30 Jahre Wiedervereinigung – kein Grund zum Feiern

Martin Suchanek, Referat beim Live-Steam der Gruppe ArbeiterInnenmacht vom 15.10.2020

2020 blieben uns wegen der Pandemie inszenierte Einheitsfeiern weitgehend erspart. Die Festreden der Herrschenden und des politischen Establishments, die es natürlich trotzdem vom Bundespräsidenten abwärts gab, verbreiteten dabei ihre Sicht auf die Wiedervereinigung.

Die Einheit wäre insgesamt eine tolle Sache. Bundespräsident Steinmeier schlug sogar eine Gedenkstätte vor. Leider hatte sie, wie alles im Leben, ihre Schattenseiten v. a. für die Menschen aus der ehemaligen DDR. Die soziale Einheit wäre noch immer nicht ganz vollzogen, aber sie würde schon kommen. So oder ähnlich lautet die offizielle Linie der deutschen Politik – und so oder ähnlich lautete die offizielle Bilanz der kapitalistischen Wiedervereinigung auch vor 5, 10 oder 15 Jahren.

Die Schattenseiten des Prozesses werden zwar erwähnt. Sie trüben freilich nicht das Licht der Einheit.

So verkündete auch 2020 Frank-Walter Steinmeier, dass wir „in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“, leben würden. „Wir seien Glückskinder Europas“.

Wer ist aber dieses „Wir“? Alle offiziellen, staatstragenden Reden über die Wiedervereinigung kennen, auch wenn sie mehr oder weniger willig die sozialen Verwerfungen des Prozesses anerkennen, keine Klassen. Sie kennen allenfalls Ost und West, das irgendwie zusammenwächst. Im Zentrum steht das nationale WIR, ein Deutschland, das vom  gesellschaftlichen Grundwiderspruch oder von der imperialistischen Weltordnung nichts wissen will, sondern nur noch seine Glückskinder kennt.

Bei vielen will sich freilich bis heute das Glücksgefühl nicht richtig einstellen. Bis heute wirken die Versprechen der Wiedervereinigung schal – und das mit gutem Grund.

Im  folgenden Vortrag werde ich mich mit folgenden Punkten beschäftigen:

  • Die hartnäckige Ungleichheit zwischen Ost und West
  • Ihre Ursache – die kapitalistische Wiedervereinigung
  • Die politische Entwicklung im Osten
  • Charakter der Wiedervereinigung und die Stärkung des deutschen Imperialismus
  • Ursachen für den Zusammenbruch der DDR
  • Lehren für aktuelle Auseinandersetzungen

1. Reproduktion sozialer Ungleichheit

Hier nur einige Zahlen, die den Unterschied zwischen Ost und West belegen:

  • 2018 mussten die Arbeiter„nehmer“Innen in den alten Bundesländern im Schnitt 1295 Arbeitsstunden arbeiten, im Osten (inklusive West-Berlin) 1351 Stunden, also 56 Stunden länger.
  • Diese Ungleichheit wird auch bei den tariflich Beschäftigten reproduziert. So hatten  2018 im Westen 8 Prozent dieser eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, im Osten 40 Prozent.
  • Die Jahres-Bruttolöhne je Beschäftigten lagen im Westen bei 36.088 Euro, in den neuen Ländern bei 31.242 Euro, was einen Unterschied von knapp 4.900 Euro ausmacht.
  • Mindestlöhne und Renten, die selbst das geringere Lohn- und Einkommensniveau widerspiegeln, klaffen weiter auseinander.

Die Spaltung des Arbeitsmarktes hält also auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung an. Und das, obwohl sich im Westen die prekären und atypischen Arbeitsverhältnisse (Befristung, Teilzeitarbeit unter 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit) unter anderem aufgrund der Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sogar noch schneller ausgedehnt haben als im Osten.

In den alten Bundesländern betrug 2017 der Anteil prekärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse an der gesamten Erwerbstätigkeit 24 % gegenüber 18 % im Osten. Den Hintergrund dafür bildet jedoch die deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Dort lag sie Ende 2018 bei 7,6 % gegenüber 5,3 % im Westen.

Von 1991 bis 2017 wanderten außerdem 3.681.649 von Ost nach West ab, was fast einem Viertel der Bevölkerung der ehemaligen DDR entspricht. Dem stehen zwar 2.451.176 Zuzüge aus dem Westen entgegen, die Wellen der innerdeutschen Migration entsprechen jedoch der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und der geringen Arbeitsmarktperspektiven, gerade für besser ausgebildete Menschen.

Die Migration von Ost nach West ging außerdem auch mit einer massiven Verschärfung der  Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer einher. Einigen „erfolgreichen“ städtischen  Regionen steht der fortgesetzte Abstieg der meisten ländlichen und kleinstädtischen Gebiete bis zum Verlassen ganzer Dörfer entgegen.

Die Ungleichheit zwischen Ost und West drückt sich daher keineswegs nur auf dem Arbeitsmarkt aus, sondern insbesondere auch beim Vergleich einzelner Regionen. So zeigt z. B. der „Teilhabeatlas Deutschland“, dass sich in den neuen Bundesländern die „abgehängten Regionen“ konzentrieren. Diese zeichnen sich durch einen hohen Anteil an Hartz-IV-EmpfängerInnen (darunter auch viele „AufstockerInnen“), geringere kommunale Steuereinnahmen, besonders geringes jährliches durchschnittliches Haushaltseinkommen (Medianwert für 2017: 19.100 Euro), geringe Lebenserwartung, Abwanderung (2017 noch immer mehr als 10 Prozent!), schlechter digitaler Anbindung und überdurchschnittlicher Entfernung zu Versorgungseinrichtungen (Krankenhaus, Behörden, …) aus.

Die Frauen zählen in besonderem Maß zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

2. Ursache: Kapitalistische Wiedervereinigung

Hintergrund der sozialen Ungleichheit und damit ungleicher Lebensbedingungen bilden selbstredend nicht „Mentalitätsunterschiede“, sondern vielmehr die Ergebnisse der kapitalistischen Wiedervereinigung, zu denen eben auch gehört, dass dem Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR ein spezifischer Platz im Rahmen eines schon bestehenden bundesdeutschen gesellschaftlichen Gesamtkapitals zugewiesen wurde.

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung erlebte die DDR-Ökonomie einen drastischen Niedergang und Ruin, dessen Ausmaß für Friedenszeiten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig war und ist.

Zwischen 1990 und 1992 wurden zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zerstört und zwar unter Aufsicht und Lenkung der Treuhandanstalt, einer Staatsholding, die die Privatisierung der DDR-Ökonomie überwachen sollte.

Ende 1992 waren nur noch 750.000 Menschen in der ehemaligen DDR-Industrie beschäftigt, etwa ein Viertel des Beschäftigungsstandes zur Zeit der Wiedervereinigung. Auch die landwirtschaftliche Produktion sank von 1989 bis 1992 auf rund die Hälfte. Von 9,8 Millionen Beschäftigten der DDR-Wirtschaft wurden rund 4 Million „freigesetzt“, arbeitslos, in Kurzarbeit geschickt oder verschwanden vom Arbeitsmarkt (RentnerInnen; Abwanderung in den Westen; Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen).

Zugleich stiegen die Preise für Konsumgüter und Mieten dramatisch, so dass die Auswirkungen des für kleinere SparerInnen günstigen Umtauschkurses von Ost-Mark zu D-Mark (1:1) im Zuge der Währungsreform rasch verpufften. Umgekehrt begünstigte die Währungsreform 1990 die Aneignung der ostdeutschen Ökonomie durch das westdeutsche Kapital.

Der Umtauschkurs bedeutete erstens, dass die Schulden der DDR-Unternehmen in D-Mark neu bewertet wurden, darunter auch Kosten, die in einer kapitalistischen Ökonomie erst gar nicht in den einzelbetrieblichen Bilanzen aufgeschienen wären (z. B. betriebliche Sozialleistungen).

Zweitens wog die Neubewertung des Anlagevermögens der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungsunternehmen (Handel, …) besonders schwer. Das veraltete, lange nicht erneuerte fixe Kapital wurde jetzt mit den westdeutschen, fortgeschrittenen Kapitalien verglichen und neu bewertet. Das Anlagevermögen wurde somit über Nacht weit mehr entwertet, als es der Umtauschrelation größerer Geldvermögen (1:2) entsprach, so dass die Schuldenrate der DDR-Betriebe massiv anwuchs. Sie waren als Konkurrentinnen damit mehr oder minder aus dem Feld geschlagen.

