Britannien: Postbeschäftigte dürfen erpresserischer Drohung nicht nachgeben!

Andy Young, Workers Power (Britannien), Infomail 1222, 3. Mai 2023

Bevor die Einigung zustande kam, behaupteten die Chef:innen von Royal Mail, der britischen Post, das Unternehmen stehe kurz vor dem Bankrott, und drohten mit einer Insolvenz, falls die Kommunikationsarbeiter:innen-Gewerkschaft CWU keine Einigung erzielen würde.

Nicht zu glauben, hat die CWU-Führung dieser Erpressung nachgegeben und der aktuellen Vereinbarung zugestimmt, die die Bedingungen der Beschäftigten verschlechtert, um die Rentabilität wiederherzustellen. Auf den ersten Seiten des Abkommens werden die Bestimmungen ausdrücklich mit der Rückkehr der Gewinne verknüpft.

Der Vorsitzende der Londoner CWU, Martin Walsh, der die Einigung verteidigt, hat sich dieser Meinung angeschlossen. Er argumentiert, dass weitere Streiks die Situation von Royal Mail verschlimmert und das Unternehmen gezwungen hätten, noch stärkere Kürzungen als die in der Vereinbarung vorgeschlagenen vorzunehmen oder in die Verwaltung zu gehen, was bedeuten würde, dass „Tausende von Arbeitsplätzen verlorengingen, die nicht direkt mit der USO (Universal Service Obligations; Umfassende Pflichtdienste) verbunden sind“.

In einem anderen Beitrag (auf den Hunderte von verärgerten Antworten von Postangestellten eingingen) sagte er: „Diejenigen, die behaupten, dass die Regierung uns aus der Patsche helfen wird, haben nur teilweise Recht. Sie hätten die USO weitergeführt, aber alles andere, einschließlich Paketen, LAT (Briefverteilung), CSPs (Fracht, Schwerpakete) usw., wäre wahrscheinlich eingestellt worden, was zu Tausenden von sofortigen Arbeitsplatzverlusten geführt hätte, wobei nur die gesetzlichen Abfindungen zur Verfügung gestanden hätten.“

Das ist nicht unbedingt richtig und auch nicht realistisch.

Wenn wir mit Nein stimmen, geht das Unternehmen dann bankrott?

Zunächst einmal kennen wir die tatsächliche finanzielle Lage von Royal Mail nicht und werden sie auch nicht erfahren, bevor der Streik beendet ist und eine Einigung mit den Beschäftigten erzielt wurde.

Zweitens bedeutet die Annahme der Vereinbarung, dass die Bosse dafür belohnt werden, dass sie im letzten Jahr eine halbe Milliarde Gewinn eingestrichen und uns dann in der Vorweihnachtszeit zum Streik gezwungen, sie Konkurrent:innen für die Übernahme profitabler Paketzustellungen bezahlt haben und für Leiharbeitskräfte tief in die Tasche greifen mussten, um einen von ihnen provozierten Streik zu brechen.

Drittens: Ist es wirklich glaubhaft, dass ein Unternehmen, das vor der Pandemie profitabel war (in Höhe von 100 Millionen Pfund) und mehr Pakete denn je zustellt, unter normalen Bedingungen rote Zahlen schreibt?

Letztendlich bedeutet dies, dass man der Politik des Vorstands von Royal Mail nachgeben muss. Die internationale Holdinggesellschaft der Royal Mail, IDS, ist profitabel und schottet ihren Betrieb im Vereinigten Königreich absichtlich ab, um die im Ausland erwirtschafteten Profite den Aktionär:innen zukommen zu lassen und die Belegschaft unter Druck zu setzen. Das ist eine bewusste Politik, vor der wir nicht in die Knie gehen sollten. Die Profite der Royal Mail wurden verwendet, um die internationalen Vermögenswerte zu erwerben, und man war froh, die Aktivitäten damals miteinander zu verbinden!

Öffnung der Geschäftsunterlagen

Wir haben keinen Grund, die Behauptungen der Geschäftsführung für bare Münze zu nehmen. Öffnet die Geschäftsbücher und lasst uns sehen, wie es wirklich um das Unternehmen steht! Wenn es als gewinnorientierte Firma nicht lebensfähig ist, dann muss es verstaatlicht werden.

Die Wahrheit ist, dass das Unternehmen ohnehin wieder verstaatlicht werden sollte. Die Versprechungen, dass die Privatisierung dringend benötigte Investitionen in das Unternehmen bringen würde, waren immer ein Schwindel: Sie haben in den letzten 10 Jahren fast 2 Milliarden Pfund an Gewinnen entnommen.

Die 670 Millionen Pfund Gewinn, die im letzten Jahr gemacht worden sind, hätte man nutzen können, um das Unternehmen von Grund auf zu modernisieren. Wir könnten jeden Lieferwagen durch einen umweltfreundlichen Elektrotransporter ersetzen, die Büros gut isolieren, um die Heizkosten zu senken, und uns neue Arbeitsschuhe zulegen, ohne monatelang warten zu müssen!

Unabhängig davon, wie es um die Finanzen des Unternehmens bestellt ist, ist es eine harte Wahrheit, dass die Royal Mail nicht gleichzeitig ein gut geführter Betrieb sein kann, der eine wichtige öffentliche Dienstleistung erbringt und seinen Mitarbeiter:innen anständige Arbeitsbedingungen bietet, und zugleich eine Goldgrube für milliardenschwere Aktionär:innen.

