Schwarze Zeiten? Die Berliner Wahlen und ihr Ausgang

Wilhelm Schulz/Martin Suchanek, Infomail 1213, 15. Februar 2023

Die CDU geht als klare Siegerin aus der Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 12. Februar hervor. Erstmals seit 1999 wurde sie zur stärksten Partei in der Stadt und konnte ihren Stimmenanteil deutlich auf 28,2 % steigern, was ein Plus vom 10,2 % gegenüber 2021 bzw. von 10,6 % verglichen mit 2016 bedeutet. Die einzige andere Partei, die einen leichten Stimmengewinn verbuchen kann, ist die AfD mit 9,1 % und einer Steigerung um 1,1 % zu 2021.

Die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und Linken hat geschlossen verloren und kommt auf 49 %, ein Verlust um 5,4 % zu 2021 (SPD bei 18,4 % und -3 %, Grüne ebenfalls bei 18,4 % und -0,5 %, LINKE bei 12,2 % und -1,9 % zu 2021). Die FDP fällt unter die undemokratische 5 %-Hürde, verliert 2,5 % und kommt nur noch auf 4,6 %. Sie muss somit das Abgeordnetenhaus verlassen – also wenigstens eine erfreuliche Nachricht.

Der Wahlgewinn der Union war zwar im Vorfeld abzusehen, ist aber dennoch deutlicher als von vielen erwartet. Vor allem aus zwei Parteien erhielt sie dabei Stimmengewinne (https://www.tagesschau.de/inland/waehlerwanderung-berlin-113.html): 60.000 von der SPD und 37.000 von der FDP. Auch interessant sind die Zahlen von jeweils 21.000 Stimmenwanderungen von den sog. Kleinstparteien und Nichtwähler:innen. Daneben gewann sie 17.000 Stimmen von den Grünen, 12.000 von der AfD und 11.000 von der LINKEN. Bei den Erststimmen konnte die Union ihre gewonnenen Wahlkreise mehr als verdoppeln. Sie gewann 48 von 78, 2021 waren es 21. Die SPD stürzte von 25 auf 4 Wahlkreise ab. Daneben: Die Stimmendifferenz zwischen SPD und Grünen beläuft sich anscheinend auf 105, weshalb eine Neuauszählung wahrscheinlich ist.

Der Erfolg der CDU ist darauf zurückzuführen, dass sie gleich mehrere Stimmungen auf sich fokussieren konnte. Außerdem hat er auch sehr wichtige bundesweite Implikationen bzw. setzt Trends fort. Vergleichbar sieht es um die FDP aus, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. Die Wahlniederlage reiht sich in den Trend der vergangenen Landtagswahlen ein. Die Union konnte sich gegen die rot-grün-rote Landeskoalition als Alternative präsentieren und den Unmut gegen den Senat kanalisieren.

Der Löwenanteil der Berliner:innen ist jedoch nicht zur Wahl gegangen oder durfte es nicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 63 %. Gegenüber 2021 ist das ein massiver Rückgang. Damals lag die Beteiligung aber mit 75,4 % überaus hoch, weil sie gemeinsam mit der Bundestagswahl durchgeführt wurde. Die 63 % entsprechen hingegen dem Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Knapp 22 % der Bevölkerung hat überhaupt kein Wahlrecht, weitere 13 % haben das Wahlalter noch nicht erreicht. Am Dienstag, dem 14.2, tauchten auch in Lichtenberg noch mehr als 400 Briefwahlumschläge auf. Das endgültige amtliche Wahlergebnis ist nicht vor dem 17. Februar zu erwarten.

Ein Schritt nach rechts

Das „Es kann kein Weiter so geben“, das aus allen Fanfaren der Parteien klingt, drückt die Stimmung der Wahl aus. Mit der CDU und den Grünen haben sich zwei bürgerliche Parteien in Berlin weiter etablieren bzw. ein sehr gutes Ergebnis von 2021 weitgehend stabilisieren können, während die bürgerlichen Arbeiter:innenparteien SPD und LINKE weiter an Stimmen und Prozenten verlieren.

Auch wenn die Wahl von keinem großen Rechtsruck begleitet wurde, so stabilisiert sie die Rechtsentwicklung im Abgeordnetenhaus. In diesem Licht muss das „Es kann kein Weiter so geben“ gewertet werden, egal ob es eine Fortsetzung von RGR, Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün wird.

Diese Verschiebung zeigt sich auch in den Wahlkampfthemen. So haben CDU, AfD und FDP einen thematisch vergleichbaren Wahlkampf geführt, wenn auch im Ton verschieden. Sie haben das Berliner Verwaltungsversagen auch über die gescheiterte Wahl von 2021 hinaus ins Zentrum gestellt und andererseits den Ruf nach Recht und Ordnung im Lichte der rassistischen Diffamierungen rund um die Silvesternacht oder um das „Chaos“ in den „linken“ Stadtteilen erklingen lassen. Alles klassisch rechte oder rechtspopulistische Themen.

Die Senatsparteien hatten dem im Grunde nichts entgegenzusetzen. Die SPD versuchte sich sogar, wenn auch ohne großen Erfolg, selbst als Law-and-Order-Partei mit Augenmaß zu inszenieren. In jedem Fall können wir davon ausgehen, dass der nächste Senat – egal wie er zusammengesetzt sein wird – die Polizei, deren Mittel und Befugnisse unter dem Vorwand der Bekämpfung von „Clankriminalität“ und „linken Chaot:innen“ massiv stärken wird. Wir können annehmen, dass die ohnedies oft eher symbolischen und letztlich zweitrangigen Reformen unter RGR faktisch kassiert werden sollen.

Daneben stand Mobilität im Zentrum, wobei die drei Parteien sich für die Aufrechterhaltung Berlins als Autostadt mitsamt der Fortsetzung des Baus der A100 ausgesprochen haben. Insgesamt wurde die Koalition als handlungsunfähig beschrieben und das trotz einer LINKEN, die bei den Koalitionsverhandlungen ihre Beteiligung an der Regierung über ihr Programm stellte.

Im Jahr 2021 war die Wohnungsfrage noch das zentrale Thema der Wahl. Das aktuelle Ergebnis könnte vermutlich der letzte parlamentarische Todesstoß für den Volksentscheid von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ sein, solange dessen strategische Orientierung weiterhin auf parlamentarische Mehrheiten ausgerichtet ist statt des Aufbaus einer klassenkämpferischen Mieter:innenbewegung in den Häusern, auf den Straßen und in den Betrieben. Inwiefern die möglichen Handlungsempfehlungen der Verschleppungskommission (offiziell: Expert:innenkommission) noch im Senat Zustimmung finden werden, steht in selbigem fragwürdigen Licht. Und das obwohl Kai Wegner (CDU-Spitzenkandidat) deutlich als Feind der Mieter:innen hätte demaskiert werden können. Er war damals im Bundestag einer von denen, die gegen den Berliner Mietendeckel geklagt haben. Die Berliner CDU wurde in den vergangenen Jahren massiv durch Parteispenden von der Immobilienlobby unterstützt.

Doch, wie es in der Presse so oft heißt, bleibt unklar, ob Wegner nicht ein „König ohne Land“ bleibt, also keine/n Koalitionspartner:in finden könnte, da sowohl SPD als auch Grüne sich für die Fortsetzung von Rot-Grün-Rot ausgesprochen haben. Außerdem fürchten diese zu Recht, dass sie unter CDU-Führung zum Anhängsel der Konservativen würden.

Die Sondierungsgespräche, die SPD und Grüne nun mit der Union führen werden, könnten beide zur Durchsetzung ihrer Ziele in einer Drei-Parteien-Koalition verwendet werden. Eine schwarz-grüne Koalition scheint zwar am unwahrscheinlichsten, wenn man sich die konträren Wahlkampfthemen und die beidseitige Rhetorik anschaut, hätte aber eine starke Wirkung auf die Bundespolitik und könnte ein etwaiges Scheitern der Ampel vorbereiten, in der sich die Grünen und nicht die FDP als verlässlichere Partnerinnen für eine etwaige CDU-geführte Regierung präsentieren.

Und die LINKE?

Auch sie hat verloren. Einerseits zwei von sechs Direktmandaten, die jeweils an die CDU verlorengingen. Generell hat die CDU bis auf zwei Wahlkreise der AfD alle Außenbezirke gewonnen, während die Innenstadt grün ist (Zweitstimmen). Vergleichbar ist es auch bei der Altersstruktur. Die Grünen sind die stärkste Kraft unter 35 Jahren und die CDU bei den über 45-Jährigen. Die Lützerath-Räumung, die die Grünen mitverantworten, hat hier also keinen signifikanten Einfluss auf das Wahlergebnis genommen. Die LINKE sieht sich somit einer Verringerung ihres Einflusses gegenüber. Auch wenn sie in allen Bezirken verloren hat, lässt sich ein deutlicherer Stimmrückgang in ihren alten Ostberliner Stimmbezirken verbuchen, während sie sich im Stadtzentrum relativ gefestigt hat. Am deutlichsten zeigt sich dies im sonst so roten Köpenick, das nun tiefschwarz überzogen ist. Im Verhältnis zum Bundestrend bleibt Berlin jedoch eine Hochburg der LINKEN. Dass die verschiedenen brennenden sozialen Fragen wenig im Zentrum standen und die LINKE dies nicht auffangen konnte, wird deutlich, wenn wir sehen, dass die Partei seit 2001 an der Landesregierung ist, mit einer Ausnahme von 2011 bis 2016.

Katja Kipping warb bereits wenige Minuten nach den ersten amtlichen Hochrechnungen für eine Fortführung von Rot-Grün-Rot und war damit vermutlich die erste öffentliche Fürsprecherin. Es bleibt abzuschätzen, wie stark das Lager gegen die Regierungsbeteiligung sein wird. Angesichts dessen, dass beispielsweise die oppositionelleren Bezirke wie Neukölln und Mitte verhältnismäßig gute Ergebnisse erzielten, sind die Möglichkeiten dafür verbessert, wie die Basis für die Nebelkerze des „rebellischen Regierens“ sichtbar geschwächt ist. Andererseits konnte dieses Doppelspiel, einerseits Teil der Regierung zu sein, sich andererseits auf die Seite des Sozialprotests zu stellen, in keiner gesteigerten Unterstützung münden – zwei Wege, die sich offensichtlich entgegenstehen.

Nach der Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2021 war das größte Schreckgespenst in den Reihen der LINKEN die Möglichkeit einer Ampelkoalition auf Berliner Ebene. Mit diesem Argument wurden weite Teile des Programms in den Koalitionsverhandlungen aufgegeben. Es droht, dass mit selbigem erneut in Koalitionsverhandlungen eingestiegen werden soll.

Natürlich wäre es leichfertig, ja albern zu sagen, dass eine CDU-geführte Regierung überhaupt keinen Unterschied für die Bevölkerung ausmachen würde. Zweifellos würden Wegner und Co. eine solche Situation nutzen, um ihr Law-and-Order-Programm durchzuziehen, wenn auch vielleicht mit etwas grüner oder sozialer Tünche für eine jeweilige Koalitionspartnerin.

Doch das würde nur einen weiteren Zerfallsprozess befördern. DIE LINKE würde sich an einer solchen Regierung ebenso wie die Restbestände des linken SPD-Flügels einfach selbst überflüssig machen und eine CDU-Regierungsübernahme bloß hinauszögern.

Zudem zeigt die Erfahrung mit dem RGR-Senat (wie vordem mit den rot-roten Senaten), dass diese selbst zur Verschleppung und Sabotage demokratischer Entscheidungen wie der Enteignung der großen Immobilienhaie bereit sind. Nachdem DIE LINKE den Volksentscheid schon in der letzten Koalition nicht durchsetzen konnte, ist natürlich kindisch zu denken, dass eine geschwächte Partei und ein geschwächter Senat ausgerechnet jetzt die Konfrontation mit dem Kapital suchen werden.

Daher müssen aber auch die Gegner:innen eine Regierungsbeteiligung in der LINKEN jetzt aufstehen. Schließlich haben sie sich in der letzten Legislaturperiode auch nicht mit Ruhm  bekleckert, sondern nur so getan, als hätten sie mit dem Senat nichts zu tun – und haben doch umgekehrt „ihrer“ Partei keine Steine beim Regieren in den Weg gelegt.

Gerade die linken Bezirke wie Neukölln und Mitte sowie alle anderen Gegner:innen einer weiteren Regierungsbeteiligung müssen sich jetzt offen gegen die Regierungssozialist:innen, gegen die Giffey-Freund:innen um Schubert, Lederer und Kipping formieren. Ein erster Ausgangspunkt dessen könnte eine Einberufung einer öffentlichen Konferenz des linken Flügels der Partei sein. Bereits als Folge der letzten Sondierungen gab es erste Ansätze zum Aufbau einer solchen Opposition, jedoch verpuffte die Organisierung dieser Ansammlung von Parteimitgliedern, sobald die Abstimmung für die Beteiligung an der Koalition innerhalb der LINKEN vorüberging.

Die Linken in der LINKEN stehen vor der Aufgabe, den Widerstand gegen die Fortsetzung von Rot-Grün-Rot zu organisieren und um die Ausrichtung der Partei zu kämpfen. Angesichts ihrer bundesweiten Krise dürfen sie dabei vor einem organisierten Kampf nicht weiter zurückschrecken – und das heißt auch nicht vor einem kommenden, im Grunde unvermeidlichen organisierten Bruch mit ihr.




Schweden nach den Wahlen: Rechte Kräfte müssen durch Massenkampf geschlagen werden

Arbetarmakt Schweden, Infomail 1202, 18. Oktober 2022

Das Wahlergebnis von 2022 bedeutet mehr als nur einen parlamentarischen Sieg der Rechten. Schweden wird nun eine Regierung haben, die sich auf den militanten Klassenkampf von oben konzentriert. Der Lebensstandard und die Rechte der arbeitenden Menschen werden angegriffen werden. Die parlamentarische Abhängigkeit von einer rassistischen rechtspopulistischen Partei mit nationalsozialistischem Hintergrund garantiert, dass einige der am stärksten unterdrückten Gruppen der Gesellschaft zur Zielscheibe werden. Die rassistische Hetze während des Wahlkampfes gibt einen Vorgeschmack auf das, was uns bevorsteht.

Der Sieg der rechten Kräfte ist größer, als die Medienberichterstattung vermuten lässt. Die Zentrumspartei ist nicht Teil eines linken Blocks, sie ist eine neoliberale, kapitalistische Partei mit massiven Kürzungen im Sozialbereich als zentralem Thema. Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass sie sich den anderen Koalitionsparteien anschließen und den rechten Flügel im Parlament weiter stärken wird.

Entwicklung des Reformismus

Ein weiterer Aspekt des Sieges der Rechten ist die Art und Weise, wie es ihnen gelungen ist, die reformistischen bürgerlichen Arbeiter:innenparteien, die sozialdemokratische und die Linkspartei, nach rechts zu ziehen. Als viele Sozialist:innen und klassenbewusste Arbeiter:innen dachten, dass es für sie nicht möglich sei, weiter nach rechts zu gehen, taten ihre Führungen genau das. Die Sozialdemokraten übernahmen zentrale Elemente der rassistischen Rhetorik in der vergeblichen Hoffnung, den Zustrom von Stimmen zu den Schwedendemokraten (SD) zu stoppen. Die Linkspartei wiederum versuchte, sich als „verantwortungsbewusst“ zu profilieren, und scheiterte kläglich daran, bei der Mehrheit der Arbeiter:innen Fuß zu fassen, während sie einen Teil ihrer linken Wähler:innenschaft verlor.