Das Übrige erledigte die Treuhand. Sie verkaufte die DDR-Betriebe unter Wert, v. a. an die westdeutsche Konkurrenz. Da es keine DDR-Bourgeoisie gab, wanderte in kurzer Zeit alles, was profitabel erschien, in die Hände der bundesdeutschen KapitalistInnenklasse. Ursprünglich sollte die Privatisierung der ostdeutschen Ökonomie und deren Restrukturierung durch Verkaufserlöse finanziert werden. Doch das westliche Kapital wollte für die DDR-Unternehmen nicht zahlen, sondern für seinen „Dienst“ noch belohnt werden.

Daher übernahm die Treuhand und über diese der Staat den größten Teil der Schulden. Bis Ende 1992 waren so 8.000 von 40.000 DDR- Betrieben auf diese Weise verkauft, genauer verscherbelt worden.

Die Filetstücke – z. B. Carl Zeiss Jena – eigneten sich die „rettenden“ Konzerne zuerst an, sei es, um neue wirtschaftliche „Inseln“ zu schaffen, sei es, um unliebsame Konkurrenz zu übernehmen und auszuschalten, und sie erhielten dafür Milliardensubventionen (Carl Zeiss Jena 3,5 Mrd. DM).

Die kapitalistische Wiedervereinigung stärkte also das deutsche Kapital mehrfach. Sie erweiterte den Markt für Waren, erlaubte die Aneignung von Betrieben faktisch für nichts, verschaffte ein Reservoir von Billigarbeitskräften, erhöhte den Druck am Arbeitsmarkt, machte den Osten zum Exerzierfeld für sog. Arbeitsmarktreformen. All das stärkte damit das deutsche Kapital auf dem Weltmarkt und insbesondere auch in Europa gegenüber seinen unmittelbaren imperialistischen KonkurrentInnen.

3. Polarisierung und soziale Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung

Das Geheimnis das Aufstiegs der AfD gerade im Osten muss zweifellos vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern verstanden werden. Aber nicht in einer mechanischen Weise, sondern im Wechselverhältnis von sozialer Entwicklung und Klassenkämpfen. Allein die jahrelange starke Stellung von PDS/Linkspartei unter den Erwerbslosen, aber auch den Mittelschichten im Osten, zeigt, dass es nicht einfach Armut, Benachteiligung oder gar eine angeblich besonders autoritär geprägte DDR-Identität waren, die per se die Menschen zur AfD oder zur extremen bis hin zur faschistischen Rechten treiben.

Die kapitalistische Wiedervereinigung stellte für die ArbeiterInnenklasse in ganz Deutschland eine historische Niederlage dar. Auch wenn die Bewegung gegen die DDR-Bürokratie eine legitime Massenbewegung war, so machte sich ihre politische Schwäche, der kleinbürgerliche Charakter ihres Programms, rasch fatal bemerkbar. Sie hatte keine Antwort auf die grundlegenden ökonomischen Probleme der DDR – und eröffnete dem westdeutschen Imperialismus somit die Chance, die Lage zu seinen Gunsten zu wenden. Aus einer halben Revolution gegen die Bürokratie wurde eine ganze Konterrevolution.

Diese stärkte den Imperialismus, die soziale, wirtschaftliche und globale Stellung des „eigenen“ Kapitals, ungemein. Die soziale Konterrevolution im Osten, also die Vernichtung des ArbeiterInnenstaates DDR, wurde jedoch in einer bürgerlich-demokratischen Form vollzogen, was nicht zuletzt auch die Einbindung der Massen erleichterte – trotz einer enormen Zerstörung der ökonomischen Basis der ehemaligen DDR.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Niederlage waren jedoch in den neuen und alten Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Klassenstruktur (und -zusammenarbeit) des BRD-Kapitalismus wurde im Westen nur schrittweise umgemodelt. In der DDR wurde das gesamte soziale und ökonomische Gefüge abrupt, sprunghaft zerstört. Der Kapitalismus war nicht zuletzt aufgrund der massiven Zerstörung der ostdeutschen Industrie immer instabiler als im Westen und daher auch die soziale Struktur der Gesellschaft selbst.

D. h. wir können während und nach der Wiedervereinigung von Beginn an verschiedene Formen der raschen politischen Veränderung beobachten.

Zuerst enorme Illusionen in die bürgerliche Demokratie und in die sog. soziale Marktwirtschaft.

Sehr rasch auch extrem reaktionäre, rassistische und faschistische Antworten – die pogromartigen Mobs von Rostock, Hoyerswerda waren zwar nicht auf den Osten beschränkt, hatten dort aber ihr Zentrum. Die Nazis fanden Zulauf.

Es ist kein Zufall, dass es im Osten den starken Zulauf für die Pegida und die rassistische AfD zuerst gab,  auch weil die Verhältnisse nicht nur für die ArbeiterInnenklasse und Erwerbslosen, sondern auch für die Mittelschichten und das KleinbürgerInnentum weitaus instabiler sind.

Aber die soziale Lage kann auch nach links ausschlagen, wie die letzten Jahrzehnte gezeigt haben. So waren PDS, später auch die Linkspartei, beispielsweise jahrelang in der Lage, Arbeitslose als WählerInnen zu binden. Vor allem aber Bewegungen der Klasse sind zu erwähnen. So die teilweise sehr langen Betriebsbesetzungen gegen Schließungen Anfang der 1990er Jahre, z. B. des ehemaligen Kali-Bergwerks Bischofferode. So der IG Metall Streik im Osten 2003 und die Bewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze in den Jahren 2003 und 2004. Letztere waren fortschrittliche proletarische Massenbewegungen, die jedoch von der Gewerkschaftsbürokratie, von der SPD verkauft oder direkt bekämpft wurden oder denen die PDS und die Linkspartei keine Perspektive über Wahlen hinaus zu geben vermochten.

Der Aufstieg der AfD reflektiert also nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die soziale Lage verschiedener Klassen, sondern auch Verrat und Niedergang der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften.

4. Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie nach erfolgreicher Demobilisierung und Integration der Massenbewegung von 1989 praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der radikalen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit der Bürokratie, statt mit einem Forderungsprogramm für ArbeiterInnendemokratie, demokratische Planung und eine revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution ausgestaltet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit.

Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2005 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn hätte bieten können.

Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird – in Ost und West.

5. Ursachen für den Zusammenbruch

Das erfordert aber, die Ursachen für den Zusammenbruch der DDR und die kapitalistische Restauration zu verstehen. Hierzu einige Punkte:

  • Der Zusammenbruch der DDR war natürlich durch die Erschöpfung der bürokratischen Planwirtschaften bedingt. Der Westen verschärfte den Kalten Krieg und den ökonomischen Druck, nicht zuletzt auch durch Schulden usw.
  • Die Frage ist in diesem Zusammenhang jedoch auch zu stellen, warum der sog. Sozialismus der DDR und des gesamten Ostblocks scheiterte, unterlag und warum ihn die ArbeiterInnenklasse nicht verteidigte.
  • Die Antwort darauf kann nicht nur im Westen, im Druck des Imperialismus gesucht werden, sie erfordert auch, die Frage zu stellen: Was stellten die DDR oder andere Staaten des Ostblocks eigentlich dar? Waren sie sozialistisch? Herrschte die ArbeiterInnenklasse wirklich? Warum entstanden Massenbewegungen gegen die herrschenden Parteien und den Staatsapparat?
  • Die DDR und die anderen Länder Osteuropas waren zwar Planwirtschaften und hatten das Kapital enteignet, also wichtige Voraussetzungen für eine Entwicklung zum Sozialismus geschaffen, aber sie enteigneten die herrschende Klasse auf bürokratische Weise. Die ArbeiterInnenklasse bestimmte nie die politischen Entscheidungen. Das erledigte eine Kaste, eine Staatsbürokratie, die die politische Macht monopolisierte, die ArbeiterInnenklasse davon faktisch ausschloss und zugleich die Illusion verbreitete, den Sozialismus in einem Land, ohne internationale Ausweitung aufbauen zu können.
  • Diese bürokratische Herrschaft führte aber dazu, dass die ArbeiterInnenklasse von der Planwirtschaft entfremdet wurde. Statt ArbeiterInnendemokratie gab es ein billiges Imitat der bürgerlichen Demokratie, die Volkskammer. Statt verschiedener ArbeiterInnenparteien gab es die nationale Front. Statt Räten, gab es einen allumfassenden Staatsapparat. Von einem Absterben des Staates, wie es Marx und Lenin mit der Entwicklung des Sozialismus verbanden, konnte keine Rede sein.
  • Dies bedeutet aber auch, dass die ArbeiterInnenklasse in diesem Staat – wir nennen ihn degenerierten ArbeiterInnenstaat – von der politischen Macht ausgeschlossen und die Entwicklung des Klassenbewusstseins strukturell blockiert war.
  • Es brauchte also eine politische Revolution der Klasse gegen die Bürokratie, um überhaupt den Weg zum Sozialismus frei zu machen. Die Bewegung 1989 war anfänglich eine in diese Richtung. Es mangelte ihr aber an Bewusstsein ihrer Lage und Aufgaben. Sie war von kleinbürgerlichen Kräften geführt wie dem Neuen Forum. Am linken Rand dieser Bewegung bezogen sich zwar Vereinigungen wie die Vereinigte Linke um die Böhlener Plattform auf die ArbeiterInnenklasse, aber sie hatten kein klares politisches Programm, das eine konsequente Antwort auf die Krise der DDR zu geben vermochte. So waren sie zahlenmäßig nicht nur in einer ungünstigen Ausgangsposition, sondern auch vor allem politisch unvorbereitet, ratlos und damit zunehmend handlungsunfähig angesichts der sich im Zeitraffer überschlagenden Ereignisse.
  • In diesem weltgeschichtlichen Moment besaß die Klasse keine Führung, kein Konzept, ihr „linker Flügel“ setzte auf die Reform des Staates, nicht auf eine Revolution mit Rätedemokratie, demokratischer Planung und Ausweitung der Bewegung in den Westen und Verbindung mit Osteuropa. D. h. die Bewegung hatte keine Antwort auf die Krise der DDR-Ökonomie und der Lebensverhältnisse. Diese Frage griff die bürgerliche Konterrevolution mit der Losung der kapitalistischen Wiedervereinigung und der raschen Währungsunion auf. Aus der halben Revolution wurde rasch eine ganze Konterrevolution, deren endgültigen Vollzug der 3. Oktober symbolisierte. Die wesentlichen Entwicklungen fanden aber schon vorher statt.

6. Lehren

Die erste Lehre besteht also darin, dass es in einer revolutionären Krise eines entschlossenen Eingreifens und Programms bedarf, eines, das nicht bei halben Sachen stehenbleibt, sondern auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht zielt.

Zweitens müssen wir deutlich machen, dass ein „Sozialismus“, wie er in der DDR existierte, keine Zukunft hat. Es ist unmöglich, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, sondern dies kann nur international geschehen. Es ist aber auch unmöglich, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse ohne ArbeiterInnendemokratie, ohne Räte, ohne Selbstorganisation der Klasse erfolgt. Wir brauchen eine Planwirtschaft, aber eine, die von den ProduzentInnen und KonsumentInnen demokratisch gelenkt und kontrolliert wird, nicht von einer scheinbar allmächtigen Staatsbürokratie.

Drittens wir müssen dem nationalen „WIR“ die internationale Einheit der ArbeiterInnenklasse, deren gemeinsame Interessen entgegenstellen – in Ost und West, von einheimischen und migrantischen ArbeiterInnen.

Die schließt viertens ein, dass wir diesen bestehenden Staat als Staat der herrschenden Klasse begreifen müssen, wir müssen, auch wenn wir den deutschen Imperialismus als den Hauptfeind der ArbeiterInnenklasse hierzulande begreifen, seine militärischen Abenteuer, seine ökonomische Erpressung anderer Länder, die Abriegelung der deutschen und europäischen Grenzen gegen Geflüchtete und Arbeitsmigrantinnen bekämpfen. Wir müssen jeden nationalen Schulterschluss, jedes Zurückstellen des Klassenkampfes auf politischer wie auf gewerkschaftlicher Ebene ablehnen, ja bekämpfen.

Fünftens erfordert revolutionäre, kommunistische Politik ein Programm, eine politische Strategie, die den Kampf für unmittelbare, demokratische, soziale Forderungen – z. B. nach gleichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen – mit dem Ziel einer anderen Gesellschaft verbindet. D. h. wir brauchen ein Programm von Übergangsforderungen, das einen Weg zur sozialistischen Revolution in Deutschland und international weist.

Warum ist das heute so wichtig? Weil wir uns – wie 1989 und 1990 – in einer historischen Umbruchphase befinden, am Beginn eines geschichtlichen Wendepunktes. Die globale kapitalistische Krise, befeuert durch die Pandemie, die Umweltzerstörung, und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden alle zu massiven globalen politischen und sozialen Verwerfungen, Krisen führen – und damit auch zu enormen Klassenauseinandersetzungen. In diese müssen wir eingreifen. Dabei stehen wir vor der Aufgabe, revolutionäre Orientierung, Perspektive, Führung zu geben. Das werden wir aber nicht leisten können, wenn wir nicht Lehren aus den großen Kämpfen – darunter leider auch vielen Niederlagen – der Vergangenheit ziehen. Die Geschichte 1989 – 1990 gehört zu solchen Ereignissen.




30 Jahre Wiedervereinigung: Nichts zu feiern

Bruno Tesch, Neue Internationale 250, September 2020

Das große Fest zum Tag der Einheit in Potsdam muss der Pandemie wegen ausfallen. Zu feiern gibt es für die ArbeiterInnenklasse ohnedies wenig nach 30 Jahren kapitalistischer Wiedervereinigung. Ein gewisser Sicherheitsabstand tut nicht nur wegen der Corona-Gefahr gut, auch zur bürgerlichen Mär von den „überwiegend“ positiven Resultaten. Wen hat die Wiedervereinigung eigentlich vorangebracht? Sind die nach wie vor ungleichen Lebensverhältnisse, die Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen nach der Wiedervereinigung bloß letzte Mängel der bürgerlichen Freiheit oder notwendiges Resultat eines stärker gewordenen deutschen Kapitalismus und Imperialismus?

Todeskrise des Stalinismus

Die deutsche Teilung selbst war Ausdruck einer globalen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Weltordnung geriet im Laufe der 1980er Jahre ins Wanken. Die Staaten des sog. real existierenden Sozialismus, in Wirklichkeit degenerierte ArbeiterInnenstaaten, in denen von Beginn eine Bürokratie die ArbeiterInnenklasse politisch beherrschte, hatten dem Imperialismus ökonomisch nichts mehr entgegenzusetzen.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bekam die Auswirkungen dieser Krise zu spüren, da sie zum einem über die einseitigen Bindungen im Energie- und Maschinen- sowie Rüstungsgütersektor an Lieferverträge an die Sowjetunion gekettet war, zum anderen im Handelsbereich mit dem Kapitalismus in eine stetig wachsende Auslandsverschuldung geriet. Damit versuchte die Bürokratie die Konsumbedürfnisse der ArbeiterInnenklasse einigermaßen zu befrieden, um die soziale Ruhe im Land zu gewähren. Doch die ökonomische Schieflage verschärfte sich weiter – auch durch einen Milliardenkredit, den die westdeutsche Bundesregierung Anfang der 1980er Jahre gewährte. Da hatte sich bereits der Allgemeinzustand der DDR-Wirtschaft dramatisch verschlechtert.

Der besondere Umstand der unmittelbaren Nachbarschaft zum durch den Imperialismus errichteten und geförderten BRD-Staat bewirkte, dass die DDR-Bevölkerung diesen als Schaufenster eines aufstrebenden Kapitalismus mit wachsendem Lebensstandard und scheinbarer Freizügigkeit vor Augen hatte. Die wirtschaftlich desolate Situation, die eingeschränkte Reisefreiheit sowie die Verweigerung demokratischer Rechte führten zu einem Gärungsprozess, der sich ab Spätsommer 1989 durch eine Fluchtwelle äußerte und im Herbst dann die Bevölkerung zu Protesten massenhaft auf die Straße trieb und in dem symbolträchtigen Mauerfall mündete.