Wie bei allen anderen öffentlichen Diensten, die privatisiert wurden – von der Wasser- bis zur Energieversorgung – haben die Dividenden die Investitionen bei weitem übertroffen, und das Ergebnis ist ein schlechterer Dienst, der die Nutzer:innen mehr kostet und von Arbeiter:innen erbracht wird, deren Löhne, Arbeitsbedingungen und Renten bis auf die Knochen gekürzt wurden.

Royal Mail sollte wieder verstaatlicht werden, ohne einen Penny Entschädigung für die Profiteur:innen.

„Aber die Tories wären schlimmer!“

Das Argument, dass eine von einer konservativen Tory-Regierung geführte Royal Mail in öffentlichem Besitz schlimmer wäre als die derzeitige private Verwaltung, wird von den Befürworter:innen des Deals gewöhnlich vorgetragen. Aber es ist schwer zu erkennen, wie es noch schlimmer kommen könnte.

Sie mussten die Zähne zusammenbeißen und Liberty Steel vor zwei Jahren verstaatlichen, als das Unternehmen in Konkurs ging. Die East Coast Mainline (elektrifizierte Eisenbahnlinie zwischen London King’s Cross und Edinburgh Waverley) wird von einem öffentlichen Unternehmen betrieben, nachdem sich private Betreiber:innen zurückgezogen hatten.

Ein wichtiger Grund für die Privatisierung war, dass es für eine Regierung politisch viel schwieriger ist, einen öffentlichen Dienst so zu zerstören, wie es private Eigentümer:innen mit der Notwendigkeit einer Profitsteigerung rechtfertigen können. Die von einem verstaatlichten Unternehmen erwirtschafteten Gewinne werden in den Dienst reinvestiert oder tragen zur Finanzierung anderer staatlicher Ausgaben bei – bei einem privaten Unternehmen werden sie in Jachten oder Steuerparadiesen investiert.

Eine Wiederverstaatlichung der Royal Mail und eine anschließende Kürzung der allgemeinen Dienstleistungen wäre also selbst für die Tories politisch schwierig, ebenso wie eine Abspaltung des Paketdienstes, wie Martin Walsh sagt. Die neuen Paketzentren wurden über Jahre hinweg mit den Gewinnen der Royal Mail bezahlt, und man kann nicht davon ausgehen, dass die Regierung sie absichtlich inoperabel und unrentabel macht – wenn es eine öffentlichkeitswirksame, mit Streiks verbundene Kampagne zur Wiederverstaatlichung der Post gibt.

Derzeit kann sich Premierminister Rishi Sunak noch zurücklehnen, während der Milliardär Kretinsky und seine Marionette Simon Thompson (Hauptgeschäftsführer von Royal Mail) unsere Arbeits- und Tarifbedingungen auseinandernehmen – „mit mir hat das nichts zu tun, Regierungschef“.

Aber das ändert sich, sobald Sunak dafür am Haken hängt. Wenn wir kämpfen, wird es für die Tories zu einem politischen Problem, wenn sie dabei beobachtet werden, wie sie die USO kürzen oder eine Gewerkschaft zerschlagen.

Würde die Bevölkerung uns dennoch unterstützen?

Es wird gesagt, dass die Royal Mail und ein Zustellsystem in der Öffentlichkeit nicht mehr beliebt genug sind oder nicht mehr gebraucht werden. Aber das ist nicht wahr. Der Rest der Gewerkschaftsbewegung würde uns sicherlich unterstützen, wenn wir kämpfen.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Survation vom August 2022 ergab, dass 68 Prozent der Öffentlichkeit der Meinung sind, dass die Royal Mail verstaatlicht werden sollte. Eine Kampagne für die Wiederverstaatlichung, die ohnehin die Politik der CWU zum Ziel hat, würde breite Unterstützung finden, weil ein ehemals öffentlicher Dienst dem Profit geopfert wurde, und ein Bankrott würde dies deutlich machen.

Wenn wir gewinnen würden, dann wären die Wiederverstaatlichung der Eisenbahn, der Rauswurf der Profitgeier aus dem Nationalen Gesundheitswesen, die Kontrolle über die Profiteur:innen, die die Energierechnungen in die Höhe treiben und die Abwässer in unsere Flüsse leiten, echte Möglichkeiten und die logischen nächsten Schritte.

Die Vorstellung, dass eine Wiederverstaatlichung unter einer Labour-Regierung wahrscheinlicher ist oder Parteichef Keir Starmer netter wäre als die Tories, ist nur ein Trugbild. Ohne massiven Druck würde er das nicht tun. Die Tatsache, dass Royal Mail sagt, es sei fast bankrott und nicht mehr tragfähig, erzeugt jetzt den stärksten Druck für seine Wiederverstaatlichung.

Und das Argument, dass eine Renationalisierung durch die Torys automatisch schlechter wäre als das Ergebnis der aktuellen Vereinbarung, ist zwar verständlich, aber nicht wahr. Anstatt einer rücksichtslosen Unternehmensleitung nachzugeben, die nur noch mehr fordern wird, kann sich die CWU gegen alle Versuche der Tories wehren, die USO oder unsere Arbeitsbedingungen in einem wiederverstaatlichten Unternehmen zu beschneiden, und eine Solidaritätsbewegung um uns herum aufbauen.

