Pakistan-Wahlen: Nieder mit der Scheindemokratie! Vorwärts zu einer Arbeiter:innen-Alternative!

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1244, 6. Februar 2024

Am 8. Februar finden in Pakistan Parlamentswahlen statt. Dies wäre zwar das dritte Mal in Folge, dass die Pakistaner:innen eine zivile Regierung wählen, die nicht von Militärdiktaturen unterbrochen wird. Doch die Grenzen dieser demokratischen Struktur sind unübersehbar. Der zum Politiker gewordene Cricketspieler Imran Khan befindet sich heute in der gleichen Lage wie Nawaz Sharif bei der Wahl 2018. Die beiden scheinen die Plätze in dem Rollenspiel getauscht zu haben, das alle etablierten politischen Parteien abwechselnd vor dem mächtigen Militär des Landes spielen.

Wahlen an einem entscheidenden Punkt

Innenpolitisch ist Pakistan mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit konfrontiert, und ein Ende der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ist nicht in Sicht. Aufgrund des hohen Zinssatzes haben Unternehmen mit Schließung gedroht. Die Übergangsregierung hat auch die Privatisierung und den Verkauf der nationalen Fluggesellschaft als Teil der IWF-Vereinbarung abgeschlossen, wobei die Pakistanische Muslimliga Nawaz (PML-N) versprochen hat, den Prozess nach ihrer Regierungsübernahme zu beschleunigen.

Die Inflation ist so hoch, dass Menschen Selbstmord begangen oder ihre eigenen Frauen und Kinder getötet haben. Am 31. Januar erhöhte die geschäftsführende Regierung den Benzinpreis um weitere 13,55 Rupien pro Liter für die nächsten vierzehn Tage. Er liegt nun bei 272,89 Rupien pro Liter, verglichen mit 95 Rupien im Jahr 2018. Der Strompreis pro Einheit für Haushalte ist von 12 im Jahr 2018 auf 30 Rupien angestiegen. Die Gaspreise haben sich mehr als verdoppelt. Der US-Dollar war im August 2018 123 Rupien wert. Heute liegt er bei 279 Rupien. In der Zwischenzeit hat die nationale Unterdrückung verschiedene Gemeinschaften dazu veranlasst, gegen das Leid, das ihnen durch das mörderische kapitalistische System zugefügt wird, auf die Straße zu gehen. Belutschische Frauen haben eine massive Kampagne gegen die ihrer Meinung nach staatlichen Entführungen und außergerichtlichen Tötungen von belutschischen Männern und Jugendlichen ins Leben gerufen. In Gilgit-Baltistan eine Massenbewegung gegen die Streichung der Subventionen für Weizenmehl im Gange, während im pakistanisch verwalteten Kaschmir Millionen von Menschen sich weigern, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. In Chaman, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Afghanistan, protestieren zahlreiche Menschen seit drei Monaten gegen diskriminierende Gesetze, die sich gegen die lokale paschtunische Bevölkerung (Achakzai) richten.

Nach außen hin ist Pakistan von Nachbarn wie Afghanistan, Indien und Iran umgeben, zu denen die Beziehungen von offener Feindseligkeit bis hin zu Verhärtungen reichen. Die jüngsten Eskalationen mit dem Iran sowie die Massenabschiebungen afghanischer Flüchtlinge haben Pakistan ins internationale Rampenlicht gerückt. China, der vermeintliche Freund Pakistans, tritt oft als Vermittler auf, wenn die Spannungen in der Region eskalieren. Es ist auch die imperialistische Macht, deren Einflussbereich auf Pakistan immer größer zu werden scheint, insbesondere durch den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC). Zugleich setzt sich die Unterordnung Pakistans unter die USA und andere westliche Mächte fort. Neben der Bindung an den IWF zeigt sich diese Unterordnung am deutlichsten in der drastischen Änderung der pakistanischen Haltung gegenüber Palästina. Während Pakistan den Staat Israel nicht anerkennt, hat der geschäftsführende Premierminister offen darüber gesprochen, wie der Frieden im Nahen Osten durch eine Zweistaatenlösung erreicht werden könnte, und ist damit in die Fußstapfen seiner saudischen Geldgeber getreten und hat den Weg für die Anerkennung des zionistischen Gebildes geebnet.

Prekäre Lage

Zudem ist die Sicherheitslage rund um die Wahlen prekär. Am 31. Januar wurde ein der Pakistan Tehreek-e-Insaf-Partei (PTI; Bewegung für Gerechtigkeit, Partei Imran Khans) nahestehender Kandidat bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Am selben Tag kam es in Belutschistan zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein Mitglied der Awami-Nationalpartei (ANP) wurde während einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Chaman getötet, während fünf weitere Personen bei einem Granatenangriff auf das Wahlbüro der Pakistan Peoples Party (Pakistanische Volkspartei, PPP) in Quetta verletzt wurden. Am 30. Januar wurden bei einer Bombenexplosion auf einer PTI-Kundgebung im Verwaltungsdistrikt Sibi (Belutschistan) vier Menschen getötet und sechs weitere verletzt. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zur Verantwortung dafür. Die Aktivitäten der belutschischen Aufständischen und die staatliche Repression gegen sie gehen ebenfalls weiter. Die Belutschische Befreiungsarmee (BLA) soll 15 Menschen getötet haben, während das Militär am 2. Februar erklärte, dass in den vergangenen drei Tagen bei Feuergefechten und Räumungsaktionen in den Städten Mach und Kolpur 24 „Terrorist:innen“ der BLA getötet worden seien. Das Ausmaß der Sicherheitsprobleme in Pakistan lässt sich an der Tatsache ablesen, dass es im Jahr 2023 bei 789 Terroranschlägen und Antiterroroperationen 1.524 gewaltbedingte Todesopfer und 1.463 Verletzte gab, darunter fast 1.000 Todesopfer unter Zivilist:innen und Sicherheitskräften. Trotzdem sollen die Wahlen abgehalten werden.

Die Wahl in Pakistan wird auch internationale Auswirkungen haben. Welche Partei auch immer an die Regierung kommt, wird den künftigen Kurs des Landes in Bezug auf Schlüsselfragen wie die Abhängigkeit des Landes vom imperialistischen Gendarmen IWF, die Neutralität oder deren Fehlen im Russland-Ukraine-Krieg, die Haltung gegenüber den großen Rivalen China und USA, gegenüber dem Iran, insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten, und die Anerkennung des Staates Israel bestimmen. Pakistan könnte in dem sich zunehmend verändernden globalen Konflikt eine wichtige Rolle spielen, vor allem jetzt, da es Berichte gibt, dass die Saudis noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Militärabkommen mit den USA abschließen könnten, solange die Israelis bereit sind, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung mündlich zu bestätigen. Pakistan ist eines der wenigen Länder, das weiterhin Handelsbeziehungen mit dem Iran unterhält. Eine US-freundliche Regierung in Pakistan könnte unter Druck gesetzt werden, den Iran weiter zu isolieren, um die amerikanisch-saudische Verflechtung in der Region zu stärken. Dies würde auch Auswirkungen auf den chinesischen Einfluss in Pakistan und der Region zeitigen.

Wenig Begeisterung für die Wahlen

Weniger als eine Woche vor dem Wahltag ist die Stimmung in Pakistan alles andere als wahlbewegt. Bei einer Bevölkerung von 270 Millionen werden schätzungsweise 120 Millionen zur Wahl gehen. Doch die Massen scheinen wenig begeistert zu sein. Die Parteien beklagen, dass sie aufgrund steigender Kosten nicht genug Geld haben, um in Wahlkampfaktivitäten zu investieren. Angriffe auf Wahlkundgebungen durch nichtstaatliche Akteur:innen, ein hartes Vorgehen gegen diejenigen, die in Ungnade gefallen sind (Imran Khan und seine Partei), und das mangelnde Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in das Wahlsystem haben ebenfalls zu dieser gedämpften Stimmung beigetragen.

Ein großer Teil derjenigen, die Vertrauen in den Staat und seine Wahlpolitik hegen, ist unzufrieden mit der repressiven Behandlung von Khan und seiner Partei. In einem Eilurteil verurteilte ein Antikorruptionsgericht Khan am 31. Januar zu 14 Jahren Haft wegen illegalen Verkaufs von Staatsgeschenken, nur einen Tag, nachdem er in einem anderen Fall zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war. Dies ist seine dritte Verurteilung in den letzten Monaten. In den letzten Tagen vor den Wahlen wurden er und seine Frau in einem weiteren Fall wegen „unrechtmäßiger Heirat“ verurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass ihre Ehe unislamisch und illegal war, da die Frau die „Iddah“-Frist (Wartezeit) nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann nicht eingehalten und Imran Khan vor Ablauf der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geheiratet hat.

Der ehemalige Cricketstar wurde außerdem für 10 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Seiner Partei wurde das Wahlsymbol entzogen, und eine Reihe von Parteiführer:innen wurde ausgeschlossen oder ihre Ernennungsunterlagen wurden abgelehnt. Diejenigen, die noch zu den Wahlen antreten können, müssen als Unabhängige kandidieren. Zwar ist keine dieser Taktiken neu, doch das Ausmaß der Repression ist für „demokratische Wahlen“ beispiellos. Der Zeitpunkt der Verurteilung Khans deutet auch darauf hin, dass die Wähler:innenschaft für seine Partei gestimmt hätte. Inzwischen ist Sharif, ebenfalls ein ehemaliger Premierminister, aus seinem luxuriösen Exil in London zurückgekehrt. Er wurde abgesetzt und abgelehnt, weil er beim militärischen Establishment in Ungnade gefallen war, als Khan deren Unterstützung genoss und an die Regierungsmacht kam. Heute ist Sharif der Favorit für das Amt des nächsten Premierministers, während seine Vorstrafen in den Papierkorb gewandert sind.

Alle etablierten Parteien haben in jedem Wahlzyklus ein ähnliches Schicksal erlitten. Dennoch schaffen sie es nie, sich gegen diese Umgangsmethode zusammenzuschließen. Und warum sollten sie auch? Schließlich liegt es in ihrem Interesse, das System aufrechtzuerhalten, das sich auf ein allmächtiges Militär stützt, das das Sagen hat, während diese nationalen Spitzenpolitiker:innen abwechselnd als ihre Marionetten fungieren. Die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems zwingen sie dazu, sich irgendwann in ihrer Amtszeit gegen ihre Herr:innen in Uniform zu stellen, was dazu führt, dass Ausschlüsse und Entlassungen zur Routine zu werden scheinen. Man lasse sich aber nicht täuschen. Jedes Mal, wenn sich ein pakistanischer nationaler Bourgeois gegen die Streitkräfte stellt, ist dies darauf zurückzuführen, dass sie sich nicht einig sind über die Strategie zur Verteidigung der Interessen eines Teils der pakistanischen Kapitalist:innen. Meistens beruhen diese Spaltungen auf imperialistischen Rivalitäten. Verschiedene Teile des pakistanischen Kapitals sind mit verschiedenen globalen Mächten verbündet. Es geht immer darum, welcher Teil seinen Anteil am Kuchen bekommt, indem er seine Vorherrschaft durchsetzen kann. Doch für welche Seite sich ein:e Premierminister:in auch immer entscheidet, für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen hat das wenig bis gar keine Auswirkungen. Die Kapitalfraktionen sind Bollwerke des neoliberalen Kapitalismus und Förder:innen der imperialistischen Enteignung. Das politische Programm einer jeden etablierten Partei basiert praktisch auf Privatisierung, Sparmaßnahmen, Inflation und Personalabbau. Insbesondere die PML-N und PTI sind Parteien des Großkapitals.

Und dann sind da noch die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die Armen des Landes, deren Leben sich unter dem erdrückenden Diktat des IWF, das sowohl die Regime von Nawaz als auch von Khan gerne akzeptiert hatten, nur verschlechtert hat. Diese Schichten haben aus ihren Erfahrungen gelernt, dass die Wahl für sie nichts ändern wird. Das Grundverständnis des Wahlmanifests der PML-N besteht darin, wie man im Interesse des Großkapitals regiert, indem man die Industrie effizient betreibt, die Exporte steigert und die Inflation als Ergebnis dieser wirtschaftlichen Entwicklung senkt. Die PPP von Bilawal Bhutto Zardari hat ein vergleichsweise „besseres“ Manifest vorgelegt, aber Bhutto entlarvte dessen Realität, indem er es als einen Traum bezeichnete. Jede PPP-geführte Regierung hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die Partei des neoliberalen Kapitalismus ist, die sich in einem leicht sozialdemokratischen Jargon präsentiert.

Was tun?

Die von Belutsch:innen bewohnten Bezirke des Punjab (Pandschab) und die Regionen Belutschistan, Kaschmir, Gilgit-Baltistan und Khyber Pakhtunkhwa haben sich gegen die wirtschaftliche und nationale Unterdrückung erhoben. Vor allem die Frauen der Belutsch:innen haben mit ihrem gefahrvollen Marsch von Turbat nach Islamabad ihr Bewusstsein unter Schichten der pandschabischen Massen verbreitet. Die Aufstände der Unterdrückten haben das Potenzial, den Widerstand in ganz Pakistan zu inspirieren. Alle politischen Parteien Pakistans haben gezeigt, dass sie Söldnerinnen des globalen Kapitalismus sind. Die Politik dieses Systems und die herrschenden Klassen, die die Show leiten, werden zunehmend entlarvt. Alle Herrscher:innen sind entblößt und abgelehnt. Wir sind zwar gegen das harte Vorgehen gegen die PTI, frönen aber gleichzeitig auch keinen Illusionen in diese Partei.

Deshalb brauchen wir eine Alternative aus der Arbeiter:innenklasse. Bei jeder Wahl mobilisiert die Bourgeoisie die plebejischen Massen, aber sie sorgt auch dafür, dass die politische Macht nicht mit ihnen geteilt wird. Auf diese Weise bleiben wir selbst bei sogenannten demokratischen Wahlen entrechtet, weshalb die vom IWF auferlegten Privatisierungen und Sparmaßnahmen unhinterfragt angenommen werden.

Während die Labour Qaumi Movement (LQM) ihre Kandidat:innen aufgrund technischer Probleme und rechtlicher Einschränkungen nicht aufstellen konnte, treten 45 Kandidat:innen anderer linker und fortschrittlicher Organisationen in verschiedenen Regionen zu den Wahlen an. Wir rufen Arbeiter:Innen, Gewerkschaften, Unterdrückte und alle linken, feministischen und fortschrittlichen Kräfte auf, für die Genoss:Innen der Barabri Party Pakistan, Awami Workers‘ Party, Haqooq-e-Khalq Party (HKP; vormals: Haqooq-E-Khalq Movement, HKM), Mazdoor Kisan Party und andere ArbeiterInnen- und fortschrittliche Organisationen zu stimmen, ohne deren im Wesentlichen reformistische Programme zu unterstützen. Gleichzeitig fordern wir diese Kandidat:innen auf, unmittelbar nach den Wahlen die folgenden Vorschläge aufzugreifen.

Wir rufen alle Arbeiter:innenorganisationen und fortschrittlichen Kräfte auf, eine Einheitsfront zu bilden, um sich auf die bevorstehenden Angriffe der nächsten Regierung vorzubereiten und dagegen zu kämpfen, die von der Auferlegung eines arbeiter:innenfeindlichen IWF-Programms und der Fortsetzung der Angriffe auf demokratische Freiheiten bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und der Abschiebung und Diskriminierung von Flüchtlingen reichen werden. Wir rufen die Arbeiter:innenorganisationen auf, eine landesweite Arbeiter:innenkonferenz einzuberufen, um den Kampf gegen die nächste kapitalistische Regierung zu koordinieren.

Gleichzeitig betonen wir die Notwendigkeit, dass die Arbeiter:innenklasse über eine eigene Partei verfügt. Wir unterstützen die Schritte der Labour-Qaumi-Bewegung in diese Richtung, und dies muss mit Entschlossenheit fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht plädieren wir dafür, dass eine solche Partei eine revolutionäre Partei wird, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die Klassenkämpfer:innen in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des Kapitalismus zu stellen, die Kämpfe der Arbeiter:innenschaft und Unterdrückten zu vereinen und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu kämpfen, die sich auf Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine Arbeiter:innen- und Volksmiliz stützt, die das Großkapital und die imperialistischen Unternehmen enteignet und einen Notfallplan einführt, der den Bedürfnissen der Massen und nicht den Profiten einiger weniger dient.




Schauprozesse in Hongkong

Peter Main, Infomail 1242, 17. Januar 2024

Am 18. Dezember begann in Hongkong der Prozess gegen Jimmy Lai, den Eigentümer der inzwischen eingestellten Apple Daily, der wichtigsten liberalen Zeitung Hongkongs. Lai, der seit drei Jahren inhaftiert ist, zumeist in Einzelhaft, muss sich vier Anklagen stellen, darunter drei Verstöße gegen das Nationale Sicherheitsgesetz (NSL). Dieses wurde 2020 über Hongkong verhängt und verbietet effektiv jegliche Opposition oder Kritik an den Regierungen von Hongkong und Peking. Das Gesetz sieht im Falle einer Verurteilung eine lebenslange Haftstrafe vor, und die Erfolgsquote bei der Strafverfolgung liegt Berichten zufolge bei 100 Prozent.

