Das Ende der Ära Rutte und die Dilemmata der niederländischen Linken

Fabian Johan, Neue Internationale 278, November 2023

Das niederländische Kabinett stürzte im Juli letzten Jahres aufgrund erheblicher Meinungsverschiedenheiten zwischen den regierenden Parteien der Koalition über die Migrationsfrage. Infolgedessen werden in den Niederlanden am 22. November Parlamentswahlen stattfinden, um eine neue Regierung zu wählen.

Mark Rutte, der die Niederlande dreizehn Jahre lang mit der VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) regiert hat, hat angekündigt, dass er bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten wird. Mit seinem Rückzug gehen 13 Jahre Rutte zu Ende und die politischen Karten in den Niederlanden werden neu gemischt.

Die Ära Rutte

Er, der bisher der bevorzugte Führer der niederländischen Bourgeoisie war, hat immer im Interesse der großen Konzerne, Banken und kapitalistischen Institutionen und nicht in dem der Arbeiter:innenklasse regiert. Für die arbeitende Bevölkerung hat Rutte eine schwierige Situation herbeigeführt, die durch unbezahlbaren Wohnraum, Teilprivatisierungen des Gesundheitssystems, unsichere Arbeitsplätze, ein sinkendes Bildungsniveau und sehr hohe Lebenshaltungskosten gekennzeichnet ist. Für die großen Banken, die Superreichen und die multinationalen Konzerne hingegen hat er Steuererleichterungen eingeführt, das Arbeitsrecht liberalisiert und ein günstiges Geschäftsklima für die Bourgeoisie geschaffen. In der Europäischen Union trieb er neoliberale Reformen voran, die die Macht weiter in den Händen des Monopolkapitals zentralisieren.

Doch warum ist Ruttes Zeit abgelaufen? Sein viertes Kabinett (von nun an Rutte IV) bestand aus einer Koalition von vier Parteien, der VVD (Volkspartij Voor Vrijheid en Democratie), D66 (Demokrat:innen 66), ChristenUnie (CU; Christ:innenunion) und Christen Democratisch Appèl (CDA; Christlich-Demokratischer Aufruf). Das Kabinett war von Anfang an instabil, seine Bildung dauerte mehr als 299 Tage und es gab viele interne Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Niederlande am besten regiert werden sollten. In der ursprünglichen Koalitionsvereinbarung waren die wichtigsten Punkte, die das Kabinett einte, eine 55 %ige Verringerung der CO2-Emissionen bis 2023, eine Verringerung des Stickstoffausstoßes, die Abschaffung der Vermieter:innensteuer, eine stärkere Regulierung des liberalisierten Wohnungssektors, eine Erhöhung des Mindestlohns um 7,5 % und mehr Geld für das Militär. Das letzte Versprechen hielt Rutte IV am treuesten, denn die niederländische Regierung unterstützte das ukrainische Militär in großem Umfang mit Ausrüstung, Panzern, Kampfjets und militärischer Ausbildung. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Löhne zwar erhöht, aber nur aufgrund von Streiks der Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft (NS) und anderer Beschäftigter im Verkehrssektor.

Rassismus und Rechtspopulismus

Am meisten versagt hat Rutte IV bei der Behandlung von Flüchtlingen und Asylbewerber:innen. Die Kriege in Syrien, Afghanistan, im Irak, Jemen und der Ukraine haben dazu geführt, dass Millionen von Menschen aus ihrem Land fliehen mussten. Flüchtlinge, die Monate und Jahre unter entsetzlichen Bedingungen auf der Flucht vor dem Krieg verbrachten, kamen in die Niederlande und mussten feststellen, dass die Bedingungen hier nicht viel besser sind. Keines von Ruttes Kabinetten hat nennenswert in die Verbesserung der Einrichtungen für Asylbewerber:innen investiert. Dafür mobilisierte aber die Rechte. Wenn die Regierung den Bau einer neuen Einrichtung ankündigt, kommt es häufig zu rechten Hasskampagnen gegen Migrant:innen. In einem Fall wurde sogar ein Hotel, das in eine vorübergehende Flüchtlingsunterkunft umgewandelt werden sollte, von örtlichen Faschist:innen niedergebrannt.

Zwischen 2019 und 2023 organisierten Großbäuer:innen zudem massive Proteste, bei denen sie mit Traktoren durch Den Haag fuhren, um sich gegen Umweltvorschriften zu wehren, die von ihnen eine Verringerung der Produktion verlangen würden. Diese Proteste wurden von FvD-, JA21- und PVV-Mitgliedern gut besucht und erhielten erhebliche Unterstützung von Menschen in kleineren Städten und auf dem Land (FvD: Forum für Demokratie; JA21: Partei in Nordholland; PVV: Partei für die Freiheit). Die großkapitalistische Agrarindustrie finanzierte die Gründung der Bürger:innen-Bäuer:innen-Bewegung (BBB), die der politische Ausdruck der reaktionären Bäuer:innenproteste ist und bei den nächsten Parlamentswahlen voraussichtlich 13 bis 16 Sitze erringen wird. Mit dem Rechtsruck der VVD wollte man die Stimmen der rechtsextremen Anhänger:innen von FvD, PVV, JA21 und BBB auf sich ziehen.

Mögliche Ergebnisse

Doch ein Sieg der VVD ist keineswegs sicher. Zur Zeit konkurrieren in den Umfrage drei Parteien darum, wer stärkte Fraktion im 150 Abgeordnete umfassenden Parlament wird: die VVD, die NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Sozialvertrag) oder die gemeinsame Liste von PvdA/GL (Arbeiter:innenpartei/Grün-Links) liegen in den Umfragen vorn und könnten 25 bis 30 Sitze erreichen. Alle drei wären im traditionell zersplitterten Parlament – zur Zeit sind darin 17 Parteien vertreten – auf Mehrparteienkoalitionen angewiesen, was an sich nichts Neues in den Niederlanden ist. Aber es wird komplizierter aufgrund der Umgruppierungen im bürgerlichen Lager.

Traditionell geben die Konservativen, die nicht für die VVD stimmen, ihre Stimme der CDA, einer christlichen Partei der Mitte-Rechts-Bewegung. Die CDA hat eine starke Basis in den kleineren Städten und Dörfern sowie in einem Teil der niederländischen Bourgeoisie. Infolge der Kabinettskrise hat sich die CDA gespalten. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich dem eher rechtsgerichteten BBB an und treten bei den kommenden Wahlen als Kandidat:innen an. Eine große Gruppe Gemäßigter um das ehemalige CDA-Mitglied Pieter Omtzigt gründete die NSC, die versucht, der christlich-demokratischen Politik der CDA neues Leben einzuhauchen.

Obwohl sich die NSC für die soziale Sicherheit und Wiederherstellung des Vertrauens in die Regierung einsetzt, ist ihre Migrationspolitik genauso rechts wie die der VVD. Die Umfragen zeigen, dass die VVD, die NSC und die BBB zusammen zwischen 60 und 65 Sitze im Parlament erhalten könnten. Das gibt ihnen die Flexibilität, die anderen rechten Parteien auszuwählen, die mit ihnen eine Koalition eingehen.

Ein mögliches und sehr wahrscheinliches Ergebnis der Parlamentswahlen im November sind also große Siege für die Rechte. Obwohl er sich als Beschützer der sozialen Sicherheit, der Renten und der Arbeitsplätze positioniert, werden Pieter Otmzigt und die NSC nicht in der Lage sein, eine massive Sparwelle aufzuhalten, die darauf abzielt, alles zu privatisieren und einen autoritären Staat zu schaffen. Migrant:innen, Flüchtlinge und Asylbewerber:innen werden die ersten Opfer dieser Regierung sein und keine Verbesserung ihrer Situation im Vergleich zu ihrem Heimatland erleben.

Das andere mögliche Ergebnis ist ein Wahlsieg von PvdA-GroenLinks, die bei den Wahlen auf einem einzigen Ticket antreten. Seit Anfang der neunziger Jahre ist die niederländische Arbeiter:innenpartei (PvdA) nach rechts gerückt und hat ihre früheren linken Positionen aufgegeben.

Diese Veränderungen ermöglichten es ihr, in Ruttes zweitem Kabinett mitzuwirken und im Namen der Bourgeoisie zu regieren. PvdA-Führer:innen erhielten hochrangige Ministerposten und wurden mit der Drecksarbeit betraut, Ruttes Sparmaßnahmen durchzuführen, insbesondere im Bildungs- und Wohnungswesen. Im Jahr 2017 schnitt die PvdA bei den Wahlen schlecht ab und verlor viele Parlamentssitze. Dies war auf jahrelanges Missmanagement während der Regierungszeit mit der VVD zurückzuführen. Sie hat keine Perspektive, den Kapitalismus zu beenden oder die Arbeiter:innenklasse an die Macht zu bringen. Die PvdA ist also eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die kapitalistisch geprägt ist und ein bürgerliches Gesellschaftssystem verteidigt, deren soziale Basis aber die Arbeiter:innenklasse bildet.

GroenLinks hat eine etwas andere Geschichte, folgte aber einem ähnlichen Rechtsruck wie die PvdA in den 90er und 2000er Jahren. Im Jahr 1990 schlossen sich die ehemalige Kommunistische Partei (CPN), die Pazifistische Sozialistische Partei und zwei fortschrittliche christliche Parteien zu GroenLinks zusammen. Die progressiven christlichen Parteien, aus denen sich GroenLinks zusammensetzte, dominierten ihr Programm. In den 2000er Jahren bewegte sich GroenLinks weiter in Richtung Mitte und positionierte sich als liberale Partei und vertrauenswürdige Partnerin. Genau wie die PvdA war GroenLinks eine Juniorpartnerin der niederländischen Bourgeoisie und stimmte häufig für Gesetze, die die soziale Sicherheit, die Renten und Arbeit„nehmer“:innenrechte einschränkten. Die Partei hat in der Vergangenheit mit der VVD zusammengearbeitet, deren Standpunkte unterstützt und eine opportunistische Haltung eingenommen.

Den Umfragen zufolge ist es durchaus möglich, dass die PvdA-GroenLinks als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen wird. Die PvdA-GroenLinks-Allianz wird von Frans Timmerman angeführt, der an der Spitze der Europäischen Kommission stand und einer der Hauptverantwortlichen für den europäischen Green New Deal war. PvdA-GroenLinks hat ein Reformprogramm, mit dem einige der Probleme angegangen werden sollen, die in 13 Jahren Rutte entstanden sind, z. B. Klimawandel, Wohnungskrise, teure Gesundheitsfürsorge, hohe Verschuldung von Student:innen, verstärkter Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, Erhöhung des Mindestlohns.

Sollte die PvdA-GroenLinks die Wahl gewinnen, müsste sie eine Koalition mit Parteien des bürgerlichen Zentrums oder sogar mit den Rechten bilden, um zu regieren. Damit wären ihre Reformversprechen gleich zu Beginn kassiert.

Sozialistische Partei (SP)

Die Sozialistische Partei bleibt die fortschrittlichste Partei und hat Verbindungen zur Arbeiter:innenbewegung. Sie ist in den 1970er Jahren aus der maoistischen Bewegung hervorgegangen, wandelte sich jedoch zur einer reformistischen Partei. 1994 gab sie den Marxismus ganz auf. Die Führer:innen der SP sehen sich selbst eher als linke Sozialdemokrat:innen denn als revolutionäre Sozialist:innen. Sie betrachten den Sozialismus als eine Verteidigung des Wohlfahrtsstaates und formulieren ihre Politik eher in ethischen als in politischen Begriffen. Die SP ist somit eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die zwar bedeutende Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse erhält, deren Führung und Organisation aber strukturell auf das kapitalistische System ausgerichtet ist.

Deutlich lässt sich das an ihrer problematischen Position zur Migration zeigen, die sie schon seit den 1980er Jahren vertritt. Die SP fordert Einwanderungskontrollen, die ihrer Ansicht nach die Rechte der Lohnabhängigen schützen und die ungeregelte Einwanderung einschränken würden. Anstatt für Einwanderungskontrollen einzutreten, sollte die SP dazu aufrufen, die Migrant:innen zu organisieren und die Gewerkschaftsbewegung ermutigen, den Kampf für ihre Rechte anzuführen. Die SP vertritt außerdem eine euroskeptische Haltung und möchte die Herrschaft der „nicht gewählten Bürokrat:innen in Brüssel“ beenden und die Entscheidungsgewalt in den Händen der niederländischen Regierung konzentrieren.

Die SP vertritt zugleich fortschrittliche Positionen zur Gesundheitsversorgung, zum Wohnungsbau, zur Studienfinanzierung, zur Verstaatlichung von Versorgungs- und Verkehrsbetrieben und zur Besteuerung von Superreichen und Großkonzernen.

Obwohl die Partei keine formale Beziehung zum größten Gewerkschaftsverband, dem FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), hat, sind viele niederländische Gewerkschafter:innen in der SP aktiv und stimmen für sie. Ihr derzeitiger Vorsitzender, Tuur Elzinga, vertrat die SP von 2006 bis 2017 in der Ersten Kammer des Parlaments. Die SP führt häufig Kampagnen der Gewerkschaften im Parlament durch, wie z. B. die Voor14-Kampagne, die einen Mindeststundenlohn von 14 Euro anstrebte (und inzwischen durch eine Kampagne für einen 16-Euro-Stundenlohn ersetzt wurde). Wir empfehlen eine kritische Stimmabgabe für die SP bei den Wahlen am 22. November.

Wir lehnen jede Beteiligung der SP an einer bürgerlichen Koalitionsregierung ab, auch an einer von PvdA-GroenLinks geführten. Stattdessen sollte SP, Gewerkschaften und soziale Bewegungen gegen die nächste bürgerliche Regierung und deren Angriffe mobilisieren.

Rolle der Gewerkschaften

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen ist es von entscheidender Bedeutung, die Gewerkschaftsbewegung in den Niederlanden zu stärken. In den Jahren 2022 und 2023 gab es einige groß angelegte Streiks im Verkehrs- und Gastgewerbesektor. In Schiphol (Flughafen Amsterdam) organisierten die Gepäckarbeiter:innen und das Sicherheitspersonal im April 2022 einen Streik, der zur Streichung von Flügen und zur Schließung des gesamten Flughafens führte. Die Gewerkschaft FNV unterstützte den Streik zunächst nicht, übernahm dann aber im Sommer die meisten Forderungen und erreichte erhebliche Verbesserungen des Tarifvertrags (CAO; Kollektives Arbeitsabkommen), der für alle Beschäftigten in Schiphol gilt. Später im November organisierten die Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft NS Streiks, durch die der Zugverkehr für einige Tage vollständig eingestellt wurde. In der Folge erreichten sie enorme Lohnerhöhungen, inflationsbereinigte Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl nur etwa 15 % der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, zeigen diese Streiks, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gewinnen können, wenn sie aktiv werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die niederländische Gewerkschaftsbewegung aufzubauen und insbesondere die Organisation der Basis zu stärken.

Die vergangenen neoliberalen Regierungen sowie alle derzeitigen linken und rechten Parteien haben von „Teilhabe“ gesprochen. Wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist nur durch einen revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und die Organisation der Massen in Arbeiter:innenräten möglich. Nur wenn die arbeitenden Menschen ihre eigenen unabhängigen Organisationen haben – Räte, Nachbarschaftskomitees, Organisationen der Unterdrückten (d. h. Frauen, trans Personen, Migrant:innen, nationale Minderheiten) und von Mitgliedern geführte Gewerkschaften – können sie wirklich an der Gesellschaft teilhaben. Um eine radikale Transformation der Niederlande in der Nach-Rutte-Ära zu gewährleisten, müssen wir linke Organisationen aufbauen, die es den Arbeiter:innen ermöglichen, echte Macht auszuüben und die Kräfte zum Sturz der niederländischen Bourgeoisie vorzubereiten. Dies erfordert einen revolutionären Angriff nicht nur auf die niederländische Bourgeoisie, sondern auf das gesamte internationale kapitalistische System.

Ein Schlüsselelement für den Bruch mit dem Kapitalismus ist ein revolutionäres sozialistisches Programm, das die aktuellen Kämpfe der Arbeiter:innen mit dem langfristigen Ziel der sozialistischen Transformation verbindet. Dazu ist eine revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse in den Niederlanden notwendig, die Teil eines größeren Kampfes für eine vereinigte sozialistische Föderation Europas wäre.




Die SPD wird stärkste Kraft in Bremen??

Anne Moll/Karl-Heinz Hermann, Infomail 1222, 14. Mai 2023

Musste die SPD 2019 noch bangen, die Regierungsmehrheit zu verlieren und seit 1945  nicht mehr an der Landesregierung in Bremen beteiligt zu sein, steht sie, laut Umfragewerten, eine Woche vor der nächsten Wahl deutlich besser da.

Bremer Senatsgeschichte

Sie regiert im Zwei-Städte-Staat also ununterbrochen seit dem 2. Weltkrieg, darunter in 2 von den Alliierten ernannten Senaten vor der ersten Landtagswahl 1946 (Vagts, Kaisen I). In den ersten 3 Senaten, darunter dem ersten gewählten (Kaisen II), saß auch die KPD gemeinsam mit BDV (Bremer Demokratische Volkspartei, ab 1951 in die FDP übergegangen) und SPD.

Hat sie etwas richtig oder haben die an der Landesregierung beteiligten Parteien, die Grünen und DIE LINKE, alles falsch gemacht?

Bilanz des Senats Bovenschulte (Rot-Grün-Rot)

Wenn wir uns die Politik der letzten Jahre in Bremen anschauen, sind die Probleme alle noch da, und einige haben sich verschärft.

In der Wahrnehmung der Menschen dort gilt allerdings nicht vor allem die SPD als unfähig, sondern ihre Koalitionspartner:innen haben sehr viel mehr mit Kritik und auch mit Stimmenverlusten zu kämpfen.