Darüber hinaus hat die kürzlich gegründete Nuance-Partei, eine islamische, wertkonservative, rechtsgerichtete Partei, zwei kommunale Sitze errungen und damit die Sozialdemokratie in einigen Wahlbezirken mit hohem Migrant:innenanteil geschwächt. Auch dies ist Teil des Vormarsches der rechten Kräfte.

Wie immer ist das Bild nicht einheitlich. Einige Teile der Arbeiter:innenklasse und sicherlich auch andere Schichten erkannten die Gefahr von rechts und wandten sich der sozialdemokratischen und Linkspartei zu oder hielten an ihnen fest, um die Rechten abzulehnen. In einigen Gebieten, vor allem in Stockholm, wo die Mehrheit in der Kommune auf sie übergehen wird, haben diese Parteien sogar zugelegt.

Dass die beiden Parteien insgesamt auf dem Rückzug sind, ist jedoch kein Wunder. Ihre Basis ist die Arbeiter:innenklasse und ihr Einfluss hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Bedingungen für diese Klasse zu verbessern und für fortschrittliche Ziele zu stehen. Wenn sie dies nicht tun, sondern im Gegenteil die Arbeiter:innenklasse angreifen, wie es insbesondere bei der Sozialdemokratischen Partei der Fall ist, sägen sie den Ast ab, auf dem sie selbst sitzen.

Jahrzehnte rechter Politik von Sozialdemokraten, gefolgt von der Linkspartei, haben beide geschwächt und auch große Teile der Arbeiter:innenklasse politisch und ideologisch desorientiert. Die Wahlergebnisse von 2022 sind eine Folge dieses Prozesses.

Vor diesem Hintergrund ist es absurd, davon zu sprechen, dass die Liberalen eine Art Verrat begehen, wenn sie mit den Schwedendemokraten zusammenarbeiten. Dieses Argument beruht auf der Illusion, dass es eine anständige Bourgeoisie gibt, und davon abgesetzt gibt es die Rechtsaußenpartei SD. Die Liberalen sind eine aggressive kapitalistische Partei, die alle Tendenzen in der Gesellschaft verstärken will, die objektiv die SD begünstigen.

Diejenigen in der Linken, die sagen, dass „der Liberalismus eine stolze Geschichte des Widerstands gegen den Faschismus aufweist“, lügen oder sind unwissend. Das wichtigste Beispiel sind die deutschen Liberalen, die im März 1933 für die Sondergesetze (Ermächtigungsgesetz) stimmten, die Hitler und den Nazis die uneingeschränkte Macht gaben. Die Liberalen waren und sind eine völlig unzuverlässige Kraft gegen Rassismus und Rechtsextremismus, was die schwedischen eindeutig bestätigen. Sie „verraten kein Erbe“, wenn sie die SD unterstützen. Das ist ihr Erbe, sie haben immer die Bourgeoisie und das Wohl des Kapitalismus an die erste Stelle gesetzt, selbst wenn das eine Zusammenarbeit mit der antiliberalen rechten Reaktion bedeutet.

Auf jeden Fall bedeutet der Erfolg der Schwedendemokraten nicht, dass wir in Schweden ein faschistisch dominiertes Regime erleben werden. Der Begriff Faschismus sollte nicht verwässert werden, er gilt nur für die gewalttätigste Form der bürgerlichen Reaktion wie das Dritte Reich, die Herrschaft Mussolinis oder den Aufstieg des Islamischen Staates. Als rassistisch-populistische Partei ist die SD natürlich extrem reaktionär, aber wir stehen nicht vor einer nahen Auflösung der liberalen bürgerlichen Demokratie. Auf der anderen Seite erwartet uns eine harte und repressive rechte Politik im Rahmen der bürgerlichen Demokratie, die auch in eine nichtliberale Richtung umgestaltet werden kann.

Bei aller Warnung vor dem kommenden Vormarsch rechter Kräfte sollten wir die Bedeutung eines Wahlergebnisses nicht überbewerten. Bei Parlamentswahlen in einem kapitalistischen Staat geht es im Grunde nur darum, welche politische Fraktion die Interessen der herrschenden Klasse verwalten darf. Die große Schlacht findet nun außerhalb des Parlaments statt, auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen und in den Wohnvierteln.

Was tun?

Die vorrangige Aufgabe besteht darin, sich dort zu organisieren, wo sich die Arbeiter:innenklasse befindet, um gegen jeden kommenden Angriff mobilisieren zu können. Wenn es gelingt, außerhalb des Riksdag (schwedisches Parlament)  genügend Kräfte zu mobilisieren, spielt es keine Rolle, wer die Mehrheit hat. Keine parlamentarische Mehrheit kann dem Druck von Massendemonstrationen und Streiks standhalten – und das sind die Methoden, die in Zukunft gebraucht werden.

Die Führungen der Sozialdemokratie und der Linkspartei meiden den außerparlamentarischen Kampf wie die Pest. Sie können bestehende Protestbewegungen unterwandern und sie dann ablenken und neutralisieren. Für beide gerät die Unterstützung eines starken außerparlamentarischen Kampfes in Konflikt mit ihren strategischen Zielen. Beide werden immer dem Kapital und seinem Staat gegenüber loyal sein, wenn es wirklich darauf ankommt. Es handelt sich um reformistische Parteien, die von Bürokrat:innen geführt werden, die sich in entscheidenden Situationen als Klassenverräter:innen betätigt haben.

Der Kampf kann sich also nicht auf das beschränken, worauf sich diese beiden Parteien einigen können, denn dann wird nicht viel erreicht. Langfristig muss sich die Arbeiter:innenklasse in einer neuen Partei organisieren, um die rechten Kräfte grundlegend zurückzuschlagen.




Niedersachsenwahl 2022: Ampel mit zwei Lichtern

Bruno Tesch, Infomail 1201, 11. Oktober 2022

Aufregend war der Wahlkampf in Niedersachsen nicht gerade, eher waren es die überregionalen Umstände, unter denen er stattfand. Stephan Weil, der mit Sicherheit im Amt verweilende Ministerpräsident der Wahl„siegerin“ SPD, meinte: Die Wahl sei „bestimmt gewesen von den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger“ und schwenkte um auf die Erwartung, in der Energiekrise ein gebündeltes Vorgehen von Bund und Ländern zu erleben. „Ein Maximum an Konzentration“ müsse darauf gelegt werden, „die deutsche Industrie zu schützen“. Er hatte auch schnell die Ursache allen Übels zur Hand: „Der Grund für unsere Probleme ist nicht die Bundesregierung. Der Grund ist der Angriffskrieg von Wladimir Putin auf die Ukraine.“

Richtig daran ist, dass die Landtagswahlen isoliert genommen nur geringen Aussagewert haben. Zum einen sind sie der erste bundespolitische Stimmungstest für die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, zudem der einzige für längere Zeit, denn die nächsten Wahlen auf Regionalebene finden erst im Mai 2023 in Bremen statt. Überlagert wurde die Niedersachsenwahl durch den Handlungsdruck zu Entscheidungen, die die Krisenerscheinungen abmildern sollen. Am Wahltag trat eine sogenannte Expertenkommission zusammen, um der Bundesregierung Empfehlungen an die Hand zu geben, wie für „Wirtschaft und Verbraucher“ die Energiepreise gedeckelt werden können. Das stieß sicher auch bei der Bevölkerung in der niedersächsischen Provinz auf ein höheres Interesse als der Wahlausgang. Die Wahlbeteiligung ging gegenüber dem letzten Urnengang 2017 um rund 2 Punkte auf 61 Prozent zurück.

Wahlergebnis

Die SPD behauptete sich trotz Verlusten von 3,5 % mit 33,4 %. Ihr folgte die bisherige Koalitionspartnerin CDU, die am Ende um 5,4 % gerupft mit 28,1 % dastand, ihrem schlechtesten Abschneiden seit 1947. An dritter Stelle kamen Die Grünen auf 14,5, % und verzeichneten mit 5,8 % den stärksten Zuwachs, wenn sie auch weit unter den vorher prognostizierten Gewinnen blieben. Die AfD verbesserte sich gegenüber den letzten Landtagswahlen um 3,8 % und erreichte mit 11 % erstmals ein zweistelliges Resultat. Die FDP schmierte von ihren 2017 erzielten 7,5 % noch unter die 5 %-Marke ab (4,7 %) und ist somit nicht mehr im Landtag vertreten. Andere Parteien blieben chancenlos. DIE LINKE erfüllte mit ihren desaströsen 2,7 % nicht einmal die Erwartungen der Umfrageinstitute, die sie bei 4 % gesehen hatten.

SPD und Grüne werden bereits am 13.10. Koalitionsverhandlungen aufnehmen. Beide hatte sich schon vorab für eine Regierungspartnerschaft bereit erklärt. Mit diesem Ergebnis geht die grottige Groko-Zeit mit dem gemeinsamen Regieren von SPD und CDU nun auch auf Länderebene zu Ende. Ein Freifahrtticket für die im Bund regierende Ampelkoalition bedeutet dies hingegen nicht, denn die FDP, deren Licht im niedersächsischen Landtag verloschen ist, hat bereits wissen lassen, dass sie ihr „Profil schärfen“ wolle, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Das bedeutet, härtere Auseinandersetzungen um den Regierungskurs sind vorprogrammiert.

CDU und SPD verteidigten im Wesentlichen ihre traditionellen Hochburgen, die CDU v. a. im Osnabrücker Land, während Industriestandorte wie Wolfsburg oder Salzgitter für die SPD wogen. Im Raum Salzgitter befindet sich jedoch eine Industrie in der Krise, und das Resultat für die AfD lag mit 18 % über dem Durchschnitt. Bei der SPD trat alles Inhaltliche hinter den Zuschnitt auf die Vaterfigur des Amtsinhabers Weil zurück. Die CDU tat sich als bisherige  „Juniorpartnerin“ umso schwerer, da die Schützenhilfe der auf harte Konfrontation gebürsteten Bundespartei ihren Wahlkampf nicht glaubwürdiger machte. Sie versuchte, teilweise mit dubios rassistischen Plakaten wie „Null Toleranz gegen Clans“, im rechten Milieu zu fischen.

Das Abschneiden der AfD wurde von den Wahlkommentator:innen mit „Besorgnis“ verfolgt und als Ausdruck von Abstiegsängsten bedrohter Existenzen gedeutet. Ein Alleinstellungsmerkmal war neben der Rhetorik gegen die „Linksrepublik“ auch der Verweis auf die „Flüchtlingsproblematik“ durch Zuzug aus der Ukraine, ein Thema, was andere Parteien gemieden haben, aber reaktionäre Ressentiments mit tatsächlicher Problematik  bei Verknappung von Wohnraum vermischt hat. Daneben konnte auch die erstmals angetretene rechtspopulistische Partei Die Basis im Wahlkreis 47 (Elbe) mit ihrer Kandidatin einen Achtungserfolg über 6 % erlangen. Die AfD erhielt Zulauf von fast allen anderen Parteien, ebenso wie die Grünen.

Die Grünen profitierten von ihrer bereits zuvor gestärkten Stellung  in Niedersachsen, unterstrichen durch 17 eroberte Bürgermeisterchef:innensessel, darunter nicht zuletzt in der Landeshauptstadt Hannover. Sie konnten in der Oppositionsrolle unbeschadet ihre vermeintliche Sachkompetenz in Umweltfragen ins Spiel bringen und punkteten vornehmlich bei jüngeren und perspektivisch einkommensstärkeren Wähler:innengruppen, während sie in industriell geprägten Bezirken schwach abschnitten.

Nur in traditionell linken Wahlbezirken wie Amt Neuhaus (ehemals DDR-Gebiet) konnte DIE LINKE jenseits der 5 % landen. Sie  bestritt ihren Wahlkampf mit Plakaten, auf denen teils in derben populistischen Ausdrücken von Krisenerscheinungen zu lesen war, die aber mittlerweile jede/r potenzielle Wähler:in zur Genüge kennt: Inflation, Mieten, Schulen, Gesundheitswesen – allein, Antworten auf die oft in Frageform formulierten Probleme waren den Schildern nicht zu entnehmen. Bei den wenigen Protestkundgebungen trat DIE LINKE nicht als treibende Kraft und mit klaren Positionierungen in Erscheinung, sondern versteckte sich in „breiten Bündnissen“. Kein Wunder also, dass sie nicht ernst genommen wurden als Vertreterin von Interessen der Arbeiter:innen und anderen Benachteiligten.

Das aber ist die Aufgabe von Kräften, die sich auch auf Landesebene formieren und den Anschluss suchen müssen an eine bundesweite Bewegung, die sich gegen die Pläne der Regierungskoalition in Bund und Land wendet. Nicht von ungefähr hat Weil nur die Standortlogik der deutschen Industrie verteidigt – die Interessen der Arbeiter:innenklasse hingegen mit keiner Silbe gewürdigt. Eine solche Protestbewegung muss aber genau diese Interessen in einem Aktionsprogramm zum Tragen bringen und damit auch den Bestrebungen der rechten „Opposition“ die Spitze brechen.




Brasilien: Zwischen zwei Wahlgängen

Dave Stockton, Infomail 1201, 9. Oktober 2022

Entgegen den Meinungsumfragen des Landes, die Lula da Silva einen klaren Sieg in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen voraussagten, zeigt das Ergebnis – 47,9 % für Lula und 43,6 % für Bolsonaro – der Abstimmung vom 2. Oktober, dass sein Gegenkandidat, der rechtsextreme Demagoge Jair Bolsonaro, immer noch die Chance auf einen Überraschungssieg am 30. Oktober hat. Er schnitt besser als erwartet in Brasiliens südöstlicher Region ab, die die bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais umfasst.

Darüber hinaus hat die extreme Rechte ihre Position bei den Wahlen zum Senat gefestigt. Bolsonaros falsch benannte Liberale Partei (PL) gewann 14 Sitze gegenüber nur 8 Sitzen für Lulas Arbeiter:innenpartei (PT) und wurde damit zur größten politischen Gruppe im Oberhaus. Die PL belegte mit 99 Sitzen auch den ersten Platz in der Abgeordnetenkammer, die jedoch, da sie nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, von den 20 Parteien des sogenannten „großen Zentrums“ (Centrão) mit 148 Sitzen dominiert wird. Dieses wird jedoch von einem Verbündeten Bolsonaros, Arthur Lira (Progressistas, PP), angeführt, der von Bolsonaro großzügig finanziert wurde, um seine Verbündeten zu wählen.

Auch bei den Gouverneurs- und Senatswahlen erzielten die Anhänger:innen Bolsonaros und anderer rechter Parteien ein besseres Resultat als erwartet, obwohl die PT die Stadt São Paulo mit einem Vorsprung von 10 Prozent gewann. Sie erreichte im Nordosten und in Minas Gerais, einem wichtigen Wahlbezirk, durchaus ihr Wahlziel.