Im Fall von Lai führte die Staatsanwaltschaft als Beweis für seine Schuld die Tatsache an, dass er in seiner Zeitung zur internationalen Unterstützung der Demokratiebewegung in Hongkong aufgerufen und verschiedene internationale politische Persönlichkeiten auf seinem Twitter-Account hervorgehoben markiert hatte. Angesichts der weit verbreiteten Verurteilung des Prozesses in der ganzen Welt ist es erwähnenswert, dass die vierte Anklage nach dem britischen Kolonialgesetz gegen „Aufwiegelung“ erhoben wurde.

Verfahren gegen „Hongkong 47“

Der Prozess gegen Lai findet nur zwei Wochen nach dem Abschluss des Verfahrens gegen die „Hongkong 47“ statt. Ihr „Verbrechen“? Im Juli 2020 organisierten sie eine inoffizielle Vorwahl, um Kandidat:innen für die im September anstehenden Wahlen zum Legislativrat von Hongkong auszuwählen. Ihr Ziel war es, die Chancen zu maximieren, genügend Sitze zu gewinnen, um die Politik, einschließlich des von der von Peking eingesetzten Regierung vorgeschlagenen Haushalts, zu blockieren.

Nach dem Gesetz über die nationale Sicherheit stellt dies eine „Subversion“ dar, denn wenn der Haushalt nicht verabschiedet wird, kann die Regierung ihre Politik nicht umsetzen. Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), die die eigentliche Quelle aller Entscheidungen in China darstellt, haben die gewählten Volksvertreter:innen nicht das Recht, eine Regierung an der Umsetzung ihrer Politik zu hindern.

Der Vorwahlkampf war erfolgreicher als erwartet: Mehr als 600.000 Menschen, d. h. mehr als 13 % der gesamten Wähler:innenschaft, gaben ihre Stimme ab. Schließlich verschob die Covid-Pandemie die Wahl auf Dezember 2021. Bis dahin war den meisten Angeklagten Entlassung gegen Kaution verweigert worden und sie befanden sich in Untersuchungshaft. Nach wiederholten Anträgen der Staatsanwaltschaft auf Verschiebung des Prozesses mit der Begründung, dass mehr Zeit für den Abschluss der Ermittlungen erforderlich sei, blieben sie das ganze Jahr 2022 in Haft.

Auf den ersten Blick scheint das zu zeigen, dass sie über keine Beweise verfügte, um ihre Verfolgung zu unterstützen, als die Angeklagten inhaftiert wurden, aber der wahrscheinlichere Grund ist die Absicht, andere einzuschüchtern, die an irgendwelche Aktivitäten gegen die Regierung denken könnten.

In der Zwischenzeit erkannte die Regierung die weit verbreitete Unterstützung für die Angeklagten an, indem sie erklärte, es bestehe die „Gefahr der Pervertierung der Justiz, wenn der Prozess mit Geschworenen geführt wird“, und ernannte daher einen handverlesenen Richter, der den Fall verhandeln sollte. Der Prozess begann schließlich im Februar 2023, und schon bald stellte sich heraus, dass einige der Angeklagten tatsächlich im Auftrag der Regierung gehandelt hatten, indem sie heimlich Sitzungen zur Organisation der Vorwahlkampagne filmten und aufzeichneten. Ein Urteil wird nicht vor Ablauf von drei Monaten erwartet, so dass der Stress für die Gefangenen und ihre Familien anhält und als Warnung für andere dient.

Ironischer Weise endete dieses Verfahren am Tag der ersten Wahl zum Legislativrat, die nach den neuen Vorschriften stattfand. Bei der Wahl 2019, die nach dem vorherigen System stattfand, lag die Wahlbeteiligung bei 71,23 Prozent, und die „prodemokratischen“ Kandidat:innen gewannen mehr als 80 Prozent der Sitze in den 18 abstimmenden Bezirken. Damals wurden 90 Prozent der Sitze durch das Volk gewählt; diesmal waren weniger als 20 Prozent zu wählen, nur von der Regierung überprüfte Bewerber:innen durften kandidieren, und natürlich saßen die „prodemokratischen“ Kandidat:innen im Gefängnis. Die Wähler:innen in Hongkong machten ihre Ablehnung dieses manipulierten Systems deutlich, indem sie das Verfahren boykottierten; die Wahlbeteiligung lag bei nur 27,5 Prozent der Wahlberechtigten.

Weitere Verfahren

Im selben Monat beantragte Chow Hang-tung, eine Anwältin, die seit zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt, weil sie die Mahnwachen 2020 und 2021 zum Gedenken an das Tian’anmen-Massaker von 1989 organisiert hat, die Freilassung gegen Kaution, da noch kein Termin für ihren Prozess feststeht. Chow wurde kürzlich zusammen mit zwei Anwälten vom Festland, Xu Zhiyong und Ding Jiaxi, mit dem Menschenrechtspreis des Europäischen Rates der Gerichte und Anwaltschaften (CCBE) ausgezeichnet.

Der Richter lehnte ihren Antrag ab und begründete dies damit, dass er nicht wisse, ob ihr Handeln gegen das NSL verstoße. Es ist offensichtlich, dass die Richter das Gesetz nicht mehr auslegen und anwenden, sondern auf das Urteil der KPCh warten, oder, wie Chow es in ihrer Annahme des CCBE-Preises formulierte, „selbst ein ,unabhängiges Gericht‘ … wird in der Praxis zum Vollstrecker des parteiischen Willens der Partei“.

Die Inszenierung dieser Schauprozesse durch die KPCh bestätigt auf ihre Weise, dass selbst die elementarsten demokratischen Rechte – Redefreiheit, unabhängige politische Parteien, freie Wahlen – tatsächlich eine Bedrohung für ihre Herrschaft darstellen. Der Kampf für die Beibehaltung einiger dieser Rechte in Hongkong nach der Rückgabe des Gebiets an China im Jahr 1997 hat zu verschiedenen Zeiten Millionen von Menschen mobilisiert, war aber immer von der Annahme geprägt, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die nur Hongkong betrifft. Einige glaubten sogar, dass „Ein Land, zwei Systeme“ eine Art Garantie für den Sonderstatus der ehemaligen Kolonie darstellte. Es ist klarer denn je, dass der Kampf für selbst grundlegende demokratische Rechte in dem Gebiet nicht von dem Eintreten für diese Rechte in ganz China getrennt werden kann.

Heute verlangsamt sich die nationale Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit steigt, und es gibt Anzeichen von Spaltung und sogar Lähmung in den Reihen der KPCh selbst. Die Sozialist:innen in ganz China müssen sich in einer Partei auf der Grundlage eines Programms organisieren, in dessen Mittelpunkt der Aufbau unabhängiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse steht – betriebliche Ausschüsse, unabhängige Gewerkschaften, eine Jugendorganisation, eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse – und das sich der Verteidigung der Arbeiter:inneninteressen, dem Widerstand gegen weitere Zugeständnisse an kapitalistische Willkür, dem Sturz der Diktatur und ihrer Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenorganisationen verpflichtet.




Europaparteitag DIE LINKE: Vom Abbruch zum Aufbruch?

Martin Suchanek, Infomail 1237, 20. November 2023

Vorweg: Das Programm zur Europawahl spielte auf dem Parteitag in Augsburg allenfalls eine Nebenrolle. Natürlich gab es um das 84-seitige Papier auch Debatten, einige Änderungsanträge und sogar etwas Kritik. Doch insgesamt war dies eine Marginalie, eine Quasipflichtübung zum eigentlichen Zweck: der Wahl einer Kandidat:innenliste zu den Europawahlen 2024 und einer Zurschaustellung eine neuen Einheit, Geschlossenheit und Zuversicht. Augsburg soll für Aufbruch stehen – und, wenigstes medial, ist diese Inszenierung einigermaßen gelungen.

So attestiert die Tagesschau: „Diszipliniert beschließt DIE LINKE ihr Europawahlprogramm, die Einigkeit ist groß: Ohne das Wagenknecht-Lager wirkt DIE LINKE wie befreit.“ Und das Neue Deutschland, das der Partei am weitaus freundlichsten gesonnene Medium, verteilt gute Noten. Der Anfang sei gemacht, jetzt müsse „nur“ noch geliefert werden.

Bemerkenswert an diesem Aufbruch ist zuallererst, dass das Wahlprogramm inhaltlich vor allem für Kontinuität steht. Wo Differenzen auftauchten, wie vor allem bei der Nahost-Frage, greift man, auch nicht gerade originell, zum gemeinsam verabredeten Formelkompromiss. Das hilft zwar in der Sache nicht, wohl aber in Sachen „Einheit der Partei“.

Reformistischer Wein in nicht so neuen Schläuchen

Programmatisch präsentierte der Parteitag alten reformistischen Wein in gar nicht so neuen Schläuchen. Gegenüber früheren Programmen ist das für 2024 inhaltlich eher noch einmal weichgespült.

Wie in so ziemlich jedem sozialdemokratischen Reformprogramm der letzten Jahrzehnte stellt auch DIE LINKE nicht die Eigentumsfrage, sondern die nach „Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit“ ins Zentrum. Als Hauptursache der Probleme wird nicht der Kapitalismus, sondern der „Neoliberalismus“ ausgemacht. Daher soll aus der EU auch ein reformierter Hort der Gerechtigkeit werden:

„Wir treten an gegen ein Europa der Reichen, Rechten und Lobbyisten – und für die Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, all der Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Sie sind unsere Leute. Für sie machen wir Politik. Deswegen wollen wir eine europäische Zeitenwende für Gerechtigkeit. Deshalb wollen wir, dass die EU zu einer Kraft für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Frieden wird. Ein unabhängiges Europa, das den Menschen verpflichtet ist, nicht dem Profit.“

Diese Credo bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik zieht sich durch die folgenden fünf Abschnitte des Programms: „Umverteilen für soziale Gerechtigkeit“, „Wirtschaft sozial und ökologisch gerecht umbauen“, „Klimagerechtigkeit“, „Frieden und soziale Gerechtigkeit weltweit“ und „Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus“.

Insbesondere das erste Kapitel „Umverteilen und soziale Gerechtigkeit“ enthält hunderte, für sich genommen zumeist unterstützenswerte Forderungen, die allesamt auf höhere Einkommen und Löhne, Mindestsicherungen, gute und kostengünstige Sozialleistungen auf der einen Seite und gleichzeitig auf Gewinnabschöpfung und Besteuerung des Kapitals und der Reichen auf der anderen zielen. Schon hier zeigt sich ein durchgängiges Problem: Wie diese Forderungen gegen die Reichen und Mächtigen, gegen das Kapital, seine Regierungen und staatlichen Institutionen erkämpft werden sollen – das kommt im Reformprogramm erst gar nicht vor. Die folgenden Abschnitte behalten diesen grundlegenden Zug nicht nur bei, sie verschlimmern ihn eher noch.

Im gesamten Programm werden große Bögen um zentrale Fragen gemacht. Erstens um die Eigentumsfrage. Diese wird nur bei den Immobilien wirklich gestellt, wobei auch dort die Frage der Entschädigung oder eben Nicht-Entschädigung ausgeklammert wird. An die Banken wagt sich die DIE LINKE jedoch erst gar nicht ran. Statt ihrer entschädigungslosen Verstaatlichung und Zentralisierung unter Arbeiter:innenkontrolle beschwört die Linke mehr „Transparenz“ und ihre Verkleinerung. Insgesamt soll der private Finanzsektor „auf eine dienende Funktion für die Gesellschaft“ zurechtgestutzt werden, so dass die Profitmacherei nur noch ausnahmsweise am Rande stattfinde. Wünsch Dir was im Kapitalismus, also.

Der andere durchgängige Fehler besteht darin, dass, mitunter auch recht kleinteilig, an der Verbesserung der bestehenden bürgerlichen Institutionen herumgeschraubt wird. Die EU wird recht detailreich „reformiert“, demokratisiert und, jedenfalls im Programm der Linkspartei, zu etwas ganz anderem gemacht, als sie eigentlich ist. Dass es sich bei ihr um einen imperialistischen Staatenblock unter deutscher und französischer Führung handelt, kommt im Programm erst gar nicht vor. Vielmehr leidet dieser „nur“ unter Fehlentwicklungen, die scheinbar wegreformiert werden könnten. DIE LINKE wendet sich zwar zu Recht gegen nationale Abschottungsstrategien, von der sozialistischen Alternative zum Europa des Kapitals – von Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas – will sie jedoch nichts wissen.

Damit bleibt ihr jedoch eine wirkliche Alternative zur populistischen Rückbesinnung auf die „Unabhängigkeit“ der Nationalstaaten verbaut, ja die Europapolitik der Linkspartei verkommt unwillkürlich zu einer utopistischen Verklärung der bestehenden EU.

Doch nicht nur dort. Zwar nimmt DIE LINKE den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zur Kenntnis, erkennt die Gefahr von immer heftigeren Kriegen – aber ihre Antwort bleibt nicht nur vollkommen reformistisch, sondern ist offenkundig auch utopisch. Die Stärkung und Reform der UNO gerät so zum Credo ihre Außenpolitik, zum Wundermittel „friedlicher Konfliktlösung“.

Dabei zeigen alle aktuellen Kriege, ob nun der russische Angriff auf die Ukraine, die türkischen Bombardements Rojavas, Israels Invasion in Gaza oder der Bürgerkrieg im Jemen, dass sich die UNO regelmäßig als wirkungslos erweist, weil sei eben nur Ausdruck eines globalen Kräfteverhältnisses zwischen den alten und neuen imperialistischen Mächten und kein, über der imperialistischen Ordnung stehendes Organ der „Weltgemeinschaft“ ist.

Daher fehlt aber auch im internationalen Teil des Wahlprogramms jeder Bezug auf Kämpfe der Arbeiter:innenklasse, von national Unterdrückten, auf die imperialistische Konkurrenz zwischen den Großmächten. In der Ukraine erkennt die Partei zwar zu Recht das Selbstverteidigungsrecht des Landes gegen den russischen Imperialismus an, aber sie zeigt gleichzeitig keine klare Kante gegen die westliche und deutsche imperialistische Einmischung, ja sie stützt diese mit der Verteidigung von Sanktionen gegen Russland.

In Palästina verurteilt die Partei zu Recht die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen durch die Hamas, aber sie weigert sich auch, die Legitimität des palästinensischen Widerstandes gegen die Unterdrückung durch Israel anzuerkennen. Stattdessen werden die utopische und reaktionäre Zwei-Staatenlösung und die Vermittlung durch die UNO beschworen.

Diese reformistische Grundausrichtung des Wahlprogramms ist natürlich nichts Neues, sondern bestimmt die Politik der Linkspartei seit ihrer Gründung. Inhaltlich brachte der Parteitag weder einen Neuanfang noch einen Bruch, sondern vielmehr Kontinuität auf der Basis eines nicht einmal allzu linken reformistischen Wahlprogramms, in dem auf 84 Seiten das Wort Sozialismus erst gar nicht erwähnt wird.

Plan 2025

Der „Aufbruch“ entpuppt sich aber nicht nur in dieser Hinsicht als mehr Schein als Sein. Anders als bei früheren Wahlen zum EU-Parlament geht DIE LINKE mit Spitzenpersonal aus der Partei und bekannten und anerkannten Aktivist:innen aus sozialen Bewegungen in den Wahlkampf. Die Kandidat:innen der Parteiführung erhielten anders als bei früheren Parteitagen durchweg gute Wahlergebnisse.

So erzielte der Spitzenkandidat und Parteivorsitzende Schirdewan 86,9 Prozent, ein Gegenkandidat aus dem Wagenknecht-Lager, der noch vor der Wahl seinen Austritt erklärte und sich als politischer Geisterfahrer zum Clown machte, verabschiedete sich mit 2 %. Die Umwelt- und Seenotaktivistin Carola Rackete wurde ohne Gegenkandidatin von 77,78 % gewählt. Die EU-Abgeordnete Özlem Demirel steht auf Listenplatz 3 mit 62,04 Prozent (gegen 28,86 % für Didem Aydurmus). Der Sozialmediziner Gerhard Trabert erzielte mit 96,81 % das weitaus beste Ergebnis des Teams der vier Spitzenkandidat:innen.

Klar ist aber auch eines: Die Wahlen in den Jahren 2024 und 2025 stehen im Zentrum der Aktivitäten der Linkspartei. So werden im „Plan 2025“ zum „Comeback der Linken“ die verschiedenen Urnengänge bis zur nächsten Bundestagswahl – für eine elektoral ausgerichtete Partei durchaus konsequent – als entscheidende „Etappenziele“ für den Aufbruch und Neuaufbau angeführt. Das Überleben und der viel bemühte „Gebrauchswert“ der Linkspartei hängen somit vor allem davon ab, ob wie Europawahl, die Landtagswahlen und vor allem die Bundestagswahl 2025 ausgehen werden.