Die Grünen, werden besonders über die Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau und Stellvertreterin des Präsidenten des Senats, Bürgermeisterin Maike Schaefer, bewertet – und hier besonders negativ. Die Idee, Bremen als Fahrradstadt umzugestalten, wurde von einer großen Minderheit sehr positiv aufgenommen. Die Realisierung dieses durchaus strittigen Vorhabens – unserer Meinung nach sollte der Schwerpunkt auf dem ÖPNV, insbesondere dem schienengebundenen, liegen – erfolgte aber so chaotisch und wenig konsequent, dass auch diejenigen, die hinter der Idee stehen, es den Grünen nicht zutrauen, diese auch umzusetzen.

DIE LINKE mit der Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, Claudia Bernhard, zeigt große Schwächen bei den Lösungsansätzen für die seit Jahrzehnten verschuldeten kommunalen Krankenhäuser. Klar: Die Probleme hat DIE LINKE nicht verschuldet, aber sie versucht, diese Lösung nun gegen die Beschäftigten durchzudrücken, was ihr einen großen Stimmenverlust einbringen wird.

Die SPD hat es geschafft, sich als stabilisierend und verlässlich darzustellen, obwohl das Wirtschaftsressort auch von der Linkspartei geführt wird und es um die Bildung in Bremen schlechter wohl nicht mehr bestellt sein kann – ein Ressort, das von der SPD bekleidet wird.

Wahlprognosen

Erklären kann dies nur die Besonderheit in Bremen, traditionell SPD zu wählen, um die CDU zu verhindern, gepaart mit einem Sympathieträger wie dem Bürgermeister und Senatspräsidenten Andreas Bovenschulte, der so bodenständig und vertrauenswürdig daherkommt im Gegensatz zu seinem Vorgänger Sieling, der als distanzierter Bürokrat wahrgenommen wurde.

Die SPD konnte sich in der Koalition der letzten Jahre damit hervortun, dass sie den Mindestlohn in Bremen und Bremerhaven eher erhöht hatte, als der Bund das vorsah. Außerdem hält sich die Meinung, dass die Bremer Regierung die Pandemie ganz gut gemanagt hat. Es gab schnell viele Testzentren, kurzfristig FFP2-Masken umsonst, die Impfungen liefen organisiert und es gab wegen der Pandemie keine Massenentlassungen.

Zusätzlich spielt natürlich die höhere Erwerbsquote eine Rolle. Besonders für Bremerhaven konnte hier gepunktet werden. Was allerdings weniger eine Bremer Leistung ist, als ein bundesweiter Trend und im Großunternehmen Daimler gibt es seit Monaten Produktionsprobleme, vor allem wegen der Zulieferung, und es wurden in diesem Jahr hunderte Leiharbeiter:innen nicht weiterbeschäftigt.

Aber auch die CDU ist politisch ideenlos, kann keine neuen Lösungsansätze bieten, kritisiert vor allem die schlechte Politik der jetzigen Regierung und das reicht in Bremen nicht, um die SPD abzulösen.

Neben der Besonderheit, dass, wie zuweilen mancherorts außerhalb des kleinsten Bundeslands gewitzelt wird, bereits Karl der Große Bremen als Lehen auf Lebenszeit an die SPD verpachtet habe, gibt es bei dieser Wahl eine weitere: Die AfD steht nicht auf dem Stimmzettel. Sie hat es geschafft, sich in Bremen und Bremerhaven so zu zerstreiten, dass sie dadurch gar nicht zugelassen wurde. Aber der rechte Flügel bleibt nicht unbesetzt: Die Wählervereinigung Bürger in Wut (BiW), ein Ableger der Schill-Partei seit 2004 und eine weitere Besonderheit des Zwei-Städte-Staats, kommt entsprechend über die 5 %-Hürde und wird statt der AfD wohl in die Bürgerschaft einziehen. Prognosen bewegen sich um die 9 %, vergleichbar wie die für DIE LINKE. Bisher profitierte die BiW von einer Besonderheit des Bremischen Wahlrechts: Die 5 % müssen nur in einer der beiden Städte erreicht werden. So reichte ihr bisher die Unterstützung aus Bremerhaven. In Bremen Stadt erzielte sie nur im abgehängten Norden ähnlich respektable Ergebnisse. Mittlerweile erhält sie im ganzen Bundesland gute Prognosen. Ursachen dafür: Sie beerbt das Wähler:innenpotenzial der AfD (2019: 9,1 % in Bremerhaven; 5,6 % in Bremen; 5 Sitze in der Bürgerschaft). Außerdem verfügt sie dank Unterstützung durch die neugegründete rechtskonservative Kleinpartei Bündnis Deutschland über ein großes Wahlkampfbudget. Manche munkeln, es stehe dem der Grünen nicht nach. Schließlich begünstigt das Wahlrecht mit der Möglichkeit, 5 Stimmen auf einzelne Kandidat:innen und Listen verteilen zu können, kleine Parteien. Diese wird einer weiteren Bremensie, der MERA25, einem Ableger der EU-weiten Bewegung DiEM25 aber laut allen Voraussagen trotzdem nicht zum Sprung in die Bürgerschaftssessel verhelfen.

Wählt DIE LINKE, aber organisiert den Kampf!

Zur Wahl rufen wir zur Stimmabgabe für DIE LINKE auf. Unsere Unterstützung ist aber eine kritische, denn wir wählen eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei wie SPD und/oder DIE LINKE trotz ihrer Politik und nicht wegen ihr. Es ist ihre Basis, die angesprochen, in ihrer fortschrittlichen Haltung (Die Arbeiter:innenschaft braucht eine Partei, die sich allein auf sie stützt und von ihr gestützt wird) gegenüber allen offen bürgerlichen Parteien einschließlich der Grünen bei der Stimmabgabe gestärkt gehört. Das erleichtert den Dialog mit dem organisierten Teil unserer Klasse und ermöglicht uns, ein offenes Ohr für unsere Kritik an ihrer vollständig bürgerlichen Politik zu finden, die in Forderungen an diese Parteien vor den Augen ihrer Basis münden muss.

DIE LINKE ist die erste Gliederung im Westen der Republik gewesen, die den Sprung in ein Landesparlament und in die Regierung geschafft hat. Aber nicht dies ist ausschlaggebend für unsere Wahlempfehlung und es sind auch nicht ihre „Glanzlichter“ als Regierungspartei (Impfkampagne, Pilotprojekte für die Unterbringung von Obdachlosen, Drogenpolitik und Durchsetzung der Ausbildungsabgabe für nicht ausbildende Betriebe). Im Unterschied nach wie vor zur SPD wird sie von den klassenbewusstesten Elementen (Arbeitslosen-, Wohnungs- und Stadtteilinitiativen, linken Vertrauensleuten und Betriebsräten) gewählt. Das macht – einstweilen noch – den Unterschied zur größeren und rechteren Sozialdemokratie aus: dass sie die fortgeschritteneren Schichten der Arbeiter:innenklasse repräsentiert, anders als die SPD.

Kein Wunder also, dass folglich ein größerer Widerspruch zur Realpolitik der Parteimehrheit, deren traurigen Kern wir oben beschrieben haben, auch unter ihren Funktionsträger:innen wie Cornelia Barth, Mitglied im Bundessprecher:innenrat der Strömung Sozialistische Linke, und Olaf Zimmer zum Ausdruck kommt und die Linksjugend [’solid] eigene Plakate für den Nachwuchskandidaten Dariush Hassanpour kleben darf. Insbesondere Zimmer tritt verbal für eine konsequent antimilitaristische Linie der LINKEN gegen die Unterstützung der Landespartei für Waffenlieferungen an die Ukraine ein, die damit der Beschlusslage der Bundespartei Hohn spricht. Diese Kräfte in Funktionärskörper und Parteijugend sind neben der Parteibasis die ersten Adressat:innen für Vorschläge, die die Partei auf einen klassenkämpferischen Weg bringen sollen und somit den Widerspruch zwischen Arbeiter:innenbasis und Wähler:innenschaft einerseits und bürgerlicher Regierungspolitik andererseits zuzuspitzen helfen können. Der linke Flügel muss sich fraktionell organisieren und darf den Kampf für notwendige Forderungen und das Eintreten für eine Ende der bürgerlichen Koalitionspolitik nicht scheuen, um den Bruch mit der Partei zu vermeiden, denn letztlich brauchen wir etwas ganz anderes als DIE LINKE.




Wiederholte Qual der Wahl

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 271, Februar 2023

Berlin wählt noch einmal. Am 12. Februar steht die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen an. Das Bundesverfassungsgericht ordnete die Wiederholung des Urnengangs vom 26. September 2021 zur „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ (Tagesschau 16.11.22) an.

Schließlich war die vergangene Wahl auch ein Desaster. Es wurden unvollständige Briefwahlzettel ausgeschickt. In 72 dokumentierten Fällen fehlten die Stimmzettel für den damaligen Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co. enteignen. In mindestens 424 Wahllokalen musste noch nach 18 Uhr abgestimmt werden, da nicht rechtzeitig ausreichend Stimmzettel vorlagen und 73 Wahllokale wurden aufgrund dessen zeitweise geschlossen. Teilweise wurden Stimmzettel vertauscht. Schlussendlich kam es in neun Prozent der Lokale zu Unregelmäßigkeiten.

Wiederholung und nicht Neuwahl

Politisch führte die Abgeordnetenhauswahl 2021 zu einer Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition. Sechs Parteien zogen ins Abgeordnetenhaus ein (SPD: 21,4 %, Grüne: 18,9 %, CDU: 18,9 %, LINKE: 14,1 %, AfD: 8,0 % und FDP: 7,1 %). Die Wahlprognosen ähneln diesem Ergebnis mit leichten Verschiebungen. Es ist unklar, ob SPD, Grüne oder CDU die meisten Stimmen erhalten werden. Die FDP und die LINKE drohen, 2 bzw. 3 Prozent zu verlieren.

Dabei ist zu beachten: Das Prozedere am 12. Februar ist eine Wahlwiederholung, keine Neuwahl. Dementsprechend dürfen die Parteien keine Veränderungen bezüglich der aufgestellten Direktkandidat:innen sowie Landeslisten vornehmen – nur der Tod entschuldigt. Doch was bedeutet das für uns? Mehr als ein Jahr RGR2 liegt bereits hinter uns mit Auseinandersetzungen um die Krise der LINKEN, einer Konfrontation um die Frage „Regierungsbeteiligung oder Umsetzung des Mietenvolksentscheids?“, einem Krieg, einer Teuerungswelle und vielem mehr. Wir wollen dementsprechend in diesem Text auf die Politik der Koalition von SPD, Grünen und LINKEN, aber auch auf die Krise der LINKEN eingehen und unsere wahltaktischen Schlussfolgerungen darlegen.

Links blinken, rechts abbiegen?

Zahlreich sind die Versprechen für Verbesserungen, die Rot-Rot-Grün gegeben hat. Noch zahlreicher sind jedoch die, die über Bord geworfen oder so umgedreht wurden, dass man sie kaum als Verbesserungen verstehen kann. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Schulbauoffensive, ein Private-Public-Partnership-Modell, mit dem Versprechen, notwendige Sanierungsarbeiten zu tätigen,  das mehr schlecht als recht läuft. Hinzu kommen massive Kürzungen bei den Verfügungsfonds der Berliner Schulen. Während früher pro Schule 28.000 Euro zur Verfügung standen, sind es nun 3.000 Euro.

Auch die von den Grünen geführte Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz (Senatorin: Jarasch) kann nicht besonders glänzen: Denn RGR2 setzt den Versuch der Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn fort und schrieb am 17. Juni 2020 die sogenannte Stadtbahn (Ost-West-Verbindung) und den Nord-Süd-Tunnel aus. Die Netzausschreibung findet in Teilen statt und die Ausschreibung der Fahrzeuginstandhaltung ist ebenfalls davon getrennt.

Besonders präsent ist jedoch der Umgang mit dem Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen, der bereits während des letzten Wahlkampfes für einigen Aufruhr in der Parteienlandschaft sorgte. So machten die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), und mit Abstrichen die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, schon vor der Wahl klar, dass es eine Enteignung großer Immobilienkonzerne mit ihnen nicht geben wird. Somit wurde bereits vor dem ersten möglichen Sondierungsgespräch deutlich, dass es keine Koalition geben konnte, die bereit war, den Volksentscheid umzusetzen.

Das hielt die LINKE nicht davon ab, sich bis heute als bedingungslose Unterstützerin des Volksentscheids zu inszenieren. Statt ihn aber konsequent umzusetzen, stimmte sie der Einrichtung  einer Expert:innenkommission zu, die die Enteignung objektiv verschleppt, die nicht nur das „Wie“ sondern auch und vor allem das „Ob“ diskutieren soll. Währenddessen plante DIE LINKE mit der Koalition hinterrücks die personelle Zusammensetzung der Kommission, gaukelte der Initiative DWe aber vor, selbiges mit ihr abzusprechen.

Das gibt natürlich ordentlich Raum für emotionale Empörung und ist einer der Gründe, warum sich viele Linksparteimitglieder enttäuscht von der eigenen Partei abwandten. Überraschend ist es jedoch auf der anderen Seite nicht. Schließlich besteht einer der Funktionen reformistischer Organisationen darin, soziale Proteste zu inkorporieren. Gleichzeitig hat genau dies dazu geführt, dass sich die Spaltungslinien innerhalb der Linkspartei verstärkt haben, da man auch seiner sozialen Basis gerecht werden muss.

Auch wenn die Linkspartei wahrscheinlich weiter Stimmen verlieren wird, so ist sie noch immer eine Partei mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Wähler:innen. Trotz Unterordnung unter die Vorgaben der Koalition und Enttäuschung vieler Anhänger:innen setzen bis heute viele Aktivist:innen sozialer Bewegungen (sogar von DWe!) und die politisch bewussteren Schichten der Arbeiter:innenklasse (z. B. Krankenhausbewegung) auf DIE LINKE – und sei es als kleineres Übel angesichts von Parteien, die ansonsten entweder für offen neoliberale, konservative und rassistische Politik stehen oder die imperialistische Aufrüstungspolitik und den Wirtschaftskrieg gegen Russland an der Bundesregierung mitverantworten.

Zerreißprobe für die Linkspartei: für eine linke Opposition!

Die Auseinandersetzung rund um das letzte Wahlergebnis zeigte auf, dass es in den unterschiedlichen Flügeln der LINKEN Differenzen gibt um die Frage, welche Politik die Partei angesichts ihrer generellen Krise anstoßen muss. Das regierungssozialistische Mehrheitslager in Berlin wie bundesweit warb für Rot-Grün-Rot und gab dafür weite Teile seiner Versprechen auf, während ein Minderheitsflügel die Beteiligung an einer Regierung mit SPD und Grünen nicht prinzipiell ablehnte, jedoch die Selbstaufgabe dafür.

Diese Orientierung der Mehrheit ist nachvollziehbar, da die LINKE seit ihrer Gründung länger an der Regierung in Berlin war als in der Opposition. Berlin ist quasi zu einem Vorzeigeprojekt der Regierungssozialist:innen geworden. Die Beteiligung an etwaigen Koalitionen wird von diesem Lager mit der Existenzberechtigung der Gesamtpartei in eins gesetzt – eine Orientierung, die ein Hindernis und keinen Zugewinn gegenüber den Angriffen auf Errungenschaften der Klasse darstellt.

Während der Minderheitsflügel in der Partei in Teilen zwar ausspricht, dass sich beide Ziele entgegenstehen, bleiben die praktischen Konsequenzen aus. In Teilen der Partei wird anerkannt, dass es sich um zwei mögliche Pfade handelt, die sie einschlagen kann: entweder Orientierung auf die Regierung oder Kampf für die Umsetzung ihrer Versprechen. Das Ausbleiben einer systematischen Opposition durch DWe selbst hängt direkt damit zusammen, dass die Initiative programmatisch auf selbige Sackgasse zusteuert: eine Umsetzung durch parlamentarische Mehrheiten.

Zwischen der Wahl und der Koalitionsbildung bildete sich innerhalb der LINKEN Widerstand. Mit der Initiative für eine linke Opposition und Anträgen gegen die Regierungsbeteiligung wurde dies greifbar, doch erstickte dies schlussendlich im Keim. Anstatt über die Urabstimmung hinaus gegen die Regierungsbeteiligung zu kämpfen, endete der organisatorische Prozess zu Beginn des Jahres 2022. Zwar gibt es weiterhin eine Reihe von Direktkandidat:innen der LINKEN, die sich gegen eine erneute Beteiligung an RGR aussprechen, doch ändert diese nichts an ihrer Zersplitterung. Unter den Parlamentarier:innen findet sich keine Person, die offen ausspricht, gegen Giffey gestimmt zu haben.

Keine offenen Treffen der Gegner:innen der Regierungsbeteiligung wurden organisiert. Der Konflikt hat sich verlagert – hin zur Frage der Umsetzung des Volksentscheids. Diese Verlagerung ist ein Ausdruck dessen, in welche Sackgasse sich die LINKE manövriert hat, jedoch zugleich ein falscher Konsens. Denn es zögert den Konflikt hinaus, da zugleich passiv auf das Ergebnis einer Expert:innenkommission gewartet werden kann, deren Urteil nicht bindend ist, und das als eine Perspektive gegen die Verhinderungstaktik von SPD und Grünen dargestellt wird.

Die Verlagerung steht also aktiv dem politischen Konflikt im Wege. In diesem Sinne muss auch die bedingungslose Unterstützung des Volksentscheides, die die LINKE kürzlich erst erneut bekräftigte, als Lippenbekenntnis gewertet werden. Für Parteilinke bedeutet das, ihre Aufgaben in der LINKEN zu erkennen, wenn sie nicht Flankendeckung zur Verteidigung der Regierungsbeteiligung bleiben möchten.

Wie verhalten wir uns dazu?

Die Aufgabe für Revolutionär:innen lautet nun aufzuzeigen, wie der linke Flügel den Kampf um seine Inhalte führen muss. Dazu muss an dieser Stelle Druck aufgebaut werden, da eine bisher systematische Organisierung des Widerstands gegen die Regierungssozialist:innen ausgeblieben ist. Zugleich sind dessen Kandidat:innen durchaus Repräsentant:innen einer bedeutenden Minderheit in der Partei und kontrollieren faktisch Bezirke wie das mitgliederstarke Neukölln.