Das setzt jedoch voraus, dass die CWU-Führer:innen ihre Strategie der Absprachen mit der Unternehmensleitung, der Zusammenarbeit bei Umstrukturierungen und der Kürzung unserer Löhne und Arbeitsbedingungen aufgeben und stattdessen für die Gewerkschaftspolitik kämpfen – die lautet: Wiederverstaatlichung.

Und das wiederum setzt voraus, dass sich die Basis der Gewerkschaft organisiert, um einen solchen Richtungswechsel voranzutreiben und unsere Macht wiederherzustellen, damit wir ihn von der Basis aus durchsetzen können.

Als Sozialist:innen würden wir noch weiter gehen. Das Unternehmen sollte verstaatlicht werden, ohne dass die Bonzen, die das Vermögen und die Gewinne abgeschöpft und den öffentlichen Dienst in die Knie gezwungen haben, auch nur einen Cent erhalten. Es sollte nur eine Entschädigung für die Kleinaktionär:innen geben, und der Postdienst sollte unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innen und Kund:innen geführt werden.




Nahrungsmittelmittelknappheit, Preissteigerungen und die drohende Hungerkatastrophe im globalen Süden

Jan Hektik / Martin Suchanek, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärften die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leidet an Mangelernährung.

Seit 2020, also seit Beginn der Pandemie und der mir ihr verbundenen globalen Rezession, verschärft sich die Lage gerade der Ärmsten der Armen. Dafür gibt es eine Reihe einander verstärkender Ursachen.

1. Preissteigerungen der Agrarrohstoffe und Agrarprodukte

Schon im ersten Jahr der Pandemie lässt sich infolge von Produktionsausfällen, Lieferengpässen und erhöhten Transportkosten ein massiver Anstieg der Weltmarktpreise für zentrale Agrarrohstoffe wie Saatgut und Düngemittel feststellen. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn explodierten sie. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022.

Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

2. Sinkende Einkommen und Pauperisierung

Die Wirtschaftskrise 2020/21 ging in vielen Ländern mit massiven Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse wie auch der Bauern/Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums einher.

In den Ländern des globalen Südens existierten in der Regel überhaupt keine sozialen Sicherungsmaßen für die Lohnabhängigen (wie z. B. Kurzarbeiter:innenregelungen). Zugleich führte die Rezession aber in vielen Ländern zu einem Rückgang des Outputs und weltweit zu einem massiven der geleisteten Arbeitsstunden (rund 8 % im Jahr 2020!). In den imperialistischen Ländern verhinderten staatliche Regelungen, die die Lohnabhängigen bei Kurzarbeit in Beschäftigungsverhältnissen hielten, einen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. In den meisten Halbkolonien, die sich keine Lockdowns leisten konnten oder wollten, war zwar der unmittelbare Produktionsrückgang geringer, dafür breiten sich seither Stagnation und weiterer Niedergang aus. Anders als in der Krise 2008/2009 absorbierte auch der informelle Sektor die freigesetzten Arbeitskräfte nicht.

Die Folge: massive Verarmung, ja Pauperisierung großer Bevölkerungsmassen in den Halbkolonien. Ein beträchtlicher und stetig wachsender Teil des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft muss mittlerweile sein Leben unter den Reproduktionskosten fristen. In vielen vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern haben wir es faktisch mit einer direkten, offenen Verelendung zu tun.

Hinzu kommt, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise die Bevölkerung des globalen Südens besonders stark trifft.

Während in den Industrieländern die Menschen zwischen 12 und 30 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen, sind es für die Massen des globalen Südens rund 50 bis 100 %. Wenn Nahrungsmittel teurer werden, bedeutet das zu hungern und, dass für  andere essentielle Güter wie Gesundheit, Wohnen, Schulbildung der Kinder nichts mehr übrig bleibt. Wo kleine Bauern/Bäuerinnen davon betroffen sind, kann dies dazu führen, dass sie sich Saatgut oder Düngemittel nicht mehr leisten und ihr Land nicht bebauen können. Elend und Ernährungskrise nehmen so weiter zu.

3. Imperialistische Ausbeutung und Schuldenkrise

Die Strukturen der Weltwirtschaft verschärfen die gesamte Krise gerade in der sog. Dritten Welt auf mehrfache Weise. So monopolisieren die großen zumeist westlichen Konzerne oder einzelne Staaten den Weltmarkt. Nestlé zum Beispiel kontrolliert einen Großteil der weltweiten Trinkwasservorräte und zwingt systematisch in Afrika Menschen dazu, sein Wasser zu kaufen, indem es sich dagegen einsetzt, dass öffentlich zugängliche Trinkwasserquellen erschlossen werden. Weiterhin wird ein Großteil vom Wasser und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen für die Tierzucht verwendet, vor allem für die Fleischproduktion in den imperialistischen Ländern.

Krise und Knappheit bilden dann auch eine Quelle von Extraprofiten aufgrund eines etablierten Monopols oder Oligopols. Hinzu kommt, dass steigende Preise auch spekulative Möglichkeiten eröffnen.