Die anderen Präsidentschaftskandidat:innen, die nun von der zweiten Runde ausgeschlossen sind, waren Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Bewegung der Brasilianischen Demokrat:innen (MDP) mit vier Prozent und Ciro Gomes von der Mitte-Links-Partei der Demokratischen Arbeit (PDT) mit knapp über drei Prozent. Kommentator:innen gehen davon aus, dass ihre Wähler:innen eher zu Lula als zu Bolsonaro wechseln werden, aber das Umwerben ihrer Führer:innen wird Lula im Wahlkampf für die zweite Runde wahrscheinlich weiter nach rechts rücken.

Polarisierung

Lulas „Sieg“ in der ersten Runde ist also alles andere als ein Gewinn für die Linke. Die Wahl von Geraldo Alckmin, einer konservativen bürgerlichen Persönlichkeit, zu seinem Vizepräsidenten bedeutet in Verbindung mit der Macht der Rechten im Kongress und in vielen Provinzen, dass von ihnen im Amt nichts Radikales zu erwarten ist. Selbst wenn Lula sich aus ihrer Zwangsjacke befreien und Reformen zugunsten der Arbeiter:innenklasse vorschlagen würde, hätten die Rechten in Alckmin einen weiteren Michel Temer, der 2016 den „institutionellen Putsch“ gegen die PT-Präsidentin Dilma Rousseff anführte.

Offensichtlich gibt es unter großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, der schwarzen, indigenen und LGBTIAQ-Gemeinschaften, vielen progressiven Teilen der Frauen, der Jugend und der Mittelschicht enormen Hass und Angst vor Bolsonaro. Viele einflussreiche Wirtschaftskreise unterstützen jetzt Lula als das kleinere Übel wegen Bolsonaros katastrophaler Politik in den Bereichen Covid und Wirtschaft. Seine Regierungsbilanz ist eine Katastrophe, angefangen bei der Übernahme von Donald Trumps Politik der Verleugnung und des Werbens für Quacksalbermedizin, die zum Tod von 700.000 Menschen geführt hat. Die Aufhebung von Umweltschutzgesetzen und die offene Förderung des Abbrennens und der Abholzung von noch mehr Amazonas-Regenwald haben zu einer Verdoppelung der CO2-Emissionen in den Jahren 2019/20 im Vergleich zum Durchschnitt des vorherigen Jahrzehnts geführt.

Zu Bolsonaros arbeiter:innenfeindlichen Wirtschaftsreformen gehören die sogenannten Arbeits- und Rentenreformen und die Kürzung des Familienunterstützungsprogramms „Bolsa Família“.  Im Jahr 2019 erlebte dieses Programm den stärksten Rückgang in der Geschichte: Die Zahl der empfangenden Familien ging von 14 Millionen auf 13 Millionen zurück, während die Zahl derer, die in der Schlange standen, um das Programm zu erhalten, 1,5 Millionen überstieg. Die Zahl der Brasilianer:innen, die Hunger leiden, stieg von Ende 2020 bis Anfang 2022 von 19,1 Millionen auf 33,1 Millionen, das sind etwa 15,5 Prozent der Bevölkerung. Bei einer jährlichen Inflationsrate von 8,73 Prozent können diese Zahlen nur noch schlimmer werden.

Bolsonaros Ideologie und Rhetorik weisen sicherlich starke Anklänge an den Faschismus auf, und seine Anhänger:innen verüben gewalttätige, sogar mörderische Angriffe auf Persönlichkeiten der Arbeiter:innen- und anderer fortschrittlicher Bewegungen. Es handelt sich jedoch noch nicht um eine voll entwickelte faschistische Massenmiliz, die in der Lage wäre, eine faschistische Diktatur zu errichten. Auch die oberen Ränge der brasilianischen Bourgeoisie rufen nicht zu einem solchen Ergebnis auf. Das Gleiche gilt für Washington, ganz zu schweigen von den imperialistischen Mächten in der Europäischen Union.

Sie würden Lula eindeutig bevorzugen, vor allem einen gezähmten Lula mit Alckmin als Vizepräsidenten. Alckmin war bis vor kurzem einer der wichtigsten Führer einer der größten Parteien der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB. Für die Wahl wechselte er zu einer kleineren Partei. Während seiner Zeit als Gouverneur von São Paulo ließ er Lehrer:innenstreiks niederschlagen und Demonstrationen unterdrücken und war Mitinitiator des so genannten Pinheirinho-Massakers im Jahr 2012, bei dem mehr als 1.500 Familien – zwischen 6.000 und 9.000 Menschen – mit Hubschraubern, Panzern, Pferden und Tränengas aus den größten Favelas, den Elendsquartieren der Region, vertrieben wurden. Er ist auch nicht einfach nur Vizepräsident. Er bringt in Lulas „breites Bündnis“ (Volksfront) eine Koalition von Parteien und Abgeordneten ein, die die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen jeglicher echter Reformen festlegen werden.

Bolsonaro und die Gefahren  eines Putsches

Vor der Wahl sagte Bolsonaro: „Wenn ich verliere, dann weil die Wahl gefälscht wurde“, und seine massenhafte reaktionäre Anhänger:innenschaft wäre sicherlich zu einem weitaus ernsthafteren Versuch fähig, an der Macht zu bleiben, als die Anhänger:innen von Donald Trump, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmten.Die brasilianische Gesellschaft ist eindeutig von einem reaktionären Block um Bolsonaro polarisiert, ähnlich wie Trump und die Republikaner:innen in den USA. Wahrscheinlich hat er  jetzt mehr gut bewaffnete Anhänger:innen als Trump bei der Erstürmung des US-Kapitols, so dass eine Wiederholung dieses Vorgangs vermutlich noch blutiger und zerstörerischer sein würde. Bolsonaro selbst hat praktisch einen Umsturz versprochen, der auf der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses beruht.

Zwei Faktoren mögen dagegen sprechen. Erstens: Angesichts der Position der Mehrheit der Bourgeoisie, der Mehrheit ihrer Parteien, der Haltung Bidens, der potenziellen Stärke der Arbeiter:innenpartei, des CUT-Gewerkschaftsverbands und anderer gesellschaftlicher Kräfte wäre dies ein komplettes Abenteuer.

Die deutliche Stärke, die Bolsonaros Kräfte bei den Wahlen an den Tag gelegt haben, lässt einen logischeren Weg vermuten, seine Position in den Gouverneursämtern und im Senat sowie die unzweifelhafte Sympathie der Polizei und eines Teils des Oberkommandos der Armee zu nutzen, um eine Regierung Lula-Alckmin zu blockieren und vereiteln.  Schließlich werden die nächsten Jahre wahrscheinlich von einer weltweiten Wirtschaftskrise geprägt sein, und die Regierung wird nicht über die Mittel für soziale Reformen verfügen, die Lula in den Jahren 2003 – 2010 zur Verfügung standen. Ob Bolsonaro dieses Maß an Geduld aufweist, werden wir bald sehen.

In jedem Fall sollten die Arbeiter:innen und alle Unterdrückten Brasiliens nicht darauf warten, dass die fortschrittliche Bourgeoisie und die liberalen Imperialisten im Ausland, geschweige denn die Streitkräfte des Landes, die Demokratie verteidigen. Man kann auch nicht erwarten, dass Lula sich mutiger oder entschlossener verhält als Salvador Allende 1973 in Chile. Ein entwaffnetes Volk, wie geeint es auch sein mag, wird immer besiegt werden. Die Arbeiter:innen- und Volksorganisationen müssen mehr tun als nur demonstrieren. Sie müssen Delegiertenräte und bewaffnete Milizen bilden, um sich gegen Bolsonaros Banden und gegen jede Intervention des Militärs zu schützen.

Revolutionär:innen, die dem klaren Rat von Leo Trotzki aus den 1930er Jahren und der Praxis von Lenin aus dem Jahr 1917 folgen, sollten Lula-Alckmin weder an der Urne noch nach dem Wahlgang Vertrauen aussprechen. Wir sollten nur Arbeiter:innen- und sozialistische Kandidat:innen (einschließlich der PT) unterstützen, wenn diese unabhängig von allen bürgerlichen Parteien sind. Wir sollten für alle PT- und sozialistischen Kandidat:innen stimmen, die dies tun und in den Massen gut verwurzelt sind, gerade um die Kräfte der Klassenunabhängigkeit zu stärken. Mit ihnen sollten wir eine Einheitsfront bilden, die in der Lage ist, nicht nur Bolsonaro, sondern auch Lula-Alckmin zu bekämpfen, wenn diese die Rechte und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen angreifen.

Eine Regierungskoalition mit der Bourgeoisie wird nicht in der Lage sein, lebenswichtige Reformen durchzuführen, die die Arbeiter:innenklasse braucht, sondern wird zusammen mit den Gewerkschaften der CUT die Arbeiter:innen dazu drängen, Opfer zu bringen und ihren Kampf zu zügeln, um diese Regierung im Amt zu halten. Das wiederum wird die Kräfte der Arbeiter:innen und aller anderen fortschrittlichen Strömungen schwächen. Was die Verteidigung gegen einen Bolsonaroputsch angeht, so befürworten wir eine Einheitsfront der PT, der Gewerkschaften, kleinerer Parteien wie der PSOL und der PSTU sowie der kommunistischen Parteien, um ihn zu besiegen. Wir plädieren jetzt dafür, dass sie Verteidigungseinheiten bilden, um jeden Angriff auf die Regierung von rechts abzuwehren.

Gleichzeitig müssen wir für die Bildung von Aktionsräten kämpfen, an denen sich alle Kräfte der Arbeiter:innenklasse und des Fortschritts beteiligen. Wir müssen für ein Programm revolutionärer antikapitalistischer Maßnahmen gegen Inflation, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung eintreten, Land für Landlose, Selbstbestimmung und Landrechte für indigene Gemeinschaften und geplanten Widerstand gegen Umweltzerstörung fordern.




Parlamentswahl in Italien: Rechtsruck inmitten der Instabilität

Azim Parker, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Wie erwartet gingen Giorgia Meloni und ihre ultra-reaktionäre Partei Fratelli d’Italia als Siegerinnen aus der Wahl am 25. September hervor. Sie wird demzufolge an der Spitze der nächsten Regierung stehen. Die Fratelli d’Italia, deren Mitglieder sich bis heute positiv auf Mussolinis Faschismus beziehen, erhielt 26 % der Stimmen (plus 21,6 % gegenüber 2018). Auf den gesamten rechten Block, der nun die Regierung stellen wird, entfielen 43,9 % (Lega 8,8 %, Forza Italia 8,1 %). Damit verfügt er aufgrund des undemokratischen Wahlrechts über eine absolute Mehrheit in Abgeordnetenhaus wie Senat.

Für die italienischen Arbeiter:innen bedeutet dies eine weitere katastrophale Nachricht. Sie werden gegen weiteren massiven Sozialabbau und die hundertste Steuersenkung für die Kapitalist:innen – im Einklang übrigens mit allen bisherigen bürgerlichen Regierungen – kämpfen müssen. Genauso furchtbar sieht das Zukunftsszenario für Frauen, queere Menschen und Migrant:innen aus, die einen beispiellose Angriff auf ihre Grundrechte erleiden werden. So wetterte Meloni im Wahlkampf gegen das Recht auf Abtreibung, eine angebliche LGBT-Lobby und forderte Seeblockaden gegen Geflüchtete aus Afrika.

Abgesehen von den Schlagzeilen und den Siegeserklärungen ist dieses Wahlergebnis jedoch nicht ohne Widersprüche, die ganz deutlich darauf hinweisen, dass die Situation alles andere als stabil ist.

Die neue Mehrheit und die reaktionäre Wende

Die Wahl war auch durch eine riesige Enthaltung gekennzeichnet. Am 25. September entschlossen sich nämlich nur 64 % der Wahlberechtigen, sich zu den Urnen zu begeben – 9 % weniger als 2018. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, seitdem die Republik existiert, und das zeigt zweifellos eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise der bürgerlichen Institutionen.

Betrachtet man die absolute Zahl der Stimmen, so erhielt die rechte Koalition, bestehend aus Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia, die gleiche Anzahl von Stimmen wie 2018 (ca. 12 Millionen). Die WählerInnen, die 2018 für Salvini oder Berlusconi stimmten, wandten sich nun Giorgia Meloni zu, weil Fratelli d’Italia die einzige Partei war, die nicht Draghis Kabinett unterstützte. Das  bedeutet aber auch, dass die Begeisterung wahrscheinlich mehr und mehr schwinden wird, sobald Giorgia Meloni gezwungen sein wird, die gleichen Politiken der vergangene Regierungen fortzusetzen.

Das Land befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Der Staat ist massiv überschuldet – und die rechte Regierung braucht bei aller Kritik an Brüssel 200 Mrd. Euro von der EU, um das Land zu stabilisieren – und zwar auf Kosten der Arbeiter:innen und der Armen.

Auch die politischen Differenzen innerhalb der neuen Mehrheit sind bestimmt nicht zu ignorieren. Das betrifft insbesondere die Haltung gegenüber Russland. Obwohl das Koalitionsprogramm die Unterstützung des NATO und der „westlichen Werte“ bekräftigt, ist klar, dass die Lega im Gegensatz zu Fratelli d’Italia eine „flexiblen“ Haltung gegenüber Putin einnehmen möchte und für das Ende der Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine eintritt. Wenn man bedenkt, dass die Lega mit 8,8 % als die große Verliererin gilt, ist nicht schwer zu erraten, dass Salvini in der Zukunft die Uneinigkeit über den Krieg nutzten könnte, um wieder Anklang zu gewinnen.

Demokratische Partei und Fünf-Sterne-Bewegung

Die Demokratische Partei (PD) verlor ca. 800.000 Stimmen und mit 19 % blieb sie einmal mehr unter der 20 %-Marke. Die Partei unterstützte die sozialen Angriffe unter Draghis Kabinett. So entfremdete beispielsweise die reaktionäre Bildungsreform die Lehrkräfte, eine traditionelle Wähler:innenbasis der PD. Ihren Anspruch, sich als glaubwürdige Alternative zur rechten Koalition darzustellen, konterkarierte die Partei selbst in den letzten Monaten, in denen sie zusammen mit der Lega regierte. All diese Faktoren haben eine wichtige Rolle gespielt und zur Niederlage beigetragen. Ganz zu schweigen von dem katastrophalen Wahlkampf, vor allem, weil es nach verschiedenen Versuchen unmöglich war, eine Koalition mit den liberalen Parteien von Calenda und Renzi zu bilden. All das stiftete zweifellos eine große Verwirrung, die dazu beitrug, die Stimmen für andere Parteien abzugeben.

Andererseits stellt die Fünf-Sterne-Bewegung die echte Überraschung dieser Wahl dar. Obwohl sie mehr als die Hälfe der Stimmen verlor (17,3 %), schnitt sie mit 15,3 % besser ab, als die meisten erwartet hatten. Schließlich hatte sich kaum eine Partei in der letzten Legislaturperiode so unglaubwürdig verhalten wie die, die einst gegen das gesamte System angetreten war. Ursprünglich aus einer Bewegung gegen alle Parteien geboren, regierte sie schließlich zunächst allein.