Deswegen rufen wir zur kritischen Unterstützung der Kandidat:innen des linken Flügels der LINKEN bei den Erststimmen auf. Wir wollen damit jene Kräfte in ihr stärken, die sich gegen eine prinzipienlose Regierungsbeteiligung ausgesprochen und, wenn auch inkonsequenten, Protest gegen den Koalitionsvertrag unterstützt und organisiert haben. Das Ziel ist es, sie in die Verantwortung zu bringen und unter Druck zu setzen, den kämpferischen Worten auch ebensolche Taten folgen zu lassen.

Wir rufen daher bei den Erststimmen nur zur Wahl jener Kandidat:innen auf, um unsere Stimme gegen die Regierungsbeteiligung sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit machen wir fest an drei Punkten; Erstens unterstützen wir jene Kandidat:innen direkt, die auf dem Landesparteitag der LINKEN den Antrag gegen die Regierungsbeteiligung aufgestellt haben. Zweitens rufen wir zur Stimmabgabe für jene Kandidat:innen auf, die öffentlich die Initiative „Für eine linke Opposition“ unterstützten, sowie drittens jene, die öffentlich für einen Bruch mit der Regierungspolitik der LINKEN eintreten wie beispielsweise Jorinde Schulz und Ferat Koçak, beides Direktkandidat:innen in Neukölln.

Die Unterstützung verbinden wir mit der Forderung, dem Nein-Lager einen organisatorischen Ausdruck zu geben. Zugleich rufen wir zur Zweitstimmenabgabe für DIE LINKE auf. Schlussendlich soll die eingeschlagene Taktik dem linken Flügel im Kampf zur Klarheit verhelfen und nicht durch reine Stimmabwesenheit zum Bedeutungsverlust ohne politische Alternative führen. Wäre dies der Fall, so würde unsere Wahltaktik gegenüber den Wähler:innen nichts aussagen, außer zuhause zu bleiben.  Mit dieser Taktik hingegen rufen wir dazu auf, auch über die Wahl hinaus Druck aufs Abgeordnetenhaus und die bremsende Mehrheit der LINKEN aufzubauen. Der essentielle Punkt ist nämlich nicht einfach nur, dazu aufzurufen, ein Kreuz zu machen, sondern die Stimmabgabe mit der Aufforderung zur gemeinsamen Aktion zu verbinden.

Warum schlagen wir diesen Weg ein?

Als revolutionäre Marxist:innen betrachten wir die Überwindung des Kapitalismus und damit einhergehend des bürgerlichen Staates als die zentrale Aufgabe unseres politischen Wirkens. In Konsequenz dessen spielt für uns die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter:innenbewegung eine zentralere Rolle als die Arbeit im Parlament, die strategisch überhaupt unfähig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Für uns ist das Abgeordnetenhaus in diesem Sinne eine Tribüne im Klassenkampf. Der Reformismus hingegen steht dieser Aufgabenbeschreibung diametral entgegen. Während er zugleich am gewerkschaftlichen Bewusstsein kämpfender Teile der Klasse ansetzend die politische Vertretung als Partei der organisierten Arbeiter:innenschaft zu repräsentieren vorgibt, hängt er zugleich der Utopie der schrittweisen Überwindung gesellschaftlichen Elends an. Das Ziel muss also sein, das vorherrschende reformistische Bewusstsein innerhalb der Arbeiter:innenklasse – noch bürgerlich, aber von der Notwendigkeit einer Klassenpartei überzeugt – zu brechen. Das passiert nicht allein durch Denunziation oder moralische Empörung über den Verrat der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien. Ansonsten wäre es schwer erklärbar, warum nach mehr als 100 Jahren der stetigen Enttäuschung Olaf Scholz Kanzler ist oder Giffey in Berlin regieren kann.

Das heißt: Wir rufen zur kritischen Wahlunterstützung für DIE LINKE nicht auf, weil wir denken, dass ihr Wahlprogramm, ihre Politik die dringlichsten Ziele von Arbeiter:innen, Migrant:innen, Jugendlichen, Renter:innen, Arbeitslosen oder anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten einlösen, sondern weil sie gewählt wird von Hunderttausenden, die sie für eine soziale Kraft angesichts massiver Preissteigerungen und inmitten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks halten. Entscheidend ist daher nicht das Programm, sondern das Verhältnis der Kandidat:innen und/oder ihrer Partei zur Klasse und den Unterdrückten. Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung setzt an diesem Punkt an, weil wir als revolutionäre Marxist:innen nicht imstande sind, aus eigenen Kräften anzutreten. Folglich geben wir eine kritische Wahlempfehlung für nicht-revolutionäre Kandidat:innen der organisierten Klasse mit dem Ziel, auf sie Druck auszuüben und somit Teile vom Reformismus aktiv leichter wegbrechen zu können, anstatt zu warten, bis diese von selbst desillusioniert werden. Denn ob man es will oder nicht: Mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Stimmen bei der letzten Wahl ist DIE LINKE keine Kraft, die einfach ignoriert werden kann.

Die Illusionen i sie zerfallen nicht durch die reine Kritik an ihrer Ausrichtung, sondern dadurch, dass die Partei in die Lage versetzt wird, ihre Politik umsetzen zu müssen. Gerade angesichts der Wahlwiederholung muss deutlich gesagt werden, dass DIE LINKE bereits anschaulich bewiesen hat, dass die Regierungsbeteiligung für sie mehr bedeutet als ihrer Wähler:innenbasis. Doch der linke Flügel der Partei läuft Gefahr, dies durch seine Passivität zu legitimieren, anstatt in der Partei und Wähler:innenschaft Widerstand zu organisieren.

Daher sagen wir: Schluss damit! Wir fordern die sofortige Umsetzung des Volksentscheides, ansonsten kommt keine Koalition zu Stande. Wählt die Kandidat:innen, die diese Position vertreten haben und lasst uns gemeinsam für die Umsetzung dieser kämpfen!




Brasilien: Zwischen zwei Wahlgängen

Dave Stockton, Infomail 1201, 9. Oktober 2022

Entgegen den Meinungsumfragen des Landes, die Lula da Silva einen klaren Sieg in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen voraussagten, zeigt das Ergebnis – 47,9 % für Lula und 43,6 % für Bolsonaro – der Abstimmung vom 2. Oktober, dass sein Gegenkandidat, der rechtsextreme Demagoge Jair Bolsonaro, immer noch die Chance auf einen Überraschungssieg am 30. Oktober hat. Er schnitt besser als erwartet in Brasiliens südöstlicher Region ab, die die bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais umfasst.

Darüber hinaus hat die extreme Rechte ihre Position bei den Wahlen zum Senat gefestigt. Bolsonaros falsch benannte Liberale Partei (PL) gewann 14 Sitze gegenüber nur 8 Sitzen für Lulas Arbeiter:innenpartei (PT) und wurde damit zur größten politischen Gruppe im Oberhaus. Die PL belegte mit 99 Sitzen auch den ersten Platz in der Abgeordnetenkammer, die jedoch, da sie nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, von den 20 Parteien des sogenannten „großen Zentrums“ (Centrão) mit 148 Sitzen dominiert wird. Dieses wird jedoch von einem Verbündeten Bolsonaros, Arthur Lira (Progressistas, PP), angeführt, der von Bolsonaro großzügig finanziert wurde, um seine Verbündeten zu wählen.

Auch bei den Gouverneurs- und Senatswahlen erzielten die Anhänger:innen Bolsonaros und anderer rechter Parteien ein besseres Resultat als erwartet, obwohl die PT die Stadt São Paulo mit einem Vorsprung von 10 Prozent gewann. Sie erreichte im Nordosten und in Minas Gerais, einem wichtigen Wahlbezirk, durchaus ihr Wahlziel.

Die anderen Präsidentschaftskandidat:innen, die nun von der zweiten Runde ausgeschlossen sind, waren Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Bewegung der Brasilianischen Demokrat:innen (MDP) mit vier Prozent und Ciro Gomes von der Mitte-Links-Partei der Demokratischen Arbeit (PDT) mit knapp über drei Prozent. Kommentator:innen gehen davon aus, dass ihre Wähler:innen eher zu Lula als zu Bolsonaro wechseln werden, aber das Umwerben ihrer Führer:innen wird Lula im Wahlkampf für die zweite Runde wahrscheinlich weiter nach rechts rücken.

Polarisierung

Lulas „Sieg“ in der ersten Runde ist also alles andere als ein Gewinn für die Linke. Die Wahl von Geraldo Alckmin, einer konservativen bürgerlichen Persönlichkeit, zu seinem Vizepräsidenten bedeutet in Verbindung mit der Macht der Rechten im Kongress und in vielen Provinzen, dass von ihnen im Amt nichts Radikales zu erwarten ist. Selbst wenn Lula sich aus ihrer Zwangsjacke befreien und Reformen zugunsten der Arbeiter:innenklasse vorschlagen würde, hätten die Rechten in Alckmin einen weiteren Michel Temer, der 2016 den „institutionellen Putsch“ gegen die PT-Präsidentin Dilma Rousseff anführte.

Offensichtlich gibt es unter großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, der schwarzen, indigenen und LGBTIAQ-Gemeinschaften, vielen progressiven Teilen der Frauen, der Jugend und der Mittelschicht enormen Hass und Angst vor Bolsonaro. Viele einflussreiche Wirtschaftskreise unterstützen jetzt Lula als das kleinere Übel wegen Bolsonaros katastrophaler Politik in den Bereichen Covid und Wirtschaft. Seine Regierungsbilanz ist eine Katastrophe, angefangen bei der Übernahme von Donald Trumps Politik der Verleugnung und des Werbens für Quacksalbermedizin, die zum Tod von 700.000 Menschen geführt hat. Die Aufhebung von Umweltschutzgesetzen und die offene Förderung des Abbrennens und der Abholzung von noch mehr Amazonas-Regenwald haben zu einer Verdoppelung der CO2-Emissionen in den Jahren 2019/20 im Vergleich zum Durchschnitt des vorherigen Jahrzehnts geführt.

Zu Bolsonaros arbeiter:innenfeindlichen Wirtschaftsreformen gehören die sogenannten Arbeits- und Rentenreformen und die Kürzung des Familienunterstützungsprogramms „Bolsa Família“.  Im Jahr 2019 erlebte dieses Programm den stärksten Rückgang in der Geschichte: Die Zahl der empfangenden Familien ging von 14 Millionen auf 13 Millionen zurück, während die Zahl derer, die in der Schlange standen, um das Programm zu erhalten, 1,5 Millionen überstieg. Die Zahl der Brasilianer:innen, die Hunger leiden, stieg von Ende 2020 bis Anfang 2022 von 19,1 Millionen auf 33,1 Millionen, das sind etwa 15,5 Prozent der Bevölkerung. Bei einer jährlichen Inflationsrate von 8,73 Prozent können diese Zahlen nur noch schlimmer werden.

Bolsonaros Ideologie und Rhetorik weisen sicherlich starke Anklänge an den Faschismus auf, und seine Anhänger:innen verüben gewalttätige, sogar mörderische Angriffe auf Persönlichkeiten der Arbeiter:innen- und anderer fortschrittlicher Bewegungen. Es handelt sich jedoch noch nicht um eine voll entwickelte faschistische Massenmiliz, die in der Lage wäre, eine faschistische Diktatur zu errichten. Auch die oberen Ränge der brasilianischen Bourgeoisie rufen nicht zu einem solchen Ergebnis auf. Das Gleiche gilt für Washington, ganz zu schweigen von den imperialistischen Mächten in der Europäischen Union.

Sie würden Lula eindeutig bevorzugen, vor allem einen gezähmten Lula mit Alckmin als Vizepräsidenten. Alckmin war bis vor kurzem einer der wichtigsten Führer einer der größten Parteien der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB. Für die Wahl wechselte er zu einer kleineren Partei. Während seiner Zeit als Gouverneur von São Paulo ließ er Lehrer:innenstreiks niederschlagen und Demonstrationen unterdrücken und war Mitinitiator des so genannten Pinheirinho-Massakers im Jahr 2012, bei dem mehr als 1.500 Familien – zwischen 6.000 und 9.000 Menschen – mit Hubschraubern, Panzern, Pferden und Tränengas aus den größten Favelas, den Elendsquartieren der Region, vertrieben wurden. Er ist auch nicht einfach nur Vizepräsident. Er bringt in Lulas „breites Bündnis“ (Volksfront) eine Koalition von Parteien und Abgeordneten ein, die die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen jeglicher echter Reformen festlegen werden.

Bolsonaro und die Gefahren  eines Putsches

Vor der Wahl sagte Bolsonaro: „Wenn ich verliere, dann weil die Wahl gefälscht wurde“, und seine massenhafte reaktionäre Anhänger:innenschaft wäre sicherlich zu einem weitaus ernsthafteren Versuch fähig, an der Macht zu bleiben, als die Anhänger:innen von Donald Trump, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmten.Die brasilianische Gesellschaft ist eindeutig von einem reaktionären Block um Bolsonaro polarisiert, ähnlich wie Trump und die Republikaner:innen in den USA. Wahrscheinlich hat er  jetzt mehr gut bewaffnete Anhänger:innen als Trump bei der Erstürmung des US-Kapitols, so dass eine Wiederholung dieses Vorgangs vermutlich noch blutiger und zerstörerischer sein würde. Bolsonaro selbst hat praktisch einen Umsturz versprochen, der auf der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses beruht.

Zwei Faktoren mögen dagegen sprechen. Erstens: Angesichts der Position der Mehrheit der Bourgeoisie, der Mehrheit ihrer Parteien, der Haltung Bidens, der potenziellen Stärke der Arbeiter:innenpartei, des CUT-Gewerkschaftsverbands und anderer gesellschaftlicher Kräfte wäre dies ein komplettes Abenteuer.

Die deutliche Stärke, die Bolsonaros Kräfte bei den Wahlen an den Tag gelegt haben, lässt einen logischeren Weg vermuten, seine Position in den Gouverneursämtern und im Senat sowie die unzweifelhafte Sympathie der Polizei und eines Teils des Oberkommandos der Armee zu nutzen, um eine Regierung Lula-Alckmin zu blockieren und vereiteln.  Schließlich werden die nächsten Jahre wahrscheinlich von einer weltweiten Wirtschaftskrise geprägt sein, und die Regierung wird nicht über die Mittel für soziale Reformen verfügen, die Lula in den Jahren 2003 – 2010 zur Verfügung standen. Ob Bolsonaro dieses Maß an Geduld aufweist, werden wir bald sehen.

In jedem Fall sollten die Arbeiter:innen und alle Unterdrückten Brasiliens nicht darauf warten, dass die fortschrittliche Bourgeoisie und die liberalen Imperialisten im Ausland, geschweige denn die Streitkräfte des Landes, die Demokratie verteidigen. Man kann auch nicht erwarten, dass Lula sich mutiger oder entschlossener verhält als Salvador Allende 1973 in Chile. Ein entwaffnetes Volk, wie geeint es auch sein mag, wird immer besiegt werden. Die Arbeiter:innen- und Volksorganisationen müssen mehr tun als nur demonstrieren. Sie müssen Delegiertenräte und bewaffnete Milizen bilden, um sich gegen Bolsonaros Banden und gegen jede Intervention des Militärs zu schützen.

Revolutionär:innen, die dem klaren Rat von Leo Trotzki aus den 1930er Jahren und der Praxis von Lenin aus dem Jahr 1917 folgen, sollten Lula-Alckmin weder an der Urne noch nach dem Wahlgang Vertrauen aussprechen. Wir sollten nur Arbeiter:innen- und sozialistische Kandidat:innen (einschließlich der PT) unterstützen, wenn diese unabhängig von allen bürgerlichen Parteien sind. Wir sollten für alle PT- und sozialistischen Kandidat:innen stimmen, die dies tun und in den Massen gut verwurzelt sind, gerade um die Kräfte der Klassenunabhängigkeit zu stärken. Mit ihnen sollten wir eine Einheitsfront bilden, die in der Lage ist, nicht nur Bolsonaro, sondern auch Lula-Alckmin zu bekämpfen, wenn diese die Rechte und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen angreifen.

Eine Regierungskoalition mit der Bourgeoisie wird nicht in der Lage sein, lebenswichtige Reformen durchzuführen, die die Arbeiter:innenklasse braucht, sondern wird zusammen mit den Gewerkschaften der CUT die Arbeiter:innen dazu drängen, Opfer zu bringen und ihren Kampf zu zügeln, um diese Regierung im Amt zu halten. Das wiederum wird die Kräfte der Arbeiter:innen und aller anderen fortschrittlichen Strömungen schwächen. Was die Verteidigung gegen einen Bolsonaroputsch angeht, so befürworten wir eine Einheitsfront der PT, der Gewerkschaften, kleinerer Parteien wie der PSOL und der PSTU sowie der kommunistischen Parteien, um ihn zu besiegen. Wir plädieren jetzt dafür, dass sie Verteidigungseinheiten bilden, um jeden Angriff auf die Regierung von rechts abzuwehren.

Gleichzeitig müssen wir für die Bildung von Aktionsräten kämpfen, an denen sich alle Kräfte der Arbeiter:innenklasse und des Fortschritts beteiligen. Wir müssen für ein Programm revolutionärer antikapitalistischer Maßnahmen gegen Inflation, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung eintreten, Land für Landlose, Selbstbestimmung und Landrechte für indigene Gemeinschaften und geplanten Widerstand gegen Umweltzerstörung fordern.




Den Vormarsch der Reaktion in Chile stoppen – Kritische Wahlunterstützung für Boric!

Markus Lehner, Infomail 1173, 16. Dezember 2021

Am 19. Dezember findet die hart umkämpfte und stark polarisierte Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile statt. Im ersten Wahlgang lag der rechtsextreme Antonio Kast mit 27,9 % vor dem Kandidaten des Linksbündnisses „Apruebo Dignidad“ (dt.: „Ich stimme der Würde zu“), Gabriel Boric, der 25,8 % der Stimmen auf sich vereinen konnte.