Noch wichtiger ist freilich, dass die Pandemie und die mit ihr verbundene Weltwirtschaftskrise auch den Weltmarktzusammenhang erschüttert haben. Lieferketten wurden durchbrochen, Transportkosten stiegen, die Produktion geriet ins Stocken. Die zunehmende Konkurrenz und Blockbildung hat außerdem Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes schon vor dem Ukrainekrieg verstärkt. Nun zielen die Sanktionen des Westens darauf ab, Russland vom Weltmarkt zu isolieren. Dessen Gegenreaktion und Drohungen (z. B. „feindliche“ Länder von Lebensmittellieferungen auszuschließen) erhöhen nur die Krisenhaftigkeit und treiben zugleich die Preise in die Höhe.

Die USA wie auch in geringerem Ausmaß die EU-Staaten oder China können natürlich noch eigene Reserven mobilisieren. Generell versuchen sie, die Kosten der Krise auf andere abzuwälzen. Das beginnt schon damit, dass die globale Produktion ohnedies auf die Bedürfnisse des Kapitals der dominierenden, imperialistischen Länder und deren Märkte zugeschnitten ist. So lohnt sich auch die industrielle Nahrungsmittelproduktion im großen Stil vor allem in Bezug auf diese Länder, was zur Folge hat, dass die Agrarflächen der halbkolonialen seit Jahrzehnten mehr und mehr für den Export aufkommen und immer weniger zur Versorgung der eigenen Bevölkerung, die über weit weniger oder gar keine Kaufkraft verfügt. Für die kapitalistische Produktion zählt aber nicht das Bedürfnis an sich, sondern nur das zahlungskräftige – mit verheerenden Auswirkungen für die Bevölkerung der armen Länder.

Einen letztlich noch viel stärkeren Hebel bilden freilich das Finanzkapital und die Kontrolle über das Weltfinanzsystem durch die imperialistischen Kernländer. In der Krise versucht beispielsweise die USA-Zinspolitik, Kapital auf den US-Markt zu lenken. Das erfolgt aber notwendigerweise auf Kosten anderer Staaten. Es ist kein Zufall, dass Länder wie Argentinien und die Türkei, also auch sog. Schwellenländer, extrem von einer Finanzkrise geplagt sind. Im Grunde trifft das aber den gesamten globalen Süden.

Die Abhängigkeit von den Bewegungen des globalen imperialistischen Finanzkapitals hat sich in den letzten Jahren infolge des massiven Anwachsens der Staatsverschuldung in fast allen Ländern massiv verschärft. Mehreren wie Argentinien, Pakistan sowie einer ganze Reihe afrikanischer Länder droht faktisch der Staatsbankrott. Manche wie Sri Lanka sind zahlungsunfähig.

Wie letzteres Beispiel verdeutlicht, verbinden sich in einer solchen Lage Mangel an Lebensmitteln und anderen essentiellen Gütern mit Hyperinflation.

4. Dürre, Extremwetterlagen und Klimawandel

Die Ausplünderung des globalen Südens und die zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit durch Raubau an der Natur entfalten vor diesem Hintergrund verstärkt ihre bedrohliche Dynamik.

Beispielsweise in Indien lässt sich der Einfluss durch den Klimawandel gut beobachten. Vor der großen Hitzewelle hoffte die Regierung des Landes, die Landwirtschaft anzukurbeln, um davon zu profitieren, dass Ukraine und Russland aus dem Markt fallen. Aber infolge der besagten Hitzewelle, übrigens der größten seit 1910 (!), muss sie nun selbst mit der Nahrung haushalten und Exporte stoppen – was wiederum andere Länder der sog. Dritten Welt trifft.

Doch Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche, von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls verschwinden. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Widerstand

Die aktuelle Situation, die in vielen Ländern der halbkolonialen Welt von Inflation, massiver Verarmung, Lebensmittelknappheit geprägt ist, kann und wird auch zu Massenprotesten verschiedener Art führen. Schon in den letzten Jahren brachen auch aufgrund der extrem prekären Lebensmittel- und Landfrage zahlreich Revolten, oft verknüpft mit demokratischen Bewegungen, aus – sei es in Ländern wie Äthiopien oder Sudan, Sri Lanka oder Kasachstan. Auch die Wahl linkspopulistischer Politiker in Lateinamerika – Boric in Chile oder Gustavo Petro in Kolumbien – verdeutlichen, dass die Massen nach einer Alternative zu Neoliberalismus und imperialistischer Ausplünderung suchen.

Die Formen, die die Bewegungen gegen Preissteigerungen, Hunger, Verelendung annehmen, werden sicherlich von Land zu Land sehr verschieden sein – seien es spontane Emeuten oder auch Massenstreiks. In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass sie entweder direkt auf massive Repression durch reaktionäre, despotische Regime stoßen wie in vielen afrikanischen Ländern oder in Sri Lanka. Oder aber linke, populistische oder reformistische Führungen werden im Kampf gegen die Reaktion und den Imperialismus auf halbem Weg stehenbleiben, die Hoffnungen der Massen enttäuschen und so die Gefahr heraufbeschwören, dass die rechte Reaktion eine Stabilisierung im Sinne der herrschenden Klasse durchsetzt.