Die bleierne Erblast des Stalinismus, also der politischen Diktatur einer bürokratischen Kaste, hatte die revolutionäre Traditionen der ArbeiterInnenbewegung, die 1953 kurz aufgeflammt waren und Fragen nach einer gesamtdeutschen Anstrengung zur sozialistischen Überwindung der Teilung aufgeworfen hatten, erdrückt. Angeführt wurde die 1989er Bewegung durch ideologisch kleinbürgerliche Kräfte, die das Heil in der Errichtung demokratischer Institutionen nach bürgerlichem Vorbild bzw. in einer Reform der herrschenden stalinistischen Partei suchten. Die entscheidenden Fragen nach einer politischen Revolution und dem Aufbau einer ArbeiterInnendemokratie und einer Wirtschaft nach demokratisch kontrolliertem gesellschaftlichen Plan wurden ebenso wenig gestellt wie die nach einer gesamtdeutschen revolutionären Wiedervereinigung.

Weichenstellung Richtung Kapitalismus

Weite Teile des Machtapparats, die selbst den Glauben an die Fortführung ihres bürokratischen Plankonzepts verloren hatten, versuchten, sich mit der Oppositionsführung zu arrangieren. Beide einte das Interesse, die Bewegung zu kanalisieren und ihr einen möglichen revolutionären Boden zu entziehen. So wurden zwar nominell als Volkskammerwahlen ausgeschriebene, doch de facto bürgerliche Parlamentswahlen für den 18. März 1990 vereinbart. Die noch von der SED geführte Übergangsregierung stellte zuvor eine weitere wichtige Weiche für die Auflösung der nichtkapitalistischen Grundlagen der DDR. Der Beschluss zur Gründung der Treuhandanstalt am 1. März sah bereits die Aufgabe von Planwirtschaft, von Außenhandelsmonopol und Staatseigentum an Produktion und Grundbesitz am Horizont heraufdämmern, wenn auch die Aufgabe von Eigenstaatlichkeit noch nicht zur Diskussion stand.

Glaubte die DDR-Regierung noch, bei den ersten Unterredungen mit dem Weststaat über eine vorsichtige Annäherung und einen mehrjährigen Plan zur eventuellen Wiedervereinigung auf Augenhöhe verhandeln zu können, wurde ihre Blauäugigkeit schnell desillusioniert. Sie wurde von der BRD-Regierung ultimativ vor die Wahl gestellt, deren Fahrplan für eine schnelle Wiedervereinigung zu kapitalistischen Bedingungen anzunehmen oder das völlige Ausbluten des Landes zu verantworten.

Die amtierende bundesdeutsche CDU/CSU/FDP-Regierung hatte mit Raubtierinstinkt längst die einmalige historische Chance gewittert, nicht nur den Auftrag des Grundgesetzes, die Wiedervereinigung nach kapitalistischen Richtlinien herbeizuführen, zu erfüllen, sondern auch die Ambitionen des BRD-Imperialismus auf internationalem Parkett auf einen Hieb enorm zu stärken. Sie hatte angesichts der bröckelnden Machtstrukturen des DDR-Staates und der gärenden Wünsche nach Veränderung im Land die Jetzt-oder-nie-Situation erfasst. Das Winken mit der harten West-D-Mark gab den Erwartungen der DDR-Bevölkerung einen entscheidenden Richtungsimpuls. Damit konnte zugleich auch die Gefahr einer revolutionären Orientierung in der DDR gebannt werden, was das DDR-Regime allein nicht ohne weiteres in den Griff bekommen hätte.

Finanzpolitische Bedenken über die hohen Kosten einer vorschnellen Vereinigung, geäußert v. a. von Seiten der WährungshüterInnen der Bundesbank, aber auch von der SPD-Opposition, konnte die Kohl-Regierung mit dem Hinweis auf die politisch günstige Lage und die Vorleistungen der DDR-Übergangsregierung vom Tisch wischen. Nach den DDR-Wahlen vom März 1990, deren Ausgang maßgeblich von der Aussicht auf die klingende Münze der BRD beeinflusst worden war, trat eine offen bürgerliche Regierung als diensteifriges Hilfspersonal bei der Umsetzung der Pläne der BRD-Führung ins Amt. Sie verhalf durch den Einigungsvertrag vom 18. Mai 1990, der eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden Teilen festlegte, der Bundesregierung zur Entscheidungsgewalt über alle staats- und wirtschaftspolitischen Schritte der Wiedervereinigung, die nach bundesdeutschem Recht als Beitritt der DDR zur BRD deklariert wurde.

Vollendung der Konterrevolution

Das Treuhandgesetz trat am 1. Juli 1990 nicht zufällig zeitgleich mit der Einführung der Währungsunion in Kraft und regelte die Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens unter bundesdeutsch hoheitlicher Aufsicht. Die Bundesregierung entschied, die Besetzung der Schaltstellen ab Juli 1990 mit marktökonomisch versierten WestvertreterInnen durchzuführen. Der Treuhand waren 8.500 DDR-Betriebe unterstellt und damit das Schicksal einer Belegschaft von über 4 Millionen Menschen in die Hand gegeben.

Der zweite Pflock zur kapitalistischen Restaurierung der DDR wurde mit der Einführung der D-Mark als allein gültiger Währung ab dem 1. Juli 1990 eingeschlagen. Damit ging auch der Wunsch vieler DDR-BürgerInnen in Erfüllung. Der Umtausch der DDR-Währung in D-Mark Wertberechnung erfolgte zwar 1 : 1. Um aber in den Genuss der Auszahlungen zu kommen, die auf 2.000 D-Mark pro Person begrenzt waren, musste zuvor ein Antrag auf Kontoumstellung auf D-Mark gestellt und von den Banken eine Auszahlungsquittung eingeholt werden, die jedoch nur bis zum 6. Juli 1990 gültig war, um sofort an das Geld zu kommen. Soweit die Kontoguthaben Beträge altersgestuft von im Schnitt 4.000 DDR-Mark pro Kopf  überschritten, wurde nur noch im Verhältnis 2 : 1 getauscht. Guthaben, die erst nach dem 31. Dezember 1989 entstanden waren, konnten hingegen nur zu einem Kurs von 3 : 1 in D-Mark umgewandelt werden.

Das Volksvermögen an Produktionsmitteln und Grundbesitz jedoch, das nach DDR-Recht noch anteilig allen StaatsbürgerInnen zustand, wurde den Wertberechnungen des freien Markts überlassen. Die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die ArbeiterInnenklasse, wurde praktisch ohne Einspruchsrecht enteignet.

Für den Sieg der Konterrevolution war es auch notwendig, neben fortschrittlichen sozialen Einrichtungen, die in der DDR bestanden hatten, bspw. im Gesundheits- und Bildungswesen, auch demokratische Errungenschaften, die die halbrevolutionären Veränderungen hervorgebracht hatten, zu beseitigen wie demokratische Foren, vergleichsweise große Kontrolle und Transparenz in den Medien und politische Verhandlungen. (Runde Tische)

Die organisierte reformistische ArbeiterInnenbewegung in der BRD krümmte zu deren Rettung keinen Finger, sondern diente sich dem Imperialismus an. Der Deutsche Gewerkschaftsbund vollzog schon im Mai die Vereinigung als Übernahme der Ost-Gewerkschaften nach bewährtem sozialdemokratisch bürokratischen Konzept, das die strikte Trennung von Politik und Arbeitswelt festschrieb und jede unabhängige Tätigkeit der ArbeiterInnenklasse unterband.

Für die BRD-Regierung war nur noch eine wichtige Hürde zu nehmen: die Zustimmung der Mächte, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt und als feste Vorposten ihres jeweiligen Machtblocks in der Nachkriegsordnung aufgestellt hatten. Ein am 19. September ausgehandelter Staatsvertrag, den die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion unterzeichneten, besiegelte das Ende der Nachkriegsära und wertete die Bundesrepublik Deutschland als politischen Faktor auch international auf. Zugleich offenbarte dies auch die angeschlagene Position des stalinistischen Systems, dessen Staatenblock auch in anderen Regionen bis in die Sowjetunion hinein in Auflösung begriffen war. Die deutsche kapitalistische Wiedervereinigung war ein historischer Meilenstein für den Untergang des Stalinismus und den Sieg des Imperialismus. Der offizielle Festakt am 3. Oktober 1990 war nur noch Formsache, er vollzog diesen Sieg.

Konsequenzen der Vereinigung

Nach 30 Jahren fällt die Bilanz geteilt aus. Die segensreiche Tätigkeit der Treuhandanstalt, die bis 1994 andauerte, bescherte den fünf neuen Bundesländern inklusive Ostberlin den Kahlschlag einer ganzen Region. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer sank um 40 % und der Industrieproduktion um zwei Drittel. Durch die Privatisierung volkseigener Betriebe gelangten 85 % in westdeutschen Kapitalbesitz. Eindeutig profitierte das Monopolkapital aus der BRD am meisten von Stilllegungen, Zerschlagung von Großbetrieben und Verkäufen zu Schleuderpreisen. Zudem ließ es sich Investitionen für den „Aufbau Ost“ noch kräftig von staatlicher Seite subventionieren.