Wie wir vor dem ersten Wahlgang im Artikel „Das Ende des chilenischen Modells?“ dargestellt haben, finden diese Wahlen in einer seit zwei Jahren von Protesten geprägten Situation statt. Seit Oktober 2019 steht das „Modell Chile“, das lange als Eldorado neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik galt, durch eine immer stärker werdende Protestbewegung der großen Zahl der VerliererInnen dieses Modells unter Beschuss. Jugendliche, Frauen, ArbeiterInnen, Indigene, MigrantInnen haben das Heft des Handelns in die Hand genommen  und auch die bisher in die Nach-Pinochet-Ära integrierte sozial-liberale „Concertación“ (Sozial- und ChristdemokratInnen; dt.: „Koalition der Parteien für die Demokratie“) von der Führung der Opposition verdrängt.

Stattdessen sind die Bündnisse rund um die Kommunistische Partei Chiles, insbesondere die „Frente Amplio“ (dt.: „Breite Front“) in den Vordergrund gerückt. Gabriel Boric, ein früherer Sprecher der StudentInnenproteste und Repräsentant dieser Front, hat zusammen mit den GewerkschaftsführerInnen und FunktionärInnen der KP daran mitgewirkt, dass die Protestbewegung letztlich in den Prozess der Neugestaltung der Verfassung übergeleitet wurde. Mit dem Referendum zum Verfassungsprozess und der Wahl zur Konstituante in diesem Mai zeigt dieser reformistische Weg natürlich inzwischen seine erwartungsgemäßen Grenzen. Dass dieser parlamentarisch-institutionelle Weg die Grundpfeiler der sozialen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten des „Modell Chile“ grundlegend angreifen könnte, ist für immer weniger Beteiligte der Proteste glaubhaft. Dies hat sich nicht nur in der äußerst geringen Wahlbeteiligung für die Konstituante ausgedrückt, sondern auch in dem vehementen Wiederaufflammen der Protestbewegung seit September 2021. Trotz dieser aufkeimenden Unzufriedenheit hofft die Masse der Bewegung und der unterdrückten Klassen bei den Wahlen auf  Boric, und das erst recht angesichts der Alternative: ein Wahlsieg des rechten Pinochet-Verehrers Kast.

Die Rechte vereint die Bourgeoisie

Mit dem Schwinden des Vertrauens in den Verfassungsprozess fühlt sich auch die Rechte wieder stark genug, um ihre Kräfte zu mobilisieren. Es gibt nicht wenige in den Mittelschichten und auf dem Land, die durch die hohen Ausbeutungsraten und die Stellung Chiles auf dem Weltmarkt eine günstige soziale Stellung erworben haben. Die Proteste und die Wahlversprechen der Linken wurden daher von der Rechten benutzt, um den drohenden wirtschaftlichen Niedergang gerade gegenüber diesen Schichten zu beschwören. Dazu kommt, dass sie mit Kast einen Kandidaten gefunden haben, der mit allen Elementen des Rechtspopulismus auch weit über die üblichen Konservativen hinaus mobilisieren kann. Insbesondere war Chile in den letzten Jahrzehnten ein Anziehungspunkt für MigrantInnen aus ganz Lateinamerika, z. B. aus Haiti. Diese wurden in den letzten Jahren immer mehr an den Rand gedrängt und sind Ziel starker rassistischer Ausgrenzung. Hetze gegen MigrantInnen und Indigene (insbesondere die Mapuche) als „Hort der Kriminalität“ und „SchmarotzerInnen“ sind für Kast ebenso Kernelement seiner Propaganda wie Klimawandel-Leugnung, Hetze gegen Homosexuelle und die Beschwörung der „Gefahr des Feminismus“. Trotz dieser widerlichen Züge eines Anden-Bolsonaro (mit dem er sich auch gerne auf Fotos zeigt) verfügt Kast über die vollständige Unterstützung des chilenischen Establishments. Die Angst, selbst vor dem Wahlsieg der reformistischen Linken, lässt die chilenische Bourgeoisie auf Kast setzen, um nicht nur eine Marionette des Neoliberalismus im Präsidentenpalast sitzen zu haben, sondern auch einen Erzreaktionär, der bereit ist, gestützt auf den Staatsapparat und eine kleinbürgerlich-reaktionäre AnhängerInnenschaft, mit dem linken Spuk Schluss zu machen.

In den letzten Umfragen (in Chile gibt es seit letzter Woche allerdings ein Umfragemoratorium) lag Boric mehr oder weniger knapp vor Kast. Die fortschrittliche Massenbewegung, aber auch die meisten WählerInnen zentristischer Parteien tendieren eher dazu, Boric zu wählen. Außerdem liegt er insbesondere bei Frauen, Jugendlichen und ArbeiterInnen im Verhältnis 40:20 vorne. Insbesondere Frauenorganisationen haben zu Recht gegen die reaktionären, frauenfeindlichen Programmpunkte von Kast mobil gemacht und rufen in großer Zahl zur Wahl von Boric auf. Gleiches gilt für alle wichtigen Gewerkschaftsführungen. Boric verspricht vor allem die Rücknahme der Privatisierungspolitik in Bereichen wie Gesundheit und Rente. Dies führt auch zu einer starken Unterstützung in den Umfragen bei älteren WählerInnen.

Die Präsidentschaftswahl stellt angesichts der politischen Krise und Zuspitzung der gesellschaftlichen Polarisierung der letzten Jahre auch eine wichtige Konfrontation nicht einfach zwischen zwei KandidatInnen dar, sondern zwischen den gesellschaftlichen Hauptklassen, zwischen Lohnarbeit und Kapital. Trotz der reformistischen Grenzen der Politik und des Programms von Boric kann und darf die ArbeiterInnenklasse hier nicht neutral bleiben. Auch alle linken, revolutionären Kräfte müssen mit ihrer Stimme mithelfen, Kast an der Wahlurne zu schlagen. Denn sein Sieg wäre eine Niederlage für die gesamte ArbeiterInnenklasse, die Jugend, die Frauen, Indigene, die armen Bauern und Bäuerinnen in Chile und ganz Lateinamerika.

Grenzen des Reformismus

Gleichzeitig dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass Boric,  die KP und die „Frente Amplio“ nicht die notwendige revolutionäre Antwort auf die Probleme von sozialer Ungleichheit und Unterdrückung in Chile darstellen. Ihr Manöver, die Protestbewegung in das Fahrwasser des Verfassungsprozesses zu lenken, hat dagegen tatsächlich die Möglichkeit einer revolutionären Zuspitzung der Proteste 2019 abgewürgt und so der Reaktion ermöglicht, wieder die Initiative zu erlangen. Dass mit der Enttäuschung in Bezug auf die eigentlichen Ziele des Protestes jetzt die Konterrevolution umso schlimmer wieder ihr Haupt erhebt, ist letztlich kein Wunder. Daraus ergibt sich die Polarisierung bei der gegenwärtigen Wahl, zwischen einem Kandidaten der reformistischen Linken, die die Lohnabhängigen und Unterdrückten repräsentiert, und der extremen Rechten mit Unterstützung der Bourgeoisie.

Auch wenn Wahlen und Parlamentarismus letztlich nichts an den wirklichen Fragen der Macht (sprich den dahinterliegenden Eigentumsverhältnissen) ändern können, so spiegelt sich gerade in solch einer polarisierten Kampagne nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wider. Der Ausgang selbst wird in dieses eingehen.

Es kann der ArbeiterInnenklasse daher nicht egal sein, wer solche Wahlen gewinnt. Ein Wahlsieg von Kast wäre sicherlich für die herrschende Klasse eine Ermutigung zu weiteren Angriffen und würde der Konterrevolution zudem ein „demokratisches“ Mandat geben. Für die sozial Unterdrückten und die Protestierenden der letzten Jahre wäre dies ein schwerer Rückschlag und keine Ermutigung für den weiteren Kampf, sondern hätte wahrscheinlich sogar entmutigende Wirkung.

Auch ein Wahlsieg von Boric ist natürlich keine Garantie für bessere Kampfbedingungen oder tatsächliche Veränderungen. In jedem Fall ist nur der Kampf in den Arbeits- und Ausbildungsstätten, auf der Straße und in sozialen Protesten der wirkliche Hebel gegen das Wiedererstarken der Rechten und für einschneidende soziale Veränderungen. Vor allem aber müssen wir anerkennen, dass ein großer Teil der ArbeiterInnen, Frauen, Indigenen etc. tatsächlich glaubt, dass ein Wahlsieg von Boric ihren Kampf voranbringe. Dies machen sowohl die Umfragen als auch die Unterstützung durch Gewerkschaften und soziale Bewegungen mehr als deutlich. RevolutionärInnen müssen natürlich vor Illusionen in Boric warnen (siehe sein Agieren im Abkommen zur „Befriedung der Proteste“) und die ihn unterstützenden Organisationen zu unabhängiger Mobilisierung im Kampf gegen rechts, zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens, zur Einführung einer staatlichen Rente etc. aufrufen.

Boric wird vielmehr versuchen, sich mit der Bourgeoisie und ihren im Parlament vertretenen Parteien auf die Aufrechterhaltung der alten Ordnung zu einigen (was man schon an seinen jüngsten „Versprechen“ sieht, dass man leider einige der Inhaftierten der Protestbewegung nicht amnestieren könne).

Eine kritische Unterstützung von Boric bei den Wahlen muss diese Zugeständnisse anprangern und von ihm und den Massenorganisationen einfordern, mit dieser Politik zu brechen. RevolutionärInnen muss dabei bewusst sein, dass Boric und die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und reformistischen Parteien und Organisationen, auf die er sich stützt, diesen Schritt nicht gehen wollen. Wenn wir die Mobilisierung jedoch vorantreiben und den Kampf zuspitzen wollen, so müssen wir die Unterstützung von Boric damit verbinden, seinen AnhängerInnen zu helfen, über die Begrenzungen seiner Politik hinauszugehen. Dabei ist es notwendig, an die durchaus bedeutenden Versprechungen des Kandidaten anzuknüpfen wie z. B. ein einheitliches und öffentliches Gesundheitssystem für alle, eine solidarische Altersversorgung,  Steuererhöhungen für Reiche und Unternehmen und Anerkennung der indigenen Völker und ein Dialog mit ihnen sowie Abschaltung aller Kohlekraftwerke bis zum Ende seiner Regierungszeit.

Wir rufen daher zur kritischen Wahlunterstützung von Boric ohne Illusionen auf und verbinden diese mit der Notwendigkeit, die Protestbewegung fortzusetzen und  eine organisierte Opposition zur bestehenden Ordnung voranzutreiben. Wir fordern ihn, die KP und die „Frente Amplio“ auf, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen zu bilden, die sich auf die Mobilisierung der Massen stützt, auf Stadtteil- und Betriebskomitees und diese zu Räten in Stadt und Land ausbaut; auf eine Mobilisierung, die die Konterrevolution entwaffnet und die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen bewaffnet, die die einfachen SoldatInnen auffordert, mit den OffizierInnen zu brechen und SoldatInnenräte zu bilden. Eine solche Regierung müsste zugleich, drastische Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Wahlversprechen und zur Enteignung des chilenischen und ausländischen Großkapitals und Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft ergreifen.

Auch wenn Boric, die KP und die Frente diese radikalen, antikapitalistischen Schritte hin zu einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung nicht gehen wollen, so können und sollen diese Forderungen helfen, die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen davon zu überzeugen. Doch das wird nur möglich sein, wenn RevolutionärInnen bereit sind, diese im Kampf gegen Kast zu unterstützen.

Absentismus ist nicht revolutionär!

In diesem Zusammenhang müssen wir uns damit beschäftigen, welche Antworten andere Linke in Chile geben. Sicherlich ist es verständlich, dass viele der aktivsten Beteiligten an den wieder aufgenommenen Protesten keine Hoffnung in Boric setzen und ihn wegen seiner Teilnahme an dem „Befriedungsabkommen“ als „Verräter“ betrachten. Revolutionäre Politik kann sich aber nicht an verständlichen Abneigungen orientieren, sondern muss sich nach den Notwendigkeiten in der gegebenen Situation ausrichten. Und die aktuelle Lage ist dadurch geprägt, dass in dieser entscheidenden Zuspitzung eben kein/e KandidatIn der Protestbewegung mit einem Programm zur revolutionären Lösung der Krise zur Wahl steht – und gleichzeitig ein in der ArbeiterInnen- und sozialen Bewegung stark verankerter Kandidat sehr viel Unterstützung gerade von dieser Seite erhält. Wir mögen dies zur Illusion erklären und vor seiner wahrscheinlichen zukünftigen Politik warnen. Aber dies kann kein Argument sein, in der aktuellen Klassenkonfrontation, die die Wahl auch darstellt, nicht eindeutig Stellung zu beziehen. Wer nicht bereit ist, Boric und die Massenbewegung auch an der Wahlurne gegen die Reaktion zu unterstützen, weigert sich nur, die ArbeiterInnenklasse in dieser gesellschaftlichen Großkonfrontation zu stärken, und trägt somit letztlich nur dazu bei, die Chancen von Kast zu verbessern. Wer mit einer Wahlenthaltung zu einem Sieg von Kast beiträgt, wird zu Recht bei den enttäuschten ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen, Indigenen und Bauern/Bäuerinnen, die Boric gewählt haben, kein besonders gutes Gehör für die notwendige Fortsetzung des Kampfes gegen rechts und für soziale Veränderung finden. Im Gegenteil ist die Gefahr der Demoralisierung groß, wenn dann die reformistische Linke wie in Brasilien ihre AnhängerInnen um Volkfrontprojekte „gegen rechts“ versammelt.

Von daher halten wir die Wahlposition der „Partido de Trabajadores Revolucionarios“ (PTR, chilenische Sektion der Fracción Trotskista – Cuarta Internacional) für falsch. In mehreren Deklarationen zur Stichwahl gibt sie als Slogan zur Wahl aus: „Kast und die Rechte besiegen, aber ohne Illusionen in Boric und sein Projekt“ (z. B.: https://www.laizquierdadiario.cl/A-derrotar-a-Kast-y-la-derecha-sin-confiar-en-Boric-ni-en-su-proyecto). Die berechtigte Kritik an Boric und seiner Rolle im „Befriedungsabkommen“ sowie an seinem halbherzigen Programm verbindet sie nicht mit der Taktik der kritischen Wahlunterstützung – wie wir sie auf Basis der Methode von Lenin und Trotzki oben entwickelt haben. Während sie richtigerweise betont, dass nur unabhängige Mobilisierungen der Klasse den Kampf gegen rechts und für soziale Veränderungen voranbringen können, tut sie so, als ob der Ausgang der Wahl und die Tatsache der massenhaften Illusionen in Boric dafür völlig unerheblich wären.  Sie rettet sich dann in die widersprüchliche und schwammige Formel:  „Wir organisieren diesen Kampf mit den Genossinnen und Genossen, die im Bewusstsein dessen, was Boric repräsentiert, kritisch für ihn stimmen werden, sowie mit denjenigen, die der Rechten entgegentreten wollen und nicht wählen werden, weil sie der Meinung sind, dass Boric nicht die Forderungen des Oktobers vertritt“. D. h., sie selber ruft nicht zur Wahl von Boric auf (also tritt wohl für Wahlenthaltung ein), „toleriert“ aber die Wahl von Boric, sofern sie kritisch „im Bewusstsein dessen, was Boric repräsentiert“, erfolgt.

Wenn Boric so ein Verräter sein soll, dass sich kritische Wahlunterstützung verbietet, warum arbeitet man dann gerade mit denjenigen zusammen, die genau wissen, was Boric repräsentiert – und nicht z. B. mit den tausenden, die tatsächlich Illusionen in Boric hegen, aber die richtigen Forderungen, die er auch verficht, tatsächlich umgesetzt sehen wollen? Wird die PTR bei den Mobilisierungen jetzt in Zukunft überprüfen, ob nur Menschen, die wissen, was Boric und seine politische Strömung repräsentieren, teilnehmen? ArbeiterInnen, die von Boric, den Gewerkschaftsführungen, der KP etc. erwarten, dass sie ein staatliches Gesundheits- und Rentensystem auf sozialer Grundlage einführen und die gewerkschaftsfeindlichen Arbeitsgesetze abschaffen, werden in großer Zahl nicht einfach durch Aufklärung oder Schulung oder „vollkommen unabhängige Mobilisierung“ lernen, dass dies keine dafür geeignete Führung ist.

Wir müssen  den ArbeiterInnen im Kampf helfen, die Schranken der reformistischen Führung zu erkennen. Das bedeutet nicht nur, vor dieser Politik zu warnen, sondern auch, die Mobilisierung und Konfrontation zuzuspitzen, um den ArbeiterInnen in organisierter Form zu ermöglichen, über die Politik von Boric hinauszugehen und daraus eine alternative, revolutionäre Führung mit Verankerung in den Massen aufzubauen. Bei der Wahlauseinandersetzung im Abseits zu stehen, vor allem vor Illusionen in den reformistischen Kandidaten Boric zu warnen und die kleine, radikale Minderheit zum unabhängigen Kampf gegen die Gefahr von rechts „jenseits des Wahlspektakels“ aufzurufen – das ist pseudorevolutionäre Pose, die in Wirklichkeit einem Fernbleiben von der realen Konfrontation bei den Wahlen, einer Verweigerung des Kampfes gegen die Reaktion gleichkommt. Wer die „Kritik“ am Reformismus und das Beschwören der „unabhängigen Mobilisierung der Klasse“ als Begründung zur Wahlenthaltung heranzieht, weigert sich nur, die Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen den  Kandidaten von  vereinigter Bourgeoisie und Reaktion zu unterstützen. Die Überwindung der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse ist auf dieser Basis unmöglich.




Die Wahlen und die politische Krise der Bourgeoisie

Martin Suchanek, Infomail 1163, 20. September 2021

Gut eine Woche vor den Bundestagswahlen wurden die letzten Umfragen von ARD und ZDF veröffentlicht. Im Deutschlandtrend vom 16. September liegt die SPD mit 26 Prozentpunkten vor CDU/CSU (22 %) und den Grünen (15 %). AfD und FPD würden auf je 11 % kommen und DIE LINKE mit 6 % zwar sicher, aber abgeschlagen in den Bundestag einziehen.

