ausdrücken wird.

Die zentrale Stellung der Partei ist in ihrer Geschichte verwurzelt. In der langen Periode der territorialen Doppelherrschaft zwischen der Niederlage von 1927 und dem Sieg von 1949 war die Partei der entscheidende Faktor für den Zusammenhalt der Landesteile, die insgesamt doppelt so groß wie Frankreich waren und etwa 100 Millionen EinwohnerInnen zählten.

Neben der Verwaltung der von ihr kontrollierten Gebiete steuerte die Partei natürlich auch die Entwicklung der Volksbefreiungsarmee. Kurzum, die Partei stellte das Personal für einen sich entwickelnden Staatsapparat, der durch die Kombination ihrer Volksfrontstrategie zur Erlangung der Macht und ihrer bürokratisch-zentralistischen Disziplin zusammengehalten wurde, die beide von der Kommunistischen Internationale unter Stalin eingeführt worden waren.

Es wurde ein bürgerlicher Staatsapparat mit einer zivilen Verwaltung, einem Rechtssystem und einer Armee aufgebaut. Nach der Niederlage der Guomindang (Kuomintang) im Jahr 1949 konnten die entsprechenden Elemente des bestehenden chinesischen Staates, die von politisch unzuverlässigem Personal gesäubert worden waren, relativ leicht in den kommunistisch kontrollierten Apparat integriert werden.

Trotz wilder politischer Ausschläge in den letzten 70 Jahren ist die „führende Rolle“ der Partei das bestimmende Merkmal des chinesischen politischen Systems geblieben. Die Partei stellt nicht nur alle Schlüsselfiguren in allen Ministerien des Staates. Ihre 92 Millionen Mitglieder bilden ein Netz der Überwachung und Kontrolle in der gesamten Gesellschaft. Jeder große Betrieb muss ein Parteikomitee haben, jeder Stadtbezirk hat seine Parteiorganisation.

Ein solches System verleiht der Führung natürlich enorme Macht, hat aber auch seine Schattenseiten: Die schiere Größe der Organisation und ihre derart tiefe gesellschaftliche Einbindung bedeuten zwangsläufig, dass unterschiedliche, potenziell widersprüchliche Ideen und soziale Kräfte ihren Weg in die Partei finden.

Im Rahmen des Systems bürokratischer Planung, das nie so zentralisiert war wie im sowjetischen Modell, auf dem es ursprünglich beruhte, führte dies zu weit verbreiteter Korruption, Vorteilsnahme für die eigene Familie, bevorzugten Beförderungen, Sonderrationen und – auf höherer Ebene – zu regionalem Vorrang bei der Zuteilung von Entwicklungsgeldern und Ähnlichem. Die Restauration des Kapitalismus öffnete jedoch vollends alle Schleusentore. Die Bewilligung immer engerer Verbindungen zwischen Partei und Kapital wurde dadurch signalisiert, dass „Geschäftsmänner“ – und dies waren in der Regel Männer – nun Parteimitglieder werden konnten.

Gleichzeitig wurden viele Parteimitglieder entweder selbst zu KapitalistInnen oder zu KapitalverwalterInnen im Auftrag des Staates oder eines Unternehmens. Solange die Wirtschaft als Ganzes expandierte, stellte der wachsende Einfluss kapitalistischer Interessen innerhalb der Partei kein großes Problem dar. In der Tat spielte der Parteistaatsapparat die von Marx beschriebene Rolle des (mehr als ideellen) „Gesamtkapitalisten“ und lenkte die Gesamtwirtschaft im Interesse der Kapitalakkumulation, die, wie in anderen Ländern, als „nationales Interesse“ dargestellt wurde.

Spannungen

Der Kapitalismus wächst jedoch weder beständig noch gleichmäßig. Selbst in einem hochgradig verstaatlichten Kapitalismus wachsen verschiedene Sektoren in unterschiedlichem Tempo oder eben nicht, und die Ökonomie als solche wird von der Dynamik der Weltwirtschaft beeinflusst. Diese unvermeidlichen Schwankungen müssen nun in Form verschiedener Gruppierungen innerhalb der Partei ihren Ausdruck finden.

Die Realität des Kapitalismus bedeutet, in China wie überall, dass mit größerer Kapitalakkumulation auch größere soziale Ungleichheit einhergeht. In einem Land, das von einer Organisation regiert wird, die sich selbst als kommunistische Partei bezeichnet, wirkt dieser Gegensatz jedenfalls potentiell sehr destabilisierend. Die Legitimität des Regimes, die durch Chinas traditionelle politische Kultur gestärkt wird, beruht auf dessen Fähigkeit, die soziale Ordnung und den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Die weit verbreiteten Berichte, wonach Xi jetzt den Schwerpunkt auf den Aufbau eines „gemeinsamen Wohlstands“ lege, aber auch seine Maßnahmen gegen eine Reihe von MilliardärInnen sind eindeutige Belege für Versuche, diese Legitimität zu untermauern.