Wahrscheinlich stehen der Partei in den kommenden Monaten noch etliche, womöglich mehrere Tausend Austritte von Anhänger:innen der Bewegung um Sahra Wagenknecht bevor, spätestens wenn die neue populistische Partei gegründet wird. Insofern sind die stetigen Verkündigungen von Neueintritten mit Vorsicht zu genießen. Umgekehrt wird DIE LINKE jedoch auch nicht kurzfristig zusammenbrechen. Die neue Einheit der Partei ohne Wagenknecht und Co. ist nämlich nicht bloß inszeniert. Regierungssozialist:innen und Bewegungslinke erwiesen sich nur als scheinbare Gegensätze. In Wirklichkeit bilden sie zwei Seiten einer Medaille. Es wächst zusammen, was zusammengehört – und das wird sicher dadurch erleichtert, als die Linkspartei in nächster Zukunft immer weniger in die Verlegenheit von Regierungsbeteiligungen kommen wird, also viel leichter ihr „Bewegungsgesicht“ zeigen kann. Schließlich wird sich DIE LINKE gegen alle anderen Parteien – einschließlich des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) – als einzige Partei präsentieren, die überhaupt den Rechtsruck in Deutschland beim Namen nennt und gegen diesen steht. Da dieser eine Realität ist, trifft sie damit ein reales Problem und es ist keineswegs auszuschließen, dass ihr das eine gewisse Anziehungskraft verleihen kann. Das eigentliche Problem besteht darin, dass DIE LINKE keine Antwort oder, genauer, eine falsche auf den Rechtsruck gibt.

Sie erkennt zwar an, dass diesem auch eine Krise der kapitalistischen Ordnung zugrunde liegt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert und die bürgerliche Demokratie samt der politischen Mitte erodieren lässt. Doch ihrer Vorstellung zufolge liegen dem nicht fallende Profitraten und eine strukturelle Überakkumulation von Kapital zugrunde, die ihrerseits die Konkurrenz, den Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die ökologische Krise verschärfen und den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen bilden. Der Reformismus hält auch diese Probleme im Rahmen einer „regulierten“ Marktwirtschaft für lösbar, sofern nur eine verfehlte, neoliberale Politik durch eine „richtige“ der Umverteilung, des sozialen Ausgleichs und der Demokratisierung ersetzt würde. Daraus ziehen diese Sozialist:innen den Schluss, dass heute keine revolutionäre Antwort möglich und sinnvoll sei, sondern dass man sich auf eine „realistische“ Reformpolitik konzentrieren müsse.

Darin liegt der bürgerliche, aber auch utopische Kern der Vorstellungen der Linkspartei. Auch wenn die sozialistische Revolution angesichts der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse in weiter Ferne zu liegen scheint, so erfordern alle großen Probleme unsere Zeit nichts weniger als eine revolutionäre Antwort – und das heißt zuerst auch den Bruch mit reformistischen Vorstellungen und den Kampf für den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei und -internationale.




Das Ende der Ära Rutte und die Dilemmata der niederländischen Linken

Fabian Johan, Neue Internationale 278, November 2023

Das niederländische Kabinett stürzte im Juli letzten Jahres aufgrund erheblicher Meinungsverschiedenheiten zwischen den regierenden Parteien der Koalition über die Migrationsfrage. Infolgedessen werden in den Niederlanden am 22. November Parlamentswahlen stattfinden, um eine neue Regierung zu wählen.

Mark Rutte, der die Niederlande dreizehn Jahre lang mit der VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) regiert hat, hat angekündigt, dass er bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten wird. Mit seinem Rückzug gehen 13 Jahre Rutte zu Ende und die politischen Karten in den Niederlanden werden neu gemischt.

Die Ära Rutte

Er, der bisher der bevorzugte Führer der niederländischen Bourgeoisie war, hat immer im Interesse der großen Konzerne, Banken und kapitalistischen Institutionen und nicht in dem der Arbeiter:innenklasse regiert. Für die arbeitende Bevölkerung hat Rutte eine schwierige Situation herbeigeführt, die durch unbezahlbaren Wohnraum, Teilprivatisierungen des Gesundheitssystems, unsichere Arbeitsplätze, ein sinkendes Bildungsniveau und sehr hohe Lebenshaltungskosten gekennzeichnet ist. Für die großen Banken, die Superreichen und die multinationalen Konzerne hingegen hat er Steuererleichterungen eingeführt, das Arbeitsrecht liberalisiert und ein günstiges Geschäftsklima für die Bourgeoisie geschaffen. In der Europäischen Union trieb er neoliberale Reformen voran, die die Macht weiter in den Händen des Monopolkapitals zentralisieren.

Doch warum ist Ruttes Zeit abgelaufen? Sein viertes Kabinett (von nun an Rutte IV) bestand aus einer Koalition von vier Parteien, der VVD (Volkspartij Voor Vrijheid en Democratie), D66 (Demokrat:innen 66), ChristenUnie (CU; Christ:innenunion) und Christen Democratisch Appèl (CDA; Christlich-Demokratischer Aufruf). Das Kabinett war von Anfang an instabil, seine Bildung dauerte mehr als 299 Tage und es gab viele interne Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Niederlande am besten regiert werden sollten. In der ursprünglichen Koalitionsvereinbarung waren die wichtigsten Punkte, die das Kabinett einte, eine 55 %ige Verringerung der CO2-Emissionen bis 2023, eine Verringerung des Stickstoffausstoßes, die Abschaffung der Vermieter:innensteuer, eine stärkere Regulierung des liberalisierten Wohnungssektors, eine Erhöhung des Mindestlohns um 7,5 % und mehr Geld für das Militär. Das letzte Versprechen hielt Rutte IV am treuesten, denn die niederländische Regierung unterstützte das ukrainische Militär in großem Umfang mit Ausrüstung, Panzern, Kampfjets und militärischer Ausbildung. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Löhne zwar erhöht, aber nur aufgrund von Streiks der Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft (NS) und anderer Beschäftigter im Verkehrssektor.

Rassismus und Rechtspopulismus

Am meisten versagt hat Rutte IV bei der Behandlung von Flüchtlingen und Asylbewerber:innen. Die Kriege in Syrien, Afghanistan, im Irak, Jemen und der Ukraine haben dazu geführt, dass Millionen von Menschen aus ihrem Land fliehen mussten. Flüchtlinge, die Monate und Jahre unter entsetzlichen Bedingungen auf der Flucht vor dem Krieg verbrachten, kamen in die Niederlande und mussten feststellen, dass die Bedingungen hier nicht viel besser sind. Keines von Ruttes Kabinetten hat nennenswert in die Verbesserung der Einrichtungen für Asylbewerber:innen investiert. Dafür mobilisierte aber die Rechte. Wenn die Regierung den Bau einer neuen Einrichtung ankündigt, kommt es häufig zu rechten Hasskampagnen gegen Migrant:innen. In einem Fall wurde sogar ein Hotel, das in eine vorübergehende Flüchtlingsunterkunft umgewandelt werden sollte, von örtlichen Faschist:innen niedergebrannt.

Zwischen 2019 und 2023 organisierten Großbäuer:innen zudem massive Proteste, bei denen sie mit Traktoren durch Den Haag fuhren, um sich gegen Umweltvorschriften zu wehren, die von ihnen eine Verringerung der Produktion verlangen würden. Diese Proteste wurden von FvD-, JA21- und PVV-Mitgliedern gut besucht und erhielten erhebliche Unterstützung von Menschen in kleineren Städten und auf dem Land (FvD: Forum für Demokratie; JA21: Partei in Nordholland; PVV: Partei für die Freiheit). Die großkapitalistische Agrarindustrie finanzierte die Gründung der Bürger:innen-Bäuer:innen-Bewegung (BBB), die der politische Ausdruck der reaktionären Bäuer:innenproteste ist und bei den nächsten Parlamentswahlen voraussichtlich 13 bis 16 Sitze erringen wird. Mit dem Rechtsruck der VVD wollte man die Stimmen der rechtsextremen Anhänger:innen von FvD, PVV, JA21 und BBB auf sich ziehen.

Mögliche Ergebnisse

Doch ein Sieg der VVD ist keineswegs sicher. Zur Zeit konkurrieren in den Umfrage drei Parteien darum, wer stärkte Fraktion im 150 Abgeordnete umfassenden Parlament wird: die VVD, die NSC (Nieuw Sociaal Contract; Neuer Sozialvertrag) oder die gemeinsame Liste von PvdA/GL (Arbeiter:innenpartei/Grün-Links) liegen in den Umfragen vorn und könnten 25 bis 30 Sitze erreichen. Alle drei wären im traditionell zersplitterten Parlament – zur Zeit sind darin 17 Parteien vertreten – auf Mehrparteienkoalitionen angewiesen, was an sich nichts Neues in den Niederlanden ist. Aber es wird komplizierter aufgrund der Umgruppierungen im bürgerlichen Lager.

Traditionell geben die Konservativen, die nicht für die VVD stimmen, ihre Stimme der CDA, einer christlichen Partei der Mitte-Rechts-Bewegung. Die CDA hat eine starke Basis in den kleineren Städten und Dörfern sowie in einem Teil der niederländischen Bourgeoisie. Infolge der Kabinettskrise hat sich die CDA gespalten. Einige ihrer Mitglieder schlossen sich dem eher rechtsgerichteten BBB an und treten bei den kommenden Wahlen als Kandidat:innen an. Eine große Gruppe Gemäßigter um das ehemalige CDA-Mitglied Pieter Omtzigt gründete die NSC, die versucht, der christlich-demokratischen Politik der CDA neues Leben einzuhauchen.

Obwohl sich die NSC für die soziale Sicherheit und Wiederherstellung des Vertrauens in die Regierung einsetzt, ist ihre Migrationspolitik genauso rechts wie die der VVD. Die Umfragen zeigen, dass die VVD, die NSC und die BBB zusammen zwischen 60 und 65 Sitze im Parlament erhalten könnten. Das gibt ihnen die Flexibilität, die anderen rechten Parteien auszuwählen, die mit ihnen eine Koalition eingehen.

Ein mögliches und sehr wahrscheinliches Ergebnis der Parlamentswahlen im November sind also große Siege für die Rechte. Obwohl er sich als Beschützer der sozialen Sicherheit, der Renten und der Arbeitsplätze positioniert, werden Pieter Otmzigt und die NSC nicht in der Lage sein, eine massive Sparwelle aufzuhalten, die darauf abzielt, alles zu privatisieren und einen autoritären Staat zu schaffen. Migrant:innen, Flüchtlinge und Asylbewerber:innen werden die ersten Opfer dieser Regierung sein und keine Verbesserung ihrer Situation im Vergleich zu ihrem Heimatland erleben.

Das andere mögliche Ergebnis ist ein Wahlsieg von PvdA-GroenLinks, die bei den Wahlen auf einem einzigen Ticket antreten. Seit Anfang der neunziger Jahre ist die niederländische Arbeiter:innenpartei (PvdA) nach rechts gerückt und hat ihre früheren linken Positionen aufgegeben.

Diese Veränderungen ermöglichten es ihr, in Ruttes zweitem Kabinett mitzuwirken und im Namen der Bourgeoisie zu regieren. PvdA-Führer:innen erhielten hochrangige Ministerposten und wurden mit der Drecksarbeit betraut, Ruttes Sparmaßnahmen durchzuführen, insbesondere im Bildungs- und Wohnungswesen. Im Jahr 2017 schnitt die PvdA bei den Wahlen schlecht ab und verlor viele Parlamentssitze. Dies war auf jahrelanges Missmanagement während der Regierungszeit mit der VVD zurückzuführen. Sie hat keine Perspektive, den Kapitalismus zu beenden oder die Arbeiter:innenklasse an die Macht zu bringen. Die PvdA ist also eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die kapitalistisch geprägt ist und ein bürgerliches Gesellschaftssystem verteidigt, deren soziale Basis aber die Arbeiter:innenklasse bildet.

GroenLinks hat eine etwas andere Geschichte, folgte aber einem ähnlichen Rechtsruck wie die PvdA in den 90er und 2000er Jahren. Im Jahr 1990 schlossen sich die ehemalige Kommunistische Partei (CPN), die Pazifistische Sozialistische Partei und zwei fortschrittliche christliche Parteien zu GroenLinks zusammen. Die progressiven christlichen Parteien, aus denen sich GroenLinks zusammensetzte, dominierten ihr Programm. In den 2000er Jahren bewegte sich GroenLinks weiter in Richtung Mitte und positionierte sich als liberale Partei und vertrauenswürdige Partnerin. Genau wie die PvdA war GroenLinks eine Juniorpartnerin der niederländischen Bourgeoisie und stimmte häufig für Gesetze, die die soziale Sicherheit, die Renten und Arbeit„nehmer“:innenrechte einschränkten. Die Partei hat in der Vergangenheit mit der VVD zusammengearbeitet, deren Standpunkte unterstützt und eine opportunistische Haltung eingenommen.

Den Umfragen zufolge ist es durchaus möglich, dass die PvdA-GroenLinks als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen wird. Die PvdA-GroenLinks-Allianz wird von Frans Timmerman angeführt, der an der Spitze der Europäischen Kommission stand und einer der Hauptverantwortlichen für den europäischen Green New Deal war. PvdA-GroenLinks hat ein Reformprogramm, mit dem einige der Probleme angegangen werden sollen, die in 13 Jahren Rutte entstanden sind, z. B. Klimawandel, Wohnungskrise, teure Gesundheitsfürsorge, hohe Verschuldung von Student:innen, verstärkter Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, Erhöhung des Mindestlohns.

Sollte die PvdA-GroenLinks die Wahl gewinnen, müsste sie eine Koalition mit Parteien des bürgerlichen Zentrums oder sogar mit den Rechten bilden, um zu regieren. Damit wären ihre Reformversprechen gleich zu Beginn kassiert.

Sozialistische Partei (SP)

Die Sozialistische Partei bleibt die fortschrittlichste Partei und hat Verbindungen zur Arbeiter:innenbewegung. Sie ist in den 1970er Jahren aus der maoistischen Bewegung hervorgegangen, wandelte sich jedoch zur einer reformistischen Partei. 1994 gab sie den Marxismus ganz auf. Die Führer:innen der SP sehen sich selbst eher als linke Sozialdemokrat:innen denn als revolutionäre Sozialist:innen. Sie betrachten den Sozialismus als eine Verteidigung des Wohlfahrtsstaates und formulieren ihre Politik eher in ethischen als in politischen Begriffen. Die SP ist somit eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, die zwar bedeutende Stimmen aus der Arbeiter:innenklasse erhält, deren Führung und Organisation aber strukturell auf das kapitalistische System ausgerichtet ist.

Deutlich lässt sich das an ihrer problematischen Position zur Migration zeigen, die sie schon seit den 1980er Jahren vertritt. Die SP fordert Einwanderungskontrollen, die ihrer Ansicht nach die Rechte der Lohnabhängigen schützen und die ungeregelte Einwanderung einschränken würden. Anstatt für Einwanderungskontrollen einzutreten, sollte die SP dazu aufrufen, die Migrant:innen zu organisieren und die Gewerkschaftsbewegung ermutigen, den Kampf für ihre Rechte anzuführen. Die SP vertritt außerdem eine euroskeptische Haltung und möchte die Herrschaft der „nicht gewählten Bürokrat:innen in Brüssel“ beenden und die Entscheidungsgewalt in den Händen der niederländischen Regierung konzentrieren.

Die SP vertritt zugleich fortschrittliche Positionen zur Gesundheitsversorgung, zum Wohnungsbau, zur Studienfinanzierung, zur Verstaatlichung von Versorgungs- und Verkehrsbetrieben und zur Besteuerung von Superreichen und Großkonzernen.

Obwohl die Partei keine formale Beziehung zum größten Gewerkschaftsverband, dem FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging; Niederländischer Gewerkschaftsbund), hat, sind viele niederländische Gewerkschafter:innen in der SP aktiv und stimmen für sie. Ihr derzeitiger Vorsitzender, Tuur Elzinga, vertrat die SP von 2006 bis 2017 in der Ersten Kammer des Parlaments. Die SP führt häufig Kampagnen der Gewerkschaften im Parlament durch, wie z. B. die Voor14-Kampagne, die einen Mindeststundenlohn von 14 Euro anstrebte (und inzwischen durch eine Kampagne für einen 16-Euro-Stundenlohn ersetzt wurde). Wir empfehlen eine kritische Stimmabgabe für die SP bei den Wahlen am 22. November.

Wir lehnen jede Beteiligung der SP an einer bürgerlichen Koalitionsregierung ab, auch an einer von PvdA-GroenLinks geführten. Stattdessen sollte SP, Gewerkschaften und soziale Bewegungen gegen die nächste bürgerliche Regierung und deren Angriffe mobilisieren.