In den letzten Wochen prägt ein eigentümlicher Gegensatz den Wahlkampf. Einerseits könnte er mit einem überraschenden Sieg einer politischen Untoten enden, einer SPD, die über Jahre in den Umfragen um die 15 % dümpelte. Nicht nur die Frage, wer die Regierung führt, sondern auch welche Koalition gebildet wird, ist offen wie nie nach 16 Jahren Merkel-Regierungen.

Zugleich bleibt der Wahlkampf selbst extrem inhaltsleer, wie nicht nur ein Blick auf die Wahlplakate zeigt. So verspricht Scholz „Kompetenz für Deutschland“ und „Respekt für Dich“. Die Grünen und ihre Spitzenkandidatin Baerbock preisen „unser Land“ an. Es „kann viel, wenn man es lässt“. Die CDU/CSU verspricht „Sicherheit“ in unsicheren Zeiten. Und die FDP erklärt nur: „Es gab noch nie so viel zu tun.“

Von einem Lagerwahlkampf ist nichts zu spüren, es gibt auch keinen. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass wahrscheinlich drei der vier oben genannten Parteien, also SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP nach den Wahlen in eine Koalitionsregierung eintreten werden. Auch wenn von SPD und Grünen mit der Linkspartei rechnerisch eine Koalition im Bereich des Möglichen liegt, so ist sie trotz hartnäckiger Bemühungen der Linkspartei-Spitze nach den Wahlen sehr unwahrscheinlich. Sowohl SPD wie auch Grüne streben bei einem Wahlsieg von Scholz eine Koalition mit der FDP an, um so dem deutschen Kapital Verlässlichkeit und Stabilität zu signalisieren. Sollten die Unionsparteien das Ergebnis doch noch drehen können und zur größten Fraktion im Bundestag werden, läuft es wahrscheinlich auf eine Regierung mit der FPD und Grünen oder SPD hinaus.

Theoretisch wäre auch der Eintritt der CDU/CSU in ein SPD-geführtes Kabinett möglich, doch das würde mit ziemlicher Sicherheit die tiefe Krise der Unionsparteien noch weiter verschärfen und ist daher nicht zu erwarten.

Warum drehten sich die Umfragen?

Bemerkenswert an diesem Wahlkampf ist zweifellos, dass sich die Umfragen seit Anfang 2021 mehrmals drehten. Eine Zeit lang schien es so, als würden die Wahlen auf ein Duell von CDU/CSU und Grünen hinauslaufen und diese schließlich eine Regierung bilden. Dann fielen aber die Grünen zurück und die Unionsparteien sahen wie die sicheren Siegerinnen aus. Offen war nur, ob Söder oder Laschet Merkel-Nachfolger werden würde.

Mit Olaf Scholz schicke die SPD einen Großkoalitionär vom rechten Parteiflügel ins Rennen, der wie die sichere Fortsetzung ihrer Dauerkrise und ihres langsamen Absterbens wirkte. Wohlmeinende bezeichnen seine Rhetorik als unaufgeregt. Andere schlafen bei seinen Ansprachen einfach ein und sparen so wenigstens am Schlafmittel.

Lange Zeit schien er, sicherer Dritter im Rennen um die KanzlerInnenschaft zu werden, wirkte eigentlich wie ein Pseudokandidat, dessen Partei obendrein das schlechteste Ergebnis aller Zeiten einfahren würde. Doch im Gegensatz zur SPD leisteten sich ihre Konkurrentinnen einen offenen Kampf um die Frage des/der SpitzenkandidatIn. Während CDU und CSU dabei mehr oder weniger offen Laschet beschädigten, geriet die grüne Spitzenkandidatin Baerbock sehr früh ins Sperrfeuer einer Gegenkampagne von Teilen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Medien.

All dies trug sicher dazu bei, dass sich die Umfragen drehten. Die SPD profitierte im Wesentlichen von den Schwächen der anderen, so dass sie nun reale Chancen hat, am 26. September zur stärksten Partei zu werden und den Kanzler zu stellen. Die Grünen sind mittlerweile faktisch aus diesem Rennen ausgeschieden, so dass sich die Wahl als Zweikampf zwischen Scholz und Laschet zuspitzt.

Zweifellos kommt dem SPD-Mann dabei zugute, dass ihn selbst Teile der CDU-WählerInnen und der herrschenden Klasse für den besseren oder wenigstens vorzeigbareren Kanzler halten. Es wäre freilich viel zu kurz gegriffen, die Frage auf letztlich zweitrangige, personelle Faktoren zu reduzieren.

Politisch-strategische Krise

Die raschen Veränderungen in den Umfragen, drücken vielmehr eine wachsende politische Instabilität und Krise im bürgerlichen Lager aus. Dies reflektiert zwar auch eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung, vor allem aber eine politisch-strategische Krise der Parteien, die über Jahrzehnte die Regierungen in der Bundesrepublik stellten und die Stützen des etablierten bürgerlich-parlamentarischen Systems bildeten.

Entscheidend und vorrangig zu nennen ist hier die Krise der CDU/CSU. Selbst wenn Laschet noch vor Scholz landen, die Unionsfraktion zur stärksten im Bundestag werden und die nächste Regierung anführen sollte, wäre ihr Ergebnis katastrophal. Schon 2017 erreichte sie mit 32,9 % das zweitschlechteste in der Geschichte der Bundesrepublik (nur 1949 war es ärger), als CDU/CSU gegenüber 2012 8,6 % verloren. Dieses Mal könnten sich die Verluste in ähnlichen Dimensionen bewegen.

Dem Niedergang der Unionsparteien entspricht eine Zersplitterung des bürgerlichen Lagers, also all jener Parteien, die historisch nicht aus der ArbeiterInnenbewegung stammen. Den Aufstieg der Grünen, die wohl ihr bestes Ergebnis einfahren und sich als dritte politische Kraft festigen, ergänzen FDP und AfD, die beide mit Sicherheit über 10 % der Stimmen erhalten werden. Das verdeutlicht, dass CDU/CSU ihre historische Rolle als Hauptpartei(enbündnis) des BürgerInnentums immer weniger zu erfüllen vermögen. Über Jahrzehnte vermochten die Unionsparteien, verschiedene kleinere offen bürgerliche Kräfte, die in der Weimer Republik miteinander konkurrierten, in einer Partei zu integrieren und so für Einheit im bürgerlichen Lager zu sorgen. Partikularinteressen von kleinbürgerlichen Schichten, Teilen der ArbeiterInnenschaft, unterschiedliche Kapitalfraktionen konnten im Interesse des Gesamtkapitals zu einem Ganzen verbunden werden.

Konfliktlinien

Das gelingt immer weniger. Das liegt insbesondere daran, dass die CDU/CSU-Allianz immer weniger eine Politik zu formulieren vermag, die die Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals als einigermaßen konsistente Strategie artikuliert. Vielmehr sind die Unionsparteien von einer Reihe politischer Gegensätze durchzogen. So schwankt ihre ganze Politik z. B. zwischen Green Deal mit staatlichen Investitionsprogrammen einerseits und einem neoliberalen, „rein“ marktwirtschaftlichen Kurs. Der Green Deal hat dabei natürlich wenig bis gar nichts mit dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zu tun, sondern stellt bloß ein „ökologisches“ Programm zur Erneuerung der stofflichen Basis und Konkurrenzfähigkeit des industriellen Kapitals dar. Der andere Flügel setzt aber auf eine wesentlich neoliberale Politik, da so den Interessen der FinanzinvestorInnen am besten gedient sei und der Markt nebenbei auch die ökologischen Probleme lösen würde.

Beide Seiten repräsentieren unterschiedliche Fraktionen des Monopol- und Finanzkapitals und auch unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen. Ein Flügel setzt auf Korporatismus und SozialpartnerInnenschaft und damit eine gewisse Einbindung der ArbeiterInnenklasse über den Gewerkschaftsapparat und die Betriebsräte. Dem anderen (FDP, Merz-Flügel in der CDU) erscheint das als grundlegendes Problem.

Schließlich kommt hinzu, dass die verschiedenen politischen Kräfte über keine gemeinsame längerfristige und klare Strategie zur Lösung der EU-Krise sowie der des transatlantischen Verhältnisses verfügen, deren Konflikt unter Biden nicht verschwunden ist, sondern nur seine Form geändert hat. Da beide Fragen untrennbar mit der des Verhältnisses zu China und Russland verknüpft sind, ergibt sich eine weitere Baustelle außenpolitischer Strategie.

Klar ist nur: Es muss sich Entscheidendes ändern. Aber es gibt keine klare Strategie „des“ deutschen Kapitals, ja selbst die verschiedenen Lager durchdringen sich teilweise.

Während sich die unterschiedlichen Richtungen bürgerlicher Politik in der CDU/CSU auch parteiintern gegenüberstehen, herrschen bei Grünen und FDP jeweils bestimmte Richtungen vor, so dass diese Parteien über eine relativ große Einheitlichkeit verfügen.

In gewisser Weise gilt das auch für die SPD. Sie steht – ähnlich wie die Grünen – für den Green Deal. Aber sie vermag es eher und glaubwürdiger, dessen soziale Abfederung und die Rücksichtnahme auf die industrielle ArbeiterInnenschaft, die bei einem massiven Umbau des Exportkapitals im Bereich der Metall-, Elektro- und chemischen Industrie zu Recht um ihre Arbeitsplätze fürchtet, zu verkaufen. Das erklärt auch, warum die Sozialdemokratie die Grünen in den Umfragen überholen konnte.

Allzu viele soziale Wohltaten sollte auch von Olaf Scholz und seiner SPD niemand erwarten. Mit gerade 3,- Euro/Monat bepreist die Sozialdemokratie die viel beschworene „soziale Gerechtigkeit“ bei der jüngsten Hartz-IV-Erhöhung. So billig sollen die Ärmsten der Armen auch in Zukunft abgespeist werden.

Unter einer von Scholz oder Laschet geführten Bundesregierung sollen die sozialen und ökonomischen Kosten für die Corona-Programme, für die Staatsverschuldung, für die „Reform“ der EU, für die „ökologische Erneuerung“, für Rüstung, Militär und weitere Auslandseinsätze die Lohnabhängigen zahlen. Die Frage ist nur, ob die herrschende Klasse auch einen „Anteil“ tragen oder nach dem Modell von Union und FDP als „Leistungsträgerin“ ganz ungeschoren davonkommen soll. Dass die herrschende Klasse nicht allzu sehr zur Kasse gebeten wird, dafür werden sich in jeder neuen Koalition genug Kräfte finden und wird auch der unvermeidliche Druck des deutschen Kapitals sorgen. Die konjunkturelle Lage mag zwar einen gewissen Spielraum für einzelne Lohnerhöhungen und soziale Abfederung mit sich bringen, aber das ist nur das Zuckerbrot zur Peitsche drohender Massenentlassungen und Umstrukturierungen in der Industrie oder bei den nächsten Sparprogrammen im öffentlichen Sektor. Hinzu kommt, dass die steigende Inflation zu einer weiteren Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen führen wird. Was die Bekämpfung der Corona-Pandemie betrifft, so setzen im Grunde alle vier auf eine Mischung aus Impfungen und Durchseuchung der Ungeimpften, also die sog. Herdenimmunität. Es geht längst nicht mehr darum, die Verbreitung des Virus zu stoppen, sondern nur noch darum, die Belastung des Gesundheitssystems und die Sterberaten in „akzeptablen“ Grenzen zu halten.

Innere Probleme einer nächsten Regierung

Die strategische Linie des deutschen Kapitalismus wird in der nächsten Regierung weiter umstritten und schwankend sein, weil sie sich selbst aus unterschiedlichen Richtungen zusammensetzen wird und auch diese für sich genommen keineswegs über ein schlüssiges, klares „Zukunftskonzept“ verfügen.

Zugleich wird die nächste Regierung wichtige Angriffe starten oder fortsetzen – unterscheiden werden sich die verschiedenen Koalitionen allenfalls dadurch, wie sehr sie die Gewerkschaftsführungen und die Betriebsräte in den Großkonzernen weiter „partnerschaftlich“ in den Kampf um Weltmarktanteile einbinden.

Gemäß der Mechanik der Klassenzusammenarbeit soll davon ein Teil an die ArbeiterInnenaristokratie fallen. Doch dieser Anteil wird vor dem Hintergrund fallender Profitraten und immer härterer Weltmarktkonkurrenz zusehends geringer. Für viele besteht er schon heute, nach erfolgreichem, sozial abfederten Strukturwandel, nur noch im „Privileg“, die eigene Arbeitskraft weiter verkaufen zu dürfen – zu deutlich schlechteren Bedingungen, versteht sich.

Den wunden Punkt des deutschen Imperialismus stellt jedoch seine außenpolitische und militärische Schwäche dar. Daher muss eine zukünftige Regierung, ob unter Scholz oder Laschet, danach trachten, den gordischen Knoten der EU-Krise und des weiteren Zurückbleibens in der Konkurrenz mit den USA und China zu lösen. Ob das gelingt, ist durchaus zweifelhaft. Das Schwert, mit dem er durchschlagen werden kann, muss noch geschmiedet werden.

Allein daher können wir eine größere Instabilität erwarten. Falls der kommenden Regierung keine wirkliche Lösung dieser strategischen Krise gelingt, müssen wir mit einer weiteren Umgruppierung im bürgerlichen Lager rechnen. Die rassistische und rechtspopulistische AfD wird zwar regelmäßig von inneren Konflikten heimgesucht, aber sie hat sich bei über 10 % der Stimmen stabilisiert. Auch in der nächsten Periode wird sie enttäuschte und wütende kleinere Kapitale, KleinbürgerInnen und rückständige ArbeiterInnen durch eine Mischung aus rassistischer Demagogie und Freiheitsversprechen für „ehrliche“ KleinunternehmerInnen binden können.

Bei diesen Wahlen kommt die AfD aufgrund ihrer Anti-EU-Haltung weder für CDU/CSU noch für die FDP als Koalitionspartnerin in Frage. Doch dies kann sich in der nächsten Legislaturperiode ändern – sei es, wenn die Krise der EU andere Optionen für das Kapital notwendig macht, sei es als mögliche Partnerin gegen den Widerstand der ArbeiterInnenklasse oder sozialer Bewegungen (z. B. Umwelt, Mieten) gegen kommende Angriffe. Außerdem werden die Unionsparteien und die FDP danach trachten, ihre Regierungsoptionen zu erweitern, um die Möglichkeiten von SPD und Grünen auszugleichen, die auch auf die Linkspartei als Drohkulisse zurückgreifen können.

Im Grunde wird es aber bei den Wahlen um die Alternative zwischen zwei möglichen zukünftigen Richtungen des deutschen Imperialismus gehen. SPD und Grüne stehen für eine sozial und ökologisch abgefederte Modernisierung. FDP und rechter Unionsflügel setzen auf eine Neuauflage des Neoliberalismus. Ein Teil der CDU/CSU steht entweder dazwischen oder SPD, Grünen und der EU-Kommission näher.

Wie die deutsche Bourgeoisie diese Krise löst, hängt letztlich natürlich nicht vom Ausgang der Wahlen ab und von den Verhandlungen um eine neue Regierung. Wesentlich wird die Frage im Kampf entschieden, sowohl mit anderen Blöcken und Staaten um die Zukunft der EU und der Weltordnung als auch zwischen den Klassen. Darin müssen sich die verschiedenen bürgerlichen Strategien als tauglich erweisen.

Auf reiner Regierungsebene werden wir es unmittelbar – nicht unähnlich den Verhältnissen in der EU – mit einer Koalition der beiden Richtungen zu tun haben. Verstärkt wird das unmittelbar noch durch das föderale System der Bundesrepublik, das der parlamentarischen Opposition bei wichtigen Gesetzen noch immer „Mitspracherechte“ gegenüber der Regierung einräumen würde. In jedem Fall wäre dies, anders als in früheren Perioden, ein fragiles, instabiles Kabinett.

Rolle von Gewerkschaften und SPD

Grundsätzlich bietet eine solche Lage auch Chance für die ArbeiterInnenklasse. Doch der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte, der selbst aus Niederlagen (Hartz-Gesetze, EU-Diktat gegenüber Griechenland, Rechtsrutsch nach der sog. Flüchtlingskrise) herrührt, führte mit dazu, dass nicht die Linke, sondern die politische Rechte von den krisenhaften Prozessen profitierte.

Dies wurde und wird durch die Politik von SPD und Gewerkschaften – insbesondere durch den sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss der Bürokratie während der Krise und der Pandemie – massiv verschärft. Die großen DGB-Gewerkschaften verzichteten faktisch auf Tarifauseinandersetzungen. Die größten gesellschaftlichen Mobilisierungen kamen von kleinbürgerlich-geführten Bewegungen gegen Rassismus und vor allem gegen die Umweltpolitik der Regierung, was dazu beitrug, dass diese wie auch die außerparlamentarische Linke stark von kleinbürgerlichen Ideologien geprägt sind.

Auch wenn es 2021 eine eingeschränkte Trendumkehr mit wichtigen Arbeitskämpfen bei der Bahn oder im Gesundheitswesen oder durch Kampagnen gegen steigende Mieten gab, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nur einzelne Sektoren und Teilkämpfe betrifft. In den großen Betrieben herrscht ein von oben, mithilfe der Gewerkschaften und Betriebsräte organisierter Frieden vor, er von den Beschäftigten mit Verzicht auf allen Ebenen und Arbeitsplatzverlusten bezahlt wird.

Und DIE LINKE?

Die Linkspartei vermochte es nicht, aus dieser Krise der SPD politisches Kapital zu schlagen. Sie ist vielmehr selbst Teil des Problems, der politischen Krise der ArbeiterInnenklasse. Das drückt sich auch, aber nicht nur bei den Wahlen aus. Gegenüber 2017 wird sie in diesem Jahr wahrscheinlich um die 2 – 3 % verlieren. Das reicht zwar zum Einzug in den Bundestag. Die Frage stellt sich aber, warum sie um die 6 % dümpelt?