Diese populistische Bewegung  unterzeichnete u. a. das kriminelle „Sicherheitsdekret“ von Salvini gegen die Migrant:innen, war mitschuldig an der todbringenden Pandemiepolitik, den Kürzungen der Gesundheitssysteme und der Erhöhung der Militärausgaben. All das führte zu einem Kollaps in den Umfragen. Trotz alledem gelang es der Partei, eine Katastrophe zu verhindern, indem sie den Wahlkampf auf die Verteidigung des Grundeinkommens fokussierte im Gegensatz zur rechten Koalition, die dessen Abschaffung forderte. Diese Strategie war relativ erfolgreich, insbesondere im Süden, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Dadurch konnte die Fünf-Stere-Bewegung mit 15,3 % noch überleben.

Der Niedergang der Linken geht weiter …

Das Ergebnis der linken Organisationen bestätigt die tiefe, seit Jahren andauernde Krise der Arbeiter:innenbewegung, zu der auch diese Führungen maßgeblich beitrugen.

Insgesamt traten drei Organisationen der Linken und sogenannten radikalen Linken bei dieser Wahl an:

– Sinistra Italiana (italienische Linke). In einer gemeinsamen Liste mit den Grünen (Alleanza Verdi e Sinistra) erreichte sie 3,6 %. Was ihre Rolle im Wahlkampf sowie künftigen Parlament angeht, ist sie nichts anders als ein Anhängsel der PD, dessen wichtigste Forderung einfach die Wiederaufnahme des Dialogs mit der Fünf-Sterne-Bewegung darstellt.

– Die Kommunistische Partei, eine stalinistische Organisation um den ehemaligen Abgeordneten Marco Rizzo, trat in die Liste Italia Sovrana e Popolare (souveränes und populäres Italien) ein. Das war ein groteskes Sammelsurium, das aus faschistischen Verschwörer:innen und Reaktionär:innen bestand. Diese Liste zeigte ganz klar, wie tief die Stalinist:innen fallen können. Das Ergebnis war auch in diesem Fall ganz mies – 1,2 % – und bedeutet hoffentlich einen vernichtenden Schlag für Marco Rizzos Beliebtheit.

– Rifondazione Comunista (RC) verbarg sich seit Jahren hinter der Bürgerliste, die jede Spur von Klasseninhalten verdrängt, in einem verzweifelten Versuch, wieder einen Platz im Parlament zu gewinnen. Diesmal hieß der Versuch Unione Popolare (populäre Union), geführt vom ehemaligen Bürgermeister und Staatsanwalt Neapels, de Magistris. Die Liste zeichnet sich durch ihren Ruf nach Verfassungstreue aller Parteien und blasse fortschrittliche Forderungen aus. Am Ende des Wahlkampfes versuchte de Magistris noch erfolglos, zu einer Vereinbarung mit der Fünf-Sterne-Bewegung zu kommen. Unione popolare erreichte schließlich 1,4 % und RC bestätigt damit auch den Mangel an Perspektive ihres Linksreformismus.

Dramatisch

In diesem Szenario sind die Zukunftsperspektiven einfach dramatisch. Allein die Engpässe der Energieversorgung und die stetig steigende Inflation bedrohen tausende Betriebe. Rund 20 % gelten als gefährdet – und damit die Arbeitsplätze und Zukunft von Millionen Arbeiter:innen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Doch der Ausgang der Wahlen zeigt auch, dass die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik, zur Rechten wie zu allen anderen offen bürgerlichen und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.




Nach NRW-Wahl: Zeitenwende für die Ampel?

Leo Drais, Infomail 1188, 18. Mai 2022

Vielleicht läuft die Geschichte doch ein bisschen in Kreisen. Zum Beispiel in der politischen Beziehung zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Bund. 2017 verlor Hannelore Kraft für die SPD die Landtagswahlen – es wurde als Vorbote für Merkels vierte Wiederwahl betrachtet und so kam es. Oder nehmen wir 2021. Eine Flutkatastrophe erschüttert NRW. Armin Laschet, Spitzenkandidat der CDU für die Bundestagswahl und davor Ministerpräsident in Düsseldorf, fand die Flut anscheinend lustig. Danach verging ihm das Lachen dann schnell. Im September verlor er gegen Olaf Scholz. Die vor sich hinsiechende SPD konnte dank der Union das Krankenhaus kriselnder Parteien verlassen.

Landtagswahl

Jetzt aber hat sie in Nordrhein-Westfalen eine saftige Niederlage kassiert, im Kontext einer Wahlbeteiligung von gerade mal 55 %. Die CDU holte 35,7 % – exakt 9 % mehr als die SPD. AfD und FDP schafften gerade so den Einzug ins Parlament. Die eigentlichen Gewinner:innen sind die Grünen, die mit 18,2 % über zehn Prozent dazugewinnen konnten.

Sie betonten gleich, dass ohne sie nichts gehen würde, und wahrscheinlich haben sie damit Recht.

Denn da weder CDU noch SPD aufeinander Bock haben (rechnerisch zumindest eine mögliche Große Landeskoalition), bleibt beiden nur, die Grünen zu umgarnen. Die SPD wäre dabei sogar noch auf die FDP angewiesen, also auf eine regionale Wiederauflage der Ampel, was kaum passieren wird.

Ziemlich sicher wird der bisherige Ministerpräsident Hendrik Wüst also eine CDU/Grünen- Regierung anführen. Vieles spricht dafür. Zum Beispiel dass die Union weiß, dass sie mit den Grünen im Grunde fast alles machen kann, solange hier und da mal ein Windrad aufgestellt wird. Ihre gesamte Umweltpolitik ist keine und gerät daher nicht mit dem Kapital in Konflikt. In allen anderen Belangen sind sich Union und Grüne sowieso sehr nah. Die einen vielleicht etwas konservativ-miefig, die anderen  eben grün und hip. Vielleicht gäbe es zusammen keine Cannabislegalisierung oder formal-rechtliche Fortschritte für non-binäre Menschen.

Aber das sind Bundesangelegenheiten. Wenn es um das Wesentliche geht – Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innenklasse, Durchsetzen von Polizeigesetzen, dem Kapital den Weg ebnen – ziehen Grüne und Union an einem Strang. Ihre größte Differenz besteht wohl darin, wie viel Staatsintervention zur Neuformierung des deutschen Kapitals nötig ist. Doch die breite Unterstützung für den Green Deal in der EU zeigt, dass sich, jedenfalls für die nächste Zukunft, eine gemeinsame Linie finden lässt. Natürlich könnte man auch mit der FDP gut. Die hat in NRW jedoch ebenfalls ordentlich verloren und warum sollten sich Union und Grüne Verhandlungen mit ihr antun, wenn es auch ohne sie geht?

Ampelzeichen?

Die Rückkehr der Krise in die Reihen der SPD kommt nicht überraschend. Bei der Wahl im Saarland konnte sie noch von der CDU-Krise profitieren, zumal der dortige Unions-Kandidat sehr unpopulär war. In Schleswig-Holstein ging‘s dafür krachend bergab – 11,3 Prozent Verlust und bei der Union ein fast genauso großer Gewinn.

Was bedeutet die SPD-Krise für die Bundesregierung? Euphorie für die Ampel gab es sowieso nie, und nicht erst seit dem Krieg wird Scholz von den Ereignissen getrieben. Mit dem Krieg und der Inflation haben sich die ökonomischen Bedingungen für eine Koalition zwischen einer bürgerlichen Arbeiter:innenpartei – also einer Partei, die die kapitalistischen Verhältnisse verteidigt, sich aber auf  die organisierte Arbeiter:innenbewegung, vor allem die Gewerkschaften, stützt –, und zwei offen bürgerlichen Parteien nochmal ordentlich prekärer gestaltet. Einerseits erleichtert die SPD an der Regierung der herrschenden Klasse die Ruhigstellung der Lohnabhängigen durch die Einbindung der Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte der Großunternehmen, die beide eine soziale Hauptstütze der Regierung bilden. Andererseits werfen Krisenperioden für das Kapital unwillkürlich die Frage auf, ob es sich die Kosten des Korporatismus weiter leisten kann und will. Und hier kommt die Union ins Spiel – nicht nur am Rhein, sondern auch an der Spree.

Mit Friedrich Merz als neoliberalem Hardliner scheint die Union den Führer gefunden zu haben, der für sie in die Zeit passt. Mit ihm versucht sie, die Ampel vor sich her und einen Keil in sie zu treiben. Mit Erfolg. Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, sprich dem Ukraine-Krieg, stehen Baerbock und Lindner Merz näher als Scholz, dem immer wieder Zögerlichkeit vorgeworfen wird, als es zum Beispiel um schwere Waffen für Kiew ging.

Die Grünen und die Union sind demgegenüber die bürgerlichen Parteien, die am ehesten die Gesamtinteressen des deutschen Imperialismus vertreten. Sie haben die Bedeutung des von Scholz als Zeitenwende beschriebenen Periodenwechsels fürs deutsche Kapital begriffen, dem schon die bestehenden, unzureichenden sozialen Abfederungen der Inflation, sei es durch Neuverschuldung oder irgendwelche lächerlichen (Mindest-)Lohnerhöhungen demnächst schon zu viel sein könnten. Immerhin geht es darum, nicht im Kampf zwischen den Großmächten USA, China und Russland aufgerieben zu werden.

Ausblick

Natürlich ist es zu früh, der Ampel ein vorzeitiges Ende in Aussicht zu stellen. Denkbar ist jedoch allemal, dass Scholz das Schicksal Schmidts widerfährt: der Verlust seiner Koalitionspartnerinnen an die Union: Jamaika im Bundestag.

Schwieriger wird es für die Sozialdemokratie jedoch sicher. Sie ist einerseits in den DGB-Gewerkschaften und in der Arbeiter:innenaristokratie verwurzelt. So wählten lt. einer Erhebung des DGB (https://www.dgb.de/themen/++co++c653c982-d51c-11ec-96a8-001a4a160123) in NRW (noch) 36 % der gewerkschaftliche Organisierten SPD – deutlich mehr als 26,7 % der Gesamtbevölkerung.

Auch wenn sich die Gewerkschaftsführungen hier noch so Mühe geben, die Arbeiter:innenklasse mit warmen Worten abzuspeisen, kann das nicht ewig funktionieren. Bei Inflationsraten von über 7 Prozent kann der Druck durchaus so groß werden, dass Unmut und Arbeitskämpfe ausbrechen, denen die Gewerkschaftsbürokratie nachgeben muss. Bleiben selbst Ansätze von ernsthaften Kämpfen der DGB-Gewerkschaften aus, werden noch mehr Mitglieder mit den Füßen abstimmen – und austreten.

Bezüglich der SPD und ihrer Regierung wird beides die Fieberkurve steigen lassen. Ein schwächer und kleiner werdender DGB legt schleichend, aber stetig auch die verbliebene soziale Basis der SPD trocken. Gewerkschaften wiederum, die einem steigenden Druck aus der Arbeiter:innenklasse nachgeben und in eine verschärfte Konfrontation mit dem Kapital treten, bedeuten auch einen stärkeren Druck, den das Kapital und damit Grüne, FDP und Union auf die SPD ausüben werden.

Insgesamt eine Lage, die die SPD schneller ins Krankenbett zurückbefördern kann, als sie rausgekommen ist. Auf einen tapsig-trotteligen Laschet darf Scholz in der Persona Merz zumindest nicht hoffen. Und wir werden sehen, ob NRW wieder zum politischen Orakel für die Bundespolitik gestaltet wird.

Agonie der LINKEN

Wenn dem so ist, läuten für die andere bürgerliche Arbeiter:innenpartei demnächst die Totenglocken. Auch für DIE LINKE läuft die Zeit in NRW ein bisschen im Kreis. Seit sie existiert, dümpelt sie mal über, mal unter der 5 %-Hürde.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie zuvor. DIE LINKE sitzt nicht im Landesparlament von NRW. In Prozenten ausgerückt hat sie die Hälfte der Wähler:innen verloren. Trotzdem ist das Ergebnis keines den letzten NRW-Wahlen vergleichbares. Es ist Teil der Überlebenskrise der Partei, die längst zu einer sich selbst verstärkenden geworden ist. Ihrem ganzen Wesen nach ist die Partei eine, die bürgerlich-reformistische Realpolitik betreibt. Dass sie in Wahlkämpfen um Nuancen sozialer daherkommt als die SPD, nutzt vielleicht als „Wir hatten gute Inhalte“-Entschuldigung nach der Wahl, aber mehr auch nicht. Weil DIE LINKE keine Kampfpartei, sondern genauso eine Grinsebacken auf Wahlplakate druckende Angeberin leerer Versprechen ist, braucht sie niemand, schon gar nicht die Arbeiter:innenklasse. Die entscheidet sich im Zweifel taktisch lieber für die SPD als Anti-Laschet-Abstimmung wie bei der Bundestagswahl, wählt eine offen bürgerliche Partei wie die Grünen oder die Union oder bleibt der Wahl gleich ganz fern.

Im Juni will die Partei wieder mal die Weichen stellen. Mehr als Formelkompromisse und das Beschwören einer nicht existenten Geschlossenheit wird wohl kaum dabei herauskommen. Der nächste Sündenbock-Parteivorsitz darf seinen Kopf schon mal aufs Schafott der nächsten Wahlpleiten und Skandale legen.

Revolutionär:innen in der LINKEN sollten ernsthaft ihre Hoffnung daraufhin abwägen, ob die Partei irgendwann mal in eine Richtung verändert werden kann, die auch nur im Ansatz die Adjektive „klassenkämpferisch“ oder gar „sozialistisch“ verdient hätte. Wir denken, dass das nicht passieren wird. Die Partei ist wurmstichig bis ins Mark, zerfressen vom Karrierismus und ausgeblutet vom Grabenkampf. Die Linken in der Linkspartei, die für eine Politik des Klassenkampfes eintreten, sollten das sinkende Schiff bald, aber organisiert verlassen. Es gilt, diejenigen zu sammeln, die ernsthaft nach einer Kampfpartei und revolutionären Antworten suchen. Ja, es gilt, so eine Partei schnell aufzubauen. Sie wird nötig sein, um den kläglichen Linksparteirest sowie die SPD unter Druck zu setzen und die Arbeiter:innenklasse selbst zur ersten Kraft im Kampf gegen Krieg und Inflation zu bewaffnen.

Während sich ein riesiger Apparat an das wie auch immer schlecht weitergehende Leben der LINKEN klammern wird, haben Revolutionär:innen das nicht nötig. Ihr Überleben sollte gleichbedeutend mit dem der Arbeiter:innenklasse sein.

Die LINKE liegt in ihrer Agonie – und Sterbende sollen auch mal sterben dürfen. Damit die Zeit nicht ewig im Kreis läuft und Krisen auch mal wirklich enden.




Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Dave Stockton, Neue Internationale 264, Mai 2024

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am 24. April kehrte Emmanuel Macron, ein arroganter neoliberaler „Reformer“, für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurück. Er schlug die altgediente rassistische Populistin Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 %, ein größerer Vorsprung, als viele erwartet hatten.