Alles in allem sind die Großbetriebe im Osten weiterhin unterrepräsentiert. Außerhalb von Berlin haben sich einige urbane Ballungsräume mit Ansiedlung neuer Technologien, v. a. in Sachsen, herausgemacht, während viele ländliche Gegenden nach wie vor strukturell chronisch schwach sind. Dort sind oft veraltete Industrien wie Braunkohlebergbau ansässig, die die ökologisch unselige Tradition der DDR fortführen. Die Arbeitsbevölkerung ist überaltert, der Abwanderungsprozess gen Westen hält immer noch an. Die Arbeitslosenquote lag im August 2020 in den östlichen Bundesländern mit 7,8 % noch 1,4 Punkte über dem gesamtdeutschen Schnitt.

Zwar hatte sich die individuelle wirtschaftliche Lage für die meisten Menschen in den fünf neuen Ländern bald nach dem Anschluss verbessert, im zweiten Jahrzehnt jedoch verlangsamte sich das Aufholtempo und stagnierte schließlich. In der Lohnentwicklung hinkt der Osten 2020 dem Westen weiter um brutto 540 Euro hinterher. Bei den Renten liegt der Osten zwar vorn, aber nur weil in der DDR mehr Frauen berufstätig waren und besser verdienten als im Westen.

Die Frauen zählen jedoch auch zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

Staat und Sozialversicherungswesen haben Jahr für Jahr Milliardensummen in den Aufbau Ost gepumpt, bezahlt größtenteils aus den Taschen aller lohnabhängig Beschäftigten – in West wie Ost – durch die vom Lohn abgezogenen Sozialversicherungsbeiträge und den so genannten Solidarbeitrag. Von den Sonderabschreibungen, Übernahme- und Abwicklungsprämien, Investitionszulagen, Entschädigungen für Enteignungen von Produktions- oder Grundbesitz, die in der DDR vorgenommen worden waren, profitierten wiederum nur die westdeutschen KapitalistInnen und reichen ErbInnen.

Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der zentristischen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit dem Stalinismus, statt mit einem Forderungsprogramm für die revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution eingerichtet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit. Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

BRD-Imperialismus im Krisenmodus

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht. Der Investitionsstau für Neuunternehmungen im Ostdeutschland machte sich laut Ifo-Institut als Abwärtstrend bereits 1996 bemerkbar, u. a. aus Mangel an Fachkräften, auch in Großunternehmen. Die Konvergenz bei der Produktivität je Erwerbstätigem/r – im Osten 14.000 Euro weniger als im Westen – war ebenfalls seit der Jahrtausendwende ins Stocken geraten.

Strukturelle Probleme von Ungleichheit selbst im Inland konnten nicht gelöst werden: Verschuldung der Kommunen, Armutsschere geht weiter auf, Gefälle Stadt-Land, lebensunsichere Perspektive für die eigene Bevölkerungsmehrheit, geschweige denn für die noch stärker ins Elend gestürzten Massen der imperialisierten Länder.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2003 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn bieten hätte können. Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird, in Ost und West.




November 1989 – 30 Jahre danach

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019

Dass die
sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen „Ost“ und „West“ auch 30
Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nicht angeglichen sind, sollte
KapitalismuskritikerInnen eigentlich nicht verwundern.

Nach drei Jahrzehnten
eines vereinigten, imperialistischen Deutschland klingen die
Einheitsversprechungen bürgerlicher PolitikerInnen aller Couleur nicht nur
abgedroschen und hohl. Sie hören sich auch an wie ein ständiges Replay. Das
Ausbleiben „sozialer Einheit“, die weiterhin klaffende Lücke bei Einkommen,
Arbeitszeiten, Lebensperspektive … wurden 1999 ebenso wie 2009 beklagt – und
„baldige“ Angleichung versprochen. In Wirklichkeit blieb diese aus – und wird
es auch weiter bleiben.

Reproduktion
sozialer Ungleichheit

Hier nur einige
Zahlen (1), die den Unterschied zwischen Ost und West belegen:

  • 2018 mussten die Arbeiter„nehmer“Innen in den alten Bundesländern im Schnitt 1295 Arbeitsstunden arbeiten, im Osten (inklusive West-Berlin) 1351 Stunden, also 56 Stunden länger.
  • Die Jahres-Bruttolöhne je Beschäftigten lagen im Westen bei 36.088 Euro, in den neuen Ländern bei 31.242 Euro, was einen Unterschied von knapp 4.900 Euro ausmacht.
  • Diese Ungleichheit wird auch bei den tariflich Beschäftigten reproduziert. So hatten  2018 im Westen 8 Prozent dieser eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, im Osten 40 Prozent.
  • Mindestlöhne und Renten, die selbst das geringere Lohn- und Einkommensniveau widerspiegeln, klaffen weiter auseinander.

Die Spaltung des
Arbeitsmarktes hält also auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung an. Und das,
obwohl sich im Westen die prekären und atypischen Arbeitsverhältnisse
(Befristung, Teilzeitarbeit unter 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung und
Leiharbeit) unter anderem aufgrund der Hartz-Gesetze und Agenda 2010 sogar noch
schneller ausgedehnt haben als im Osten. In den „alten Bundesländern“ betrug
2017 deren Anteil an der gesamten Erwerbstätigkeit 24 % gegenüber 18 %
im Osten (2).

Den Hintergrund
dafür bildet jedoch die deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den neuen
Bundesländern. Dort lag sie Ende 2018 bei 7,6 % gegenüber 5,3 % im
Westen.

Von 1991 bis
2017 wanderten außerdem 3.681.649 von Ost nach West ab, was fast einem Viertel
der Bevölkerung der ehemaligen DDR entspricht. Dem stehen zwar 2.451.176 Zuzüge
aus dem Westen entgegen (3). Die Wellen der innerdeutschen Migration
entsprechen jedoch der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und der geringen
Arbeitsmarktperspektiven, gerade für besser ausgebildete Menschen. Die
Migration von West nach Ost ging außerdem auch mit einer massiven Verschärfung
der Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer einher. Einigen
„erfolgreichen“ städtischen Regionen steht der fortgesetzte Abstieg der meisten
ländlichen und kleinstädtischen Gebiete, bis zum Verlassen ganzer Dörfer
entgegen.

Die Ungleichheit
zwischen Ost und West drückt sich daher keineswegs nur auf dem Arbeitsmarkt
aus, sondern insbesondere auch beim Vergleich einzelner Regionen. So zeigt z. B.
der „Teilhabeatlas Deutschland“ (4), dass sich in den neuen Bundesländern die
„abgehängten Regionen“ konzentrieren. Diese zeichnen sich durch einen hohen
Anteil an Hartz-IV-EmpfängerInnen (darunter auch viele „AufstockerInnen“),
geringere kommunale Steuereinnahmen, besonders geringes jährliches durchschnittliches
Haushaltseinkommen (Medianwert für 2017: 19.100 Euro), geringe Lebenserwartung,
Abwanderung (2017 noch immer mehr als 10 Prozent!), schlechter digitaler
Anbindung und überdurchschnittlicher Entfernung zu Versorgungseinrichtungen
(Krankenhaus, Behörden, …) aus.

Darin spiegelt
sich wider, dass in den neuen Bundesländern die schlechter entlohnten,
perspektivloseren und länger arbeitenden Teile der ArbeiterInnenklasse
überdurchschnittlich vertreten sind. Aber auch die Herausbildung und
Reproduktion des KleinbürgerInnentums, des Kleinkapitals wie der lohnabhängigen
Mittelschichten – also allen jener Klassen, die bürgerliche Demokratie und
freie Marktwirtschaft tragen – verläuft ungleicher, unsicherer, verglichen mit
dem Westen geradezu prekär.

Kapitalistische
Wiedervereinigung

Hintergrund der
sozialen Ungleichheit und damit ungleicher Lebensbedingungen bilden
selbstredend nicht „Mentalitätsunterschiede“, sondern vielmehr die Ergebnisse
der kapitalistischen Wiedervereinigung, zu denen eben auch gehört, dass dem
Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR ein spezifischer Platz im Rahmen eines
schon bestehenden bundesdeutschen gesellschaftlichen Gesamtkapitals zugewiesen
wurde.