Der entscheidende Faktor ist wohl der: Die Linkspartei vermochte, sich selbst nicht als glaubwürdige Alternative zur Regierung und das heißt vor allem zum sozialpartnerschaftlichen Kurs der SPD und der Gewerkschaftsführungen zu präsentieren. In Thüringen, Berlin und Bremen ist sie bekanntlich an den Landesregierungen beteiligt – und damit verschwimmt selbst der Unterschied ihres linksreformistischen Programms zur Politik von SPD und Grünen.

Andererseits hat sich die Linkspartei durchaus gewandelt. Seit Jahren zählt sie zwar um die 60.000 Mitglieder, doch während bei der Fusion von PDS und WASG eine deutliche Mehrheit aus Ostdeutschland kam, ist es heute nur noch eine Minderheit. Die Partei hat sich auch verjüngt und weist eine stärkere Verankerung unter gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen auf, als die ehemalige PDS sie je hatte. Sie ist eigentlich eine „klassischere“ bürgerliche ArbeiterInnenpartei geworden, eine kleinere reformistische Schwester der SPD. Sie organisiert zur Zeit die politisch bewussteren Teile der ArbeiterInnenklasse und spielt eine wichtige, wenn nicht führende Rolle in bedeuteten Arbeitskämpfen, so im aktuellen Streik an den Berliner Krankenhäusern, so in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder in den Mobilisierungen gegen das verschärfte Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen.

Dass die Partei trotz ihrer reformistischen Politik und Programmatik politischer Ausdruck dieser Kräfte und Bewegungen wurde, bringt ihre Verankerung in fortschrittlicheren und kämpferischeren Teilen der Lohnabhängigen zum Ausdruck und bildet die Basis dafür, sie bei den kommenden Wahlen kritisch zu unterstützen. Um einen Kampf gegen die kommenden Angriffe erfolgreich zu führen, ist die Gewinnung dieser Teile der ArbeiterInnenklasse für eine Einheitsfront unbedingt notwendig, sowohl wegen ihres eigenen gesellschaftlichen Gewichts, aber auch als Hebel zur Gewinnung breiterer Schichten der Klasse.

Doch die Reaktion der Führung der Linkspartei auf eine nach einigen Umfragen mögliche rechnerische Mehrheit im kommenden Bundestag verdeutlicht auch, warum ein Wahlaufruf nur ein sehr kritischer sein kann. Die Spitze der Partei konzentriert sich in den letzten Wochen nicht darauf, sich als linke, kämpferischer Alternative zu allen proimperialistischen Kräften und möglichen bürgerlichen Koalitionen zu präsentieren. Sie setzt vielmehr auf eine Regierungsbeteiligung. Dazu veröffentlichten die Vorsitzenden der Partei und der Parlamentsfraktion Anfang September ohne Diskussion im Parteivorstand ein Sofortprogramm für eine rot-grün-rote Regierung, in dem alle wesentlichen Differenzen mit SPD und Grünen (insbesondere auch zur NATO und zur Außenpolitik) umschifft werden. Gegenüber dem deutlich linkeren Wahlprogramm kommt es einer Kapitulation gleich.

Die Linkspartei verkennt dabei nicht nur, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; sie verkennt auch, dass eine rot-grün-rote Regierung mit einer SPD unter Scholz nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green (New) Deal im Kapitalinteresse.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.

Nach der Wahl

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock und Lindner werden nach dem 26. September sicher für massive soziale Angriffe sorgen. Dabei werden sie sich aber auch in langwierige Koalitionsverhandlungen verstricken. Und das kann für uns nützlich sein, wenn wir selbst entschlossen reagieren und nicht erst auf eine Regierungsbildung warten.

Eine Massenbewegung gegen die Abwälzung der Kosten von Krise und Pandemie auf die Lohnabhängigen aufzubauen, ist das Gebot der Stunde. Dazu schlagen wir eine bundesweite Aktionskonferenz vor, die die Lage nach den Wahlen diskutiert und einen Aktions- und Mobilisierungsplan gegen die zu erwartenden Angriffe beschließt.




Das Sofortprogramm der Linkspartei: Anbiederung aus Verzweiflung

Martin Suchanek, Infomail 1161, 9. September 2021

Das Unvorhergesehene ist eingetreten. Die SPD und ihr Spitzenkandidat führen in den Umfragen. Liegt das an den Fettnäpfen, in die Laschet und Baerbock abwechselnd hüpfen? Liegt es daran, dass MerkelanhängerInnen deren Erbe bei Scholz besser aufgehoben sehen?

Beides macht eigentlich klar, dass eine mögliche rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die der SPD-Höhenflug mit sich bringt, nicht das Szenario einer „Linkswende“ der WählerInnen abbildet. Trotzdem wittert die Führung der LINKE, die aus der Krise der SPD fast nichts nach links gewinnen konnte, ausgerechnet jetzt die Chance, die Partei aus ihrer Krise herauszuwinden. Mit heißer Nadel wurde ein „Sofortprogramm“ gestrickt, das einer politischen Kapitulationserklärung der Vorsitzenden von Partei und Fraktion der Linken gegenüber SPD und Grünen gleichkommt.

In einem achtseitigen Papier, das am 6. September veröffentlicht wurde, schlagen Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch Eckpunkte eines Regierungsprogramms vor, das so ziemlich jeden strittigen Punkt gegenüber SPD und Grünen beiseitelässt. Austritt aus der NATO? Rückzug aller Bundeswehreinheiten aus dem Ausland? Fehlanzeige. Zur Pandemie und deren Bekämpfung findet sich gleich gar kein Wort im Text. Enteignung von Deutsche Wohnen und Co.? Nicht im Sofortprogramm!

Klarheit und Verlässlichkeit – für wen?

Gleich zu Beginn des Textes versprechen die AutorInnen „Klarheit und Verlässlichkeit, wenn es um die Zukunft unseres Landes“ geht. Verlässlich wollen sie offenbar für Scholz, Baerbock und Co. sein. Dass das Fallenlassen der meisten strittigen Punkte mit den anvisierten KoalitionspartnerInnen zu einer wirklichen Koalition führt, darf getrost bezweifelt werden.

Grüne und SPD ziehen allemal eine Koalition mit der FPD einer mit der Linkspartei vor – und zwar nicht wegen einer größeren Schnittmenge im Forderungsabgleich, sondern weil sie eine stabile, für das deutsche Kapital verlässliche Regierung anstreben. So viele Punkte kann die Linkspartei gar nicht fallenlassen, dass Grüne und SPD, die beide eine Regierung im Einvernehmen mit den Spitzen des deutschen Großkapitals und der EU-Kommission anstreben, nicht lieber auf FDP oder selbst auf eine Kombination mit CDU/CSU (z. B. Schwarz-Grün-Gelb) setzen.

Doch der Spitze der Linkspartei gilt offenkundig politische Harmlosigkeit gegenüber SPD und Grünen als Beweis für Verlässlichkeit. Wen kümmert da schon, dass das  Wahlprogramm, mit dem die Linkspartei antritt und das von einem Parteitag beschlossen wurde, ohne jede demokratische Debatte, ohne Konsultation und Diskussion des Parteivorstands faktisch fallen gelassen wurde?

Wenn das Lancieren des Sofortprogramms politisch einen Sinn machen soll, so doch nur den, SPD und Grünen wie der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit zu signalisieren, dass es der Linkspartei mit ihrem Wahlprogramm nicht weiter ernst ist. Das mag im bürgerlichen Politikbetrieb nicht weiter verwundern. Es zeigt aber, wie rasch und wie viele Abstriche die Spitzen der Linkspartei zu machen bereit sind, selbst wenn sie dafür nichts erhalten.

Gedeckt wird dies, indem Stimmung in der Bevölkerung beschworen wird, die die Politik für die Millionen und nicht für die MillionärInnen herbeisehnt. Als ob die Formel schon klären, würde, welche Politik im Interesse der Millionen nötig wäre und welche SPD und Grüne verfolgen. Doch die Linke macht ihre Differenzen zur noch regierenden SPD oder einer Grünen Partei, die so weit rechts steht wie nie zuvor, nicht deutlich.

Für viele Mitglieder der Linkspartei, die sich aktiv an Streiks wie bei den Berliner Krankenhäusern, an der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder an den Mobilisierungen gegen das Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen beteiligen, muss das Sofortprogramm wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Die sog. roten Haltelinien und Mindestbedingungen für Koalitionen mit SPD und Grünen wurden einfach fallen gelassen.

Doch das Lancieren des Sofortprogramms zeigt nicht nur, dass man sich auf die Spitzen der Partei nicht verlassen kann. Da helfen auch keine TV-Auftritte Bartschs, der laut von sich gibt, dass die Linke nur mit ihrem Ganzen und keinem halben Programm in Koalitionsverhandlungen geht. Faktisch tritt das Sofortprogramm an die Stelle des Wahlprogramms.

Der Text zeigt nicht nur, wie weit das Führungspersonal der Linkspartei bereit ist zu gehen. Es offenbart aber auch ein erschreckendes Ausmaß an politischer Fehleinschätzung, einen Mangel an jener Klarheit, die das Papier verspricht.

Lageeinschätzung

Angesichts der aktuellen Umfragen, denen zufolge die SPD unter Olaf Scholz zur stärksten Partei im Bundestag werden könnte, und dass es rein arithmetisch für Rot-Grün-Rot reichen könnte, unterstellt das Papier eine Art gesellschaftlicher Aufbruchsbewegung, die  eine Reformmehrheit signalisieren würde. Wie wird das begründet? Indem eine „andere Mehrheit“ im Land suggeriert wird.

„Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will. Eine Mehrheit, die nicht länger hinnehmen will, dass die Löhne von Millionen Beschäftigten stagnieren, während Mieten und Preise weiter steigen. Eine Mehrheit, die weiß, dass gleiche Chancen für alle nur mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur möglich sind. Eine Mehrheit, die nicht länger Zeit beim Klimaschutz verlieren will. Die Politik für die Gesellschaft erwartet, nicht für Lobbygruppen oder ‚den Markt’. Eine Mehrheit, die jeden Tag den Laden zusammenhält, die sich für ihre Nächsten engagiert und das Träumen nicht verlernt hat.“ (Sofortprogramm)

Diese schwammigen Formulierungen sollen offenbar eine politische Lageeinschätzung ersetzen. In Wirklichkeit vernebeln sie sie nur. In der Allgemeinheit ist so ziemlich jede/r gegen Ungleichheit und Armut, für faire Mieten. Löhne und Preise. „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ versprechen schließlich nicht nur LINKE, SPD und Grüne, sondern auch FDP, Union und AfD. Zu jenen, die den Lagen zusammenhalten, rechnet sich auch fast jede/r. Und beim Klimaschutz nicht länger verlieren – wer will das nicht? Solche Phrasen sagen nichts aus darüber, ob und für welchen Klimaschutz man überhaupt eintritt.

Mit der ständigen Beschwörung einer diffusen, im Grunde nichtssagenden Mehrheit soll jedoch das Bild einer Gesellschaft gezeichnet werden, die in zwei Lager zerfällt: die reformorientierten AnhängerInnen eines Politikwechsels einerseits und das neoliberale Lager (FDP, CDU/CSU) samt AfD andererseits.

Verkennen der Lage

Diese Sicht verkennt die Lage gleich mehrfach. Sie geht nämlich von einer realitätsfernen Sicht des bürgerlichen Lagers aus. Dieses ist zurzeit – so weit die gute Nachricht – von einer tiefen Krise und Umgruppierung geprägt. Darin besteht auch die tiefere Ursache für den Niedergang der CDU/CSU in den Umfragen und für die drohende Niederlage der Unionsparteien. Die traditionelle Hauptpartei der Bourgeoisie in der Bundesrepublik vermag nicht mehr, die Einheit der verschiedenen Klassenfraktionen, angelagerter Schichten des KleinbürgerInnentums und auch von Teilen der ArbeiterInnenklasse erfolgreich zu einer gemeinsamen Politik zu vermitteln. Es fehlt ihr vielmehr angesichts der aktuellen Krisen ein strategisches Konzept. Dass CDU/CSU auf einen Kandidaten wie Laschet verfielen, drückt das aus. Selbst wenn er das Ruder noch einmal rumreißen sollte und die Unionsparteien als stimmenstärkste in den Bundestag einzögen, würde das ein Wahldebakel bedeuten. Die Krise der Union speist die Wahlchancen der FDP und auch der AfD – aber auch von Grünen und SPD.

Die Grünen sind in den letzten Jahren selbst zu einem wichtigen Bestandteil des bürgerlichen Lagers geworden. Sie vertreten – im Unterschied zu CDU/CSU – ein relativ klares Konzept der Modernisierung des deutschen Kapitals, den Green New Deal, der ökologische Nachhaltigkeit mit gesteigerter Konkurrenzfähigkeit zu vereinen verspricht und dafür auch staatliche Konjunktur- und Investitionsstützen vorsieht.

Die SPD vertritt das im Grunde auch. Aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer sozialen Verankerung in den Gewerkschaften und größeren Teilen der ArbeiterInnenklasse präsentiert sie sich jedoch glaubwürdiger als Partei des sozialen Ausgleichs als die Grünen, als Partei, die die ökologische Modernisierung mit mehr Sozialschaum abfedert. Daher kann sich Scholz bei Teilen der WählerInnen auch eher als Nachfolger von Merkel verkaufen als Laschet oder Baerbock. Grundsätzlich begründet sich aber der mögliche Erfolg von Scholz aus den Fehlern und Schwächen von Union und Grünen bzw. von deren SpitzenkandidatInnen.

Betrachten wir die politische Lage in Deutschland genauer, so drücken die Wahlergebnisse der letzten 10, 20 Jahre insgesamt eine Verschiebung nach rechts aus. Mit der Einführung der Hartz-Gesetze, für deren Reform, aber nicht Abschaffung das Sofortprogramm steht, und der Ausweitung des Billiglohnsektors erlitt nicht nur die ArbeiterInnenklasse eine tiefe, strategische Niederlage, die SPD hat dafür auch einen wohlverdienten Preis bezahlt. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hat nachhaltig an Verankerung in der Klasse verloren, stützt sich in der Hauptsache noch auf Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte in Großkonzernen.

Diese Krise – wie auch den Rechtsschwenk der Grünen – konnte die Linkspartei seit ihrer Gründung jedoch auf elektoraler Ebene nicht nutzen, auch wenn ihr Einfluss in Gewerkschaften und Betrieben wie auch ihre Verankerung in sozialen Bewegungen größer geworden ist. Auf Wahlebene verlor sie jedoch in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten und konnte das nicht durch Zuwächse im Westen ausgleichen. So droht ihr das schlechteste Ergebnis seit der Fusion von PDS und WASG.

Fiasko

Zweifellos tragen die schlechten Umfragen dazu bei, dass die Linkspartei-Spitze ihr Sofortprogramm aus dem Hut zaubert, um das Ruder rumzureißen. Rauskommen wird dabei jedoch ein politisches Fiasko.

Grüne und SPD präsentieren sich im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus. Die Spitze der Linkspartei tut jedoch so. als wollten im Grunde SPD und Grüne dasselbe wie die LINKE, die im Grunde ein reformistisches Programm zur Zähmung des Kapitalismus von seinen Auswüchsen vertritt. Schon aus politischem Eigeninteresse müsste die Linkspartei die beiden dafür angreifen und wenigstens ihr eigenes Programm starkmachen.

Mit dem Sofortprogramm tut sie genau das Gegenteil. Sie biedert sich SPD und Grünen an. Wie viel dabei Opportunismus oder Verzweiflung ist, ist sekundär.

In jedem Fall verkennt sie, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; und sie verkennt, dass eine Regierung mit einer SPD unter Scholz auch nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green New Deal im Kapitalinteresse. Dafür wirft das Sofortprogramm, wie z. B. Christian Zeller in seinem Beitrag „Sagt die Linke gerade ihren Wahlkampf ab?“ feststellt, praktisch alle Reformforderungen über Bord, die mit den aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus inkompatibel sind.

RegierungssozialistInnen wie Bartsch und Hennig-Welsow mögen damit persönlich wenig Probleme haben. Ein paar Reförmchen, die zum politischen Erfolg hochstilisiert werden können, dürfte schließlich auch Rot-Grün-Rot abwerfen. Der ehemaligen Anhängerin von marx21, Wissler, mag das Sofortprogramm als politisch kluger Schachzug erscheinen, SPD und Grüne unter Druck zu setzen.

In Wirklichkeit ist es genau das Gegenteil. Die Linkspartei macht sich faktisch zum Anhängsel von SPD und Grünen und stellt jede ernstzunehmende, weitergehende Kritik an diesen ein. Warum dann noch DIE LINKE wählen, werden Unentschlossene erwägen, wenn sie ohnedies nichts anders als SPD und Grüne will?

Da die „Rote-Socken“-Kampagne von CDU/CSU und FDP nicht greift, sind Grüne und SPD auch nicht gezwungen, eine Koalition mit der Linken vorab kategorisch auszuschließen. Vielmehr können sie das nutzen, um die FDP in eine SPD-Grünen-geführte Koalition zu drängen. Die Linkspartei bliebe dabei im Regen stehen.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.




Sagt die LINKE gerade ihren Wahlkampf ab?

Gastbeitrag von Christian Zeller, 6. September 2021, Infomail 1161, 7. September 2021

Das am Montag, 6. September vorgestellte Sofortprogramm der LINKEN für einen Politikwechsel verwundert. Das achtseitige Papier enthält eine politische Einschätzung, allgemein formulierte politische Ziele und unmittelbare „erste Schritte“ in acht thematischen Feldern. Einige sind konkret formuliert, andere bleiben unbestimmt. Mit diesem minimal gehaltenen Sofortprogramm unterbreitet die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN ihren ersehnten Koalitionspartnern der SPD und den Grünen de facto ein Unterordnungsangebot. Der Inhalt dieses Papiers ist so bescheiden, dass man sich als außenstehender Beobachter fragt, ob diese Partei gerade dabei ist ihren Wahlkampf knapp drei Wochen vor der Wahl einzustellen.

Mit SPD und Grünen für einen sozial-ökologischen Politikwechsel, wirklich?