Rolle der Gewerkschaften

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen ist es von entscheidender Bedeutung, die Gewerkschaftsbewegung in den Niederlanden zu stärken. In den Jahren 2022 und 2023 gab es einige groß angelegte Streiks im Verkehrs- und Gastgewerbesektor. In Schiphol (Flughafen Amsterdam) organisierten die Gepäckarbeiter:innen und das Sicherheitspersonal im April 2022 einen Streik, der zur Streichung von Flügen und zur Schließung des gesamten Flughafens führte. Die Gewerkschaft FNV unterstützte den Streik zunächst nicht, übernahm dann aber im Sommer die meisten Forderungen und erreichte erhebliche Verbesserungen des Tarifvertrags (CAO; Kollektives Arbeitsabkommen), der für alle Beschäftigten in Schiphol gilt. Später im November organisierten die Beschäftigten der nationalen Eisenbahngesellschaft NS Streiks, durch die der Zugverkehr für einige Tage vollständig eingestellt wurde. In der Folge erreichten sie enorme Lohnerhöhungen, inflationsbereinigte Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Obwohl nur etwa 15 % der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, zeigen diese Streiks, dass die arbeitenden Menschen in den Niederlanden gewinnen können, wenn sie aktiv werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die niederländische Gewerkschaftsbewegung aufzubauen und insbesondere die Organisation der Basis zu stärken.

Die vergangenen neoliberalen Regierungen sowie alle derzeitigen linken und rechten Parteien haben von „Teilhabe“ gesprochen. Wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist nur durch einen revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und die Organisation der Massen in Arbeiter:innenräten möglich. Nur wenn die arbeitenden Menschen ihre eigenen unabhängigen Organisationen haben – Räte, Nachbarschaftskomitees, Organisationen der Unterdrückten (d. h. Frauen, trans Personen, Migrant:innen, nationale Minderheiten) und von Mitgliedern geführte Gewerkschaften – können sie wirklich an der Gesellschaft teilhaben. Um eine radikale Transformation der Niederlande in der Nach-Rutte-Ära zu gewährleisten, müssen wir linke Organisationen aufbauen, die es den Arbeiter:innen ermöglichen, echte Macht auszuüben und die Kräfte zum Sturz der niederländischen Bourgeoisie vorzubereiten. Dies erfordert einen revolutionären Angriff nicht nur auf die niederländische Bourgeoisie, sondern auf das gesamte internationale kapitalistische System.

Ein Schlüsselelement für den Bruch mit dem Kapitalismus ist ein revolutionäres sozialistisches Programm, das die aktuellen Kämpfe der Arbeiter:innen mit dem langfristigen Ziel der sozialistischen Transformation verbindet. Dazu ist eine revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse in den Niederlanden notwendig, die Teil eines größeren Kampfes für eine vereinigte sozialistische Föderation Europas wäre.




Landtagswahlen in Bayern: Wahldebakel für die Ampel, weiterer Rechtsruck

Helga Müller, Infomail 1233, 10. Oktober 2023

Diverse Wahlprognosen hatten ja schon vorausgesagt, dass die AfD und die Freien Wähler in Bayern von dem Verlust der SPD, FDP und Die Grünen/Bündnis 90, aber auch von der CSU profitieren werden. Auch wenn das Ergebnis nicht ganz so extrem ausfiel wie prognostiziert, bedeutet der Wahlausgang eine Niederlage für die gesamte Arbeiter:innenbewegung inkl. der Gewerkschaften, SPD und Die LINKE. Aber er offenbart auch die Schwäche der linken Kräfte insgesamt mehr als deutlich. Dieses Ergebnis kann nicht damit beschönigt werden, dass Bayern schon immer ein besonderes Bundesland war und ist. Auch bei der Landtagswahl in Hessen hat sich eine ähnliche Tendenz ergeben – mit Ausnahme der CDU, die noch gegenüber der letzten Wahl zugenommen hat.

Mit diesen beiden Wahlen hat nun die AfD endgültig den Sprung von Ostdeutschland in die Landesparlamente zweier großer westdeutscher Flächenstaaten geschafft, entsprechend frohlocken ihre Bundesgrößen in den Medien. Auch das Ammenmärchen von der besonderen Bindung der ostdeutschen Bevölkerung an sie ist damit Lügen gestraft worden.

Das Ergebnis

Doch bevor wir weiter in die Analyse einsteigen, zunächst einmal ein paar Worte zum vorläufigen Wahlergebnis der Landtagswahlen in Bayern vom 8.10.2023:

Die CSU bleibt zwar mit 37 % stärkste Partei, rutscht aber noch unter ihr desaströses Wahlergebnis bei der letzten Landtagswahl von 2018 mit 37,2 % – das schlechteste seit 1950. Eine stabile Regierung unter einer starken CSU ist damit in Frage gestellt. In Umfragen hatte das Ergebnis für sie noch schlechter ausgesehen. Sie konnte noch etwas zulegen, weil sie sich in der Frage der Zuwanderung zusehends an die Positionen der AfD angenähert hatte. CDU-Oppositionsführer Merz war sich auch nicht zu blöd in seiner Bilanz der beiden Landtagswahlen, seine rechtspopulistischen Aussagen zu Asylsuchenden, die zum Teil auch in seiner eigenen Partei umstritten waren, als Beitrag zum Wahlerfolg seiner Partei zu deklarieren. So weit zur Brandmauer der Union zur AfD! Zwar sah es lange in den Hochrechnungen so aus, dass die Grünen/Bündnis 90 die zweitstärkste Kraft in Bayern werden würden, aber dies schafften die Freien Wähler  mit 15,8 % der abgegebenen Stimmen und gewannen damit gegenüber 2018 4,2 % hinzu. Noch nicht einmal drittstärkste Kraft und damit Anführerin der Opposition im Bayerischen Landtag wurden sie, sondern die AfD mit 14,6 %! Sie erhöhe ihr Wahlergebnis um 4,4 % – der stärkste Zuwachs für eine Partei bei dieser Wahl. Sie hätte sicherlich wie in Hessen das Potential, zur zweitstärksten Partei in Bayern zu werden, wären da nicht die Freien Wähler mit der unsäglichen Aiwangeraffäre um das antisemitische Flugblatt und dem rechtspopulistischen Auftritt des stellvertretenden Ministerpräsidenten auf einer Kundgebung gegen das Heizungsgesetz im Juni in Erding bei München. Dies hat paradoxerweise zu einer Stärkung der Freien Wähler geführt, was aber auch zeigt, welche rechtskonservative bis -radikale Stimmung dort vorherrscht.

Die viertstärkste Kraft wurden die Grünen/Bündnis 90 knapp hinter der AfD mit 14,2 %. Sie verloren 3,2 % gegenüber ihrem Rekordergebnis von 2018.

Die SPD schaffte es zwar im Gegensatz zur FDP noch einmal in den Landtag mit lächerlichen 8,4 % und verliert somit „nur“ 1,3 %. Damit fuhr sie das schlechteste Wahlergebnis in Bayern aller Zeient ein. Dieser geringe Zuspruch ist eine Wahlschlappe und eine Ohrfeige für die SPD.

Die FDP kommt mit 3 % – einem Minus von 2,1 Prozentpunkten – nicht mehr in den Landtag. (Alle Zahlen nach „merkur.de“ vom 9.10.23).

Die LINKE wird in den meisten Veröffentlichungen gar nicht mehr aufgelistet und verschwindet somit vollends in der Bedeutungslosigkeit, auch wenn auf den Wahlplakaten trotzig „Bayerns Opposition“ stand. Sie lag bei 1,5 % und verlor 1,8 Prozentpunkte. (Zahlen nach sueddeutsche.de vom 9.10.23). Auch außerhalb des Landesparlaments kriegt man von der Partei nicht viel von Oppositionsarbeit mit.

Die Wahlbeteiligung fiel mit 73,3 % etwas höher als 2018 (72,4 %) aus. Trotzdem kann man sagen, dass diese Wahl anscheinend von vielen auch nicht als eine Entscheidungswahl gesehen wurde oder sie fühlen sich von keiner Partei angesprochen!

Kommentare und Bedeutung

Alle Kommentator:innen betonen, dass diese beiden Wahlen vor allem auch eine Abrechnung mit der Politik der Ampelkoalition in Berlin symbolisierten und diese ganz offensichtlich abgemahnt wurde. Zu denken geben natürlich sowohl in Bayern als auch bei den Landtagswahlen in Hessen, wo die AfD mit 18,4 % (einem Plus von 5,3 Prozentpunkten) zweitstärkste Kraft wurde, der hohe Zuspruch für die AfD auf der einen und der geringe für die SPD (in Hessen 15,1 %, ein Minus von 4,7 Prozentpunkten) und für DIE LINKE (in Hessen 3,1 % ein Minus von 3,2 Prozentpunkten) auf der anderen Seite. D. h. beide Parteien sind nicht mehr in der Lage, ihre eigentliche Klientel – die Lohnarbeiter:innenschaft, aber auch Frauen, Erstwähler:innen etc. – an sich zu binden. Das ist aber auch ein Trend, der schon länger zu beobachten ist.

Die SPD wird aufgrund ihrer seit Jahrzehnten andauernden unternehmerfreundlichen, Sozialabbau- und mittlerweile auch ihrer Aufrüstungspolitik schon lange nicht mehr als politische Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung wahrgenommen. Das Ergebnis der Bundestagswahl vor zwei Jahren erscheint im Lichte der beiden Landtagswahlen als ein überraschendes Zwischenhoch. Aber DIE LINKE, die ihre Entstehung der Krise der SPD zu verdanken hatte, kann von dieser Schwäche nicht profitieren. Sie ist aufgrund ihrer inneren Zerstrittenheit nicht in der Lage, eine Massenattraktivität für die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Jugendlichen, Frauen, LGBTQIA+, Rentner:innen oder Migrant:innen aufzubauen (auch nicht mehr in Ostdeutschland). Aber nicht nur ihre Zerstrittenheit – z. B. die Diskussion um den linkspopulistischen Flügel von Sahra Wagenknecht –, sondern vor allem ihre harmlose reformistische Programmatik, um sie regierungsfähig zu machen, tragen massiv dazu bei.

Diese Krise des Reformismus zeigt sich auch an der Wählerwanderung: Für die AfD in Hessen macht Infratest dimap die Hauptunterstützer:innen in den (normalen) Arbeiter:innenschichten und Menschen mit einfacher Bildung aus. Man muss natürlich dazu sagen, dass vor allem Mittelschichten, die Angst vor einer sozialen Degradierung empfinden, die eigentliche Basis für die AfD darstellen.

Diese Schwäche kann die AfD mit ihren rechtsradikalen Themen wie der „massenhaften“ Zuwanderung besetzen und lenkt damit von der eigentlichen Ursache der Krise, die die Menschen weltweit – auch in den reichen Industrienationen – zu spüren bekommen, ab.

Auch die Gewerkschaften befinden sich in einer tiefgehenden Krise, stehen sie doch in allen wichtigen Fragen fest an der Seite der regierenden SPD.

Versagen des Reformismus

Auf die wirklichen Fragen, vor denen die Arbeiter:innenklasse steht wie die effektive Bekämpfung der Inflation, des Arbeitsplatzabbaus, der Klimaveränderung, der  Aufrüstung, des Sozialabbaus durch das 30-Milliarden-Sparprogramm der Ampelkoalition, des Pflegenotstands, der Bildungsmisere und nicht zuletzt der Umgang mit Asylsuchenden, finden weder DIE LINKE noch die Gewerkschaftsführung eine Antwort. Damit treiben sie letzten Endes die Kolleg:innen in die Hände rechtspopulistischer Kräfte wie die Freien Wähler und rechtsradikaler Kräfte wie eben die AfD mit ihren rassistischen, antisemitischen und Antiestablishment-Antworten.

Anstatt die wahren Verursacher:innen und Profiteur:innen der Krise und letzten Endes auch der Zunahme von Migration zu nennen – nämlich die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken – und gegen diese zu mobilisieren in großen Demonstrationen, aber auch konsequenten Streiks, setzen sie nach wie vor auf Sozialpartnerschaft und eine Bändigung des Kapitalismus – durch die Wiederbelebung einer grünen sozialen Marktwirtschaft.

Die Landtagswahlergebnisse haben gezeigt – wie wir es ja in Deutschland auch in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt haben –, dass es in Krisenzeiten immer eine Polarisierung nach rechts und links gibt. Wir erleben leider heute eine eindeutige Polarisierung nach rechts bis hin zu rechtsradikalen bis neonazistischen Kräften. Die linke Bewegung insgesamt dagegen steckt in einer tiefgehenden Krise.

Nach der Landtagswahl in Bayern wird sich die alteingesessene CSU aufgrund ihrer Wahlschlappe und des Anstiegs der Freien Wähler als auch der AfD noch stärker nach rechts bewegen und sich noch stärker populistischen Themen wie der Zuwanderung widmen.

Konsequente Arbeiter:innenpolitik statt Rechtsruck, „Einheit der Demokrat:innen“ und Sozialpartnerschaft!

Von daher stellt sich jetzt die Frage: Wie werden die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung – allen voran die Gewerkschaften und DIE LINKE, aber auch Teile der SPD – mit diesem gefährlichen Rechtsrutsch umgehen? Schon einmal in unserer Geschichte haben diese Organisationen die Gefahr von ganz rechts unterschätzt und auf die Einheit der Demokrat:innen geschworen, um dann als Erste verfolgt, verboten und eingesperrt zu werden.

Einhalt gebieten kann man der AfD nicht mit Hochglanzbroschüren, um über ihren wahren Charakters aufzuklären, wie es der DGB Bayern in der Wahlkampagne angestellt hat oder mit schönen Wahlkampfreden und -veranstaltungen von SPD und Linken zur sozialen Frage (Mieten, Gesundheit, Bildung etc.) im Wahlkampf.

Auch nicht mit „Wohlfühl“kundgebungen gegen die AfD – wie in München auf dem Odeonsplatz kurz vor der Wahl mit immerhin 35.000 Teilnehmer:innen unter dem Motto „Zammreißen in Bayern gegen rechts“ –, zu der alle Demokrat:innen, auch die FDP, aufgerufen waren. Letztere will im Bund gerade einen Sparhaushalt gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen.

Sondern jetzt wäre es dringlicher notwendiger denn je, dass diese jetzt die Initiative ergreifen – nicht nur in Bayern oder Hessen, aber durchaus hier beginnend. Sie müssen aufgefordert werden, große und machtvolle Demonstrationen gegen Sozialabbau, Aufrüstung und Vorbereitung auf Kriege, für Klimaschutz, der seinen Namen auch verdient, und auch die Aufnahme aller Asylsuchenden mit entsprechender Ausstattung der Kommunen vorzubereiten. Zahlen sollen die vielen Krisengewinnler:innen – die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken mit der Einführung einer progressiven Kapitalsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer usw. Die jetzt kommenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder muss dazu genutzt werden, Einkommenserhöhungen durchzusetzen, die die Inflation auch wirklich bekämpfen. Dafür ist es auch notwendig, sie dazu nutzen, um den Widerstand gegen Hochrüstung und Sozialabbau aufzubauen. Die zu erwartende Ablehnung der Forderungen der Kolleg:innen im öffentlichen Dienst durch die Länder kann nur ernsthaft bekämpft werden, wenn ver.di auch gegen die gesamte Politik der Regierung vorgeht!

Wir dürfen aber nicht abwarten, bis unsere Gewerkschaften aktiv werden, sondern müssen uns selbst für unsere Interessen organisieren und Kampfstrukturen aufbauen, um unseren Kampf zu diskutieren und zu lenken: gegen jeden faulen Kompromiss und Ausverkauf durch die Gewerkschaftsführungen! Wir müssen dies aber auch gegenüber den Gewerkschaftsverantwortlichen einfordern und diese nicht aus der Pflicht lassen!




Polen vor der Wahl

Markus Lehner, Infomail 1233, 6. Oktober 2023

Die Parlamentswahlen am 15. Oktober in Polen werden allgemein als Schicksalswahl bezeichnet. Nicht dass es wie 1989 um grundlegende Fragen der Eigentumsverhältnisse ginge, aber ein dritter Wahlerfolg der rechtsnationalistischen PiS (Partei für Recht und Gerechtigkeit) würde die schon bestehenden autoritären Tendenzen verschärfen, wenn nicht für längere Zeit unumkehrbar machen.

Bilanz der PiS

Die PiS-Regierungen schafften es in den letzten Jahren, wesentliche Merkmale liberaler Demokratie zu unterhöhlen. Bekannt sind vor allem die Justizreform (direkter politischer Einfluss auf die Ernennung von Richter:innen) und die Kontrolle über die öffentlichen Medien. Beides entscheidend, um die nationalkonservative „Wende“ durchzusetzen, die sich z. B. in einer de facto Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, von Rechten von LGBTIAQ-Menschen, von nationalen Minderheiten und Geflüchteten etc. ausdrückt. Sie beinhaltet auch eine weitere Stärkung der gesellschaftlichen Rolle der besonders konservativen katholischen Kirche in Polen. Bezeichnend ist die jüngste Episode um die Enthüllung eines Privatsenders über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die vom ehemaligen Papst Johannes Paul II. als Erzbischof von Krakau gedeckt worden waren. Diese Enthüllungen führten zu reaktionären Massendemonstrationen gegen diesen „Angriff auf das Andenken des Heiligen“ und darauffolgend zu einer Gesetzesinitiative der PiS-Regierung, die solche Angriffe auf den Geheiligten unter Strafe stellt (wie auch schon früher Veröffentlichungen über polnische Beteiligungen an der Verfolgung der Jüd:innen im Zweiten Weltkrieg gesetzlich mit schweren Strafen verbunden wurden).