Daher besteht die Aufgabe von Revolutionär:innen nicht nur darin, sich an den Aktionen gegen die Preissteigerungen, Hunger, Verelendung entschlossen zu beteiligen. Vor allem müssen sie eine Perspektive weisen, ein Aktionsprogramm zur Lösung der Krise entwickeln und darum eine revolutionären Arbeiter:innenpartei und Internationale aufbauen. Wir können hier weder ein vollständiges Programm vorlegen noch vermögen die folgenden Punkte, spezifische, nationale Aktionsprogramme zu ersetzen. Aber wir können kurz zentrale Forderungen skizzieren, die für praktisch alle Ländern gelten und von der internationalen Arbeiter:innenbewegung und Linken unterstützt werden müssen.

– Soforthilfe ohne Bedingungen für Millionen

Millionen Menschen droht der Hungertod, Hunderte Millionen werden nicht regelmäßig satt. Dabei fehlt es weltweit nicht an Nahrungsmitteln, wohl aber an der Versorgung eines großen Teils der Weltbevölkerung. Die Forderung nach einem Sofortprogramm zur Sicherung der Existenz dieser Menschen richtet sich sowohl an die Staaten, wo sie leben, wie auch an die imperialistischen Länder, die diese seit Jahrhunderten ausbluten. Während jährlich hunderte Milliarden für Rüstung und Militarismus verschleudert werden, müssen Hilfsgüter mühsam durch Spenden aus der Bevölkerung organisiert oder jeder Cent den Herrschenden der Welt abgebettelt werden. Dieser Skandal, dieser Irrsinn muss beendet werden! Die imperialistischen Staaten müssen gezwungen werden, diese Mittel aufbzuringen.

– Schuldenstreichung der Dritten Welt

Ohne Streichung der Schulden der halbkolonialen Länder wird früher oder später jede eigenständige, nicht vom Finanzkapital des Westens oder Chinas dominierte „Entwicklung“ unmöglich. Die Schulden an den IWF, internationale Finanzinstitutionen oder im Rahmen von Chinas „Neuer Seidenstraße“ müssen gestrichen werden. Sämtliche Bedingungen im Rahmen der sog. Strukturanpassungsprogramme des IWF müssen aufgekündigt werden.

Wir rufen die Länder des globalen Südens auf, die Schuldenrückzahlung bei den imperialistischen Institutionen einzustellen. Wir wissen aber auch, dass die mächtigen Staaten der Welt einen solchen Akt nicht hinnehmen, sondern versuchen werden, diese Länder mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen. Es braucht daher eine entschlossene Solidaritätsbewegung gerade in den imperialistischen Zentren, die ihrerseits solche Angriffe auf unterdrückte Länder bekämpft.

– Bekämpfung der Inflation

Gegen Preissteigerungen stellt der Kampf um die automatische Anpassung der Löhne und Einkommen, der Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation, die gleitende Skala der Löhne, eine zentrale Losung dar. Diese muss ihrerseits mit der Forderung nach Kontrolle der Preis- und Lohnentwicklung durch die Arbeiter:innenklasse verbunden werden.

Darüber hinaus bedarf es in vielen Ländern eines Mindestlohns und -einkommens für Erwerbslose, die die Reproduktion der Massen sichern. So wie wir die Entschuldung der Länder des globalen Südens fordern, müssen wir auch die  der großen Masse der Arbeiter:innen in Stadt und Land sowie der armen Bäuer:innen durchsetzen.

Frauen, die die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen und oft einen Großteil der Beschäftigen in Lebensmittelhandel und -produktion bilden, würde eine Schlüsselrolle in Kontroll- und Kampfkomitees zukommen.

In Ländern, wo die Preissteigerung die Form der Hyperinflation annimmt, die fast täglich oder wöchentlich Lohnerhöhungen auffrisst und wo das Geld selbst so rasch an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr wahrnehmen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Es braucht nicht nur Preiskontrollkomitees, sondern direkte Eingriffe in die Verteilung lebenswichtiger Güter für die Bevölkerung. Arbeiter:innenkomitees müssen die Verteilung kontrollieren und die Versorgung der Städte direkt mit den agrarischen Produzent:innen organisieren, um den Zugang zu Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Solche Maßnahmen, die in den freien Markt eingreifen, müssen in dieser Situation sinngemäß auch auf andere essentielle Güter angewandt werden.

– Umstrukturierung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Massen

Um das Elend zu stoppen und sichere Existenzbedingungen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen durchzusetzen, muss die Agrarproduktion gemäß den Bedürfnissen der Massen umstrukturiert werden. Das erfordert zwingend die entschädigungslose Enteignung des Agrarkapitals, ob aus den imperialistischen Staaten oder den jeweiligen Ländern, sowie des Großgrundbesitzes. Auf dieser Basis können Agrarbetriebe unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt, Genossenschaften gegründet oder auch die Aufteilung des Landes unter landlose und Kleinbauern/-bäuerinnen durchgeführt werden.

– Enteignung des Großkapitals und demokratische Planung

Die Umstrukturierung der Landwirtschaft muss jedoch Hand in Hand gehen mit einer Reorganisation der Produktion in den Städten gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen, der Landwirtschaft, der Geflüchteten und pauperisierten Massen sowie des Schutzes natürlicher Ressourcen. Dazu bedarf es eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle sowie der entschädigungslosen Enteignung des Großkapitals, der Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser. Auf dieser Grundlage kann und muss ein Notplan etabliert werden, um die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu sichern.