Das Sofortprogramm geht von zwei Annahmen aus: Erstens, es gibt eine gesellschaftliche Mehrheit für einen sozial-ökologischen Politikwechsel. Zweitens kann diese Mehrheit in einer Koalition SPD-Grüne-LINKE ihren politischen Ausdruck finden.

Die erste Annahme gilt es zu überprüfen. Doch die zweite Annahme entspringt reinem Wunschdenken. Weder die SPD noch die Grünen setzen sich für eine sozial-ökologische Wende ein. Ihre Programme orientieren sich an einer liberalen Modernisierung des deutschen Kapitalismus mit seinem Führungsanspruch in Europa. Beide Parteien stehen weiterhin fest zum Erbe der rot-grünen Regierung Schröder-Fischer von 1998 bis 2005. Diese Regierung setzte die bislang radikalsten neoliberalen Reformen im Bereich der Arbeitsbeziehungen durch, baute mit der „Riester-Rente“ kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme zur Fütterung des Finanzkapitals auf, senkte die Unternehmenssteuern, liberalisierte die Finanzmärkte und führte erstmals im großen Stile Krieg. Warum sollen diese beiden Parteien plötzlich für ernsthafte sozial-ökologische Reformen einstehen. Das behaupten diese ja nicht einmal selber.

Die politische Landschaft in Deutschland wird derzeit von vier liberalen Parteien geprägt, einer konservativliberalen, einer ultraliberalen, einer sozialliberalen und einer grünliberalen Partei Diese werden die Regierungszusammensetzung kapitalfreundlich unter sich aushandeln. Die nationalliberale AfD mit ihrem faschistischen Flügel vertritt ein rassistisches Programm.

Die von der LINKEN erhoffte sozial-ökologische Wende lässt sich nur gegen diese Parteien durchsetzen. Um das dafür notwendige Kräfteverhältnis aufzubauen, braucht es nicht eine Abkehr vom eigenen Programm und Koalitionsangebote an bürgerliche Parteien, sondern gesellschaftliche Mobilisierungen und eine geduldige Aufbauarbeit am Wohnort und in den Betrieben.

Das taktische Kalkül hinter dem Sofortprogramm scheint banal zu sein. Offensichtlich will die Partei- und Fraktionsleitung der LINKEN mit dieser Operation nochmals Schwung in die mediale Berichterstattung bringen. Sie geht davon aus, dass sie mit diesen weichgewaschenen Vorschlägen die Führungen von SPD und Grüne dazu bringen könnte, sich auf eine Koalitionsdebatte einzulassen. Doch der Preis für diesen Unsinn ist hoch. Ohne Not verzichtet DIE LINKE auf Kerninhalte ihres Parteiprogramms und Wahlprogramms. Aber genau diese Inhalte, der Wunsch nach wirklichen Verbesserung und nach einer anderen Gesellschaft sind für viele Menschen doch der Grund die LINKE zu wählen. Genau dafür genießt die LINKE ein hohes Ansehen unter kritischen Menschen auch außerhalb Deutschlands.

Programm über Bord

Die Autor:innen machen nicht klar, was mit „sofort“ in ihrem Sofortprogramm meinen. Sollen das die ersten 100 Tage der neuen Regierung sein oder sind damit nur einfach die dringlichsten Maßnahmen in der vierjährigen Legislaturperiode gemeint? Die Autor:innen scheinen selber nicht zu glauben, dass sie ihre Ziele in einer Regierung unterbringen können. Darum beschränken sie sich gleich auf eine bescheidene regierungskonforme Wunschliste. Wollten die Autor:innen nichts fordern, was SPD und Grüne „einfach ablehnen können“? Das ist wohl die taktische Idee dahinter. Tragisch dabei ist, dass DIE LINKE mit diesem Papier jeden Ansatz eines eigenständigen Projekts, ja sogar eines eigenständigen Reformansatzes, aufgibt.

Das Sofortprogramm enthält Aussagen über gute Arbeit und faire Löhne, zur sozialen Sicherheit, Angleichung von Ostdeutschland, zu sozial-ökologischen Investitionen, zum Gesundheitssystem, zur Wohnungspolitik, zu einer neuen Friedensordnung sowie zur Demokratisierung und Unterstützung von Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Ich beschränke meine Kritik auf die drei Bereiche Klima, Gesundheit und Frieden.

Auch mit der Linken heizt Deutschland dem Klima ein

Das Sofortprogramm orientiert sich allgemein am Wahlprogramm und will eine „Energiewende mit verbindlichen Ausbauzielen, die sich am 1,5 Grad-Ziel ausrichten“. Doch die konkreten Vorschläge dienen nicht dazu, dieses Ziel zu erreichen. Deutschland verbleibt unter der Annahme einer gleichen pro Kopf-Verteilung gemäß Konzeptwerk Neue Ökonomie ab 2022 noch ein Budget von 2,97 Gt C02 , damit die Welt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% die 1,5° Grad Marke nicht zu überschreitet. Die historische ökologische Schuld Deutschlands sowie der Flug- und Schiffsverkehr sind dabei nicht einmal berücksichtigt. Deutschland müsste ab sofort bis 2035 jährlich 40 GW Wind- und Solarenergie zubauen, das sagt eine von Fridays for Future beauftragte Studie des Wuppertal-Instituts. Wenn der Begriff „Sofortprogramm“ angemessen ist, dann hier. Würde Deutschland den bisherigen Verbrauch fortsetzen, wäre das Budget ein Jahr nach der kommenden Wahlperiode aufgebraucht. Die Energiewende, Kohleausstieg 2030 und ein Zukunftsinvestitionsprogramm klingen gut, reichen aber nicht. Die vorgeschlagenen Maßnahmen im Verkehr sind komplett unverbindlich und ungenügend: keine Absage an Gaskraftwerke, kein Wort zur Verkehrsvermeidung, keine Aussage gegen die massenhafte Einführung von Elektroautos, nicht einmal ein Tempolimit auf Autobahnen als minimalste Sofortforderung. Dagegen soll ein „Industrie-Transformationsfonds“ Unternehmen und Konzerne mit über jährlich 20 Milliarden Euro bei ihren Nachhaltigkeitsübungen subventionieren. Das klingt nach Wachstumsprogramm.

Gesundheit, doch die Pandemie geht vergessen

Das Sofortprogramm verlangt ein „gerechtes Gesundheitssystem“ und will „den Pflegenotstand stoppen“. Richtig. Doch die Autor:innen vergessen bei den ersten Schritten merkwürdigerweise die Pandemie. Auch nach der Wahl wird sie Menschen in Deutschland und noch viel mehr auf der ganzen Welt in Tod reißen und langzeitig leiden lassen. Das Programm erwähnt in keinem Wort die solidarische Versorgung der Weltbevölkerung mit Impfstoffen. Mit einer Aufhebung oder zumindest Sistierung der Patente auf Impfstoffe könnte das Leid reduziert werden. Doch das Sofortprogramm verliert kein Wort dazu. Zählt eine stillschweigende Duldung der imperialistischen Wettbewerbs- und Impfpolitik bereits zur Staatsräson?

Friedensordnung weiterhin mit deutschen Waffen

Das Sofortprogramm will Rüstungsexporte in Krisengebiete stoppen. Richtig. Doch was ist mit den anderen Rüstungsexporten? Kein Wort dazu. Wir wissen alle, dass stabile Gebiete plötzlich die Krisengebiete von morgen sein können. Wirklich befremdlich ist diese Forderung: „Wir führen den Rüstungsetat auf das Niveau von 2018 zurück.“ Ernsthaft? Diese Forderung soll die Menschen motivieren, die LINKE zu wählen? Das ist lächerlich. Jede halbwegs friedenspolitische und solidarische Partei würde eine massive Reduktion der Rüstungsausgaben fordern. Zudem sind Rüstungsindustrien und Armeen wesentliche Treiber von CO2-Emissionen. Sollen auch diese auf den Stand von 2018 eingefroren werden? Wer so was vorschlägt, macht sich lächerlich.

Sogar wenn man die Grundannahmen teilen würde –  was ich nicht tue -, dass eine Regierungskoalition mit der SPD und den Grünen einen Politikwechsel einleiten würde, dann müsste die LINKE doch versuchen, ihre Verhandlungsposition zu stärken.

Der Wahlkampf findet eigentlich bislang nicht statt. Scholz präsentiert sich zu Recht als Erbe von Merkel und ist damit erfolgreich. Die CDU wird nervös und bringt die LINKE in die öffentliche Debatte. Anstatt dass die LINKE diesen Ball selbstbewusst aufgreift und ihre Ablehnung dieses Systems, das Mensch und Umwelt zerstört, in die Breite trägt, gibt sie auf, bevor die Wahlen überhaupt stattgefunden haben. Welchen Sinn ergibt das? Diese Operation hinterlässt wohl nicht nur mich ratlos.

Die Reaktionen von den Spitzen der SPD und der Grünen sind wie erwartet. Sie bleiben da, wo sie sind. Ihr Projekt ist eben die sozial-grün angestrichene Modernisierung der Kapitalherrschaft. Das Projekt der LINKEN ist es, mit einer Mobilisierung aus der Gesellschaft wirkliche sozial-ökologisch Reformen durchzusetzen. Das sind also nicht nur zwei komplett unterschiedliche Ziele, auch die Wege verlaufen ganz anders.




Bundestagswahl: Die Linke wählen, aber den Klassenkampf organisieren!

Leo Drais, Neue Internationale 258, September 2021

Die KanzlerkandidatInnen von CDU/CSU, SPD, Grünen kommen nicht so recht in die Gänge. Dabei geht es für das deutsche Kapital um viel: Verwerfungen der Weltwirtschaft trotz Milliardenpaketen für die Konjunktur, drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit, Corona-Pandemie mit Millionen Todesopfern – wie soll der deutsche Imperialismus da ausgerichtet werden?

Internationale Kooperation ist bei globalen Problemen kaum noch angesagt. Der Heißhunger nach immer höheren Profiten treibt die Konkurrenz auf immer neue Spitzen. Mit dem Kampf um neue Märkte und Anlagesphären verschärft sich der um die Aufteilung der Welt – zwischen den USA und China, aber auch der EU und Deutschland.

Die Kosten für dieses System und eine Politik, die darauf zielt, es am Laufen zu halten, zahlen wir schon jetzt. Während die Beschäftigten im Gesundheitswesen unter Personalmangel, katastrophalen Arbeitsbedingungen leiden, werden die Konzerne, vor allem in der Exportindustrie, mit Milliarden fit gemacht. Jede wirkliche ökologische Wende wird seit Jahren verschleppt. Richten soll es der Markt. Aber der besorgt es allenfalls für die Energiewirtschaft, die mit Milliarden subventioniert wird, während weiter Kohle verstromt und neue Gasterminals gebaut werden.

Baerbock, Laschet, Scholz

Der Kurs von Laschet, Baerbock, Scholz läuft darauf hinaus, das deutsche Kapital fit zu machen für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt – Aufrüstung der Bundeswehr, Militärinterventionen wie in Mali und rassistische Abschottung der Grenzen Europas inklusive. Allenfalls verpacken sie ihn unterschiedlich – grün, sozial oder christlich, je nach sozialer Basis und Tradition.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich FDP und AfD als Parteien der (klein)bürgerlichen  Opposition, denen all das noch zu grün, zu ökologisch, zu sozial und zu wenig nationalistisch gerät. Während sich die FDP als Alternative für die Fittesten in der Konkurrenz aufführt, gibt sich die AfD als rechtspopulistische „Volkspartei“, als nationalistische und rassistische Alternative.

Kapital und Arbeit

Aktuell setzt das deutsche Kapital jedoch auf EU und Euro als Vehikel für die imperialistische Durchsetzung der eigenen Interessen und auf staatliche Stützung, um in der globalen Konkurrenz fitter zu werden, den sog. sozialökologischen Umbau profitabel zu gestalten. Es setzt dabei auf eine Kombination von CDU/CSU, Grünen, SPD und FDP als neoliberales Korrektiv – inklusive enger Kooperation mit der EU-Kommission unter deutscher Führung und unter sozialpartnerschaftlicher Einbindung der SPD-geführten Gewerkschaften.

Für alle Lohnabhängigen, für die Mitglieder der Gewerkschaften, für MigrantInnen, proletarische Frauen, für RentnerInnen und Jugendliche, für die Umweltbewegung und für die MieterInnenproteste wird die nächste Regierung, ob nun von Laschet, Baerbock oder gar Scholz geführt, eine sozialer Angriffe bedeuten. Sie wird versuchen, die Kosten von Pandemie und Krise auf die Massen abwälzen. Auch wenn SPD und Grüne eine mögliche Regierungspolitik mit sozialen und grünen Versprechungen garnieren, so werden diese rasch an der Realität kapitalistischer Konkurrenz relativiert, verwässert, verschoben und gebrochen werden. Scholz‘ unzureichender Mindestlohn von 12 Euro wird bestenfalls die Kosmetik neuer Rückschritte für Lohnabhängige liefern.

Wir müssen den Wahlkampf und die Bundestagswahlen daher nutzen, um den Klassenkampf gegen die kommenden Angriffe vorzubereiten. Auch wenn Wahlen nichts Grundlegendes verändern, drücken sie ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft aus.

Damit kommen wir zur LINKEN. Trotz ihres reformistischen Programms stützt sie sich auf jene Lohnabhängigen, GewerkschafterInnen, Aktive in sozialen Bewegungen, die Widerstand gegen Angriffe leisten wollen. Trotz ihrer reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik organisiert DIE LINKE wichtige Teile der sozialen Bewegungen und des linken Flügels der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven. Sie repräsentiert im Gegensatz zur SPD jenen Teil der ArbeiterInnenklasse, der gegen offene Sozialpartnerschaft und imperialistische Intervention eintritt und soziale und politische Verbesserungen erkämpfen und in Parlamenten durchsetzen will.

Wir hegen und fördern keine Illusionen in den Charakter der Partei DIE LINKE, aber das Kräfteverhältnis, also die Kampfbedingungen, die die Wahlen zum Ausdruck bringen, können uns nicht egal sein. Wir rufen daher zu ihrer Wahl auf.

Klassenkampf statt Koalitionshoffnungen

In ihrem Wahlprogramm stellt DIE LINKE eine Reihe fortschrittlicher Forderungen auf wie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels, die Erhöhung des Mindestlohns, eine Rekommunalisierung der Krankenhäuser und eine bessere Finanzierung der Pflege, ein Verbot von Waffenexporten, die Ablehnung von Auslandseinsätzen, eine Vermögensabgabe für Nettovermögen über zwei Millionen Euro und eine stärkere Besteuerung der Reichen.

Es reicht bekanntlich aber nicht, diese Forderungen nur aufzustellen oder darauf zu hoffen, sie in einer möglichen Koalitionsregierung mit offen bürgerlichen Parteien wie den Grünen oder unter einer rechten SPD unter Scholz oder Giffey unterzubringen, selbst wenn 4 Wochen vor der Wahl  rein rechnerisch eine Bundesregierung aus SPD, Grünen und LINKEN vielleicht möglich wäre, und auch einmal davon abgesehen, dass Grüne und SPD wahrscheinlich kaum Interesse an einer Regierung mit der LINKEN haben.

Keine Koalition mit offen bürgerlichen Parteien!

Aber selbst wenn sie in den Bereich der Möglichkeiten käme: Eine Beteiligung einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei wie der LINKEN an einer Regierung mit einer offen bürgerlichen Partei, sprich den Grünen, ist kategorisch abzulehnen! In Ländern wie Berlin oder gar Thüringen tritt der Charakter solcher Regierungsbeteiligungen deutlich zutage. Während die Linkspartei für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. eintritt, befindet sie sich im Senat in Geiselhaft. Auf Bundesebene würde eine solche Regierungsbeteiligung einen weiteren Schritt in der Unterordnung unter die Interessen des deutschen Kapitals bedeuten, dessen Staat aktiv mitverwaltet werden müsste –  und ohne das Bekenntnis zu NATO, Bundeswehr und weiteren Auslandseinsätzen ist eine solche Regierung sowieso nicht zu haben. RegierungssozialistInnen wie Ramelow oder Bartsch wären vermutlich zu solcherlei bereit, die Linkspopulistin Wagenknecht und ihre AnhängerInnen ebenso. Kapitalismus und Marktwirtschaft wollen sie allenfalls sozialer und fairer ausgestalten. Dass das eine Illusion ist, beweist die Geschichte der SPD.

Aber wie steht es um die Bewegungslinke, die zunehmend die Linkspartei dominiert? Sie gibt vor, den Kampf auf der Straße, in den Krankenhäusern, in der MieterInnenbewegung oder gegen repressive Polizeigesetze mit einer geschickten „Transformationsstrategie“ verbinden zu können. Jedoch auch hier gilt, dass der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus stets auf der politischen Intensivstation endet. Eine linkere Illusion in parlamentarische Reformierbarkeit des Kapitalismus ist immer noch eine Illusion.

Wahlempfehlung

Und trotzdem rufen wir bei den Wahlen zum Bundestag und in Berlin auf, die Linkspartei zu wählen. Warum? Wir teilen ihre Illusionen in den Parlamentarismus und ihr reformistisches, bürgerliches Programm nicht. Aber die ArbeiterInnenklasse und AntikapitalistInnen können Parlamente und Wahlen nutzen – als Mittel zur Verhinderung reaktionärer Gesetze, vor allem aber als Tribüne für den Klassenkampf und zur Mobilisierung gegen Kapital, rechte Parteien, bürgerliche Regierungen. In diesem Sinne könnte eine LINKE im Parlament nützlich und sinnvoll sein. Entscheidend ist aber der Kampf außerhalb des Parlamentes!

Wir richten uns direkt an die Linkspartei und besonders an ihre Mitglieder, denen es ernst ist mit den Forderungen ihrer Partei: Fordert sie auf, gegen die sicher kommenden Angriffe der nächsten Bundesregierung zu mobilisieren! Fordert sie in Berlin auf, nicht nur für die Enteignung von DW & Co. zu stimmen, sondern dafür auf die Straße zu mobilisieren! Tragt den Vorschlag politischer Streiks zur Abwehr reaktionärer Gesetze und zur Durchsetzung von Enteignung, Mietendeckel, kostenlosem Nahverkehr oder Vermögensabgabe in die LINKE – wir unterstützen das.