Allerdings hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidat:innen seine/ihre Stimme gegeben. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 % und war damit die niedrigste in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel leer abgegeben oder sonst wie ungültig gemacht.

Ergebnis von Le Pen

Dennoch hat Le Pen mehr als 13 Millionen Stimmen erhalten, ein Rekord für die Rassemblement National (Nationale Sammlung, RN), die frühere Front National (Nationale Front, FN). Die RN ist sicherlich eine üble reaktionäre Kraft, die Maßnahmen zur Diskriminierung der französischen Bürger:innen kolonialer Herkunft und zum Schikanieren der Jugend in den Banlieue-Vorstädten ergreifen würde, aber sie ist keine faschistische Bewegung.

Le Pens Stimmenzuwachs ist zum Teil auf ihre „Entdämonisierung“ zurückzuführen, die sie erreicht hat, indem sie soziale Fragen wie die steigenden Lebenshaltungskosten für die einfachen Leute in den Vordergrund gestellt und Themen wie Abtreibungsverbot und „Frexit“ aus der EU aufgegeben hat. Sie milderte auch ihre heftige Islamophobie etwas ab, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen Französ:innen sein können, aber ihre Forderung nach einem Verbot des Tragens der Hidschab-Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit und Referendum über strengere Einwanderungskontrollen  aufrechterhielt.

Massenenthaltung

Ein Grund für die rekordverdächtige Enthaltung ist die Tatsache, dass Macron sowohl die traditionellen Parteien der Linken als auch der Rechten an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So sind die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei in der ersten Runde auf einstellige Zahlen geschrumpft, und auf der rechten Seite sind auch die Gaullist:innen nicht mehr vertreten. Seine eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Vormarsch), ist eine in den Massen wenig verankerte Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen von rechts und links, die gut geeignet ist, die Basis für eine bonapartistische Präsidentschaft zu bilden.

Der Champion der Linken ist nun Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Runde nur knapp von Le Pen geschlagen wurde. Er stellt sich nun so dar, als hätte er eine reale Chance, die Partei des Präsidenten bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni zu besiegen und sogar Premierminister zu werden und Macron in ein „Zusammengehen“ zu zwingen.

Die hohe Zahl der Stimmenthaltungen und ungültigen Stimmen spiegelt nicht nur die Tatsache wider, dass Macron weithin verabscheut wird, sondern auch, dass es keine/n Kandidat:in der reformistischen Linken gab, für die/den man stimmen konnte, und Mélenchon sich weigerte, zur Wahl Macrons aufzurufen, um Le Pen zu stoppen. Die weit verbreitete Entfremdung verdeutlichte sich nach der ersten Runde in einer Reihe von Demonstrationen, die in ganz Frankreich ausbrachen und bei denen Universitätsstudent:innen, Oberschüler:innen sowie Eisenbahner:innen die Wahl zwischen „Pest und Cholera“ anprangerten.

Linke

Die französischen Linken, die früher für die PS oder die kommunistische PCF gestimmt haben, unterstützen nun Mélenchons linkspopulistische Union Populaire und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent, was etwa 7,7 Millionen Stimmen entspricht. Mélenchon forderte seine Wähler:innen auf, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, lehnte es aber auch ab, sich für Macron zu erklären.

Diejenigen, die dafür plädierten, ungültig zu wählen, hatten Recht. Keine/r der beiden bürgerlichen Kandidat:innen hat auch nur eine einzige Stimme von der Arbeiter:innenklasse, der Jugend an den weiterführenden Schulen und in den Banlieues verdient. In der Tat werden Letztere derzeit weit mehr von Macrons Polizei schikaniert als von der extremen Rechten. Die Vorstellung, dass Macron dem Aufstieg des Faschismus im Wege steht, war der übliche zynische Trick, um die Wähler:innen in Panik zu versetzen, ihn als das kleinere Übel zu wählen.

Die Tatsache, dass die Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue Antikapistalistische Partei, NPA) darauf hereingefallen ist, zeigt, wie weit sie sich von einer unabhängigen Klassenpolitik entfernt hat. Auch die Tatsache, dass sie nun bei den Parlamentswahlen um einen Platz in Mélenchons Union Populaire buhlt – auf einer Plattform mit einem Potpourri aus volksfrontistischem „Republikanismus“ – könnte ihren Tod bedeuten, wo sie doch vor etwa zehn Jahren noch als Durchbruch für die extreme Linke galt.

In der Tat sind die Wirtschaftspolitik und die soziale Zerstörung, die Macron betrieben hat und die durch seine zweite Amtszeit drohen, ein wesentlicher Teil dessen, was den Aufstieg der rassistischen Rechten, Zemmour und auch Le Pen, angeheizt hat und weiterhin anheizen wird. Dabei ist Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, CFDT und CGT, nachdem sie dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, was natürlich auch seine „Reformen“ einschließt.

Widerstand

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten extremen Rechten aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend an den Unis, den Gymnasien und in den Banlieues, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antimilitaristischen und antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten und in der Vergangenheit die FN-Schläger:innen abwehren konnten. Und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über die Misserfolge von Le Pen und Zemmour bei den Wahlen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung des Lumpenproletariats unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieses Widerstands stellen und sich nicht auf das Hirngespinst von Jena Luc-Mélenchon als Macrons Premierminister konzentrieren.




Die Wahlen im Saarland und die Agonie der LINKEN

Stefan Katzer, Infomail 1184, 4. April 2022

Als das Ergebnis der Wahl im Saarland feststand, herrschte unter den ansonsten zerstrittenen Flügeln der Partei plötzlich große Einigkeit: Als „desaströs“ und „katastrophal“ wurde das Abschneiden der Linken strömungsübergreifend bewertet. Und in der Tat: ein Verlust von 10,3 % und damit ein Absacken der Stimmenanteile von 12,9 % auf 2,6 % kann kaum anders bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund, dass es der LINKEN im Saarland einst gelungen ist, über 20 % der Stimmen auf sich zu vereinen (2009: 21,3 %), ist dieses Ergebnis für die Linkspartei, die nun nicht einmal mehr im Landtag vertreten sein wird, umso bitterer. Doch auch wenn dieser Absturz deutlich heftiger ausfiel als von vielen Linken erhofft – wirklich überraschend kam er nicht.

Tendenz: sinkend

Bereits bei der letzten Bundestagswahl hat DIE LINKE herbe Verluste (- 4,3 %) eingefahren und ist mit einem Stimmenanteil von 4,9 % nur deshalb in den Bundestag eingezogen, weil sie zugleich drei Direktmandate gewinnen konnte. Zu diesem bundesweiten Abwärtstrend kamen die besonderen Bedingungen im Saarland hinzu. Dort hatte ein von persönlichen Animositäten geprägter Streit innerhalb der Partei zu einer Spaltung der Fraktion und schließlich zum medienwirksamen Parteiaustritt von Oskar Lafontaine geführt. Lafontaine, der an den Erfolgen der LINKEN im Saarland sicherlich großen Anteil hatte, hatte zudem dazu aufgerufen, DIE LINKE nicht mehr zu wählen und dies mit Verweis auf die Abkehr der Partei von einer linken Sozial- und Friedenspolitik politisch zu begründen versucht.

Tatsächlich scheinen einige Tausend (ehemalige) LINKE-Wähler:innen Lafontaines Ratschlag gefolgt zu sein: immerhin 13.000 Stimmen verlor DIE LINKE an das „Lager“ der Nichtwähler:innen. Noch mehr DIE LINKE-Wähler:innen  (18.000) wechselten jedoch zur SPD, die mit einem Stimmenanteil von 43,5 % die mit Abstand stärkste Kraft wurde und – aufgrund der undemokratischen 5 %-Hürde – damit sogar eine absolute Mehrheit der Sitze im saarländischen Landtag erringen konnte. Der restliche Anteil  derjenigen, die 2017 noch DIE LINKE gewählt haben und nun zu einer anderen Partei gewechselt sind, verteilt sich recht gleichmäßig auf die Grünen (4.000), die AfD (4.000) und die CDU (3.000). Ein nicht unerheblicher Teil (6.000) ehemaliger LINKEN-WählerInnen ist seit der letzten Wahl zudem verstorben.

Der Linkspartei ist es andererseits kaum gelungen, Wähler:innen anderer Parteien von sich zu überzeugen oder Nicht- bzw. Neuwähler:innen zu mobilisieren, sodass sie lediglich je 1.000  Wähler:innen von SPD und CDU an sich binden bzw. je 1.000 Erst- und Nichtwähler:innen mobilisieren konnte.

Schaut man sich die Ergebnisse in Bezug auf die soziale Stellung bzw. Klassenzugehörigkeit der Wähler:innen an, wird deutlich, dass es vor allem der SPD gelungen ist, überproportional viele Arbeiter:innen (49 %) (https://www.rnd.de/politik/saarland-wahl-2022-spd-siegt-in-fast-allen-bevoelkerungsgruppen-nur-eine-ausnahme-3CPPBYNKWZA5ZIIYPR2HDFJOUQ.html) bzw. Gewerkschafter:innen (49,1 %) für sich zu gewinnen. Auch DIE LINKE ebenso wie die AfD konnten bei Gewerkschafter:innen überproportional punkten: 2,8 % wählten die LINKE (gegenüber 2,6 % Gesamtstimmenanteil), 6,8 % die AfD, die insgesamt auf 5,8 % der Stimmen kam (https://www.dgb.de/themen/++co++960c1212-ae88-11ec-b676-001a4a160123).

Wie weiter?

Eine wichtige Frage, die sich die LINKE nun stellen muss und mit Verweis auf den Austritt Oskar Lafontaines alleine nicht beantwortet werden kann, ist die, warum es der Partei nicht gelungen ist, die (SPD-)Wähler:innen, die mit Oskar Lafontaine gekommen sind, auch nach dessen Austritt bei sich zu halten. Sicherlich spielen Persönlichkeiten in der Politik eine Rolle, doch die Frage bleibt, weshalb es nicht gelungen ist, diese Wähler:innen vom Programm der LINKEN zu überzeugen und diese dadurch an die Partei zu binden. Eine damit im Zusammenhang stehende Frage ist die nach den Gründen dafür, dass der große Teil der ArbeiterInnen die SPD (und sogar die AfD) der Linken vorzieht. Ist dies allein darauf zurückzuführen, dass während des Wahlkampfes die Frage im Zentrum stand, wer der/die nächste Ministerpräsident:in wird und davon insbesondere die SPD profitieren konnte?

Die Bundesvorsitzenden der LINKEN, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, haben noch andere Erklärungen für das desaströse Abschneiden der LINKEN im Saarland parat. Im Vordergrund ihrer Analyse (https://www.youtube.com/watch?v=Mqt2EYeCrWc) stand die Feststellung, dass zerstrittene Parteien nun mal nicht gewählt würden. Deshalb sei es jetzt notwendig, solidarisch miteinander umzugehen, Konflikte produktiv auszutragen und nach außen geschlossen aufzutreten. Es gelte das, wofür die Partei stehe, in den Vordergrund zu rücken und gemeinsam für soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen, gegen Aufrüstung etc. einzustehen. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Linkspartei muss sich als bessere reformistische Kraft, letztlich als bessere SPD profilieren, um in Zukunft bei Wahlen erfolgreich zu sein.

Getrennt marschieren – vereint verlieren?

Geschlossenheit lässt sich jedoch nicht herbeireden. DIE LINKE besteht derzeit de facto aus drei Flügeln, die unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wohin sie sich entwickeln sollte und wie sie dort hinkommen kann. Während ein Teil offen für Regierungsbeteiligungen und alle dazu notwendigen Kompromisse (Fortbestehen der NATO, Auslandseinsätze der Bundeswehr etc.) eintritt, gibt es andere, die dies strikt ablehnen. Vertritt der linkspopulistische Flügel um Wagenknecht sozialchauvinistische Positionen und fordert eine Abkehr von angeblich kleinbürgerlicher „Minderheitenpolitik“, stehen andere (zumindest auf dem Papier) für offene Grenzen und internationale Solidarität. Während ein Teil auf die „Arbeit“ im Parlament und die Gewinnung von Mandaten fokussiert, strebt die sog. „Bewegungslinke“ eine stärkere Orientierung auf soziale Bewegungen an.

Auch wenn es nötig ist, diese innere Differenziertheit zu bedenken, um die nur notdürftig überdeckten und immer wieder offen aufbrechenden Konflikte innerhalb der Partei einordnen zu können, so vertritt DIE LINKE insgesamt ein reformistisches Programm. Dieses beinhaltet zwar offiziell auch die Überwindung des Kapitalismus als Zielvorstellung, real fokussiert sich die Partei aber auf einen „Ausgleich“ der sozialen Interessen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Real ist sie (auf kommunaler und Landesebene) bereits seit langem eingebunden in die Mitverwaltung des Kapitalismus. Vor der Bundestagswahl hat die Führung der Partei zudem deutlich gemacht, dass sie dazu bereit ist, auf wesentliche Teile ihres Programms zu verzichten, um endlich ein „progressives Bündnis“ mit Grünen und SPD auch auf Bundesebene realisieren zu können.

Der Sozialismus, den man angeblich irgendwann einmal erkämpfen möchte, bleibt solchermaßen als Fernziel mit der realen Politik der Partei unvermittelt. Ein solches Programm stößt aber notwendigerweise an die sich krisenhaft zuspitzende Realität der kapitalistischen Klassengesellschaft, welche immer weniger Spielraum für einen „sozialen Ausgleich“ lässt und die Menschheit immer deutlicher vor die Alternative stellt: Sozialismus oder Barbarei.

Während die Klima- und Biodiversitätskrise sich immer weiter zuspitzt, Inflationsraten von über 5 % die Löhne auffressen, der sich zuspitzende Kampf um die Neuaufteilung der Welt die Menschheit mit einem Dritten Weltkrieg bedroht, tut der größte Teil der Linken so, als gäbe es ein Zurück zum Sozialstaat der 1980er Jahre und zur „Friedenspolitik“ Willy Brandts. Der LINKEN dies vorzuwerfen, läuft aber letztlich darauf hinaus, sie zu bezichtigen, dass sie eben DIE LINKE ist: eine reformistische Partei ohne revolutionären Anspruch!

Hinzu kommt, dass die bürgerliche Realpolitik der Linkspartei in den Landesregierungen und ihre Anpassung an SPD und Grüne selbst die Frage aufwerfen, wozu sie überhaupt gebraucht wird. Tritt sie nur als etwas linkere Variante der Sozialdemokratie in Erscheinung tritt, liegt es nahe, dass reformistische Wähler:innen gleich das sozialdemokratische Original wählen, statt ihre Stimme für eine etwas linkere, parlamentarisch jedoch aussichtslose Kopie zu verschwenden. So geschehen im Saarland, aber längst nicht nur dort.

Die Aufgabe und der Anspruch von Revolutionär:innen bestehen nun nicht darin, einer reformistischen Partei Tipps zu geben, wie sie bei bürgerlichen Parlamentswahlen erfolgreich sein kann (was aufgrund der geschilderten Widersprüchlichkeit des Reformismus ohnehin schwer zu bewältigen ist). Vielmehr geht es darum, zu verdeutlichen, dass eine Politik auf der Grundlage eines Programms notwendig ist, das der tatsächlichen Lage angemessen ist und die Überwindung des Kapitalismus nicht als abstraktes Fernziel begreift, sondern im Rahmen eines Systems von Übergangsforderungen Kämpfe um konkrete Verbesserungen mit diesem Ziel verbindet.