Nach der
kapitalistischen Wiedervereinigung erlebte die DDR-Ökonomie einen drastischen Niedergang
und Ruin, dessen Ausmaß für Friedenszeiten ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig
war und ist.

Zwischen 1990
und 1992 wurden zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zerstört und zwar unter
Aufsichtung und Lenkung der Treuhand-Anstalt, einer Staatsholding, die die
Privatisierung der DDR-Ökonomie überwachen sollte.

Ende 1992 waren
nur noch 750.000 Menschen in der ehemaligen DDR-Industrie beschäftigt, etwa ein
Viertel des Beschäftigungsstandes zur Zeit der Wiedervereinigung. Auch die
landwirtschaftliche Produktion sank von 1989 bis 1992 auf rund die Hälfte. Von
9,8 Millionen Beschäftigten der DDR-Wirtschaft wurden rund 4 Million
„freigesetzt“, arbeitslos, in Kurzarbeit gesetzt oder verschwanden vom
Arbeitsmarkt (RentnerInnen; Abwanderung in den Westen, die in dieser Zeit ihren
Höhepunkt erreichte; Rückgang der Erwerbstätigkeit von Frauen). (5)

Zugleich stiegen
die Preise für Konsumgüter und Mieten dramatisch, so dass die Auswirkungen des
für kleinere SparerInnen günstigen Umtauschkurses von Ost-Mark zu D-Mark (1:1)
im Zuge der Währungsreform rasch verpufften. Umgekehrt begünstigte die
Währungsreform 1990 die Aneignung der ostdeutschen Ökonomie durch das
westdeutsche Kapital.

Der Umtauschkurs
bedeutete erstens, dass die Schulden der DDR-Unternehmen in D-Mark neu bewertet
wurden, darunter auch Kosten, die in einer kapitalistischen Ökonomie erst gar
nicht in den einzelbetrieblichen Bilanzen aufgeschienen wären (z. B.
betriebliche Sozialleistungen). Im degenerierten ArbeiterInnenstaat DDR gab es
im Unterschied zum Westen bezogen keine klare Trennung staatlicher/kommunaler
und betrieblicher Schulden/Kosten (und dies war auch nicht unbedingt
erforderlich). Nun erschienen diese Aufgaben und deren Kosten als
Verlustbringerinnen in den betrieblichen Bilanzen.

Zweitens wog die
Neubewertung des Anlagevermögens der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und
Dienstleistungsunternehmen (Handel, …) besonders schwer. Das veraltete, lange
nicht erneuerte fixe Kapital wurde jetzt mit den westdeutschen,
fortgeschrittenen Kapitalien verglichen und neu bewertet. Das Anlagevermögen
wurde somit über Nacht weit mehr entwertet, als es der Umtauschrelation
größerer Geldvermögen (1:2) entsprach, so dass die Schuldenrate der
DDR-Betriebe massiv anwuchs. Sie waren als Konkurrentinnen damit mehr oder
minder aus dem Feld geschlagen.

Das Übrige
erledigte die Treuhand. Sie verkauft die DDR-Betriebe unter Wert, v. a. an die
westdeutsche Konkurrenz. Da es keine DDR-Bourgeoisie gab, wanderte in kurzer
Zeit alles, was profitabel erschien, in die Hände der bundesdeutschen
KapitalistInnenklasse. Ursprünglich sollte die Privatisierung der ostdeutschen
Ökonomie und deren Restrukturierung durch Verkaufserlöse finanziert werden.
Doch das westliche Kapital wollte für die DDR-Unternehmen nicht zahlen, sondern
für seinen „Dienst“ noch belohnt werden.

Daher übernahm
die Treuhand und über diese der Staat den größten Teil der Schulden. Bis Ende
1992 waren so 8.000 von 40.000 DDR- Betrieben auf diese Weise verkauft, genauer
verscherbelt worden.

Die Filetstücke
eigneten sich die „rettenden“ Konzerne zuerst an, sei es, um neue
wirtschaftliche „Inseln“ zu schaffen, sei es, um unliebsame Konkurrenz zu
übernehmen und auszuschalten. Diese Übernahme großer Teile einer
Volkswirtschaft wurde dem Kapital auch noch durch Milliarden-Subventionen
vergoldet. So erhielt Carl Zeiss für die Übernahme von Carl Zeiss Jena 3,5
Milliarden DM, die Bremer Vulkan-Werft 6,2 Milliarden für die Übernahme
ostdeutscher Werften. Lufthansa konnte gegen den Widerstand von Betriebsrat und
Gewerkschaft die Abfertigung am Flughafen Schönefeld übernehmen usw. usf.

Diese Übernahme
der DDR- Volkswirtschaft spiegelt sich bis heute in der Rolle der ostdeutschen Ökonomie
im Rahmen des Gesamtkapitals der Bundesrepublik wider:

  • Die Produktivität lag 2017 in den neuen Ländern (einschließlich Berlin) bei durchschnittlich 82 Prozent des Westniveaus.
  • 93 Prozent der Großkonzerne sind immer noch im Westen angesiedelt. (6)

Die Kapitalakkumulation
im Osten bleibt bis heute abhängig von den Erfordernissen der Konzernzentralen
im Westen, von einem in der Bundesrepublik entstandenen und von dort geprägten
nationalen Gesamtkapital. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, wo die massive
Vernichtung von Kapital günstige Akkumulationsbedingungen für das Gesamtkapital
und damit für einen kapitalistischen Aufschwung legte, der über mehrere Zyklen
bis Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre anhielt, brach der „Osten“ vor dem
Hintergrund struktureller Überakkumulation des Kapitals zusammen.

Interessant war
er als Markt für (westdeutsche) Produkte und als Reservoir zusätzlicher,
billiger und qualifizierter Arbeitskräfte. Als Investitionsstandort spielte er
jedoch nur für einzelne Branchen und somit für die Schaffung einzelner
„Wachstumsregionen“ eine Rolle. Eine „aufholende“ Entwicklung, gleiche
Bedingungen zwischen „Ost“ und „West“ waren vom Standpunkt der ökonomischen
Interessen der herrschenden Klasse nie vorgesehen.

Polarisierung
und soziale Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung

Das Geheimnis
das Aufstiegs der AfD gerade im Osten muss zweifellos vor dem Hintergrund der
ökonomischen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern verstanden werden.
Aber nicht in einer mechanischen Weise, sondern im Wechselverhältnis von
sozialer Entwicklung und Klassenkämpfen. Allein die jahrelange starke Stellung
von PDS/Linkspartei unter den Erwerbslosen, aber auch den Mittelschichten im
Osten zeigt, dass es nicht einfach Armut, Benachteiligung oder gar eine
angeblich besonders autoritär geprägte DDR-Identität waren, die per se die
Menschen zur AfD oder zur extremen bis hin zur faschistischen Rechten treiben.

Die
kapitalistische Wiedervereinigung, wiewohl aus einer legitimen,
kleinbürgerlich-demokratischen Massenbewegung gegen die DDR-Bürokratie
entstanden, stellte für die ArbeiterInnenklasse in ganz Deutschland eine
historische Niederlage dar. Sie stärkte den Imperialismus, die soziale,
wirtschaftliche und globale Stellung des „eigenen“ Kapitals ungemein. Die
soziale Konterrevolution im Osten, also die Vernichtung des ArbeiterInnenstaates
DDR, wurde jedoch in einer bürgerlich-demokratischen Form vollzogen, was nicht
zuletzt auch die Einbindung der Massen erleichterte – trotz einer enormen
Zerstörung der ökonomischen Basis der ehemaligen DDR.

Die
gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Niederlage waren jedoch in den neuen und
alten Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Klassenstruktur (und
-zusammenarbeit) des BRD-Kapitalismus wurde im Westen nur schrittweise
umgemodelt, in der DDR wurde das gesamte soziale und ökonomische Gefüge abrupt,
sprunghaft zerstört. Der Kapitalismus war nicht zuletzt aufgrund der massiven
Zerstörung der ostdeutschen Industrie immer instabiler als im Westen und daher
auch die Klassenstruktur.

Noch in den
ersten Jahren nach der Wende artikulierte sich das in dreifacher Weise. Erstens
und am wichtigsten in Form der Demobilisierung einer Massenbewegung. Die
Millionen, die in der DDR auf die Straße gegangen waren und die SED-Herrschaft
zum Einsturz gebracht hatten, wurden über Wahlen, Parlamentarismus und die Versprechungen
der „sozialen Marktwirtschaft“ befriedet, später durch deren Auswirkungen
frustriert und auf Trab gehalten.