Diese eindeutig reaktionäre Charakteristik der PiS hat allerdings sozialpolitisch eine Kehrseite: Die oppositionelle PO (Bürgerplattform) unter dem damaligen Ministerpräsidenten (2007 – 2014) Donald Tusk zeichnete sich durch besonders neoliberale Angriffe auf soziale Bedingungen von Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen aus, z. B. Erhöhung des Renteneintrittsalters, Verschlechterung von Gewerkschaftsrechten, Streichung von Sozialleistungen, radikale Privatisierungen. Dies führte nicht nur zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Lage vieler Rentner:innen und der Verschlechterung des Zugangs zum Gesundheitssystem, sondern auch zu wachsenden sozialen Protesten gegen die PO-Regierung.

Die Situation der polnischen Arbeiter:innenklasse war seit der Wende 1989 durch das Problem der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung geprägt (heute gibt es drei mittelgroße Gewerkschaftsverbände bei einem niedrigen Organisationsgrad von 12 %). Die großen Illusionen in „Solidarnosc“ als gewerkschaftliche und politische Kraft (mit über 10 Millionen Mitgliedern bei ihrer Gründung und rund 2 Millionen im Jahr 1989) zerbrachen schnell in der Periode der Schocktherapie. Während sie in den frühen 2000er Jahren als politische Gruppierung in der Bedeutungslosigkeit versank, ist sie als NSZZ Solidarnosc (Unabhängige selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität) heute eher eine typisch „christliche Gewerkschaft“ und mit 600.000 Mitgliedern auf das Niveau der ehemaligen Staatsgewerkschaft OPZZ (Bundesweiter Gewerkschaftsbund) gesunken, die der Linken nahesteht und zumeist in Arbeitskämpfen radikaler auftritt. Der dritte Verband FZZ (Gewerkschaftsforum) versteht sich als „neutrale“ Gewerkschaft zwischen den beiden Blöcken. Gegen die Tusk-Regierung waren sich allerdings alle Gewerkschaften erstmals einig und mobilisierten auch erfolgreich, was zum Sturz der neoliberalen PO-Regierung 2015 beigetragen hat. Allerdings ist es seitdem mit ihrer Einheit auch wieder vorbei, nachdem Solidarnosc offensiv die PiS unterstützt. Dies ist auch verbunden damit, dass die PiS einige Forderungen der Gewerkschaft aufgegriffen hat, insbesondere was das Zurückdrehen der Rentenreform betrifft, aber auch den Ausbau bestimmter Sozialleistungen, z. B. Das 500+-Kindergeld, das im gegenwärtigen Wahlkampf auf 900+ auszudehnen versprochen wird (ein Zloty entspricht zurzeit 0,22 Euro).

Polens Wirtschaft bis zur Pandemie

Diese Politik der „sozialen Wohltaten“ für „echte Pol:innen“ war möglich geworden durch die zeitweise günstige wirtschaftliche Entwicklung seit etwa 2005. Selbst während der „Großen Rezession“ gab es in Polen positive Wachstumszahlen, anders als in den meisten anderen europäischen Ländern. Diese Entwicklung basierte auf erhöhten Ausbeutungsraten der polnischen Arbeiter:innenklasse (längere Arbeitszeiten, niedriges Lohnniveau, geringe betriebliche Rechte etc.), einem trotzdem gewichtigen Binnenmarkt, günstigen Energiekosten (Kohle und Öl auch aus Russland!) und einem Anschluss an die Lieferketten insbesondere der deutschen Industrie. Das kräftige Wirtschaftswachstum über mehr als ein Jahrzehnt schien Polen auf ein Niveau mit den großen westeuropäischen Ökonomien zu führen.

Die sozialen Zugeständnisse der PiS-Regierung seit 2015 und die weiterhin günstige wirtschaftliche Entwicklung stärkten sowohl ein neues nationales Selbstbewusstsein im Kleinbürger:innentum, als auch Illusionen vieler Arbeiter:innen in die PiS als „kleineres Übel“ angesichts der Erfahrungen mit der PO und der sozialdemokratischen SLD (Bund der Demokratischen Linken). Die PO führte im Wesentlichen die „Reformen“ der SLD-Regierungen der 2000er Jahre fort. Dies erklärt auch den Erfolg der PiS bei den letzten Wahlen 2019. Damals gewann sie 6 Prozent hinzu und siegte mit 43,6 % klar vor dem Wahlbündnis der PO (27,4 %). Das Linksbündnis Lewica (Linke) konnte sich mit 12,6 % (+1,4 %) leicht verbessern und insgesamt stabilisieren. In diesem Bündnis trat neben der SLD auch erstmals die 2015 gegründete „Razem“ („Gemeinsam“) an. Insgesamt errang die PiS im Rahmen der Fraktion „Vereinigte Rechte“ eine Parlamentsmehrheit und war nicht auf Koalitionspartner:innen, z. B. die rechtsextreme „Konfederacja“ (Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit; 6,8 %), oder eine Allianz mit der Bäuer:innenpartei PSL (8,6 %) angewiesen.

Veränderung der ökonomischen Lage

Inzwischen hat sich die ökonomische Lage wie auch die außenpolitische Situation vollständig gewandelt. Polen wurde spätestens durch die Coronakrise schwer getroffen wie auch von der folgenden Lieferkettenkrise und den weltweiten Inflationstendenzen. Es weist die höchste Inflationsrate in Europa (derzeit bei 12 %) auf, ist weit von einem Wiedererreichen des Vorcoronaniveaus entfernt (das letzte Quartal zeigt sogar einen Einbruch von – 8,5 %). Insgesamt leidet die Ökonomie sowohl unter steigenden Energiekosten seit dem Beginn des Ukrainekriegs als auch unter allgemeinen Transformationsproblemen. Dazu zählen z. B. die Auflagen zum Ausstieg aus der Kohleförderung wie auch der Umbau der Automobilindustrie (einige deutsche Automobilfirmen haben in diesem Jahr Personal in polnischen Werken abgebaut).

Kein Wunder, dass die PiS-Regierung nicht nur zur Justizreform, sondern auch zum EU-Transformationsprogramm mit Brüssel, dem Green Deal, auf Konfrontationskurs steht. Inzwischen haben sich die Strafzahlungen an die EU auf über eine halbe Milliarde Euro angesammelt. Gravierender ist aber die Einbehaltung von 35 Milliarden aus dem Coronawiederaufbaufonds der EU. Polen ist nicht im Euro und muss daher seine Währung durch besonders hohe Zinsen abfangen, auch um ein weiteres Steigen der Inflation zu vermeiden. Dies und das Zurückhalten der billigen EU-Kredite aus dem Fonds führt zu stark verschlechterten Finanzierungsbedingungen, was sich insbesondere im Baubereich und bei der Verschuldung im privaten Sektor stark bemerkbar macht. „Innovative“ Regierungsgeschenke wie „Kreditferien“ (Aussetzen von Ratenzahlungen) tragen ihrerseits nicht zur Bonität des polnischen Finanzsystems bei. Die Regierung steht wirtschaftlich derartig unter Druck, dass sie seit einiger Zeit einen Kompromiss mit der EU in Bezug auf die Justizreform anstrebt, um die Freigabe des Coronafonds zu erreichen. Sie scheitert damit aber an ihren Verbündeten in der rechten Fraktion, insbesondere dem Justizminister. Ergebnis ist weitere nationalistische Propaganda in Bezug auf „deutschen Kolonialismus“, der aus Brüssel betrieben würde. Insbesondere der Führer der oppositionellen PO, der nach seiner Zeit als EU-Ratspräsident (2014 – 2019) nach Polen zurückgekehrte Donald Tusk, wird inzwischen systematisch als „deutsche Marionette“ auch und insbesondere in den Staatsmedien verunglimpft.

Konfrontation PiS-PO

Höhepunkt der Kampagne war sicherlich die Verabschiedung des allgemein als „Lex Tusk“ bezeichneten sogenannten „Antiagentengesetzes“. Dieses sollte vordergründig Menschen, die Agententätigkeit für Russland betrieben hatten, aus Staatsämtern und insbesondere auch Kandidaturen für solche ausschließen. Dabei wurde jedoch in den ersten Entwürfen des Gesetzes „Agententätigkeit“ so weit gefasst, dass auch „nachgiebige Politik“ gegenüber Russland als solche bezeichnet werden konnte – und zufälligerweise wurden vor allem Beispiele von Vereinbarungen mit Russland aus der Regierungszeit von Tusk bzw. seiner Zeit im EU-Rat zitiert. Es war mehr als offensichtlich, dass man ihn – als möglichen Hauptgegner bei den jetzigen Parlamentswahlen – aus dem Rennen nehmen wollte. Für ihn und die PO war dies andererseits eine gelungene Vorlage, um die wachsende Zahl der Menschen, die von den autoritär-reaktionären Wendungen der PiS abgestoßen sind, hinter sich zu versammeln und mehrere Massenkundgebungen zu organisieren. Alleine im Juni waren etwa eine halbe Million Menschen auf der Protestversammlung; die letzte fand jetzt am 1. Oktober statt. Nach Intervention aus Brüssel und auch der US-Regierung musste das Gesetz wesentlich entschärft werden.

Die PiS konterte diese Oppositionsmobilisierungen mit den schon erwähnten Demonstrationen zur Verteidigung von Johannes Paul II. und dem Schüren von Hass gegen Migrant:innen. Dazu kam man auf die „geniale“ Idee, die Wahl am 15. Oktober mit einer Volksabstimmung zu verbinden, bei der man beantworten kann, ob man dafür ist, dass tausende „Illegale“ wie von der EU gefordert in Polen aufgenommen werden müssten. Mit dieser Scheinfrage kann man in den Staatsmedien auf Steuerkosten billige Wahlkampfsendezeit verbraten. Peinlich nur, dass vor Kurzem ein Korruptionsskandal in Bezug auf den Verkauf von EU-Migrationsdokumenten aufflog, an dem führende PiS-Funktionär:innen maßgeblich beteiligt waren. Tatsächlich ist dies auch nur einer von vielen Skandalen, in die die PiS-Partei inzwischen verwickelt ist – so dass auch von dieser Seite her viele in Polen inzwischen die Nase von dieser Partei voll haben.

Trotzdem verfängt sowohl ihre nationalistische wie soziale Demagogie weiterhin – und anhaltend gibt es berechtigte Ablehnung des Wirtschafts- und Sozialprogramms der PO von Donald Tusk. Daher steht die Wahl nach den jüngsten Umfragen weiterhin Spitz auf Knopf. Die PiS wird wohl einige Prozentpunkte verlieren. Umfragen prognostizieren 38 %, womit sie nicht mehr weit entfernt von einer gestärkten PO wäre, deren Wahlbündnis etwa 32 % erwarten kann.

Andere Parteien

Lewica dürfte angesichts der Polarisierung etwas verlieren, aber mit um die 10 % weiterhin sicher im Parlament vertreten sein. Bedenklich sind auch die prognostizierten 10 % der inzwischen immer rechtsextremer auftretenden Konfederacja, die als einzige der aussichtsreichen Parteien für einen Austritt aus der EU wirbt (und damit selbst für die PiS schwer als Koalitionspartnerin infrage kommt). Wahlentscheidend dürfte das Abschneiden des Zentrumsblocks aus PSL und der Polska 2050 (eine Partei des „dritten Lagers“, meist aus ehemaligen PO-Mitgliedern). Sollte er die 8 %-Hürde, die in Polen für Wahlbündnisse besteht, überwinden, hätte die PiS wahrscheinlich verloren. Sollte es das Bündnis jedoch nicht schaffen, könnte die PiS wohl wie bisher weitermachen.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Wochen vor allem um die Basis der PSL, die Bäuer:innenschaft gekämpft wird.  Deren Bedeutung lässt sich an der Tatsache ablesen, dass in Polen noch 12 % der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt sind. Insbesondere die Proteste gegen Billiggetreide aus der Ukraine führten offenbar bei der PiS zu Panik, da sie um ihre satte Unterstützung auf dem Land und vor allem im Osten von Polen fürchtete. Prompt begann die polnische Regierung, das EU-Getreideabkommen mit der Ukraine zu torpedieren und sogleich, überhaupt (nicht nur polnische) Waffenlieferungen, wenn auch nur als Verhandlungsfaustpfand, infrage zu stellen. Nichts davon hat wirklich Substanz, zeigt aber, wie leicht in Polen mit den historischen antiukrainischen Ressentiments Politik gemacht werden kann – und wie fragil selbst die „unumstößliche“ Unterstützung Polens für die bedrängte Ukraine ist.

Drohende Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse

Die polnischen Arbeiter:innen wie auch die Millionen ausgebeuteten Ukrainer:innen, die nicht erst seit dem Krieg in Polen als Billigarbeitskräfte eingesetzt werden, haben jedenfalls angesichts der ökonomischen und politischen Lage weder von einer PiS noch einer PO-geführten Regierung irgendetwas anderes als massive Angriffe zu erwarten. Sicherlich würde eine Fortsetzung der PiS-Regierung eine weitere Verstärkung autoritär-reaktionärer Repression bedeuten, der so oder so massive gesellschaftliche Mobilisierung entgegengesetzt werden muss. Beide politischen Lager wären aber angesichts der Verschuldung und der ökonomischen Einbrüche auch zu weiteren Verschlechterungen bei Arbeitsbedingungen und sozialen Leistungen bereit. Wie weit die PiS-Regierung hier gehen kann, hat sie schon beim jüngsten Lehrer:innenstreik gezeigt.

Insofern erscheint das reformistische Wahlbündnis Lewica als einzige Alternative und insbesondere Razem als einzig sichtbare linke Kraft in den größeren Mobilisierungen. Schon im Februar hatten sich 5 größere Gruppierungen für ein erneutes gemeinsames Antreten als „Nowa Lewica“ (Neue Linke) zusammengefunden: die SLD, Wiosna („Frühling“), die PPS (Polnische Sozialistische Partei), Unia Pracy (Arbeitsunion) und Razem. Razem ist international durch eine stärker jugendliche Basis und Verbindungen in Deutschland etwa zur IL oder zur Linkspartei bekannt. International war sie lange Zeit im Rahmen der „Progressiven Internationale“ von Varoufakis und Sanders aktiv. Aus letzterer trat sie allerdings nach Beginn des Ukrainekrieges wegen der mangelhaften Solidarisierung mit der vom russischen Imperialismus überfallenen Ukraine aus. Razem hatte (stärker noch als die anderen genannten Organisationen) eine wichtige Rolle in den gesellschaftlichen Mobilisierungen gegen die reaktionäre PiS-Politik gespielt, insbesondere in den radikaleren Protesten der Frauenbewegung (v. a. zum Abtreibungsrecht), den Kämpfen um LGBTIAQ-Rechte, aber auch bei Protesten rund um die wachsenden Sektoren prekärer Beschäftigung (was man auch in Deutschland jüngst bei denen der LKW-Fahrer in ihrem Kampf gegen Lohnraub wahrnehmen konnte).

Lewica

Lewicas Wahlprogramm fokussiert sicherlich auf richtige Themen: Gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf eine 35-Stundenwoche, gleitende Inflationsanpassung von Renten und Sozialleistungen, Anpassung der Gehälter der öffentlich Beschäftigten, Abschaffung der Bestimmungen, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen, sowie der reaktionären Beschränkungen von Abtreibungen, Rückgängigmachung der Justizreform, Abschaffung der Sonderrechte der katholischen Kirche und vieles mehr. Razem stellt zwar einige der Spitzenkandidat:innen wie Adrian Zandberg und Magdalena Biejat, ist aber ansonsten vor allem weiterhin als „Bewegungspartei“ in den verschiedenen Protesten aktiv. Wahlkampf wird nur als „Lewica“ betrieben.

So richtig viele dieser Forderungen sind, so undeutlich werden die verschiedenen Strömungen darin, wie diese umgesetzt werden können angesichts der Machtverhältnisse nicht nur in Parlament und den politischen Strukturen. Nicht nur der polnische Kapitalismus wird zunehmend aggressiver, auch verschiedene Rechtsorganisationen unterhalten immer militantere Milizen, die nicht nur gegen Minderheiten und Migrant:innen verstärkt mit Gewalt vorgehen. Auch Streiks werden mit bewaffneten Streikbruchorganisationen bekämpft (wie auch jüngst auf deutschen Autobahnraststätten gegen LKW-Fahrer zu sehen war). Angesichts der Schwäche der polnischen Gewerkschaftsbewegung (nur die OPZZ unterstützt offen die Lewica-Forderungen) braucht es eine entschlossene und breite Mobilisierung der Arbeiter:innen, Jugendlichen und der armen Landbevölkerung, um jede einzelne dieser Forderungen auch konsequent durchzukämpfen und die Bewegung gegen die Widerstände der Rechten und des Kapitals zu schützen.

Richtigerweise werden die Verteidigung demokratischer Rechte und insbesondere des Abtreibungsrechtes und von LGBTIAQ-Rechten in den Vordergrund gestellt und andererseits die Wirtschaftspolitik der PO angeprangert. Zugleich wird offen eine Möglichkeit der Koalition mit diesen Neoliberalen angedeutet und völlig offengelassen, was dann mit den Forderungen geschehen soll.