Diejenigen Kräfte innerhalb der Linkspartei (aber auch der SPD), denen es darum geht, die Kämpfe der Lohnabhängigen und Unterdrückten voranzubringen und diese für ein revolutionäres Programm zu gewinnen, rufen wir dazu auf, gemeinsam mit allen anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ihre Reorganisation voranzutreiben, damit sich diese zur zentralen, eigenständigen Kraft im Kampf gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe formieren kann. Dies ist die zentrale Aufgabe einer linken, revolutionären Kraft – nicht die Gewinnung von Sitzen in bürgerlichen Parlamenten für eine reformistische Partei, die sich vor allem auf passive Wähler:innen stützt und davon träumt, durch treue Mitwirkung an der Elendsverwaltung des Kapitalismus einige Brosamen für „die kleinen Leute“ abstauben zu können.

Der Niedergang der Linkspartei verdeutlicht daher erneut die Dringlichkeit einer Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes. Letztlich geht es um die Frage, wie wir die unterschiedlichen Auseinandersetzungen und sozialen Bewegungen miteinander verbinden und ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Perspektive entwickeln können. Hierfür braucht es einen konkreten Startpunkt, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren. Wir schlagen deshalb vor, eine Aktionskonferenz zu organisieren, auf welcher diese Fragen übergreifend von möglichst allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten diskutiert werden können. Eine solche Konferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den Angriffen von Rot-Grün-Gelb und des Kapitals gemeinsam entgegenzutreten und dies mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus und die Kriegsgefahr zu verbinden.




Bundestagswahl 2021 – Nach der Wahl ist vor dem Kampf

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Die Spannung eines Thrillers konnte der deutsche Wahlkampf sicherlich nicht mit sich bringen, insbesondere, wenn man sich das Kopf-an-Kopf-Rennen der Stimmenauszählung in den USA in Erinnerung ruft. Dennoch, hätte man vor 6 Monaten gesagt, dass die SPD mit dem eher unscheinbaren Olaf Scholz das Rennen macht, so hätten viele gelacht. Und viele, sicherlich nicht nur AnhängerInnen der Union, fragen sich: Wie konnte das passieren? Dies wollen wir im Folgenden näher erläutern und gleichzeitig betrachten, was die Wahlergebnisse für die Arbeiter:innenklasse bedeuten.

Weltlage und 16 Jahre Merkel

Die aktuelle Wahl lässt sich nicht verstehen, wenn wir nicht einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Denn in den 16 Jahren, in denen Angela Merkel das Land regiert hat, hat sich viel verändert. Wenn die bürgerlichen Medien ihre Regierungszeit Revue passieren lassen, dann fällt vor allem ein Wort häufig: Stabilität. Das kommt nicht von ungefähr. Nach der Finanzkrise 07/08 und der darauf folgenden tiefen Rezession konnte sich der deutsche Imperialismus relativ schnell erholen.

Verglichen mit anderen Ländern ging es schnell bergauf dank der Konkurrenzfähigkeit des Exportkapitals und Vorarbeit durch die Agenda 2010. In der EU wurde an Griechenland ein Exempel statuiert, das zum sozialen Ausbluten der griechischen Bevölkerung führte. Merkel wurde so verdientermaßen zum Hassobjekt in Südeuropa. Im Inneren setzte sie auf SozialpartnerInnenschaft und gemeinsame Regulierung der Krise mit den Gewerkschaften, um die Exportindustrie rasch wieder flottzubekommen. So konnte sie als erfolgreiche Krisenmanagerin und sich Kümmernde auftreten. International war es zu diesem Zeitpunkt noch möglich, auf Gipfeln wie dem G7 die Kosten der Krise gemeinsam zu verwalten.

Die Folgen der Krise machten sich in Deutschland erst später bemerkbar. In jedem Fall stärkte die Niederlage der ArbeiterInnenklasse in Griechenland das deutsche Kapital – und die zentrifugalen Tendenzen in der EU. Doch die EU- und noch viel mehr die sog. Flüchtlingskrise verschärften auch die Gegensätze im bürgerlichen Lager. Mit dem Rechtsruck kam der Aufstieg der rassistischen AfD, der auch den Grad der Zersplitterung des bürgerlichen Lagers markierte. Die ach so stabile Große Koalition unter Merkel fing an zu kriseln.

Verschärft wurde die Situation mit der Präsidentschaft Trumps und der Wende zum Unilateralismus einerseits und dem Aufstieg Chinas zur zweitgrößten und -wichtigsten imperialistischen Macht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfte sich. Die EU fiel aufgrund eigener Widersprüche, wie sie am deutlichsten im Brexit zum Ausdruck kamen, zurück. Sie scheint hilflos zwischen USA und China zu dümpeln. Die Coronapandemie warf sie noch weiter zurück und zeigte auf, wie weit sie davon entfernt ist, den USA und China auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

So ist die Richtung des deutschen Imperialismus in den letzten 16 Jahren immer unklarer geworden. Die deutsche Bourgeoisie (und die EU selbst) befinden sich in einer strategischen Krise, Hin und her gerissen zwischen der Frage einer transatlantischen oder stärker eigenständigen imperialistischen Ausrichtung, zwischen Konjunktur- und Investitionsprogrammen zur Neuaufstellung des deutschen und europäischen Kapitals einerseits und zwischen Neoliberalismus und Austeritätspolitik andererseits.

Merkels Lavieren zwischen unterschiedlichen AkteurInnen ist mit Zunahme der Krise und des Rechtsrucks, vor allem aber auch dem Aufstieg Chinas und der Neuausrichtung der USA nicht nur schwieriger, sondern vor allem immer aussichtsloser geworden.

Die Aufgabe einer neuen Regierung wäre vom Standpunkt des deutschen Gesamtkapitals, nicht nur dafür zu sorgen, dass die Vormachtstellung innerhalb der EU erhalten bleibt und kein weiterer Mitgliedsstaat aus der Reihe tanzt. Es geht auch darum, die EU selbst zu einem Block zu formieren, der im Kampf um die Neuordnung der Welt mitspielen kann. Dazu bedarf es aber eines Plans und einer Strategie, wie man mit dem aufstrebenden chinesischen Imperialismus und dem verbündeten Rivalen USA umgehen möchte. Und es braucht auch eine Lösung der Führungsfrage, also der strategischen Ausrichtung innerhalb Deutschlands und der EU. Über eine solche verfügt die herrschende Klasse nicht – und wird ohne innere Friktionen und Kämpfe auch in der nächsten Periode, egal ob unter einer Ampel oder Jamaika nur schwer herzustellen sein. Umgekehrt wird jede Regierung von der herrschenden Klasse genau daran gemessen werden.

Zersplitterung des bürgerlichen Lagers

Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers und die Krise der CDU/CSU sind Ausdruck dieser strategischen Paralyse und Unklarheit, die von Merkel noch notdürftig überdeckt wurde.

Anfangs dachte man innerhalb der Union noch, dass selbst Laschets Schlaftablettenauftritte gegen Scholz Bestand hätten, nachdem man bei den Grünen Baerbock das Fell über die Ohren gezogen hatte. Das allein hilft aber nicht. Ein Ministerpräsident, der nicht den Eindruck erwecken kann, dass er sich in seinem eigenen Bundesland gut um eine Flutkatastrophe kümmert, ist als Kanzlerkandidat wenig vertrauenerweckend. Auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie konnte er wenig glänzen. Als Befürworter der schnellen Öffnungen schoss er in der Ministerpräsidentensitzung gegen die eigene Regierung, wurde aber in seiner Autorität und Weisheit von der 2. Welle überrollt.

Hinzu kommt, dass er die inneren Probleme der Union nach außen hin nicht ausgleichen konnte. Schließlich ist er nicht allein für das historisch schlechteste Ergebnis der Union von 24,1 %  verantwortlich. Der Streit innerhalb der Union fing schon früher an.

Merkel selbst wurde zum frühen Rückzug vom Parteivorsitz gezwungen, ihre Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer demontiert. Damit war der Diadochenkampf eröffnet. Merz, Laschet und Spahn kandidierten für den Parteivorsitz – und der Kandidat des Establishments, Laschet, gewann knapp. Doch damit war die Unzufriedenheit, die sich zusammengebraut hatte, nicht beseitigt. Auch nicht, als sich Laschet gegen Söder in der Kanzlerfrage durchsetzte.

Je länger der Wahlkampf dauerte, desto deutlicher wurde: Laschet hätte es lassen sollen. Weder Bevölkerung noch eigene Partei konnten vom Kandidaten überzeugt werden.

Wie so oft in der Geschichte wirkte eine Kette von zufälligen, nebensächlichen Pannen als Katalysator, um eine sich längst vorbereitende Krise offen hervortreten zu lassen, den Zersetzungsprozess der politischen Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie.

So kam es dazu, dass die SPD bei diesen Bundestagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Hessen an der CDU vorbeizog und über 1,5 Millionen Stimmen von den Unionsparteien einsackte. Diese Wahlniederlage wird die Risse innerhalb der Union weiter vergrößern. Nachdem sich am Wahlabend noch große Teile des Parteiestablishments hinter Laschet gestellt hatten, werden die Rücktrittsforderungen, der Ruf nach Aufarbeitung der katastrophalen Niederlage und Neuausrichtung der Partei lauter. Je mehr sich diese Gegensätze zu regelrechten innerparteilichen Gräben vertiefen, desto schwerer wird es, dass CDU/CSU eine Regierung mit Grünen und FDP zustande kriegen, selbst wenn es nicht nur bei den Liberalen viele gibt, die für eine solche Koalition eintreten. Doch eine solche Regierung wäre wahrscheinlich so instabil wie die Unionsfraktion und Laschet traut wohl kaum jemand zu, die inneren Gegensätze wirklich überbrücken zu können. Umgekehrt wäre eine solche schwarz-grün-gelbe Regierung (Jamaika) nicht nur ein deutliches Signal für einen aggressiveren Kurs zur ökonomischen Neuformierung der EU unter deutscher Führung, sondern auch zu einem aggressiveren inneren, wenn es darum geht, die Kosten der Pandemie und der Wirtschaftskrise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.

FDP als eine Königsmacherin

Sonnig sieht’s hingegen bei den Liberalen aus. Die FDP hat mit 11,5  % eines ihrer historisch besten Ergebnisse eingefahren mit einem Imagewahlkampf, bei dem nur noch das Gesicht von Christian Lindner auf der Freiheitsstatue gefehlt hat. Profitieren konnte sie vom Schwächeln der Union und gewann rund 1.320.000 Stimmen von dieser, da sie während der Pandemie als „besonnene“ Vertretung der CoronskeptikerInnen und „FreiheitskämpferInnen“ aus dem Kleinunternehmertum auftreten konnte. Auch unter NichtwählerInnen mobilisierte sie 400.000 Stimmen und unter den ErstwählerInnen wurde sie mit 400.000 Stimmen zweitstärkste Kraft. Die Hochburg der Zweitstimmen stellt dabei Baden-Württemberg dar.

Dass sich die FDP, die 2017 gerade mal so den Sprung in den Bundestag schaffte, erneut aufgerappelt hat, stellt eine Kehrseite der Krise der Unionsparteien dar. Die FPD erscheint nicht nur der jungen Generation als glaubwürdigere Vertreterin des freien Marktes und individueller bürgerlicher Freiheit. Für die Regierungsbildung wird sie gemeinsam mit den Grünen eine entscheidende Rolle spielen als Blockade aller weitergehenden sozialen Forderungen und jeder Umverteilung und auf weitere Deregulierung und Angriffe auf die Lohnabhängigen drängen.

Die Grünen und das Klima

Es hätte so gut werden können für die Grünen. Obwohl sie ihr historisches bestes Ergebnis einfuhren, erscheinen sie fast wie kleine VerliererInnen. Während sie sich Anfang des Jahres im Höhenflug bei 30 % befanden, landeten sie schließlich bei 14,8 %. Sicherlich, dass Annalena neben Armin und Olaf so schlecht weggekommen ist, hat viel mit Sexismus zu tun. Als entscheidende Erklärung für den Sturzflug ist das jedoch zu kurz gegriffen.

Der wohl wichtigste Grund, warum die Grünen „nur“ drittstärkste Partei wurden, liegt darin, dass sich von ihrem Programm wichtige Teile der Bevölkerung nicht ansprechen lassen. Das zeigten auch die vergangenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Die Erhöhung des Benzinpreises oder eine CO2-Steuer für Individuen werden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht dadurch ausgeglichen, dass es fürs trendige Lastenrad einen Zuschuss geben soll.

Die Abwälzung der Kosten der Klimakrise auf die Einzelnen macht die Grünen für einen Teil der Bevölkerung nicht besonders attraktiv. Es ist daher kein Wunder, dass sie vor allem bei einkommensstärkeren Lohnabhängigen und Mittelschichten punkten konnten. Trotzdem: Rund 460.000 NeuwählerInnen, 510.000 NichtwählerInnen konnten mobilisiert werden, insgesamt rund eine Millionen Menschen wechselten von CDU und SPD zu den Grünen. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch sie einen Teil des Kapitals (nicht nur aus dem Ökobereich) zu ihren UnterstützerInnen zählen können.

So werden die Grünen – wie die FDP – bei der Regierungsbildung eine wichtige Rolle als KönigsmacherInnen spielen. Während die Liberalen grundsätzlich eine unionsgeführte Koalition vorziehen, sind die Grünen in dieser Frage gespalten, ja neigen eher der SPD zu, die ebenfalls für einen Green Deal in Europa und Deutschland eintritt. Der FDP würde dabei die Rolle zufallen, dafür zu sorgen, dass er die Bourgeoisie und sog. LeistungsträgerInnen nichts kostet.

Der rechte Rand

Bevor wir zum Wahlsieger SPD und zur Linkspartei kommen, noch kurz zum rechten Rand des bürgerlichen Spektrums. Zum zweiten Mal zieht die AfD in den Bundestag ein. Zwar hat diese an Stimmen verloren, sich insgesamt aber konsolidieren können. Die meisten Stimmenverluste machten die NichtwählerInnen aus (rund 810.000) aus. Dies war sicherlich innerparteilichen Streitigkeiten geschuldet. Die weiteren größeren Verluste an SPD (260.000) und FDP (210.000) dürften wohl darauf zurückzuführen sein, dass diesen WählerInnen die Regierungsfrage wichtiger war als die „Treue“ zum Rechtspopulismus.

Dennoch: Die knappen 10,3 % für die RechtspopulistInnen zeugen wohl kaum vom von den Konservativen beschworenen Linksruck. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass gerade die abgehängten Schichten der ArbeiterInnenklasse keine wirkliche Alternative geboten bekommen. Von den Protesten der CoronaleugnerInnen konnte sie jedoch kaum profitieren. Der Verlust der Linkspartei an die AfD ist zwar geringer ausgefallen als bei den Landtagswahlen der letzten Jahre, mit 110.000 Stimmen aber auch nicht unerheblich. So ist es auch nicht wenig überraschend, dass die Hochburg der Partei weiterhin im Osten liegt. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist sie nach der SPD in fast allen Wahlkreisen die zweitstärkste Kraft und in Thüringen konnte sie gleich mehrere Direktmandate gewinnen, in Sachsen fast alle.