Aber seid auch bereit zu brechen, wenn die LINKE doch für ein Bundeswehr-(Afghanistan-)Mandat stimmt, anstatt für offene Grenzen einzutreten, wenn sie die Berliner Krankenhausbewegung oder DWE-Kampagne ins Leere laufen lässt, fossile Energieunternehmen subventioniert, anstatt sie zu enteignen! Verrät Euch die Linkspartei und tausende WählerInnen, dann lasst uns gemeinsam dagegen ankämpfen und in Diskussion über den Aufbau einer wirklich revolutionäre Alternative eintreten, die kein Wahlverein ist, sondern eine Kampforganisation: eine Partei, gestützt auf ein Programm von Übergangsforderungen, das Reformen und Wahlen als Mittel zum Zweck begreift, als lediglich taktische Möglichkeit und Mittel zur Vorbereitung einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung!

Nach der Wahl – vor dem Kampf!

Nach den Wahlen geht der Kampf eigentlich erst los. Scholz, Laschet, Baerbock werden für soziale Angriffe sorgen und werben. Eine Massenbewegung gegen Krise und Pandemie aufzubauen, die vor der Eigentumsfrage nicht haltmacht, kann sie stoppen. Wir schlagen daher eine Aktionskonferenz von sozialen Bewegungen wie den MieterInnen-, Umweltbewegungen von Ende Gelände bis zu linken FFF-Gruppen, Frauenorganisationen, Gruppen rassistisch Unterdrückter von Black Lives Matter bis Migrantifa, linken Gruppierungen, Gewerkschaften, Linkspartei und allen anderen Parteien, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen (einschließlich aller linken Kräfte in der SPD) vor. Diese sollte die Lage nach den Wahlen und einen Mobilisierungsplan gegen die Attacken von Regierung und Konzernen diskutieren und beschließen. Als mögliche Forderungen schlagen wir vor:

  • Verbot aller Räumungen und Wohnungskündigungen, Erlass der Mietschulden! Für die Wiedereinsetzung der Wohngemeinnützigkeit und Enteignung der großen profitorientierten Wohnungskonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. unter Kontrolle der MieterInnen!

  • Gegen jede Diskriminierung von MigrantInnen bei der Suche nach Wohnung oder Arbeitsplatz! Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle!

  • Enteignung des Gesundheitssektors und der Pharmaindustrie, Aufhebung aller Patente auf Impfstoffe! Rasche und gerechte globale Verteilung! Kontrolle der Maßnahmen durch die Beschäftigten im Gesundheitssektor! Streichung der Schulden der Länder des globalen Südens!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Carearbeit zur Durchbrechung der sexistischen Arbeitsteilung! Milliardeninvestitionen in Bildung, Erziehung und Pflege, bezahlt durch progressive Besteuerung von Reichen und KapitalistInnen!

  • Nein zur Festung Europa – offene Grenzen! Organisierter Selbstschutz gegen rechte Gewalt! Verteidigt die Demonstrationsfreiheit und demokratische Rechte!

  • Schluss mit allen Auslandseinsätzen, Waffenexporten, politischen und wirtschaftlichen Hilfen für reaktionäre Regime! Austritt aus der NATO!

  • Kampf gegen alle Entlassungen! Gesetzlicher Mindestlohn und Mindesteinkommen für alle von 15 Euro/Stunde! Enteignung aller Unternehmen, die mit Massenentlassungen drohen! Für die 30-Stundenwoche bei vollem Personalausgleich und Lohn!

  • Die Folgen der Klimakrise und ihre Bewältigung, Überflutungen und Waldbrände müssen durch die bezahlt werden, die sie verursachen, die durch Kohlestrom und Verbrennerautos Milliarden verdienen! Nein zur allgemeinen CO2-Steuer – ja zur massiven Besteuerung der Gewinne! RWE, VW und Co. entschädigungslos enteignen – für eine nachhaltige  Produktionsumstellung unter demokratischer Kontrolle derer, die dort arbeiten!



OB-Wahl in Stuttgart: Für Rockenbauch stimmen – und die nächsten Kämpfe vorbereiten!

Gruppe ArbeiterInnenmacht Stuttgart, Infomail 1127, 25. November 2020

In Stuttgart wird ein neues „Stadtoberhaupt“ gewählt. Im ersten Wahlgang am 8. November hat erwartungsgemäß kein/e KandidatIn eine absolute Mehrheit erreichen können, so dass im zweiten Wahlgang am 29. November die Entscheidung fallen wird. Der 2012 gewählte Fritz Kuhn (Grüne) trat nicht erneut an. Die CDU kandidiert mit Frank Nopper, um den höchsten Posten im Rathaus zurückzuholen, den sie von 1974 bis 2012 gestellt hatte. Er erhielt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen (31,8 %), auf ihn folgten Veronika Kienzle (17,2 %, Grüne), Marian Schreier (15,0 %, z. Zt. parteilos, SPD-Mitgliedschaft ruht), Hannes Rockenbauch (14,0 %, Stuttgart Ökologisch Sozial/Die Linke), Martin Körner (9,8 %, SPD). Die KandidatInnen aus der Fraktion der Quer-, Schief-, Rechts- und WenigdenkerInnen sind im Ergebnis kaum der Rede wert: Malte Kaufmann (2,2 %, AfD), Michael Ballweg (2,6 %, parteilos, Querdenken 0711). Zur Stichwahl haben Kienzle, Körner, Kaufmann sowie Heer (0,8 %) und Reutter (4,4 %) zurückgezogen. Somit sind Nopper, Schreier und Rockenbauch die aussichtsreichsten Kandidaten.

Einschätzung des Ergebnisses

Nopper hat zwar mit Abstand am besten abgeschnitten. Er hat aber von allen CDU-KandidatInnen seit 1945 das schlechteste Ergebnis eingefahren. 2012 konnte Fritz Kuhn die Wahl gegen den CDU-Kandidaten für sich entscheiden. Dies geschah vor dem Hintergrund dessen, dass die Grünen – gerade im Südwesten – unter bürgerlichen WählerInnenschichten zu einer starken Konkurrenz für die CDU geworden sind. Der Wahlsieg der Grünen bei der baden-württembergischen Landtagswahl und die Bildung einer grün-roten Koalition 2011 hatten dies schon angekündigt. Im Wahlsieg 2012 schlugen sich auch die Niederlagen der Bewegung gegen S21 nieder. Deren kämpferischer Flügel hatte zwar keine großen Illusionen in die Grünen, aber er konnte nach der erfolgten (und verlorenen) Volksabstimmung, nach Baubeginn und dem Niedergang der Massenbewegung der weitverbreiteten Ablehnung des Bauprojekts keine weitere Perspektive mehr geben. Die Grünen vermochten mit dem „Realo“ Fritz Kuhn und als eine Kraft, die in der Bewegung mitgegangen ist, ohne eine kämpferische Rolle zu spielen, diese Stimmung aufzugreifen. Sie mussten gar keinen Anti-CDU-Wahlkampf führen, um diejenigen abzugreifen, die von den Konservativen die Schnauze voll hatten. Gleichzeitig blieben die Grünen anschlussfähig ans bürgerliche Lager.

Aufgrund der heute ganz anderen Ausgangslage konnte Kienzle an Kuhns Wahlerfolg nicht anknüpfen. Dass sie im Vergleich zum ersten Wahlgang 2012 (Kuhn 36,5 %) prozentual mehr als die Hälfte eingebüßt hat, überrascht dennoch. Kienzle kommt eigentlich aus dem linken Flügel der Grünen. Sie setzte sich im Wahlkampf aber kaum programmatisch von Kuhn ab, sondern beschränkte sich auf grüne Gemeinplätze, die man mit „Wirtschaft, Klima, Diversität“ zusammenfassen kann. Wer von Kuhns rechter Politik enttäuscht war, den konnte Kienzle so nicht zurückgewinnen. Sie bekam im Gegenteil ernsthafte Konkurrenz von Rockenbauch, der sein Ergebnis im Vergleich zu 2012 (10,4 %) deutlich gesteigert hat.

Fehde in der SPD

Die SPD nominierte ihren Fraktionsvorsitzenden Martin Körner als Kandidaten. Zusätzlich kandidierte Marian Schreier, ebenfalls SPD-Mitglied und aktuell Bürgermeister der Stadt Tengen. Seine Kandidatur stieß auf die Ablehnung der Stuttgarter SPD, er muss daher bis zum Abschluss der Wahl seine Mitgliedschaft ruhen lassen. Erst recht seit seiner Weigerung, seine Kandidatur im zweiten Wahlgang zugunsten eines gemeinsamen Anti-Nopper-Kandidaten zurückzuziehen, wird er als rücksichtsloser Karrierist gesehen, und diese Einschätzung ist nicht ungerechtfertigt.

Er hat Verbindungen zum rechten SPD-Flügel und hat als Redenschreiber für Peer Steinbrück gelernt zu formulieren, ohne etwas zu sagen. Eine solide Grundausbildung in Dampfplauderei gehört zweifellos zu seinen Qualitäten. Warum er gegen den Kandidaten seiner eigenen Partei antritt, begründete er nicht etwa mit inhaltlichen Positionen, sondern mit dem populistischen Scheinargument, dass die Entscheidung, wer der beste Kandidat sei, ohnehin nur den WählerInnen zustehe.

Das wiederum sagt uns aber eigentlich mehr über den Zustand und die Rolle der Stuttgarter SPD als über Schreiers Charakter. Bereits in der OB-Wahl 1996 tauchte mit Joachim Becker als sogenannter unabhängiger Bewerber im zweiten Wahlgang unangekündigt ein zweiter SPD-Kandidat auf, der letztlich die krachende Niederlage für die SPD und den haushohen Sieg für Wolfgang Schuster (CDU) verstärkte. Die SPD segelte in Stuttgart jahrelang im Windschatten der CDU bzw. des rechten parteilosen OB Klett. Sie gehörte von Anfang an zu den UnterstützerInnen von S21 und setzte diese Haltung selbst zu den Hochzeiten der Bewegung gegen S21, 2010 – 2011, gegen alle Widerstände – auch in der eigenen Mitgliedschaft – durch.

Im Vorfeld der aktuellen Wahl führten die SPD und ihr Kandidat Martin Körner – bereits vor Kuhns Ankündigung, nicht mehr zu kandidieren – Gespräche mit der FDP und den „Freien Wählern“ über einen möglichen gemeinsamen Kandidaten. Das Fehlen eines eigenen politischen Profils der Stuttgarter SPD ließe sich kaum bildlicher ausdrücken. Das blamable Wahlergebnis von unter 10 % für Körner ist die Strafe dafür. Dass der Querschläger Schreier mit 15 % deutlich besser abschneidet, setzt dem noch eins drauf: Offenbar haben in Stuttgart sozialdemokratische KandidatInnen mehr Chancen, je weiter sie von der biederen Rathaus-SPD entfernt sind. Nach Körners Rückzug hieß es zunächst, die SPD werde im zweiten Wahlgang dann doch Schreier unterstützen. Am Ende entschied sie sich dazu, sich doch besser ganz rauszuhalten und keinen Wahlaufruf abzugeben. Ihrer Tradition, durch Danebenstehen der CDU ins Amt zu helfen, bleibt sie jedenfalls treu.

Rockenbauch

Rockenbauch hat als einziger Kandidat einen Wahlkampf geführt mit konkreten und greifbaren Zielen, die wichtige soziale Fragen in Stuttgart aufgreifen. So tritt er für einen kostenlosen Nahverkehr ein. Martin Körner (SPD) vertrat das Ziel eines 365-Euro-Jahrestickets, die übrigen KandidatInnen beschränkten sich auf unverbindliche Allgemeinplätze. Rockenbauch fordert die Verdopplung des Bestands städtischer Wohnungen und die Absenkung der städtischen Kaltmieten auf 5 Euro pro Quadratmeter und die Klimaneutralität Stuttgarts bis 2030. Diese Forderungen unterstützen wir ebenso wie viele seiner Ziele zur Stadtentwicklung und Verkehrsplanung. Seine Kandidatur wird von weiten Teilen der Stuttgarter Linken unterstützt, einschließlich Fridays for Future, [’solid], Migrantifa. Sein Stimmenanteil im ersten Wahlgang war grob doppelt so hoch, wie bei überregionalen Wahlen für die Linkspartei in Stuttgart in den vergangenen Jahren üblich. Dieser Erfolg geht auf seine konkreten, greifbaren Forderungen zurück und auf seine Verankerung in der Linken.

Dabei ist klar, dass das Amt eines „Stadtverwaltungshäuptlings“ der Umsetzung vieler Ziele enge Grenzen setzt. Ein Programm „linker Stadtpolitik“ erfordert daher eine viel umfassendere Orientierung auf eine Bewegung, die in der Lage ist, diese auch gegen die Kapitalinteressen politisch durchzusetzen – nicht nur auf lokaler Ebene, sondern landes- und bundesweit. Ein linker Bürgermeister, der auf lokaler Ebene etwa den Auswirkungen der Mietspekulation etwas entgegensetzen will, kann dies nicht kraft seines Amtes und einer Mehrheit im Gemeinderat umsetzen – er wird nicht nur auf den Widerstand des gewachsenen (und nach wie vor CDU-lastigen) städtischen Beamtenapparates stoßen, sondern prinzipiell auf eben die Klassenkräfte, die den Mietenwahnsinn vorantreiben.

Wir rufen zur Wahl Rockenbauchs auf, weil er der Kandidat einer Bewegung ist, deren Losungen er aufgreift. Nun kann die Kritik des Kompetenzrahmens, der für OberbürgermeisterInnen gesetzt ist, natürlich nicht die Kandidatur selbst treffen. Aber es ist unbedingt notwendig zu sagen, dass die Ziele seines Wahlprogramms – wie der kostenlose Nahverkehr und die Absenkung der Mieten – eine Kampfperspektive erfordern. Es ist notwendig, eine Bewegung der betroffenen Lohnabhängigen, MieterInnen, etc. hierfür aufzubauen.

Dies gilt erst recht für die Frage der Arbeitsplätze, die im industriellen und industrienahen Bereich so bedroht sind wie schon lange nicht mehr. Tausende Jobs bei Bosch, Daimler, Mahle und in vielen kleineren Betrieben sind gestrichen worden und weitere Kürzungen stehen an. Dieses Thema greift Rockenbauch nur zaghaft auf, er organisiert Foren mit BetriebsrätInnen und Beschäftigten der betroffenen Betriebe. Einen kämpferischeren, linkeren Ansatz hat aber auch nicht die lokale LINKE zu bieten, die sich unter Riexingers Führung scheut, andere Perspektiven als die total auf „soziale“ Abwicklung des Abbaus fixierte IG Metall zu präsentieren. Rockenbauch selbst ist übrigens nicht Mitglied der LINKEN, hat aber schon für die Landtagswahl 2016 für diese kandidiert.

2012 zog Rockenbauch nach dem ersten Wahlgang zurück und überließ Kuhn das Feld. Er wendete die Logik des kleineren Übels an: lieber „einer von uns“, auch wenn er kein linkes Programm hat, als wieder CDU. Er verzichtete auf die Weise darauf, den zweiten Wahlgang zu nutzen, um UnterstützerInnen gegen den zu erwartenden grünen Verrat bei S21 zu mobilisieren. Er wiederholte den Fehler in diesem Jahr mit dem Versuch, eine Anti-CDU-Allianz mit SPD und Grünen zu schmieden. Das Vorhaben, Kienzle als gemeinsame Kandidatin eines „sozial-ökologischen Lagers“ aufzustellen, scheiterte nur an der Weigerung Schreiers, seine Kandidatur zurückzuziehen.

Für das „sozial-ökologische“ Bündnis verzichtete Rockenbauch auf weite Teile seines Programms. Bei der Wohnungspolitik trat anstelle der bislang vertretenen Mietsenkung auf 5 Euro pro qm ein Mieterhöhungsstopp für die nächsten 8 Jahre. Anstelle konkreter Zielvorgaben beim Wohnungsbau traten unverbindliche Bekenntnisse, anstelle der im Wahlkampf vertretenen Forderung nach Enteignung leerstehender Gebäude tritt „Intensivierung des Leerstandsmanagements, z. B. über Ansprache von Eigentümer*innen“. Damit sollte klar sein, wie wenig ein Bündnis mit der bürgerlichen grünen Partei wert ist. Der Preis dafür ist in jedem Fall Aufgabe des eigenen Programms.

Diese von reformistischen Parteien wie LINKE und SPD abgekupferte und für deren KandidatInnen typische Vorgehensweise, Forderungen nur zur Wahlwerbung zu nutzen und dann auf den Verhandlungstischen von Koalitionen zu opfern, lehnen wir ab. Letztlich unterscheiden sich „linke“ von „rechten“ Regierungen oft nur durch einige kosmetische Züge und, wessen Klientel mehr Staatsknete erhält. Ein Vorgehen, das immer wieder und wieder die WählerInnen enttäuscht und sie von den reformistischen, im Grunde bürgerlichen ArbeiteInnenparteien abwendet.

Unser Wahlaufruf für reformistische Parteien – und auch KandidatInnen wie Rockenbauch – bedeutet also keinesfalls Zuspruch für deren Unterordnung unter den bürgerlichen Politikbetrieb oder deren Programm. Zugleich aber repräsentiert Rockenbauch als Kandidat der Linkspartei und der sozialen Bewegungen jene Teile der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten, die gegen die Politik von CDU, Grünen, … ankämpfen wollen und von der SPD die Schnauze voll haben.

Wir rufen dazu auf, am 29. November für Hannes Rockenbauch zu stimmen – und zugleich den Kampf vorzubereiten, der nötig sein wird, um gegen die CDU einen kostenlosen Nahverkehr, bezahlbare Mieten und die klimaneutrale Stadt durchzusetzen und den Kampf gegen alle Entlassungen und Kürzungen aufzunehmen!