In Bezug auf den Ukrainekrieg gibt es eine eindeutige Stellungnahme gegen die imperialistische Aggression Russlands. Angesichts der Millionen ukrainischer Arbeiter:innen im eigenen Land kann man sich auch die Ignoranz eines Teils der westeuropäischen Linken gegenüber den Opfern des russischen Imperialismus nicht leisten. Razem (und Lewica insgesamt) unterstützen jedoch nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung der Ukrainer:innen.

Razem kritisiert zwar richtigerweise die NATO als imperialistisches Militärbündnis. Aber die Vorstellung, die NATO sei in diesem Konflikt „ein notwendiges Übel“, ist im besten Fall naiv zu nennen. Auch wenn diese derzeit nicht direkt interveniert, so stellt ihr Eingreifen in den Krieg keinen zu vernachlässigenden Neben-, sondern vielmehr einen bestimmenden Faktor im Krieg dar. Das Eingreifen der westlichen imperialistischen Mächte und ihrer Militärallianz sowie der Wirtschaftskrieg gegen Russland werden durch deren geostrategische und ökonomische Interessen motiviert, nicht durch die Sorge um „Demokratie“ und „Selbstbestimmung“. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie daran arbeiten, die halbkoloniale Abhängigkeit der Ukraine zu festigen, diesmal also durch EU- und US-Imperialismus. Mit den ukrainischen Arbeiter:innen auch in Polen sollte vielmehr gemeinsam dafür gekämpft werden, dass die Ukraine die Mittel zu ihrer Verteidigung ohne westliche Diktate und Bedingungen erhält und die ukrainischen Lohnabhängigen darin unterstützt werden, eine eigene, vom reaktionären Zelenskyj-Regime und vom ukrainischen Nationalismus unabhängige Arbeiter:innenpartei aufzubauen.

Kritische Unterstützung für Lewica

Auch wenn wir also in Polen keine Partei sehen, die mit ausreichender Verankerung für ein revolutionäres Programm der Arbeiter:innenklasse zur Wahl antritt, so ist es sicherlich so, dass Lewica (und insbesondere Razem darin) tatsächlich diejenigen Teile der Arbeiter:innenklasse und der Jugend hinter sich vereinigen, die den kommenden Angriffen auf demokratische und soziale Rechte aktiv und teilweise auch militant entgegentreten wollen. Natürlich müssen wir angesichts der Erfahrungen insbesondere mit der SLD vor Illusionen in dieses reformistische Wahlbündnis warnen. Insbesondere geht es darum, jegliche Koalition mit den zwei bürgerlichen Hauptparteien aufs Schärfste zu bekämpfen (auch die Razem-Führung redet mehr oder weniger deutlich von möglichen Koalitionen). Andererseits werden eine Wahlenthaltung und ein weiterer Sieg der Rechten die Dynamik der Abwehrkämpfe in keinem Fall verbessern. Auch wenn Lewica bei den Wahlen nur 10 % erringen wird, so werden die kämpferischsten Teile der Arbeiter:innenbewegung, der linken Jugend und die politisch fortschrittlichsten Teile der Frauen- und LGBTIAQ-Aktivist:innen beim Urnengang dieser Partei ihre Stimme geben. Es ist auch klar, dass sich unter diesen Schichten auch jene Arbeiter:innen und Jugendliche befinden, die am ehesten für den Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus gewonnen werden können.

Eine kritische Wahlunterstützung für Lewica sollte dazu genutzt werden, Kräfte für weitere Mobilisierungen zu gewinnen und vor allem in den unterstützenden Gewerkschaften für die Vorbereitung betrieblicher und gewerkschaftlicher Abwehrkämpfe zu werben und diese zu verstärken. Bei einer entsprechenden Vertiefung und Radikalisierung solcher Kämpfe kann dies vorangetrieben werden bis zur Frage der Bildung einer auf Organe des Kampfes gegründeten Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung. Eine solche Perspektive muss zugleich damit verbunden werden, den Bruch mit den verräterischen Bürokratien innerhalb von Lewica und der OPZZ voranzutreiben – und gleichzeitig den Kampf für die Bildung einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei in Polen zu führen.




DSA: unabhängige Arbeiter:innenorganisation oder Schoßhund der Demokratischen Partei?

Stephie Murcatto, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Die Entwicklung der US-Arbeiter:innenbewegung und vor allem der Democratic Socialists of America (DSA) hat international viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Besonders groß war die Unterstützung, die Bernie Sanders’ Kampagne als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei erfuhr. Er bezeichnete sich offen als Sozialist und erhielt dennoch Zuspruch von Millionen. Auch wenn Sanders nie mit der Demokratischen Partei, einer der beiden zentralen politischen Stützen des US-Kapitals, brechen wollte, so offenbarte seine Kampagne, dass „Sozialismus“ keineswegs alle Wähler:innen abschreckt.

Katalysator

Seine Kandidatur beunruhigte nicht nur das Establishment der Demokratischen Partei um Clinton (2016) und Biden (2020), sondern fungierte als Katalysator für den massiven Zulauf und eine Linksentwicklung der Democratic Socialists of Amerika (DSA), einer Organisation, die auf eine, wenn auch nicht gerade glorreiche, Geschichte zurückblickt. Sie war über Jahrzehnte eine sozialdemokratische Minipartei. Sie trug als Mitglied der Sozialistischen Internationale deren proimperialistische Politik voll mit und fungierte als pseudolinkes Anhängsel der Demokratischen Partei und unterstützte fast jede Schweinerei der US-Außenpolitik, so auch den Vietnamkrieg.

2015 zählte die DSA 6.200 Mitglieder. Danach wuchs sie rapide an auf bis zu ungefähr 83.000 im Jahre 2022, wobei die Zahl im Jahre 2023 wieder leicht auf 78.000 gesunken ist. Dies ging zugleich mit einer Linksentwicklung der Organisation einher. 2017 trat die DSA aus der II. Internationale wegen deren neoliberaler Politik aus.

Trotz Stagnation und Rückgangs im letzten Jahr umfasst die DSA eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedern, die relativ neu politisch organisiert sind und ein Interesse an sozialistischer Politik aufweisen. Dieser Aufschwung hat die Organisation deutlich nach links gerückt, sodass auch offen davon geredet wurde, nicht weiter der linke Flügel der Demokratischen Partei zu bleiben, sondern auch eine eigene Arbeiter:innenpartei zu gründen.

Das Verhältnis zur Demokratischen Partei bildet daher seit fast einem Jahrzehnte eine, wenn nicht die, Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der DSA. Dies zeigt sich nicht nur bei den Conventions (Kongressen) der Partei, sondern auch daran, dass die 6 DSA-Mitglieder über die Liste der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus, einer der beiden Kammern des US-Kongresses, vertreten sind. Das wahrscheinlich bekannteste Mitglied ist Alexandria Ocasio-Cortez, kurz AOC. Auch wenn diese 6 auf dem linken Flügel der Demokratischen Partei stehen, so ist von einem Bruch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Mit der Zeit hat sich die alte Politik wieder starkgemacht. So stimmten in der aktuellen Legislaturperiode 4 ihrer Kongressmitglieder, allen voran AOC, für die Illegalisierung eines potenziellen Streikes von 100.000 Eisenbahnarbeiter:innen.

Wie ist die DSA eigentlich aufgebaut?

Es gibt verschiedene Basisorganisationen, bekannt als Chapters, die abhängig von ihrer Größe Delegierte zu der DSA-Convention (Parteitag) wählen. Die Tagung findet alle 2 Jahre statt, die letzte vom 4. bis 6. August 2023. Die Convention wählt die nationale Leitung, das National Political Committee (NPC). Dieses besteht aus 16 Menschen, die unter sich noch einen fünfköpfigen Ausschuss wählen, das Steering Committee (SC). Die nationale Leitung bestimmt die politischen Linien der Organisationen z. B. in ihren verschiedenen Publikationen und soll die Entscheidungen der Convention umsetzen. Dazu verfügt die DSA über einen größeren Apparat von festangestellten Organizer:innen, Buchhalter:innen und anderen Beschäftigten in New York. Das NPC kann auch verschiedene Arbeitsgruppen und Komitees ins Leben rufen, um an verschiedenen Fragen zu arbeiten und Politik zu bestimmten Themen anzuleiten.

Außerhalb der NPC gibt es verschiedene Caucuses, die effektiv die verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb der DSA verkörpern. In diesen können sich unabhängig von Wahlen alle DSA-Mitglieder organisieren und für verschiedene politische Programme kämpfen. Dabei sind verschiedene Caucuses relevanter als andere. So gibt es z. B. den Bread and Roses Caucus, der rund um die Zeitschrift Jacobin organisiert ist und eine Linie des „schmutzigen Bruches“ mit der Demokratischen Partei vertritt. Darunter wird ein kompromisslerischer „Mittelweg“ zwischen einem klaren Austritt aus der Demokratischen Partei und einer Strategie von deren Reform verstanden. Der Reform and Revolution Caucus repräsentiert einen eher linken Flügel der DSA. Schließlich gibt es noch den Socialist Majority Caucus, der die historische Führung und die traditionellen Strategien der DSA repräsentiert. Dieser bildet auch eine der stärkeren Fraktionen.

Die Fragen, wie man zur Demokratischen Partei steht, ob und wie man eine unabhängige Arbeiter:innenpartei aufbauen soll, stand dabei auch im Zentrum der letzten Parteitage.

Vorlauf zur Convention 2023

2021 fand die Convention noch online statt. Diese stellte letzten Endes eine Niederlage für die linkeren Teile der DSA dar, da sich die Ausrichtung auf die Demokratische Partei und auf reine Wahlpolitik verfestigte. Eine weitere Frage, die im Sinne der Rechten beantwortet wurde, war die der Wahlunterstützung für demokratische Kandidat:innen. Außerdem gibt es seither keine Rechenschaftspflicht mehr für die Mitglieder der DSA, die in verschiedenen Parlamenten oder gar exekutiven Funktionen sitzen.

Dass diese Wende nach rechts fortgesetzt werden soll, zeigte sich auch im Vorlauf für die diesjährige Convention. Der Vorsitzende des NPC, Hernandez, erklärte in einem interview zur zukünftigen Strategie der DSA: „Dort, wo wir jetzt sind, müssen wir verankert bleiben und den Umständen Rechnung tragen, mit denen wir uns auseinandersetzen.” Im Klartext: Wir müssen fortfahren mit der jetzigen Strategie bezüglich der Demokratischen Partei. Er empört sich in demselben Interview auch über die linken Teile der DSA und behauptet, dass es sich gezeigt habe, dass die Demokratische Partei keine „Sackgasse“ für die DSA und sozialistische Politik sei.

Entscheidungen

Die Convention selbst war effektiv ein großer Schlag ins Gesicht der linken Teile der DSA. Die erste Kontroverse entzündete sich schon um den Vorschlag der Leitung zu ihrem Ablauf selbst. Dieser sah vor, dass über die Anträge für eine Opposition zur imperialistischen Politik in Bezug auf den Ukrainekrieg nicht diskutiert wird. Dies wurde damit begründet, dass es keine Zeit für die Diskussion rund um den Antrag gäbe. Gleichzeitig war aber mehr als genug Zeit dafür eingeplant, darüber zu debattieren, ob eine Rose, die ein „Vote“-Schild hält, das offizielle Maskottchen der DSA werden solle. Dieser Vorschlag wurde zwar mit einer knappen Mehrheit abgelehnt, dafür fielen aber die Resolutionen über die israelische Okkupation von Palästina sowie die zum Ukrainekrieg durch.

Dafür markierten die Beschlüsse zu den Wahlen jedoch einen weiteren Schritt nach rechts zur Anpassung an die Demokratische Partei. So sprachen sich 704 Delegierte bei 184 Gegenstimmen gegen Schritte zur Bildung einer unabhängigen Partei mit eigenen Kandidat:innen aus. So heißt es: „Es ist in der jetzigen Situation für uns nicht empfehlenswert, eine politische Partei mit eigenen Wahllisten zu gründen.“

Mit diesem Beschluss der Convention wird der Fokus der DSA über die nächsten zwei Jahre nicht einfach auf die Wahlen gelegt, die tatsächlich mehr und mehr ins Zentrum der US-Politik rücken werden, sondern vor allem auf die Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei. Die DSA will auch mehr ihrer Mitglieder dabei unterstützen, sich selbst auf der Liste der Demokrat:innen aufstellen zu lassen und sich so faktisch politisch unterzuordnen.

Aber auch zur Frage der Rechenschaft hat der rechte Flügel die Mehrheit behalten können – und das, obwohl die Rechenschaftspflicht der verschiedenen DSA-Abgeordneten eine riesige Frage ist. So verrieten AOC und andere den möglichen Eisenbahner:innenstreik, so stimmte der DSA-Kongressabgeordnete Jamaal Bowman für die Bewaffnung des israelischen Militärs.

Trotzdem stimmten 60 % der Delegierten sogar gegen eine Rechenschaftspflicht in nur vage formulierter Form: „Die DSA, erwartet, dass sich Sozialist:innen in gewählten Ämtern in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der sozialistischen Bewegung verhalten.“

Man kann also zusammenfassen, dass der rechte Flügel, der Socialist Majority Caucus, gestärkt aus dem Parteitag hervorging. Starker Fokus auf die Demokratische Partei, keine Rechenschaft der Abgeordneten und eine Unterbindung der wichtigen inhaltlichen Diskussionen durch das NPC sind seine Früchte.

Aufgabe von Revolutionär:innen

Trotz der Niederlage des linken Flügels der DSA ist die Organisation eine, die viele linke Kräfte an sich zieht und immer noch in sich eine Dynamik trägt. Trotz der erheblichen Hürden wäre die DSA auch in der Lage, eine Partei zu gründen. Diese Partei wäre auch eine, die die USA schon sehr lange nötig haben, denn die Wahl zwischen Republikaner:innen und Demokrat:innen ist eine zwischen zwei Übeln, die das Interesse der arbeitenden Menschen gar nicht im Sinne haben. Beide sind die historischen Parteien des US-Kapitals, des US-Imperialismus. Sie stellen letztlich nur zwei seiner konkurrierenden Flügel dar.

Deswegen ist es die Aufgabe von allen Revolutionär:innen, sich in erster Linie für den Aufbau einer Partei einzusetzen, die auch das Interesse der Arbeiter:innen als Klasse vertritt. Die Strategie des Socialist Majority Caucus, den linken Flügel der Demokratischen Partei zu bilden, ist nicht nur perspektivlos, sie stellt vor allem eine direkte Kampfansage an alle Versuche dar, die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften aus ihre Bindung an die Demokratische Partei zu lösen. Der Parteitag zeigt, dass eine Arbeiter:innenpartei nur aus dem politischen Kampf gegen diese Fraktion und im Bruch mit ihr entstehen kann.

Auch die Strategie des schmutzigen Bruches des Bread und Roses Caucus ist auf dem Parteitag gescheitert. Im Grunde hat sie dem rechtsreformistischen Mehrheitsflügel zugearbeitet, indem sie anstelle eines klaren Bruchs im Hier und Jetzt ihn auf eine ferne Zukunft vertagt, derweil jedoch eine „Realpolitik“ betreibt, die auf eine Unterstützung der Demokratischen Partei hinausläuft.

Es braucht innerhalb der DSA eine Fraktion, die für die Führung der Organisation kämpft, mit dem Ziel, die Zehntausende von Arbeiter:innen und Jugendlichen, die in die DSA eingetreten sind, für einen Bruch mit der Demokratischen Partei zu gewinnen. Auf dieser Basis müssten die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen zu einem Bruch mit den Demokrat:innen und zum Aufbau eine Arbeiter:innenpartei aufgefordert werden. Doch eine solche Kraft müsste eigenständig in die Kämpfe eingreifen und die Wahlen nutzen, um eigene Kandidat:innen aufzustellen. Dieser Prozess müsste einhergehen mit der Diskussion und Ausarbeitung des Programms einer solchen Partei, wobei Revolutionär:innen von Beginn an für ein revolutionäres Aktionsprogramm eintreten müssten.




Argentinien: Rechtsruck bei den Vorwahlen

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Der Sieg des rechten, ultraliberalen Javier Milei bei den Vorwahlen am 13. August kommt einem politischen Erdbeben gleich. Überraschend ließ der Kandidat der rechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) die Vertreter:innen der großen bürgerlichen Parteiblöcke – der rechtsliberalen Allianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) und der peronistischen Unión por la Patria (Union für das Vaterland) hinter sich.

Umfragen prognostizierten Milei, dessen Partei erst 2021 gegründet worden war, zwar einen beachtlichen Zulauf von bis zu 20 % der Stimmen und damit den dritten Rang unter den Präsidentschaftskandidat:innen. Dass er gewinnen würde, hatte jedoch niemand auf dem Schirm.