Anders als 2017 stimmten die meisten AfD-WählerInnen wegen ihres Programms, also aus Überzeugung für diese Partei – wegen ihres völkischen Rassismus, nicht trotz dessen. Dies bedeutet, dass sich eine radikale, reaktionäre kleinbürgerliche Kraft konsolidiert, die bei einer Zuspitzung der Klassenkämpfe und einem Auseinanderfallen der EU als Reserve für das deutsche Kapital und auch Regierungsbildungen zur Verfügung steht.

Totgeglaubte leben länger – die SPD

Wie oben bereits geschrieben: Kaum eine/r hätte vor einem Jahr geglaubt, dass die SPD über die 20 %-Marke kommt, noch weniger, dass jemand mit dem Charisma eines Olaf Scholz den Karren aus der drohenden Bedeutungslosigkeit ziehen kann. Das Image war ja schließlich schon mehr als ramponiert.

Über 100 Jahre Klassenverrat fallen bei dem aktuellen Bewusstseinsstand leider nicht so ins Gewicht, wie man es sich wünschen würde. Vielmehr sind es die Streitigkeiten von Esken & Co. sowie die Zugeständnisse innerhalb der Großen Koalition gewesen, die der SPD lange zu schaffen machten. Im Wahlkampf selber wurde sich lange nur auf Laschet und Baerbock konzentriert. Es wirkte fast, als ob es den SPD-Kandidaten nicht gäbe. Aber wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte und auch deshalb konnte Olaf an den beiden vorbeiziehen. Brechmittelskandal, Verstrickungen in die Wirecard-Affäre und der Prügeleinsatz zu G20 in Hamburg: alles perlte an ihm ab.

Aber warum? Während Baerbock sich auf die Klimakatastrophe fokussierte und Laschet in jedes Fettnäpfchen trat, das er finden konnte, hat Scholz es geschafft, am ehesten was von jener Stabilität zu verkörpern, die man Merkel zugesprochen hatte. Entscheidend ist aber, dass sich der SPD-Kandidat bei den Lohnabhängigen glaubwürdiger als seine Konkurrenz als Kandidat des sozialen Ausgleichs präsentieren konnte.

Rund 44 % der SPD-WählerInnen gaben an, dass soziale Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle bei ihrer Entscheidung spielte. Ebenso konnte die SPD den mit Abstand größten Zuspruch bei  GewerkschafterInnen verzeichnen, lt. Erhebungen des DGB 33,1 %, also fast 8 % mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Sicherung der Arbeitsplätze, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, eine sichere Rente und eine stärkere Besteuerung der Reichen waren Versprechungen, die sich im Zuge der Pandemie gut anhören. Dass Scholz dabei glaubwürdiger wirkte als seine Konkurrenz, spiegelt letztlich auch das historische Erbe der Sozialdemokratie, ihre organische Verankerung in der ArbeiterInnenklasse als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wider. Sicherlich versprechen sich die meisten WählerInnen keine Großtaten von der SPD, wohl aber, dass eine von Scholz geführte Regierung mehr Schutz vor den kommenden Umstrukturierungen, mehr soziale Abfederung beim ökologischen Wandel bringt als ein von Laschet geführtes Kabinett.

Sollte die SPD die nächste Regierung anführen, werden selbst diese Hoffnungen extrem auf die Probe gestellt werden. Allein die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um gerade 3,- Euro unter der Großen Koalition zeigt, wie wenig der Sozialdemokratie die Ärmsten der Armen im Zweifelsfall bedeuten. In jedem Fall ist aber klar, dass die ohnedies schon wackelige Bindung zwischen SPD und organisierten Lohnabhängigen in der kommenden Periode weiter auf den Prüfstand geraten wird – und dies müssen wir vorantreiben.

Schlaftablette Linkspartei

4,9 %! Es tut fast weh, das Ergebnis laut vorzulesen. Durch die 3 Direktmandate kann sich die Linkspartei gerade noch 39 Plätze im Parlament sichern. Dennoch ist es mehr als bedrückend, es ist desaströs. Zwar hat DIE LINKE an sich das beste Klimaprogramm, verglichen mit den anderen Parteien, doch hat sie im gesamten Wahlkampf Chancen verpasst und war kaum sichtbar. Dies hat mehrere Gründe. Der andauernde Richtungsstreit lähmt sie, der unklare Ausgang in der Debatte um Sarha Wagenknecht führt dazu, dass weder deren Fans noch die antirassistischen AktivistInnen zufriedengestellt werden konnten. Dieses Vakuum der Nicht-Entscheidung welchen Kurs man einschlagen will, rächt sich. Auch in der Frage der Regierungsbeteiligung. Durch das Sofortprogramm, was nach Mitregieren lechzte, hat die Linkspartei sich selber geschadet. Denn weder seitens der SPD und schon gar nicht von den Grünen wurden sie als ernsthafte Koalitionspartnerin beachtet. So wurde also auf das rot-rot-grüne Gespenst gesetzt und vor lauter Kuschelkurs vergessen, sich abzugrenzen. Das sieht man auch an den Zahlen: Die größte WählerInnenwanderschaft gab es zur SPD mit 640.000 Stimmen, es folgen die Grünen mit 480.000. Mehr als 1 Millionen Stimmen sind also verloren gegangen, weil WählerInnen geglaubt haben, der Unterschied zur SPD sei nicht zu groß, und um Laschet zu verhindern, müsse man jetzt eben bei Scholz den Haken machen. Das macht deutlich: Gerade, was die soziale Gerechtigkeit angeht, dem eigentlichen Kernthema der Linkspartei, machen WählerInnen taktisch Zugeständnisse. Ein indirektes Zeugnis, dass es der Partei an Überzeugung und Abgrenzung mangelt.

Das ist aber auch nachvollziehbar. Wo ist DIE LINKE gewesen, die als Partei sich gegen den Pflegenotstand während der Pandemie einsetzte? Während andere nur wohlwollend klatschen, hätte es betriebliche Aktionen und Demonstrationen gebraucht, die sich für eine Aufstockung im Pflegebereich einsetzen. Auch hätte die Linkspartei gegenüber den Gewerkschaften klare Worte verlieren müssen: Ein flächendeckender Tarifvertrag in der Pflege und im Handel muss her, gerade in Zeiten der Krise. Und wo ist DIE LINKE, die Streitgespräche mit den Grünen sucht? Der kostenlose öffentliche Nahverkehr oder der bundesweite Mietendeckel sind gute Forderungen. Allerdings gehören die nicht nur auf Plakate gedruckt, sondern müssen mit Nachdruck auch auf die Straße getragen werden.

Aber nicht nur das. Anstatt sich mit Wagenknechts billigen Polemiken zu beschäftigen, hätte gezeigt werden müssen: Wir verstehen uns als KämpferInnen der ArbeiterInnenklasse. Und die ist nun mal multiethnisch und voller „skurriler Minderheiten“. Der Kampf für einen höheren Mindestlohn, Mindestrente oder bezahlbaren Wohnraum schließt Klimaschutz, LGBTIAQ-Rechte und Antirassismus nicht aus, sondern ein. Kernproblematik ist aber das Verständnis von Bewegungen, und wie diese entstehen. Selber versteht sich DIE LINKE als Bewegungspartei. Statt aber Bewegung zu initiieren, trabt sie einfach nur dem Geschehen hinterher. Und genau das fällt ihr auf die Füße und führt dazu, dass sich keine neue StammwählerInnenschaft herausbildet, während sich unterschiedliche Generationen von AktivistInnen innerhalb der Partei um die Richtung streiten. Einen Haken hat das Ganze jedoch: Würde man tatsächlich Kämpfe führen, Streiks und Solidaritätsdemos organisieren, führt das natürlich dazu, dass der Druck größer wird und Kräfte wie die Grünen oder die SPD sich distanzieren. Die Chance mitzuregieren würde in die Ferne rücken. Dafür würde aber deutlich werden, dass die Linkspartei eine Kraft wäre, die für ihre Forderungen tatsächlich kämpft. Solange sich die Partei jedoch der vorgeblich besseren Verwaltung des Kapitalismus verschreibt, wird sie diesen Widerspruch nicht überwinden können, wird sie immer wieder beim Nachtrab hinter SPD und Grünen landen.

Was kommt auf uns zu?

Auch wenn eine Vielzahl an Regierungskoalitionen denkbar ist, so zeichnen sich im Moment nur zwei Optionen ab: die Ampel (SPD/FDP/Grüne) und Jamaika (Union/Grüne/FDP). Entscheidend dafür, welche Regierung es werden wird, sind unmittelbar zwei Faktoren:

a) ob die Unionsparteien ihre inneren Konflikte im Zaum halten können;

b) die Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP.

In jedem Fall stehen für eine zukünftige Regierung mehrere Baustellen an, um den deutschen Kapitalismus in der internationalen Konkurrenz aufzustellen. Angesichts der notwendigen Einbindung der FDP in jede Regierung und aufgrund des Drucks des Kapitals können wir davon ausgehen, dass folgende Politik zu erwarten ist:

  • Festhalten an der Schuldenbremse und Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt.
  • Das bedeutet weitere Einsparungen im öffentlichen Dienst, einschließlich weiterer Privatisierungen und marktwirtschaftlicher Reformen, mögen diese auch mit einem grünen oder sozialen Sahnehäubchen verkauft werden. Die Krise im Erziehungs- und Bildungswesen, im Gesundheitssektor wird prolongiert, im Bereich der sozialen Vorsorge und insbesondere der Renten werden neue Kürzungen als Reformen verkauft werden.
  • Prekarisierung, Niedriglohnsektor, Krise auf dem Wohnungsmarkt werden allenfalls mit einigen kosmetischen Reformen angegangen, im Grunde bleibt die Misere erhalten.
  • Abwälzung der Kosten für die Infrastrukturprojekte, ökologische Wende, Digitalisierung auf die Masse der Lohnabhängigen.
  • Inflation und Preissteigerungen verringern die Kaufkraft der Massen.
  • Entlassungen, Kürzungen, Schließungen im Zuge des industriellen Umbaus, die allenfalls mit SozialpartnerInnenschaft und Sozialplänen begleitet werden.
  • Erneuter Versuch, die Krise der Europäischen Union zu überwinden. Der Green Deal der EU-Kommission wird zur gemeinsamen Formel, hinter der sich jedoch unterschiedliche Ausrichtungen verbergen.
  • Abschottung der EU gegen Geflüchtete; Schwerpunkt auf Nahost und Afrika als Interessensphären der EU-Mächte außerhalb ihres eigenen Gebietes.
  • Aggressivere EU-Außen- und -Militärpolitik (Stichwort: Verantwortung übernehmen).
  • Massives Aufstocken des Rüstungsetats und Aufrüstung der Bundeswehr sowie Schritte in Richtung einer EU-Eingreiftruppe (um von den USA unabhängiger agieren zu können).

Wie schnell diese Angriffe erfolgen, hängt natürlich von der Regierungsbildung wie auch der konjunkturellen Entwicklung ab. Sicher ist aber: Sie werden kommen. Die UnternehmerInnenverbände drängen schon jetzt auf eine rasche Regierungsbildung, weil all diese Projekte vorangebracht werden sollen.

Eine Jamaika-Koalition wäre für dieses Vorhaben natürlich ein Traum. Andererseits hat eine SPD-geführte Regierung den Vorteil, dass sie besser die Gewerkschaften sozialpartnerschaftlich einbinden kann.

Was müssen RevolutionärInnen tun?

Wahlen sind bekanntlich auch immer ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers setzt sich weiter fort und damit auch die Probleme des deutschen Imperialismus auf Weltebene. Zu klein, um wirklich mitzumischen, zu groß, um gar keine Ansprüche geltend machen zu wollen, muss es weiter irgendwie versuchen, die Krise der EU zu lösen oder nach einer alternativen Ausrichtung suchen.

Der Rechtsruck, den es 2016 gegeben hat, ist verfestigt. Nichtsdestotrotz  bleibt der Reformismus innerhalb der ArbeiterInnenklasse weiterhin präsent, vor allem in Form der SPD, aber auch einer geschwächten Linkspartei. Welchen Einfluss das auf die Gewerkschaften hat – also ob man im Sinne der guten Sozialpartnerschaft sowie Standortborniertheit schön weiter alles mitverwaltet oder versucht, tatsächlich dagegen zu kämpfen, das hängt zum einen an der Frage der Regierungsbeteiligung der SPD. Zum anderen stellt sich aber auch die, ob es gelingt, eine klassenkämpferische Bewegung in den Gewerkschaften aufzubauen, deren Ziel es ist, statt selber in der Bürokratie zu vermodern, diese durch Wähl- und Abwählbarkeit sowie Rechenschaftspflicht zu  ersetzen und zu kämpfen. Die laufenden Arbeitskämpfe und kommende Tarifrunden können dazu einen wichtigen Ansatz bieten.

Ebenso braucht es eine Aktionskonferenz aller Organisationen der ArbeiterInnenklasse und linker Kräfte, um sich für die kommenden Angriffe zu wappnen. Denn klar ist, dass versucht wird, die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Das Wahlergebnis der Linkspartei zeigt jedoch, dass man nicht nur auf Angriffe warten darf, sondern sich selber in die Offensive bringen muss. Der Berliner Volksentscheid zu „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist der beste Beweis dafür. Statt zu verharren und zu warten, wer an die Regierung tritt, müssen wir uns organisieren und diskutieren, wie man diese Initiative bundesweit ausweiten kann. Ebenso wichtig ist die Frage, wer die politische Führung in den Gewerkschaften innehat, insbesondere wenn es darum geht, kommende Arbeitskämpfe zu führen. Statt darauf zu hoffen, dass andere gegen Klimawandel oder soziale Angriffe, gegen Rassismus und Militarismus kämpfen, müssen wir das selber in die Hand nehmen!




Wahldebakel der Linkspartei: Verdiente Katastrophe mit Ansage

Martin Suchanek, Infomail 1164, 27. September 2021

Dass die Linkspartei bei diesen Wahlen Stimmen und Mandate verlieren würde, stand im Grunde schon vor dem 26. September fest. Seit Monaten dümpelte sie in den Umfragen um die 6 % – mit sinkender Tendenz. Am Ende kam es schlimmer.

Magere 4,9 % waren es da, 2.269.797 WählerInnen kreuzten DIE LINKE an, über 2 Millionen weniger als 2017, als die Partei 4.297.492 Stimmen erhielt. Der Verlust gegenüber den letzten Bundestagswahlen betrug 47,2 %, also fast die Hälfe der WählerInnen (bei einer etwa gleich großen Wahlbeteiligung).

Früh gingen am Wahlabend bei der Linkspartei die Lichter aus. Nur drei Direktmandate sicherten den erneuten Einzug in den Bundestag. Auf den Traum von einem rot-grün-roten Politikwechsel folgte das Erwachen wie nach einer durchzechten Nacht.