Als die Partei 1945 eine Resolution verabschiedete, in der Mao Zedongs politische und theoretische Errungenschaften mit denen von Marx und Lenin gleichgesetzt wurden, bedeutete dies seinen Sieg über andere Fraktionen innerhalb der Partei. Auch Deng Xiaopings Resolution zur Geschichte der Partei, in der er Maos Verdienste und Fehler in einem Verhältnis von 70 zu 30 Prozent einstufte, markierte 1978 seinen Sieg über die Überbleibsel von Maos Regime, der „Viererbande“. Wie sollten wir dann Xi Jinpings Erhebung in den Pantheon, den höchsten Tempel der Partei durch das Zentralkomitee verstehen?

Wandel

Das zunehmend autoritäre und repressive Regime, das Xi eingeführt hat, deutet auf ein anderes Szenario hin. Es handelt sich nicht um einen Sieg über rivalisierende Fraktionen, sondern um einen Präventivschlag in Vorbereitung auf kommende Kämpfe. Xis Anspruch auf Vormachtstellung beruht auf der Behauptung, dass er die Nachfolge von Mao und Deng antrete und das Parteiziel vom „Sozialismus chinesischer Prägung“ als Spielart des „Sozialismus in einem Land“ vollende.

Laut Xi erfordern weitere Fortschritte eine Änderung der Wirtschaftsstrategie, deren Ziel die Verwirklichung des „dualen Kreislaufs“ sein wird. Was dies genau bedeutet, wird möglicherweise im 14. Fünfjahresplan dargelegt, der Anfang nächsten Jahres verabschiedet werden soll, aber der Begriff kursiert bereits seit einiger Zeit und impliziert eine geringere Abhängigkeit von internationalen Lieferketten und eine stärkere Betonung der steigenden Verbrauchernachfrage in China selbst. Das Modell einer autarkeren Volkswirtschaft mag an den „Sozialismus in einem Land“ erinnern, aber der Zeitpunkt zeigt, dass es eher als Reaktion auf die von Washington auferlegten Handelsschranken betrachtet werden muss, insbesondere für in den USA entwickelte Hightech-Güter.

Die Abkehr von der durch Deng Xiaoping verfolgten Strategie einer „Großen Internationalen Zirkulation“, die darin bestand, das riesige Arbeitskräfteangebot Chinas zu nutzen, um seine Wirtschaft in den Weltmarkt zu integrieren, wird sicherlich zu großen Veränderungen in der Prioritätensetzung innerhalb Chinas führen. Die Entscheidung, gegen die Baubranche und somit den Immobiliensektor vorzugehen, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Folgen, mögliche große Konkurse und Veränderungen in den Zulieferindustrien, sind die ersten Anzeichen dafür, wie weit Xis Führung zu gehen bereit ist.

Es muss damit gerechnet werden, dass wichtige Teile des Kapitals und vor allem der Belegschaften die Weisheit der neuen Politik in Frage stellen und vielleicht sogar versuchen werden, sich ihr zu widersetzen. Das ist genau der Grund, warum das Regime in den letzten Jahren immer repressiver geworden ist – und warum es notwendig war, Xi ideoloigsch aufzuwerten und somit zu stärken, um die Unterbindung jeglichen Widerspruchs zu rechtfertigen.

Für SozialistInnen bietet die Aussicht auf interne Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines solchen autokratischen Regimes die Möglichkeit, eine marxistische Kritik nicht nur an unmittelbaren politischen Entscheidungen, sondern am Charakter des gesamten Regimes und seiner Geschichte zu fördern. Das strategische Ziel ist, wie in allen Ländern, die Bildung einer ArbeiterInnenpartei mit einem Programm für den revolutionären Sturz des Kapitalismus durch unabhängige Organisationen auf Grundlage von ArbeiterInnenräten.

Diejenigen, die sich diesem Ziel verschreiben, müssen einen organisatorischen Rahmen schaffen, in dem die Schlüsselelemente eines solchen Programms ebenso wie die notwendigen Taktiken entwickelt werden, um es in die Kämpfe einzubringen, das kapitalistische China in den kommenden Jahren mit Sicherheit erschüttern werden.