Ergebnis der Vorwahlen

Die Vorwahlen dienen in Argentinien zwei Zwecken. Erstens dürfen nur Parteien oder Allianzen, die die 1,5 %-Hürde knacken, zu den Präsidentschaftswahlen, zur Wahl von 130 der 257 Parlamentssitze sowie von 24 der 72 Senator:innen antreten. Zweitens können für eine Partei zwei Kandidat:innenlisten zur Vorwahl antreten und das Ergebnis legt fest, wer die Liste anführt. Darüber hinaus fanden am 13. August auch noch Vorwahlen zu den Gouverneur:innenwahlen und der Legislative mehrerer Provinzen, darunter auch Stadt und Region Buenos Aires statt.

Bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft erhielten Milei und die als Vizepräsidentkandidatin antretende Victoria Villarruel 30 % der Stimmen. Anders als bei den meisten anderen Listen gab es hier keine parteiinterne Konkurrenz Auf dem zweiten Platz folgte Juntos por el Cambio mit 28,3 %, wobei sich dort Patricia Bullrich, die Vorsitzende der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015 – 2019) und einstige Sicherheitsministerin, mit 17 % durchsetzen konnte.

Die zur Zeit noch regierende peronistische Unión por la Patria errang nur 27,27 % – und verlor damit gegenüber den Vorwahlen 2019 rund 20 %! Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Massa, also der Kandidat vom rechten Parteiflügel, setzte sich mit 21,4 % klar durch. Der linkspopulistische Gegenkandidat Grabois errang gerade 5,89 %, obwohl er vom Papst und der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner unterstützt wurde.

Nur zwei weitere Listen schafften es zu den Präsidentschaftswahlen, alle andere blieben unter 1,5 %. So treten neben den oben genannten drei großen Lagern noch die aus dem Peronismus kommenden Schiaretti und Randazzo an, die bei den Vorwahlen 3,8 % erhielten. Die Kandidat:innen der Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad (FIT-U = Front der Linken und Arbeiter:innen – Vereinigte Front) vereinten 2,7 % auf sich. Insgesamt erhielt die FIT-U 630.000 Stimmen – ein deutlicher Rückgang gegenüber den letzten Vorwahlen 2021 (zur anderen Hälfte der Parlamentssitze), als sie fast eine Million Stimmen erhielt, aber auch gegenüber den Wahlen von 2019. In der FIT-U setzte sich die Liste der PTS/IS (Bregman und del Caño) mit 1,86 % gegenüber jener von PO/MST (Solano und Ripoll) durch, die 0,79 % erhielt. Andere linke Kandidaturen aus dem trotzkistischen Spektrum verfehlten mit 0,4 % (Nuevo MAS) und 0,3 % (Politica Obrera) die 1,5 %-Hürde.

Sieg der Rechten und Krise

Betrachten wir nur die Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen, so erzielten Kandidat:innen rechts von den regierenden Peronist:innen rund 60 %! Hinzu kommt, dass La Libertad Avanza auch in vielen Provinzen stark abschnitt, also nicht nur Milei als ernstzunehmender Kandidat, sondern auch seine Partei sich etablieren konnten. Die Stimmen für die regierenden Peronist:innen dürfen darüber hinaus auch keineswegs als „links“ gewertet werden. Vielmehr stellt der Peronismus den linken Flügel des bürgerlichen Spektrums dar, eine populistische politische Strömung, die letztlich die Interessen des Kapitals vertritt, auch wenn sie die Gewerkschaften und deren Führung über Jahrzehnte inkorporiert, gewissermaßen eine Volksfront in Parteiform darstellt.

In jedem Fall haben die beiden Hauptparteien des politischen Systems an Positionen verloren. Über Jahrzehnte stellten sie – und nur sie – Präsidentschaft und Regierung, wechselten sich gewissermaßen ab, wenn darum ging, die Staatsgeschäfte zu erledigen und die damit verbundenen Pfründe untereinander aufzuteilen. Dieses System war schon immer untrennbar mit Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und mehr oder weniger offener Plünderung staatlicher Gelder für eigene Zwecke oder im Interesse des inländischen und ausländischen Kapitals verbunden.

Doch Argentinien befindet sich seit Jahren in einer extremen ökonomischen und sozialen Krise, die eng mit der halbkolonialen Abhängigkeit des Landes verbunden ist. Schon um die Jahrhundertwende stand das Land infolge von Verschuldung, Bankcrash und Zusammenbruch der Währung vor dem Ruin. Nachdem diese vorübergehend überwunden werden konnte, dreht sich wieder die Schuldenspirale. Seit spätestens 2014 schrammt das Land nah an der Insolvenz vorbei.

Seit Jahren verhandelt Argentinien eine Umschuldung nach der anderen mit dem IWF, da es sonst kaum noch neue Kredite erhält. Im März 2023 betrugen die Schulden rund 276 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 148 Milliarden auf den Nationalstaat, der beim IWF mit rund 45 Milliarden in der Kreide steht. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 36,5 Milliarden US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 2016.

Die Inflation ist von Juni 2022 bis Juni 2023 von 64 % auf 115 % gestiegen, was auch dazu führt, dass viele versuchen, ihre Reserven in US-Dollar anzulegen. Extreme Dürren, begleitet von massiven Ernteeinbrüchen – Schätzungen gehen von 30 – 40 % für verschiedene Agrarprodukte aus –, haben die Situation weiter zugespitzt. Verschärfend kommen Energie- und Treibstoffknappheit hinzu. Für 2023 prognostiziert der IWF ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2,5 % und eine Inflationsrate von 120 %.

Dabei leben schon heute rund 40 % der Bevölkerung in völliger Armut – und zwar mit massiver Steigerung. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht, auch aus den Mittelschichten – nicht zuletzt infolge der Kürzungen, die für IWF-Kredite ausgehandelt wurden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 7,5 %, die Jugendarbeitslosigkeit bei 18,3 %. Nur 43 % der Beschäftigten haben einen „regulären“ Arbeitsvertrag, die Mehrheit der Lohnabhängigen arbeitet ohne soziale Absicherung über Vertragsarbeit oder als Scheinselbstständige. Das führt auch dazu, dass die Gewerkschaften an potentiellem Einfluss verloren, weil mittlerweile die Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse nicht über gewerkschaftliche Abkommen reguliert wird (was umgekehrt die Gewerkschaftsspitzen nicht hindert, sich weiter den Peronist:innen unterzuordnen).

Widerstand

All dies findet keineswegs ohne Widerstand und Protest statt. Im Sommer 2022 gab es bedeutende Demonstrationen gegen Preissteigerungen und umfangreiche Kürzungen an Sozialprogrammen durch die peronistische Fernández-Regierung. Mehrere landesweite Protesttage 2023 mobilisierten Hunderttausende – 160.000 am 7. Februar,

rund 350.000 Menschen am 18. Mai 2023 nach einem Sternmarsch nach Buenos Aires gegen Hunger und IWF-Sparpolitik. Maßgeblich organisiert wurden sie von einer  Koordination für die soziale Veränderung, einem Bündnis der Erwerbslosenorganisationen namens Unidad Piquetera.

Am 4. Juli 2023 fanden in mindestens 87 Orten Argentiniens Proteste statt, vielerorts wurden auch Straßen und Kreuzungen blockiert. Unter dem Banner „Unidad Piquetera“ (Vereinte Blockade) demonstrierten verschiedene soziale Bewegungen gemeinsam gegen die wachsende Ungleichheit im Land.

Die vier Forderungen der Unidad Piquetera: „20 Millionen Arme, und das Essen geht in den Wahlkampf. [1] Ganzheitliche Versorgung der Suppenküchen. 2) Lieferung der Hilfsmittel für selbstverwaltete Arbeit. 3) Teuerungsausgleichszulage. 4) Erhöhung der Sozialprogramme = Inflation.“

Ein anderes Beispiel für Proteste ereignete sich im Juni 2023 in der Nordwestprovinz Jujuy, wo der Gouverneur eine Verfassungsreform durchdrücken will. Die neue Verfassung verbietet es, Straßen zu blockieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die in den letzten Wochen in der Provinz bei Demonstrationen gegen die Reform und für eine bessere Bezahlung der Lehrer:innen eingesetzt wurden.

„Die CGT von Jujuy hat einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Alle zum Streik und zur Mobilisierung. Er muss andauern, bis die Reform fällt und sie auf alle Forderungen reagieren. Ein nationaler Streik der CGT und der CTA zur Unterstützung der Bevölkerung von Jujuy ist unerlässlich. Nach Tagen des Kampfes und der Repression in Purmamarca sind die Worte des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Nation angekommen. Ihre Partei hat die Reform von Morales unterstützt und heute waren sie noch im Plenarsaal und haben geschworen, dass es eine schlechte Reform ist, während sie das Volk unterdrücken. Nieder mit der Reform. Hoch mit den Löhnen und Rechten. Freiheit für alle Verhafteten und Inhaftierten. Generalstreik, bis die Verfassungsreform von Morales und der PJ fallen gelassen wird“. (Aus einem Bericht des linken Wahlbündnisses FIT-U) (Gerardo Morales=Gouverneur von Jujuy)

Allerdings gingen die Proteste trotz beachtlicher Größe bislang nicht über Großdemonstrationen oder lokale, befristete Besetzungen und Streiks hinaus. Zweitens tragen viele auch einen defensiven, eher appellativen Charakter.

Warum siegte die Rechte?

So wichtig, diese Mobilisierungen daher sind, so schlägt in Argentinien das politische Pendel inmitten der kombinierten sozialen, wirtschaftlichen Krise massiv nach rechts aus. Zweifellos sind die Wahlbewegungen instabil und Momentaufnahmen. Sicherlich wählten viele Milei auch, um den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, nicht weil sie von seiner Politik so überzeugt wären. Aber die Bilanz der Vorwahlen ist eindeutig (und wird sich bis zu den Wahlen auch nicht extrem verändern, selbst wenn Juntos por el Cambio oder Unión por la Patria besser abschneiden sollten. Der Rechtsruck ist deutlich – und wir müssen uns fragen, warum ein Kandidat wie Milei, der 2019 noch gar nicht zur Wahl stand, 30 % erreichen konnte.

Ähnlich wie Trump inszeniert sich der Wirtschaftswissenschafter und selbsternannte „Anarchokapitalist“ als Kandidat gegen das „korrupte“ Establishment. Er verspricht, mit der Korruption, mit dem „alten System“, zu dem auch die Gewerkschaften, Linke, Errungenschaften der Frauenbewegung und Unterdrückten gehören, aufzuräumen.

Den Peso will er abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, die Zentralbank würde dann nicht mehr gebraucht und folgerichtig geschlossen. Die Bindung an den US-Imperialismus würde verstärkt.

Milei hat Verbindungen zu bekannten rechten Organisationen wie z. B. der „Fundación LIBRE“ und findet lobende Worte für die ehemalige Militärdiktatur. Auch spricht er sich gegen Abtreibung aus. Seine wirtschaftliche Agenda ist eine besonders radikale Form des Neoliberalismus. Er will alle Sozialprogramme abschaffen und Unternehmen nicht mehr besteuern. Bildung und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen restlos privatisiert werden.

Kein Wunder also, dass er Unterstützung bei den reichsten Menschen sowie bei bedeutenden Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten findet. Aber er erhielt paradoxerweise auch bei den ärmsten Menschen massiv Zuspruch.

Dies verdeutlicht nicht nur deren massive Entfremdung vom argentinischen politischen System und insbesondere auch vom Peronismus, der diese lange integriert hatte. Die Wahl der Rechten als „Protest“ verweist auch auf die Verzweiflung und teilweise Demoralisierung dieser Schichten. Gelingt es den Gewerkschaften und der Linken nicht, die Massen gegen die Krise zu mobilisieren und für diese einen Pol der Hoffnung darzustellen, so droht, sich diese Schicht zu einer rechten populistischen Bewegung zu verfestigen und im Falle zukünftiger Kämpfe sogar weiter zu radikalisieren.

Die Mischung aus heterogenen Klassenkräften – von verarmten, deklassierten Schichten über das Kleinbürger:innentum bis hin zu Teilen des herrschenden Klasse – kann nur zusammengehalten werden, indem der anarchokapitalistische Führer sein Programm, das sich unmittelbar gegen die Masse seiner Wähler:innen richtet, mit rassistischer, reaktionärer, demagogischer und irrationaler Hetze gegen eine/n gemeinsame/n Feind:in verbindet. Sollte Milei in der Opposition bleiben, wird er in jedem Fall diese Strategie verfolgen. Aber auch, wenn er einen bedeutenden Einfluss auf die nächste Regierung erlangen oder gar, was unwahrscheinlich ist, die Präsidentschaft gewinnen sollte, wird er auf eine solche reaktionäre Mobilisierung weiter zurückgreifen müssen, will er seine Anhänger:innen bei der Stange halten.

Die radikale Linke

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der „radikalen Linken“ analysiert und deren Aufgaben bestimmt werden.

Die FIT-U hat mit 2,7 % (=620.000 Wähler:innen) ein Ergebnis erzielt, das in jedem anderen Land überaus beachtlich wäre. Die Wahlallianz FIT-U aus vier trotzkistischen Organisationen besteht aber bereits seit 2011 und die Ergebnisse pendeln seither um diesen Prozentsatz. Die FIT-U ist zwar etwas gewachsen, aber ihr gesellschaftlicher Einfluss stagniert seit Jahren.
Das liegt an mehreren Faktoren. Erstens bildet sie im Wesentlichen nur eine Wahlallianz. Außerhalb der Wahlen treten die vier Gruppierungen vor allem als verschiedene Organisationen auf.

Auch wenn alle gern betonen, dass die FIT-U mehr werden müsse als eine Wahlallianz – so hat auch niemand den Schritt, über diese hinauszugehen, ernsthaft versucht.

Dies würde nämlich bedeuten, offen und öffentlich über eine programmatische Vereinheitlichung und die programmatischen Differenzen zu debattieren. Es würde auch bedeuten, die FIT-U für Arbeiter:innen und Jugendliche zu öffnen, die deren Wahlprogramm unterstützen.

Das ist aber nicht möglich. Die Mitglieder der FIT-U sind vier Organisationen – Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS), Izquierda Socialista (IS) und Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST). Wer mitbestimmen will, muss einer der vier betreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der FIT-U aus dem Jahr 2011 (!) stammt und seither nicht aktualisiert wurde. Dabei wäre das dringend nötig. Erstens, weil das Programm nicht auf die aktuellen Aufgaben fokussiert ist, zweitens, weil es wichtige Schwächen aufweist, die es zu einem zentristischen, nicht-revolutionären Programm machen. So enthält es keine klare Orientierung auf eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den bestehenden, vom Peronismus politisch dominierten Gewerkschaften. Das Programm spricht zwar die Forderung nach einer Arbeiter:innenregierung an, aber es lässt offen, auf welche Organe sich eine solche stützen müsste, wie überhaupt Räte und bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innen und Unterdrückten (Milizen) nicht vorkommen.

Teile der FIT, z. B. Izquierda Socialista, halten dieses ungenügende Programm für ausreichend. Faktisch agieren die Kandidat:innen der FIT-U darüber hinaus mit ihren jeweils eigenen Wahlplattformen. Nicht nur zum Wahlprogramm gibt es massive Differenzen, auch zu anderen, für den Klassenkampf wichtigen Fragen (Charakterisierung von Russland und China, Krieg in der Ukraine, Verhältnis zu Kuba und Venezuela, Haltung zu den Piquetero-Organisationen und zum Peronismus).

Die Wahlen dürfen daher auch von der FIT-U nicht als Aufruf zu einem „Weiter so!“ verstanden werden. Vielmehr müssen zwei, miteinander verbundene strategische Aufgaben angegangen werden:

a) Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriff des Kapitals mit dem Ziel, auch die Gewerkschaften in den Kampf zu zwingen.

b) Ausarbeitung eines Aktionsprogramms, das im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung gipfelt, die sich auf Räte und Milizen stützt, das Großkapital unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und einen Notplan gegen die Krise umsetzt.

Dies würde aber erfordern, dass die FIT-U selbst eine Kurskorrektur vornimmt, eine Diskussion um diese Fragen organisiert, um eine vereinte revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.




Nach den Rechten schauen – AfD im Aufstieg

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, dann gewänne die Alternative für Deutschland (AfD) den aktuellen Schätzungen zur Folge 19 % der Stimmen. Sie wäre damit zweistärkste Kraft nach der Union. Das sind knapp 9 Zähler mehr im Vergleich zur letzten Bundestagswahl vom September 2021. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wäre sie aktuell stärkste Kraft. In allen Bundesländern hat sie zugelegt, außer in den Stadtstaaten und Niedersachsen. Und das ist bei weitem nicht auf den Osten des Landes beschränkt, wobei sie dort weiterhin deutlich höhere Stimmanteile hält.

So ist der prognostizierte Stimmzuwachs in NRW beispielsweise einer um 8,8 % von 5,4 % auf 14,2 %. In Hessen ist sie laut Prognosen viertstärkste Kraft, aber erhielte 17,4 %. In Sachsen scheint sie am erfolgreichsten mit 32,5 %. Natürlich sind das Umfragezahlen, die immer eine gewisse Abweichung enthalten; natürlich ist das „nur“ eine Momentaufnahme und natürlich ist das nur ein Auszug der Wirklichkeit, aber eines ist es sicherlich nicht: eine Ausnahme. Die Zahlen stellen uns also vor die Aufgabe, mal wieder nach den Rechten zu schauen.