In dieser Lage
artikulierte sich auf der Rechten eine Welle rassistischer Gewalt und
faschistischer Organisierung, die sich in pogromartigen Mobs wie in Rostock
oder Hoyerswerda, Anschlägen auf Asylsuchende und MigrantInnen manifestierte
(und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen). Die deutsche Regierung
vermochte es, der rechten Hetze, Rassismus und Faschismus den Wind aus den Segeln
zu nehmen, indem sie selbst das Asylrecht mit Zustimmung der „oppositionellen“
SPD durch den sog. „Asylkompromiss“, der von Lafontaine mit ausgehandelt worden
war, beschnitt. Anders als heute fanden die Rechten damals keinen
politisch-organisatorischen Widerhall unter Fraktionen des deutschen Kapitals.
Mittelschichten und KleinbürgerInnentum befürworteten eine
konservativ-rassistische Regierungspolitik, die Nazis und rechten Straßenbanden
blieben letztlich auf eine relativ kleine Minderheit beschränkt.

Ein wichtige
Faktor für diese Entwicklung bestand zweifellos darin, dass es nicht nur rechte
Reaktionen auf die Wiedervereinigung gab, sondern auch wichtige, lange
andauernde, wenn auch letztlich isolierte Abwehrkämpfe. So besetzten rund 500
BergarbeiterInnen der von der Schließung durch die Treuhand bedrohten
Kali-Grube in Bischofferode (Thüringen) im Sommer 1993 den Betrieb bei
laufender Produktion, rund 100 traten in Hungerstreik. Dieser Kampf zog sich
über mehrere Monate hin. Ende 1993 wurde der Bergbau zwar geschlossen.
Entscheidend ist jedoch, dass Bischofferode durchaus für eine Schicht von
Beschäftigten stand, die mit Mitteln des Kampfes gegen Schließungen,
Entlassungen und Verarmung ankämpften.

In den 1990er
Jahren vermochte im Wesentlichen die PDS, diese Schichten für sich zu gewinnen.
Sie wurde zur Partei der „Ausgegrenzten“, der Arbeitslosen und konnte sich so
im Osten eine Massenbasis erhalten bzw. aufbauen. Als reformistische Partei war
die PDS auch damals eher eine der „KümmererInnen“ denn der KämpferInnen. Sie
konnte jedoch über eine solidarische Präsenz zahlreiche Massen- und
Vorfeldorganisationen (Volkssolidarität, …) an sich binden und ihnen einen
elektoralen Ausdruck verschaffen. Die Tatsache, dass die PDS damals noch von
den etablierten politischen Parteien des bundesrepublikanischen Systems
ausgegrenzt, als „rote Socken“ diffamiert wurde, stärkte eigentlich die
Glaubwürdigkeit der Partei in den Augen vieler.

In diesem
Zusammenhang darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass sich teilweise
auch die Gewerkschaften und selbst die SPD (z. B. in Form von
sozialpolitischen Galionsfiguren wie Regine Hildebrandt) als „natürliche“
gewerkschaftliche, soziale und politische Vertretung darstellten.

Bis Ende der
1990er Jahre waren die Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse – insbesondere auch
der Erwerbslosen – auf eine Abkehr von der konservativ-liberalen Koalition und
auf eine „soziale Wende“ im Grunde an die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
SPD und PDS geknüpft.

Doch die
politische Lage und das Verhältnis von ArbeiterInnenklasse (wie auch großer
Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) zu diesen Parteien wandelte sich in
der ersten Hälfte des Jahrtausends.

Rot-Grün
lancierte mit Agenda 2010 und Hartz-Gesetzen einen strategischen Angriff auf die
Lohnabhängigen, ein Programm, das mit den Montagsdemonstrationen vor allem im
Osten eine Massenbewegung hervorbrachte, aus der später die WASG entstand (und
in deren Folge die Fusion mit der PDS zur Linkspartei).

Die Montagsdemos
entstanden im Sommer 2003 und breiteten sich in Windeseile zu einer
Massenbewegung aus, die vor allem von höher qualifizierten Arbeitslosen,
ehemaligen FacharbeiterInnen, IngenieurInnen getragen wurde. Diese Bewegung
wurde jedoch von der Sozialdemokratie wie auch von den sozialdemokratisch
geführten DGB-Gewerkschaften bekämpft. Dadurch wurde deren Ausweitung in den
Westen, vor allem aber die Verbindung von Montagsdemos und politischen
Massenstreiks verhindert. Der DGB sah sich zwar selbst gezwungen, 2004 gegen
die Agenda-Gesetze Massendemonstrationen zu organisieren, weil er die
Formierung einer bundesweiten Opposition in den Betrieben und auf der Straße
fürchtete, blies aber die Mobilisierung im Sommer 2004 nach Massendemos mit
nahezu einer halben Million Menschen ab.

Die zweite markante
Niederlage erfolgte ebenfalls 2003. Die Streiks um die 35-Stunden-Woche im
Frühjahr 2003 zeigten eine erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit. Als der Streik
begann, Auswirkungen auf die Betriebe im Westen zu haben, verschärfte sich das
Trommelfeuer nicht nur der Bourgeoisie gegen den Streik, sondern auch die
Konzernbetriebsräte der westdeutschen Autoindustrie und der IG
Metall-Vorsitzende Zwickel fielen ihm in den Rücken und setzten seine
Einstellung durch. Dabei geriet nicht nur die Gewerkschaftsdemokratie unter die
Räder, die ArbeiterInnenklasse in der ehemaligen DDR musste eine weitere
demoralisierende Niederlage durchmachen.

All diese
Faktoren – nicht nur geringerer gewerkschaftlicher Organisierungsgrad und
geringere tarifliche Bindung im Osten – haben dazu geführt, dass die SPD ihren
sozialen Rückhalt gerade unter den verarmten, arbeitslosen, prekär
beschäftigten und schlecht organisierten ArbeiterInnen verloren hat.
Gleichzeitig büßte sie auch ihre Bindekraft unter den lohnabhängigen
Mittelschichten ein.

Im letzten
Jahrzehnt machte aber auch die Linkspartei eine ähnliche Entwicklung durch.
Weigerten sich SPD und Grüne in den 1990er Jahren oft noch, Koalitionen mit der
„unzuverlässigen“ PDS einzugehen, so wurde sie schon vor der Jahrhundertwende
auch in den Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer „normalen“ Partei.
Die Realpolitik der PDS und später der Linkspartei führte sie in
Landesregierungen in allen neuen Bundesländern mit Ausnahme Sachsens. Während
die Mitgliederzahlen schrumpften, wuchs der Anteil jener Mitglieder, die
Wahlämter innehatten. Ein großer Teil der aktiven Mitgliedschaft ist seit
Jahren fest in das bürgerlicher System integriert, ihre politische Aktivität
besteht darin, Wahlämter auf kommunaler, regionaler oder Bundesebene auszuüben.
Er prägt die Parteistrukturen, die Vorstände, Parteitage. Die Frage, ob die
Linkspartei eine „Bewegungspartei“ oder eine institutionelle
StellvertreterInnentruppe sei, ist eigentlich nur für jene eine, die partout
die Realität der Partei beschönigen wollen. Praktisch war sie für die PDS (und
damit auch für die Linkspartei) immer schon beantwortet. In den letzten Jahren
ist – unabhängig von den vertretenen reformistischen oder, neuerdings,
linkspopulistischen Ideologien – das Gewicht des Apparates und der in den
bürgerlich-parlamentarischen Institutionen tätigen FunktionärInnen immer mehr
gewachsen.

Mit deren
bürgerlicher Realpolitik und der Mitverwaltung der Misere schwand
notwendigerweise auch das Ansehen der Partei unter den Lohnabhängigen, vor allem
auch unter den Arbeitslosen, prekär oder gering Beschäftigten. Zugleich verlor
die Linkspartei trotz ihrer angepassten Politik auch die Bindekraft gegenüber
lohnabhängigen Mittelschichten und auch dem KleinbürgerInnentum im Osten.

Mit letzteren
verliert die Linkspartei WählerInnenschichten an AfD (und tw. auch Grüne), die
sie im Westen ohnedies nie hatte und die für eine „linke“ Partei eigentlich
untypisch sind, sondern vielmehr historisch aus den Wurzeln der PDS in der SED,
also der Partei der politisch herrschenden Kaste in der DDR herrühren.