– Kampf um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung

Auch die jüngste Erfahrung zeigt einmal mehr, dass die herrschende Klasse nicht in der Lage ist, auch nur eines der großen Probleme der Menschen zu lösen. Umso hartnäckiger wird sie aber versuchen, ihre eigene Herrschaft (und jene des Imperialismus) gegen die Arbeiter:innenklasse, die Bäuer:innenschaft, rassistisch und national Unterdrückte durchzusetzen – wenn nötig mit Repression durch Polizei, Geheimdienst oder Militär.

Der Kampf für ein Aktionsprogramm gegen Hunger und Verelendung kann sich auch deshalb nicht auf gewerkschaftliche und betriebliche Kämpfe oder demokratische Proteste beschränken. Auf einer bestimmten Stufe muss er sich zu einem um die Macht entwickeln, um eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die solche Maßnahmen auch umsetzen kann. Damit eine solche Bewegung den unvermeidlichen reaktionären Widerstand der Herrschenden und die Repression durch ihren Staatsapparat brechen kann, müssen wir selbst Räte in den Betrieben und Stadtteilen, Stadt und Land aufbauen sowie eigene Selbstverteidigungsorgane, eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmiliz sowie Soldat:innenräte, um die Masse der Mannschaftsränge, der einfachen Soldat:innen auf die Seite der Revolution zu ziehen.

Die revolutionäre Machteroberung und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauer:innenregierung würden nicht nur einen entscheidenden Schritt bei der Bekämpfung von Armut und Hunger, sondern jeder Form von Unterdrückung und Ausbeutung darstellen. Zugleich dürfen sie sich nicht auf die sozialen und politischen Umwälzungen in einem Land beschränken, sondern müssen von Beginn an auf die Internationalisierung der Revolution, die Unterstützung des Kampfes in anderen Ländern setzen. Gerade um die vom Imperialismus abhängige Entwicklung zu durchbrechen, braucht es eine Ausweitung der Revolution und die Bildung regionaler Föderationen revolutionärer Arbeiter:innenstaaten als Schritte zur sozialistischen Weltrevolution.




Sofortige Aufhebung des Patentschutzes – Corona-Impfstoff für alle!

Katharina Wagner, Infomail 1150, 18. Mai 2021

Wer in den letzten Wochen Nachrichten hörte oder die Zeitung aufschlug, dürfte überrascht gewesen sein. Denn nach wochenlangen Diskussionen über den herrschenden Impfnationalismus forderte plötzlich auch Joe Biden das zumindest vorübergehende Aussetzen des Patentschutzes, um die weltweite Versorgung mit Impfstoffen gegen COVID-19 und damit ein Beherrschen der Corona-Pandemie zu gewährleisten.

Unter Druck von progressiven DemokratInnen und BefürworterInnen des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem wegen der derzeit katastrophalen Zuspitzung der Pandemie in Indien, sah sich der US-Präsident zu einer geänderten Stellungnahme gezwungen. Natürlich nicht ohne zu ergänzen, dass er nach wie vor die bereits verfügbaren Impfstoffe zunächst für die eigene Bevölkerung einsetzen werde.

Weltweite Forderung

Die Forderung nach Aussetzung der Patente wird seitens der WHO und vielen Ländern des globalen Südens seit langem geäußert, um die Produktion von Impfstoffen weltweit ohne Zahlung von Lizenzgebühren zu ermöglichen. Bereits im Oktober 2020 wurde durch Brasilien und Indien ein Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht, der die Aussetzung von mehreren Punkten des TRIPS-Abkommens vorsieht. Dieser wird mittlerweile von über 100 Ländern unterstützt. Hierbei geht es um die Aussetzung bestimmter Aspekte bezüglich des Recht sauf geistiges Eigentum in Bezug auf Vakzine, Heilmittel und medizinische Ausrüstung im Zusammenhang mit COVID-19. Ein solcher Antrag muss aber von den Mitgliedsstaaten einstimmig angenommen werden und scheiterte bisher am Veto der USA und der EU.

Warum die Forderung nach Aufhebung der Patente für Vakzine nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen die Zahlen der bisherigen globale Impfstoffverteilung. Afrikanische Staaten, deren Anteil an der Weltbevölkerung rund 16 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, wurden bisher nur mit 2 % der verfügbaren Impfstoffmenge beliefert. Dem gegenüber sollen bis zu 70 % der verfügbaren Vakzine an die Industriestaaten gehen. Und dass sich die ärmeren Länder dieser Welt nicht alleine auf das COVAX-Programm der WHO verlassen dürfen, ist nicht erst seit dem starken Anstieg der Infektionszahlen in Indien deutlich geworden, welcher zu drastischen Reduzierungen der für das Programm bestimmten Impfdosen geführt hat. Die dort hergestellten Dosen des AstraZeneca-Impfstoffes werden nun dringend für die eigene Bevölkerung benötigt und fehlen somit außerhalb Indiens.

Die Forderung nach Aussetzung des Patentrechts für Impfstoffe wird sogar von der Bevölkerung der imperialistischen Länder befürwortet. Rund 70 % der Befragten in G7-Staaten sind laut einer Meinungsumfrage für die Aussetzung des Patentrechts, um die globale Pandemie schnellstmöglich zu beenden. Schließlich müsste jedem klar sein, dass die Pandemie nur global überwunden werden kann. Vor allem in Regionen mit geringer Impfquote ist biologisch betrachtet die Wahrscheinlichkeit von weiteren Mutationsvarianten deutlich erhöht, und somit wird auch die Wirksamkeit der Impfstoffe aufs Spiel gesetzt.