Gründe und Erklärungen

Gründe dafür gibt es zur Genüge. Zwischen Ampel und Union wird die alte Leier aus der Mottenkiste geholt, ob man sich rhetorisch von der AfD abgrenzen oder dieser angleichen sollte. Am 25. Juni wurde Robert Sesselmann im Kreis Sonneberg (Thüringen) zum Landrat gewählt und ist nun das erste AfD-Mitglied in einem leitenden regierenden Amt, wenn auch regional. Am 2. Juli wurde Hannes Loth in Raguhn-Jeßnitz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld, Sachsen-Anhalt) zum ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister gewählt.

Dabei sah es noch vor einem Jahr aus, als hätte sich die Partei bundesweit relativ fest im niedrigen zweistelligen Bereich eingeordnet, trotz ökologischer Krise, trotz Pandemie und trotz Kriegs um die Ukraine. Nun scheint ein Heizungsgesetz der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aufgrund massiver Einkommensverluste angesichts der Inflation, die vor allem Lohnabhängige und ärmere Zwischenklassen wie kleine Ladenbesitzer:innen oder selbstständige Handwerker:innen trifft, erscheint oder ist das alles nicht mehr leistbar. Steigende Kreditunsicherheit erhöht das Risiko von Verarmung, Verschuldung und Insolvenz. Ein Risiko, das die Sorge in sich trägt,  dass man den bisherigen Lebensstandard oder bescheidenen „Luxus“ zu verlieren droht, sei es das Auto, das Haus, den Jahresurlaub oder Ähnliches. Die Angst vor dem sozialen Abstieg unterhöhlt das Vertrauen in Staat und Demokratie – und befördert die Suche nach einem politischen Ausweg aus der realen oder gefühlten Bedrohung.

Diese angeführten Punkte zeigen auch, dass es Ängste sind, die in viel höherem Maß den ländlichen Raum treffen. Deutschland ist zwar unter den OECD-Ländern eines mit den höchsten Anteilen an Mieter:innen, aber diese sind ungleich verteilt, ähnliches gilt für den Individualverkehr. Private Eigenheime prägen vor allem die ländlichen Regionen. Dort sind die Menschen auf PKWs angewiesen. Diese Regionen werden außerdem oft von wenigen Unternehmen geprägt. Eine strukturelle Krise dieser macht sich schnell als Strukturbruch in der gesamten Region spürbar.

Es ist auch kein Wunder, dass die AfD im Osten stärker ist. Das hat nichts mit einer gegenüber dem Westen stärkeren „antidemokratischen“ Grundhaltung zu tun, wohl aber damit, dass die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum weniger starke Wurzeln in der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben als im Westen.

Politische Krise oder Krisenlösung?

In der gegenwärtigen Lage stellt die AfD die einzige große bundesweite und parlamentarische Kraft dar, die (fast) überall dort, wo die Regierung ein Plus macht, ein Minus setzt. Im Gegensatz zu allen Parteien hegt sie keine unmittelbaren Regierungsabsichten. Auch auf Landesebene scheint das kurzfristig unwahrscheinlich, was der AfD erlaubt, sich als „Systemopposition“ zu gerieren. Die AfD ist also die Partei, die der blinden Not der aktuellen Situation Ausdruck verleihen kann.

Doch wäre es weiterhin verkürzt, bei dieser Darstellung als Protestpartei stehenzubleiben. Denn die aktuelle Politik der Ampel stellt eine klare Perspektive zur Orientierung des deutschen Kapitals dar, deutlicher als es die GroKo in den letzten Jahren tat. Umstellung der deutschen Automobilindustrie, Umbau der Wertschöpfungsketten weg von wirtschaftlicher Verflechtung mit dem russischen Imperialismus, Umbau eines Großteils der Heiz- und Energieinfrastruktur. Die Liste könnte verlängert werden, aber sie drückt eines aus: Während für die einen ökonomische Sicherheiten der letzten Jahre einbrechen, sind für andere Sektoren Milliardeninvestitionen erkennbar (bspw. 10 Milliarden Euro Fördersumme für ein Intel-Chipwerk in Magdeburg bei bis zu 3.000 direkten und insgesamt bis zu 10.000 Stellen). Die AfD stellt bei weitem noch keine Alternative für größere Teile der herrschenden Klasse dar, profitiert jedoch von deren Unruhe.

Entscheidend ist jedoch, dass sie die Ablehnung der verschiedenen Regierungsvorhaben mit einem demagogischen, rechtspopulistischen Angriff auf die „Eliten“, das „System“ verknüpft. In Berlin wäre eine gegen die Deutschen gerichtete „Diktatur“ von Grünen, Gutmenschen, Kriegstreiber:innen, Genderwahnsinnigen und Flüchtlingshelfer:innen errichtet worden. Auch wenn die AfD damit immer auch „Protestwähler:innen“ anspricht, so verbindet sich deren „Protest“ zunehmend mit einer weiter nach rechts gehenden Kraft.

Licht und Schatten

In welchem Kontext findet dieser Aufschwung statt? Er kommt nicht von ungefähr, sondern baut auf der politischen Krise, die angestoßen wurde durch die Weltwirtschaftskrise von 2007/08. Die AfD konnte die Kombination aus politischen Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung und der zunehmenden Gräben zwischen verschiedenen nationalen Bourgeoisien nutzen, um ein gefährliches Amalgam zwischen einer nationalistischen Orientierung für Teile der herrschenden Klasse und einem wütenden Mob in den Onlineforen, den neuen Stammtischen, bilden.

Die weitere Rechtsentwicklung der AfD drohte in den letzten Jahren, dieses giftige Bündnis zu sprengen, das insgesamt als rechtspopulistisch zu charakterisieren ist. Doch die große Spaltung blieb bislang aus, obwohl ihr mehr oder weniger offen faschistoider Flügel in den letzten Jahren stärker wurde. Die Wahlerfolge und -prognosen werden den Frieden und die Einheit der AfD zumindest zeitweise bewahren. Das rhetorische Nach-rechts-Gehen weiter Teile der CDU und die Orientierungslosigkeit primär von kleineren und mittleren Unternehmen wird die AfD weiter stützen. Wir können und müssen daher davon ausgehen, dass die ökonomische Lage, der Krieg, die Politik der Regierung wie von CDU/CSU der AfD Wähler:innen weiter in die Arme treiben wird.

Einen entscheidenden Faktor spielen dabei auf politischer Ebene die reformistischen Parteien SPD und DIE LINKE, aber auch die Gewerkschaften, die in der Not ihre Rettung im „Bündnis der Demokrat:innen“ suchen. Wie die Erfahrung von Sonneberg zeigt, führt dieses jedoch nicht nur zur politischen Unterordnung unter die offen bürgerlichen Parteien, es erlaubt auch der AfD, sich selbst als einzige wirkliche Alternative zu den Träger:innen des Systems aufzuführen.

Alternative

Doch diese Dynamik erfolgte angesichts von Aussichtslosigkeit. Im letzten Jahre sind Zehntausende den Gewerkschaften in den Tarifrunden beigetreten, beteiligten sich auch daran und kämpften für hohe Abschlüsse. Es zeigten sich teilweise neue und kampfbereite Schichten der Klasse der Lohnabhängigen. Dieses Potential einer kämpferischen Erneuerung der Arbeiter:innenbewegung wird zugleich vom  Ausverkauf durch die Gewerkschaftsbürokratie gebremst und konterkariert – sei es von ver.di im beim Abschluss im öffentlichen Dienst und bei der Post, sei es von einer EVG, die sich anschickt, das bei der Bahn zu wiederholen.

Die Gewerkschaften, genauer deren Führungen, hoffen eigentlich auf eine Rückkehr zu den vermeintlich guten alten Zeiten einer „funktionierenden“ Sozialpartner:innenschaft, geraten dabei aber mehr und mehr unter Druck von Seiten des Kapitals wie auch von einzelnen Teilen der Basis.

Eine gewisse Radikalisierung und Suche nach einer Alternative können wir zweifellos auch bei der Umweltbewegung erkennen.

Doch auf der Ebene der politischen Parteien drückt sich diese Dynamik kaum aus. Das liegt nicht nur am Richtungsstreit der LINKEN, sondern an der strategischen Orientierung aller Flügel der Partei, die der Regierungsbeteiligung im Rahmen der Verwaltung des kapitalistischen Krisensystems nicht grundsätzlich abgeneigt sind. Zur Bundestagswahl 2021 hat die Parteiführung mit ihrem Sofortprogramm deutlich gemacht, dass sie für Rot-Grün-Rot ihre Grundsätze aufgeben würde (bspw. NATO-Austritt). Auch kann sie sich in ihrer historischen Hochburg, Ostdeutschland, schon seit Jahren kaum bewähren. Ihre Kritik am Kurs der Regierung wirkt wie reine Sozialkosmetik (SPD-Forderungen plus 2 Euro), gerade angesichts ihrer Politik in unterschiedlichen Landesregierungen.

Was tun?

Wenn man die AfD wirklich stoppen will, so erfordert dies auch, die Ursachen ihres Wachstums zu verstehen. Wer die reaktionären Antworten der Partei bekämpfen will, muss selbst eine Antwort auf die realen sozialen Probleme in Stadt und Land geben. Nur eine Bewegung, die für die sozialen Interessen der Lohnabhängigen, Krisengebeutelten und Unterdrückten kämpft, kann den Aufstieg der AfD nicht nur zeitweise ausbremsen. Gerade angesichts der drohenden Zunahme weltumspannender Krisen und heißer Kriege zeigt sich die Bedeutung dessen. Die beiden Achsen, in die wir diese Diskussion hineinführen müssen, bilden einerseits die Versuche, die Gewerkschafter:innen und sozialen Bewegungen anzusprechen, die mit den Mitteln des Klassenkampfes gegen die Angriffe der Regierung, des Kapitals und der Rechten angehen wollen. Andererseits geht es darum, eine strategische Diskussion um eine revolutionäre politische und programmatische Alternative zu führen, um so die Grundlagen für eine revolutionäre Partei und Internationale zu legen.




Bremen: Regierung steht – aber rechte Opposition gestärkt

Anne Moll/Bruno Tesch, Infomail 1227, 7. Juli 2023

Die ersten überlokalen Wahlen 2023 liegen mit denen im Land Bremen seit Mitte Mai hinter uns. Die Wahlbeteiligung lag mit 57 % rund 6 Punkte unter der von vier Jahren.

Ergebnisse

Entgegen dem Bundestrend, bei dem die Regierungsparteien Federn lassen mussten, hat sich die SPD bei den Landtagswahlen zur Bremischen Bürger:innenschaft wieder an die Spitze gesetzt und ihren parlamentarischen Erbhof, den sie, rechnet man die Weimarer Zeit hinzu, 90 Jahre lang verbissen verteidigt. Dennoch fuhr die Sozialdemokratie mit rund 30 % nach dem Debakel von 2019 ihr zweitschlechtestes Resultat ein. Die vorige Wahlperiode konnte sie nur durch den Senatsvorsitz in einer Dreierkoalition überstehen, obwohl sie stimmenmäßig der CDU unterlegen war.

Trotz dieser alles andere als berauschenden Tatsachen verstieg sich Amtsinhaber Andreas Bovenschulte nach der ersten Hochrechnung zur Einstufung als „historischer Tag“. Neben dem typischen Eigenlob über überzeugende Sacharbeit spielte der SPD auch die Schwäche der anderen Parteien in die Karten. Viele Wähler:innen sahen diesmal die Notwendigkeit, Stimmen gegen die große Konkurrentin CDU anzuhäufen, was zu Lasten der Mitregent:innen ging.

Abgestraft wurden vor allem die Grünen, abgesackt auf 11,9 %, deren inkonsequente Verkehrspolitik, aber auch die bundespolitisch umstrittenen Entscheidungen auf dem Energiesektor ihnen einen krassen Einbruch einbrockten. Die Spitzenkandidatin Maike Schaefer zog bereits die Konsequenzen und legte ihren Parteivorsitz einen Tag nach der Wahl nieder.

Die Partei DIE LINKE blieb von Einbußen weitgehend verschont und erzielte 10,9 % Wähler:innenanteil. Die Parteispitze führt dies in erster Linie jedoch nicht auf einen Kurs der Mobilisierung z. B. in der Tarifauseinandersetzung zurück, sondern auf ihr pragmatisches Verhältnis zu anderen Parteien. Es nimmt nicht Wunder, dass ihnen auch von über 40 % der CDU-Wähler:innenschaft eine Kompetenz in Sachen Wirtschaft – sprich kapitalistischer Mängelverwaltung – attestiert wird.

Eigentliche zahlenmäßige Gewinnerin war die rechtspopulistische Partei Bürger in Wut, die ihren Stimmenanteil auf fast das Vierfache (9,4 %) steigerte, in Bremerhaven gar auf über 20 % kam, jedoch auch Voten von der AfD abfischte, die wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz – sie hatte 2 Kandidat:inntenlisten eingereicht – nicht zu den diesjährigen Wahlen antreten durfte. Die Bundes-AfD will dagegen erneut Klage einreichen und erhofft sich davon eine Wahlwiederholung. Als kleinste Oppositionspartei zog auch die FDP haarscharf mit 5,1 % noch in die Bürgerschaft, das Bremer Landesparlament, ein. Das bringt die dort vertretene Parteienpalette auf ein halbes Dutzend.

Regierungskonstellation wird fortgesetzt

Die beiden braven Juniorpartner:innen, Grüne und LINKE, durften auf eine Fortsetzung des Dreibundes hoffen, zumal SPD-Chef Bovenschulte bereits im Wahlkampf seine Neigung hierzu nicht verhohlen hatte. Nach vier Wochen konnten die Verhandlungen abgeschlossen werden und nach Billigung des Vertrags durch die Landesparteitage der drei beteiligten Koalitionär:innen geriet die für Mittwoch, den 5.7., vorgesehene Wahl des neuen Senats nur noch zur Formsache.

Die Neuzusammensetzung sieht vor, dass die SPD , die wieder den Bürgermeister stellt, 4 Ressorts (Inneres, Bildung, Arbeit, Soziales, Justiz, Bau- und Verkehr) besetzt, die Grünen 2 (Finanzen, Klima und Wissenschaften) und DIE LINKE ebenfalls 2 (Wirtschaft und Häfen sowie Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz) bekleiden. Es hat auch personell einiges Stühlerücken gegeben.

Interessanter jedoch sind die durchgesickerten Konfliktpunkte, bei denen die SPD ihr Gewicht bei den Verhandlungen in die Waagschale werfen konnte. So sagte Bovenschulte: „Wir werden auch in dieser Konstellation massiven Einfluss auf die Hafenpolitik nehmen,“ und deutete an, die Linke beim Energy Port in die Kabinettsdisziplin zwingen zu können. Die neue Hafenanlage im südlichen Fischereihafen Bremerhavens als Nachfolgeprojekt für den gescheiterten Offshorehafen soll die Windenergie auf See unterstützen und als Umschlagplatz für erneuerbare Energien dienen.

Den größten Widerspruch erntete die Linie zur Politik im Gesundheitswesen, wonach Leistungen zentralisiert werden sollen, weil der Klinikverbund defizitär arbeitet und deswegen Bereiche geschlossen werden müssten. Von der fixen Idee, die Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen wahrnimmt, wird also keinen Millimeter abgerückt.

DIE LINKE sieht den größten Dissens in der Innenpolitik, wo die Einsatzgruppe der Bereitschaftspolizei, die dem Streifendienst u. a. bei größeren Einsätzen unterstützt, mit Tasern (Elektroschockpistolen) ausgerüstet werden soll. Die Zahl der Polizeivollstellen soll „perspektivisch“ auf 3.860 anwachsen. All das hinderte ihren außerordentlichen Landesparteitag am Sonntag, dem 2. Juli, nicht, trotzdem mit großer Mehrheit für den Koalitionsvertrag zu stimmen. Berlin lässt grüßen!

Kein Vertrauen in Rot-Grün-Rot!

Gerade in Anbetracht der weit über den lokalpolitischen Tellerrand hinausragenden Probleme wie Inflation, immer schmalbrüstigere Budgets für Sozial- , Bildungs- und Gesundheitsbereich sind keine konstruktiven Impulse für die anstehenden Aufgaben zu erwarten.

Hochfliegende Pläne musste der Zwei-Städte-Staat schon mehrfach einmotten, wie z. B. das Space Center. Ob der geplante Energiehafen Bremerhaven sich aus dem ökonomischen und sozialen Tal heraushieven und nicht das Schicksal seines Vorgängers Offshore erleiden wird, darf mindestens angezweifelt werden.

Der Vorsatz, nicht mehr das Schlusslicht in der deutschen Bildungslandschaft zu bilden, nimmt sich dagegen fast bescheiden und realistischer aus. Die Arbeiter:innenklasse und die städtische Armut werden sich auf jeden Fall weiter warm anziehen und gegen Einschnitte in ihrem Lebensalltag ankämpfen müssen, z. B. durch Bildung von Preiskontroll- und Mieter:innenkomitees auf Stadtteilebene, die zentralisiert werden sollten.