Aufstieg der AfD

Der Aufstieg der
AfD reflektiert also nicht nur die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die
soziale Lage verschiedener Klassen im Osten, sondern auch Verrat und Niedergang
der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften.

Bezüglich einer Analyse der AfD verweisen wir an dieser Stelle auf den Artikel „Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechter“ (7). Dass diese rechtspopulistische Partei, die sich als „Alternative“ zur „Elite“ präsentiert, im Osten besonders stark ist, sollte aber nicht verwundern. Gerade die instabilere Klassenstruktur bietet einen günstigeren Nährboden für das rasche Anwachsen solcher Kräfte. Das drückte sich auch bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg einmal mehr aus.

Zwei
Entwicklungen der AfD im Osten Deutschlands sind dabei entscheidend für den
Wahlerfolg. Erstens gelingt es, die kleinbürgerlichen Schichten äußerst stark
zu mobilisieren. So erhielt die AfD lt. Umfragen in Brandenburg 34 % der
Stimmen unter den „Selbstständigen“, in Sachsen immerhin auch 29 %. Sie
konnte damit eindeutig in die klassische CDU- und FDP-WählerInnenschaft
eindringen. Vor allem bei den ehemaligen NichtwählerInnen mobilisierte sie mit
Abstand die meisten Stimmen. Erschreckend ist sicherlich der hohe Anteil an den
„ArbeiterInnen“ – in Brandenburg 44 %. Auch wenn das nicht mit der
ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt werden darf und der Anteil unter den
Angestellten mit 26 % deutlich geringer ausfiel, so verdeutlicht es den
Einbruch in lohnabhängige Milieus. Sicherlich wurde das z. B. in
Brandenburg noch einmal durch die besondere Situation in der Lausitz angesichts
des Ausstiegs aus der Braunkohle verschärft. Jedenfalls hat die AfD in dieser
Region einige Direktmandate erobert.

Vor allem Angst
vor Veränderungen, die sozialen Abstieg bedeuten könnten, treibt alle
Bevölkerungsschichten um und an, dies sorgt für große Mobilisierung zur Wahl.
Dabei bilden Rassismus und Chauvinismus quasi den gemeinsamen „Kitt“, der
eigentlich gegensätzliche soziale Lagen verbindet und die AfD als zweitbeste
Vertretung „ostdeutscher Interessen“ erscheinen lässt. Mögen auch viele
Menschen subjektiv sie aus „Protest” gewählt haben, so hat sich dieser
verfestigt und die „ProtestwählerInnen” lassen sich von Rassismus,
Zusammenarbeit mit offenen Nazis von der Wahl nicht abschrecken.

Die AfD baut
sich gerade in der ehemaligen DDR als gesellschaftliche Kraft mit Massenanhang
im kleinbürgerlich-reaktionären Spektrum auf, die perspektivisch auch immer
größeren Teilen des BürgerInnentums und des Kapitals eine „verlässliche“
Machtalternative bieten will – von BürgermeisterInnen in den Kommunen bis hin
zur Beteiligung an Landesregierungen.

Dies tut sie z. B.
mit dem Slogan „Vollendet die Wende“, „Wende 2.0“. Sicher bringt diese
Formulierung auch eine große gesellschaftliche Tragik zum Ausdruck. Die
Tatsache, dass sich 30 Jahre nach der kapitalistischen Restauration der DDR die
nationalistischen und faschistischen SchergInnen des Kapitals anschicken, die Wende
zu vollenden, ist selbst ein dramatischer Ausdruck der Niederlagen der
ostdeutschen ArbeiterInnenklasse wie des politischen Versagens von SPD und
Linkspartei.

Kandidat Andreas
Kalbitz, der in Athen schon mal die NS-Flagge hisste, begründete diesen Slogan
mit der sozialen Realität, nämlich den immer noch niedrigeren Rentenniveaus der
Ostdeutschen. Bevor „andere“ – gemeint sind MigrantInnen und Geflüchtete – Geld
bekämen, sollte doch erst mal die Rente angeglichen werden. So werden reale
soziale Skandale wie Altersarmut, Ungleichheit, das Abhängen ganzer Regionen
angesprochen. Dass Einkommen, Arbeitszeiten, Infrastruktur, Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen auch 30 Jahre nach der Wende nicht angeglichen sind, hat
freilich die AfD nicht erfunden. Sie greift vielmehr diese Realität des
Kapitalismus auf und verbindet sie mit nationalistischer und rassistischer
Hetze. Dabei spielen ihr alle anderen Parteien mehr oder weniger willig in die
Hände, die die soziale Misere verharmlosen und Jahr für Jahr erklären, dass sie
die Lebensverhältnisse der Menschen doch verbessert hätten.

Dass die
AfD-Wirtschafts- und -Sozialpolitik eigentlich neoliberal bis auf die Knochen
ist, dass sie die öffentlichen Rentenkassen an Fonds verscherbeln will, spielt
in ihrer öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Zum anderen kann die AfD einfach
darauf setzen, dass sie die „Systemparteien“ – also alle anderen – ungestraft
einfach als „LügnerInnen” bezeichnet, selbst wenn sie einmal die Wahrheit sagen
sollten.

Irrwege und Wege

SPD und Linkspartei
starren auf den Aufstieg der AfD wie das Kaninchen auf die Schlange, indem sie
sich an ein parlamentarisches Bündnis nach dem anderen klammern. Statt auf
Mobilisierung und Klassenkampf setzen sie – nicht nur die SPD, sondern auch
weite Teile der Linkspartei – auf ein Bündnis mit bürgerlichen „DemokratInnen“.

In Zeiten
kommender Wirtschaftskrisen, akuter Handelskriege, baldiger Restrukturierungen
im industriellen Sektor, Massenentlassungen und weiterer Prekarisierung der
sozialen Bedingungen, einer vertieften ökologischen Gesamtkrise bedeutet diese
Politik nichts anderes, als die Lohnabhängigen an eine Allianz mit den
„demokratischen“ VertreterInnen des Kapitals zu binden und der AfD-Demagogie in
die Hände zu spielen, dass sie als einzige „die einfachen Leute“ vertrete. Die
Lehre kann nur lauten: Schluss mit dieser Politik!

Der Kampf gegen
rechts darf dabei nicht auf den Kampf gegen die AfD beschränkt bleiben. Eine
Linke, eine ArbeiterInnenbewegung, die Hunderttausende Lohnabhängige von den
rechten DemagogInnen wiedergewinnen will, muss den Kampf gegen die soziale
Misere, die realen Missstände in Angriff nehmen. Dazu braucht es einen Kampf
gegen Billiglohn und Hartz IV, gegen weitere drohende Entlassungen, für ein
öffentliches Programm zum Ausbau der Infrastruktur, von Bildung,
Gesundheitswesen, ökologischer Erneuerung im Interesse der Lohnabhängigen,
kontrolliert von der ArbeiterInnenklasse und finanziert durch die Besteuerung
der Reichen – um nur einige Beispiele zu nennen. Kurzum, es braucht den gemeinsamen
Kampf der Linken, der Gewerkschaften wie aller ArbeiterInnenorganisationen.

Angesichts der
drohenden Angriffe, und um gemeinsamen Widerstand zu entwickeln, brauchen wir
Aktionskonferenzen auch bundesweit, um den Kampf gegen Rechtsruck, AfD,
militante faschistische Gruppierungen und gegen die laufenden und drohenden
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, auf Arbeitsplätze und
unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu koordinieren.

Endnoten

(1) https://www.spiegel.de/karriere/beschaeftigte-in-ostdeutschland-laengere-arbeitszeit-weniger-lohn-a-1276092.html

(2) https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/181002_SF_Ergebnisse_im_Einzelnen_Arbeitsverhaeltnisse_in_Ost_und_West.pdf

(3) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-abwanderung-ostdeutschland-umzug

(4) https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Teilhabeatlas/Teilhabe_Online.pdf,
S. 16

(5) Martin
Suchanek, Zerstörung eines ArbeiterInnenstaates, in: Revolutionärer Marxismus
9, S. 25, Frühjahr 1993

(6) https://www.sueddeutsche.de/politik/studie-osten-westen-wirtschaft-deutschland-1.4354465

(7) Wilhelm Schulz, Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechter, in: Revolutionärer Marxismus 50, November 2018, S. 116 – 142