Lautstarke Kritik und Erklärungsversuche

Vor allem aus der EU kommt großer Vorbehalt gegen diesen Antrag. Bundeskanzlerin Merkel hat sich bereits mehrmals eindeutig gegen die Aufhebung des Patentschutzes ausgesprochen. Aus Kritikerkreisen ist zudem zu hören, dass nicht der bestehende Patentschutz, sondern vor allem die fehlenden Produktionskapazitäten, Fachkenntnisse und die Beschaffung von Rohstoffen die größten Hindernisse seien.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU bei einer Aufhebung des Patentschutzes vor allem Wettbewerbsvorteile für die Volksrepublik China befürchtet. Denn diese könne im Gegensatz zu vielen halbkolonialen Ländern die dann zugänglichen Informationen viel schneller für eigene Impfstoffproduktionen nutzen.

Im Folgenden wollen wir die Entwände gegen eine Aufhebung des Patentschutzes näher betrachten. Tatsächlich handelt es sich bei der Herstellung von mRNA-Impfstoffen um ein völlig neuartiges Verfahren, und nur wenige Pharma- beziehungsweise Biotechfirmen verfügen derzeit tatsächlich über das notwendige Fachwissen, um diese Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen. Dies liegt aber in erster Linie an dem sehr restriktiven Vorgehen der Biotechfirmen BioNTech, Moderna sowie CureVac, welche ihre jeweiligen KooperationspartnerInnen meist nur mit einzelnen Schritten innerhalb des Herstellungs- oder Abfüllungsprozesses beauftragen, um die Produktionsmengen zu erhöhen. Hierbei werden aber lediglich die zwingend erforderlichen Informationen weitergeleitet. Ein vollständiger Wissenstransfer findet nicht statt.

Im Oktober 2020 gab es von der US-amerikanischen Biotechfirma Moderna sogar das Angebot, den Patentschutz für ihr mRNA-Vakzin nicht durchsetzen zu wollen, damals vermutlich hauptsächlich aus Imagegründen, und das geistige Eigentum erst nach Ende der Pandemie lizenzieren zu wollen. Auch die Mainzer Firma BioNTech hat kürzlich angekündigt, ihre Patente kurzfristig aussetzen und bis zum Ende der Pandemie den Patentschutz juristisch nicht durchsetzen zu wollen.

Allerdings wird ein Ende der Pandemie von der WHO festgelegt, und da in zahlreichen Industrieländern schon ein gewaltiger Impffortschritt und niedrige Inzidenzzahlen erzielt werden konnten, könnte dieses „Ende“ vielleicht früher als erwartet verkündet werden, während sich die Pandemie in den halbkolonialen Ländern mit voller Wucht weiter ausbreitet.

Ob die jeweilige Zeitspanne dann ausreichend ist, um in diesen Ländern die erforderlichen Produktionskapazitäten aufbauen und Fachpersonal bereitstellen zu können, bleibt fraglich. Daher ist die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes notwendig, aber nicht ausreichend. Ebenso wichtig ist die Forderung nach einem umfassenden Technologie- und Wissenstransfer sowie nach Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen, um die weltweiten Produktionskapazitäten für diese Art von Impfstoff stark auszuweiten.

Allerdings ist dies ohne Zugang zum Wissen und zur Erfahrung der jeweiligen Unternehmen kaum denkbar. Es bräuchte daher staatliche Zwangsmaßnahmen, um einen Transfer dieses Wissens und eine umfassende Kooperation zu erzwingen. Ein weiteres Mittel, welches schon jetzt eingesetzt werden könnte, wäre die Vergabe von Lizenzen an andere, auch internationale Pharmafirmen. Firmen aus Dänemark, Bangladesch sowie Indonesien und Südafrika hatten sich bisher vergeblich bemüht, in die Impfstoffherstellung einzusteigen. Doch bisher wurden selbst diese Schritte unter Berufung auf den Patentschutz vor allem von den USA und der EU blockiert. Die rechtliche Möglichkeit der Zwangslizenzierung wird aufgrund des enormen Drucks seitens der Pharmabranche von den bürgerlichen Regierungen natürlich auch nicht genutzt.

Nicht nur bei der Patentfrage, sondern auf allen Ebenen erweist sich das Profitinteresse der großen Kapitale als entscheidendes Hindernis für eine effektive, international koordinierte Pandemiebekämpfung.

Zahlreiche Initiativen weltweit

Derzeit gibt es international zahlreiche Initiativen von NGOs, Sozial- und Gesundheitsverbänden sowie Gewerkschaften, welche eine Aussetzung des Patentschutzes fordern. Neben der Partei DIE LINKE, welche bereits im Januar diesen Jahres einen entsprechenden Antrag zur Freigabe der Patente im deutschen Bundestag einreichte, stellen sich auch zahlreiche linke Gruppen wie marx21 oder die Interventionistische Linke (IL) eindeutig hinter diese Forderung.