So manche StrategInnen aus den Führungsetagen der Linkspartei, von Vorstand und Fraktion mögen den Verlust von über vier Prozentpunkten bei den Bundestagswahlen mit Hochprozentigem zu verdrängen versucht haben. Umso ernüchternder weckt die Realität. Die Vorsitzenden von Linkspartei und der verkleinerten Fraktion versprechen, aus dem größten Wahldebakel seit Bestehen von PDS und DIE LINKE die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Schließlich stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik.

Das Ergebnis

Eine Wahlanalyse von Horst Kahrs für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt, dass DIE LINKE im Vergleich zu den letzten Bundestagswahlen praktisch in allen Wahlbezirken, vor allem aber in den fünf ostdeutschen Flächenländern (zwischen 5,4 % in Thüringen und 8,7 % in Brandenburg) und in den Stadtstaaten (zwischen 5,5 % in Hamburg und 7,3 % in Berlin verlor). Mit Ausnahme des Saarlands (5,7 %) verlor sie in den westlichen Flächenländern „nur“ zwischen 3,0 und 3,8 %).

Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass sie in ersteren auch mehr zu verlieren hatte. Jedenfalls erhielt sie in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten im Durchschnitt nur noch 9,8 &, in den Stadtstaaten 9,6 % und in den Westländern 3,5 %.

Auch wenn DIE LINKE im Westen besser abschnitt als die PDS vor 2005, stellt das Ergebnis in diesen Bundesländern das schlechteste in der Geschichte der Partei dar.

Betrachten wir die 4,9 % nach Alter und sozialer Herkunft, so fällt auf, dass sich DIE LINKE unter jüngeren WählerInnen noch einigermaßen behaupten konnte (8 % bei den 18 – 24-Jährigen, 7 % bei den 25 –34-Jährigen), bei den über 45-Jährigen aber bei nur 4 % liegt.

Katastrophal ist jedoch auch das Ergebnis unter ArbeiterInnen, Angestellen mit jeweils 5 % und bei RentnerInnen (4 %). Unter den Arbeitslosen gaben zwar 11 % an, die Linkspartei gewählt zu haben, aber auch das liegt weit unter früheren Ergebnissen.

Unter GewerkschafterInnen schnitt sie zwar besser als im Durchschnitt ab, aber ein Anteil von 6,6 % stellt auch hier ein katastrophales Ergebnis dar und entspricht einem Verlust von 5,2 % gegenüber 2017.

Betrachten wir die WählerInnenwanderung seit der letzten Bundestagswahl, so ergibt sich ein sehr deutliches Bild, an wen DIE LINKE vor allem verlor: an die SPD (590.000) und die Grünen (470.000). Darauf folgen die NichtwählerInnen (370.000), verschiedene kleinere Parteien (250.000) sowie jeweils rund 100.000 an AfD und FDP. Selbst an die CDU gab sie 40.000 Stimmen ab.

Ursachen der Niederlage

Für das katastrophale Ergebnis ist natürlich die Linkspartei zuerst selbst politisch verantwortlich.

Dies liegt erstens darin, dass DIE LINKE selbst seit Jahren einen politischen Schlingerkurs fährt und sich faktisch drei Fraktionen in der Partei gegenseitig paralysieren. Die sog. RegierungssozialistInnen bilden jenen Teil des Apparates und der Spitze, der fast um jeden Preis mitregieren will. Die LinkspopulistInnen um Wagenknecht setzen auf eine angebliche Rückkehr zur Politik der „kleinen Leute“, beklagen den Vormarsch der Identitätspolitik, passen sich selbst aber an rassistische und nationalistische Stimmungen an. Die Bewegungslinke schließlich will eine transformatorische Regierungspolitik mit Engagement in Bewegungen verknüpfen.

In den realen politischen Auseinandersetzungen stehen diese Flügel – damit auch die Linkspartei – immer wieder auf verschiedenen Seiten. Während sich die Bewegungslinke betont antirassistisch gibt und an wichtigen Mobilisierungen in Solidarität mit Geflüchteten teilnimmt, erklärt Sahra Wagenknecht, dass nicht allen ein „Gastrecht“ gewährt werden könnte, und die Landesregierungen in Thüringen, Berlin oder Bremen schieben derweil ab.

Besonders deutlich trat das bei der Abstimmung um den letzten Afghanistaneinsatz zutage. Nachdem die Partei jahrelang den Rückzug der Bundeswehr gefordert hatte, wollt der rechte Flügel der sog. Rettungsmission doch zustimmen. Linke Abgeordnete lehnten das ab. Der Parteivorstand versuchte in der Not, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen – und sprach sich für eine Enthaltung bei der Abstimmung aus. Im Bundestag selbst folgte  eine Mehrheit der Abgeordneten der Empfehlung, fünf stimmen jedoch für den Einsatz, sieben dagegen. Mit dieser Politik machte sich DIE LINKE nicht nur unglaubwürdig, sie geriet auch in die Defensive.

Diese Schwankungen lassen sich faktisch auf allen wichtigen Politikfeldern verfolgen. So tritt die Partei für einen rascheren Ausstieg aus der Braunkohleverstromung ein – nicht jedoch in Brandenburg. In Berlin unterstützt sie die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen und die Krankenhausbewegung. Im SPD/PDS-Senat hatte sie freilich maßgeblich Anfang des Jahrtausends zur Privatisierung des Wohnraums und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und zum Outscourcing beigetragen.

Mit anderen Worten: Was die Linkspartei an Prestige und Anerkennung in einzelnen Kämpfen und Bewegungen erringt, konterkariert sie durch Opportunismus und Regierungspolitik auf der anderen.

Das ist natürlich für eine reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenpartei nichts Ungewöhnliches, sondern ein recht typischer, immer wiederkehrender Widerspruch. Nachdem die Partei eine revolutionäre Umgestaltung kategorisch ablehnt, muss sie logischerweise auf eine Regierungsbeteiligung abzielen, um ihre Ziele überhaupt umsetzen zu können. So weit besteht zwischen verschiedenen Fraktionen in der Partei und auch unter ihren Mitgliedern durchaus weitgehende Übereinstimmung. Differenzen gibt es, von Teilen der AKL abgesehen, freilich dazu, wann und zu welchem Preis sich die Partei dafür hergeben soll oder darf.

Veränderung der Mitgliedschaft

Verschärft wird der innere Konflikt in der Linkspartei durch eine Veränderung ihrer Mitgliedschaft und WählerInnenbasis. Die Zahl der AnhängerInnen im Osten schwindet seit Jahren. Das hat natürlich auch demographische Gründe. Jahrelang konnten PDS und später Linkspartei auf eine breite Unterstützung ehemaliger DDR-BürgerInnen zählen. Deren Klassenzusammensetzung war heterogen, schloss also auch Teile des alten Staatsapparates und der Eliten der DDR ein, die es schafften, in der BRD zu UnternehmerInnen, Selbstständigen oder höhergestellten Lohnabhängigen zu werden.

Diese soziale Struktur lässt sich für eine linke Oppositionspartei nicht dauerhaft reproduzieren und das ist auch gut so.

Aber DIE LINKE vermochte es im Osten nicht, stattdessen Erwerbslose und prekär Beschäftigte dauerhaft zu halten und neue Schichten der Lohnabhängigen für sich zu gewinnen. Dafür trägt sie selbst maßgeblich Verantwortung, weil sie nicht als entschlossene Opposition zu den herrschenden Verhältnissen agierte und agieren wollte, sondern als bessere sozialdemokratische Mitgestalterin ebendieser fungierte.

Wer den Kapitalismus nicht bekämpfen, sondern zähmen will, wird dabei letztlich nur selbst gezähmt und unterminiert seine eigene Basis.

DIE LINKE hat zwar auch neue Mitglieder gewonnen, vor allem im Westen und auch unter Jugendlichen und Lohnabhängigen, einschließlich betrieblich und gewerkschaftlich Aktiver. Aber sie gewann weniger, als sie anderer Stelle verlor.

Politisches Luftschloss Rot-Grün-Rot

Darüber hinaus gewann die DIE LINKE nach den Hartz- und Agendagesetzen jahrelang vor allem enttäuschte SPD-AnhängerInnen. Diese WählerInnenbewegung kam jedoch in den letzten Jahren immer mehr zum Erliegen.

Im Gegenteil. Sobald die SPD sich verbal etwas nach links bewegte und als eine machtpolitische Option erschien, gelang es ihr, WählerInnen von der Linkspartei zurückzugewinnen. Ein ähnlicher Prozess lässt sich auch gegenüber den Grünen beobachten und im Osten gegenüber der AfD. Letztere dürften aber in der Regel dauerhaft an ein neues rechtspopulistisches Milieu verloren sein.

Die Verluste an die SPD (und auch die Grünen) machen aber ein grundlegendes Problem der Linkspartei deutlich. Sie gewann von der SPD vor allem dadurch, dass sie sich ihren AnhängerInnen als die bessere, „echte“ sozialdemokratische Partei präsentierte. Die Agendapolitik unter Schröder und Steinbrück trieb ihr gewissermaßen automatisch Leute zu. Die Aussicht auf eine SPD-geführte Regierung und einige soziale Versprechen reichten aus, um die Sozialdemokratie unter diesen WählerInnen attraktiver zu machen. Sobald sich abzeichnete, dass diese die Wahlen gewinnen könnte, überlegten Hunderttausende, die zwischen SPD, Grünen und Linkspartei schwankten, ob sie nicht lieber die Sozialdemokratie wählen sollten, um eine CDU-geführte Regierung zu verhindern.

Diese Sogwirkung kostete der Linkspartei wahrscheinlich 1 – 2 Prozent, also über eine Million WählerInnen.

Ironischer Weise verstärkte die Linkspartei selbst diese Sogwirkung. Einigen Umfragen zufolge schien eine rot-grün-rote Regierung arithmetisch möglich. SPD und Grüne machten zwar deutlich genug, dass sie eine solche Koalition zu keinem Zeitpunkt anstrebten und allenfalls als Drohkulisse gegenüber der FPD verwenden würden, aber die SpitzenkandidatInnen, die Parteivorsitzenden und die Fraktionsführung beschworen dieses politische Luftschloss umso eifriger. Sie zogen faktisch das eigene linksreformistische Wahl-zugunsten eines vagen Sofortprogramms zurück, in dem alle wesentlichen Unterschiede zu SPD und Grünen entweder weggelassen oder auf ein Minimum reduziert wurden. Damit stellte die Linkspartei faktisch den eigenen Wahlkampf zugunsten einer Werbetour für eine Koalition ein, die außer ihr niemand wollte.

Den umkämpften WählerInnenschichten signalisierte sie damit, dass es eigentlich egal war, ob sie die Linkspartei wählten oder nicht. Schließlich sollte doch alles in einer gemeinsamen Regierung enden. Und diese zogen den Schluss, dass sie doch lieber gleich für das sozialdemokratische (oder grüne) Original stimmen sollten statt für die linke Möchtegern-Steigbügelhalterin.

Diese Katastrophe hat ausnahmsweise einmal nicht Sahra Wagenknecht zu verantworten, sondern vor allem jene, die das „Sofortprogramm“ auf den Weg gebracht haben: Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch und die Parteilinke Janine Wissler.

Deren „Taktik“ offenbart nicht nur den tief sitzenden Opportunismus, sich faktisch um jeden Preis einer rot-grün-roten Koalition anzubiedern. Nicht minder dramatisch ist die Realitätsferne der Führung der Linkspartei.

Für sie stellte sich der Wahlkampf als eine Konfrontation zwischen einem neoliberalen und einem „Reformlager“ dar. SPD und Grünen fehlte es demzufolge nur an Mut für eine soziale, ökologische Koalition für echte Verbesserungen.

Diese oberflächliche Sichtweise verkennt völlig, dass Grüne und SPD seit Jahrzehnten eng mit dem bestehenden politischen Herrschaftssystem verbunden sind. Über diese Kanäle vermitteln sich auch die Interessen des deutschen Kapitals oder bestimmter Kapitalfraktionen in diese Parteien hinein.

Das Problem der Linkspartei besteht darin, dass sie als unsichere Kantonistin gilt, wenn wichtige strategische Interessen des Gesamtkapitals auf dem Spiel stehen, selbst wenn sich deren Spitzen noch so sehr bemühen, als  zuverlässig, also harmlos zu erscheinen. Die herrschende Klasse sieht keinen Grund, dieses zusätzlich Risiko angesichts einer schier unendlichen Fülle außen- und europapolitischer Probleme, angesichts von Pandemie und wirtschaftlichen Krisenprozessen einzugehen.

Die Auflösung des traditionellen Parteiensystems verursacht schon genug Kopfzerbrechen, es bedarf keiner weiteren Ungewissheiten. Die Spitzen von SPD und Grüne wissen, dass von ihnen in dieser Lage erwartet wird, dass sie eine möglichst stabile Regierung herbeiführen – und das heißt, mit FPD und/oder CDU/CSU koalieren.

Diese realen Klassenbeziehungen spielen in den Kalkulationen der Führung der Linkspartei ebenso wenig eine Rolle wie der Klassencharakter des Programms von SPD und Grünen. Wäre dem anders, hätten sie wissen müssen, dass Rot-Grün-Rot immer nur ein politisches Hirngespinst war, was immer man sonst davon halten möchte.

Die Führung der Linkspartei sitzt stattdessen den Oberflächenerscheinungen des bürgerlich-parlamentarischen Betriebs auf und nimmt sie für bare Münze. Obwohl sich Grüne und SPD im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus präsentierten, tat sie so, als wollten SPD, Grüne und DIE LINKE im Grunde dasselbe.

In dem sie die realen Verhältnisse verschleierte, statt sie deutlich zu machen, schuf sich die Linksparteiführung ein Wolkenkuckucksheim. Sie täuschte damit vor allem sich selbst – und machte die Partei im Wahlkampf überflüssig. Am 26. September erhielt sie dafür die Quittung.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielte die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde und auch nie eingeladen worden wäre. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen.

Klarheit

Dies bedeutet aber nicht nur, sich innerparteilich zu positionieren. Es erfordert auch, sich selbst über den reformistischen Charakter der Linkspartei selbst klar zu werden. Die Orientierung auf Regierungsbeteiligungen ist keine Warze am Gesicht einer Partei, die selbst fest auf dem Boden der bürgerlich-demokratischen Ordnung steht. Vielmehr liegt es in der Logik einer Politik, die den Kapitalismus nicht stürzen will, dass sie zur Umsetzung ihrer Ziele eine Regierungsbeteiligung anstreben muss.

Solange die Kritik an der Anbiederung an Rot-Grün-Rot nur auf der Ebene verbleibt, dass sie heute zu viele Zugeständnisse beinhalte, ist sie letztlich oberflächlich und moralisch. Sie kritisiert nur die Resultate, nicht die Grundlagen des Reformismus.

Genau diese Kritik muss die Linke in wie außerhalb der Linkspartei leisten, um eine politische Alternative zu entwickeln, die über deren Rahmen programmatisch, strategisch wie taktisch hinausgehen kann. Diese grundlegende Debatte um ein revolutionäres Programm ist jedoch unerlässlich, damit die Katastrophe vom 26. September nicht zur nächsten führt.