Im Kampf für das weltweite Recht auf Gesundheit und freien Zugang zu Impfstoffen sind transnationale, breite Bündnisse wie bspw. die Bewegung #ZeroCovid unbedingt notwendig. Zwar fehlt diesen losen Bündnissen oft noch ein „politischer Hebel“. Dennoch ist es gelungen, diese Forderung zu verbreitern und somit zumindest einen Ansatzpunkt für einen gemeinsame Kampf zu finden. Um allerdings global einen gerechten Zugang zu Impfstoffen durchzusetzen, reicht allein die Forderung nach einer Aussetzung des Patentrechtes nicht aus, vielmehr muss die weitreichendere Forderung nach vollständiger Enteignung der Pharmakonzerne sowie des gesamten Gesundheitssektors auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Denn es herrscht ja nicht nur eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen, sondern auch von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung, von finanziellen Ressourcen und Produktionskapazitäten insgesamt. Und eines ist im Zuge der Pandemie sehr deutlich geworden: Innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft handelt es sich dabei in erster Linie nicht um „öffentliche Güter“, sondern zunächst einmal um Waren, mit denen Profit erwirtschaftet werden kann. Eine weitere, und bereits angesprochene Forderung ist der notwendige Technologietransfer. Dieser kann freilich nicht den einzelnen EigentümerInnen und dem Management überlassen werden. Die Aufhebung von Patenten und der öffentliche Zugang zu Know-how und Forschungsergebnissen muss vielmehr durch die ArbeiterInnenklasse erzwungen und deren Kontrollorgane überwacht werden. Nur so kann ein zügiger Ausbau von Produktionskapazitäten medizinisch notwendiger Güter weltweit und eine Versorgung sichergestellt sowie die Abhängigkeit halbkolonialer Länder von Industriestaaten abgebaut werden.

Perspektive

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht unterstützen die oben genannten Forderungen ausdrücklich, allerdings wurde bisher nicht deutlich genug dargestellt, wie die Umsetzung dieser Forderungen praktisch tatsächlich erreicht werden kann. Zwar spricht die IL auch davon, dass der „Druck der Straße“ jetzt notwendig sei und wir nicht müde werden dürfen „gegen die Unternehmensinteressen wie auch gegen die Macht der Herrschenden das Recht auf Gesundheit zu verteidigen und ihre Warenförmigkeit anzugreifen“. Wer dieses „Wir“ aber eigentlich verkörpert, wird leider nicht näher erläutert.

Anders als die IL gehen wir davon aus, dass die Lohnabhängigen zur führenden Kraft in den Bündnissen, bestehend aus Gewerkschaften, NGOs sowie Teilen des KleinbürgerInnentums, werden müssen. Aus unserer Sicht kann dies nur durch einen solidarischen Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse und ihrer jeweiligen Organisationen, allen voran den Gewerkschaften, gelingen – einen Kampf, der nicht nur auf Demonstrationen setzt, sondern auch durch Streiks und betrieblich Aktionen das Gewicht der ArbeiterInnenklasse in die Waagschale wirft.

Ebenso ist eine Vernetzung mit anderen sozialen Kämpfen notwendig. Um die Gewerkschaften stärker in den Kampf für das Recht auf Gesundheitsschutz und eine globale Gesundheitsversorgung einzubeziehen, muss gegen die herrschende Gewerkschaftsbürokratie und die „Sozialpartnerschaft“ vorgegangen werden. Dazu ist der Aufbau einer oppositionellen, klassenkämpferischen Basisbewegung unerlässlich. Auch die Forderung nach Enteignung der Pharmakonzerne und des Gesundheitssektors allein ist nicht ausreichend. Sie müssen nicht nur enteignet, sondern danach unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Denn nur so wird es uns gelingen, den dringend benötigten Wissens- und Technologietransfer zu organisieren und den weltweiten Ausbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung massiv voranzutreiben.

Weder die kapitalistische Pharmaindustrie noch bürgerliche Regierungen haben ein wirkliches Interesse daran. Lediglich für die gesamte internationale ArbeiterInnenklasse besteht ein objektives Interesse an einer gerechten Gesundheitsversorgung weltweit. Daher dürfen wir die Bekämpfung dieser Pandemie weder den bürgerlichen Regierungen noch den KapitalistInnen überlassen und treten für folgende Forderungen ein:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: sofortige Aufhebung des Patentschutzes, welcher nur die Monopolprofite der Konzerne schützt! Bildung einer internationalen Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, welche die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordiniert!
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute.!Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit!
  • Aufhebung aller Exportstopps für Vakzine, dringend benötigte Rohstoffe einschließlich Verpackungsmaterial sowie medizinische und technische Ausrüstung, um eine globale Impfstoffproduktion sowie -versorgung sicherzustellen!
  • Massiver Ausbau der globalen Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, Technologie- und Wissenstransfer, um weltweit sichere Impfstoffe mit höchster Qualität herstellen zu können, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden!
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Für eine frei zugängliche, globale Gesundheitsversorgung, die sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an Profiten orientiert!



Kündigungswelle überrollt Österreich: Branchenübergreifender Widerstand ist nötig!

Alex Zora, Infomail 1122, 22. Oktober 2020

Es kam, wie es kommen musste. Nach 6 Monaten staatlich subventionierter Kurzarbeit werden Beschäftigte, die in der Krise unter erschwerten Bedingungen gearbeitet haben oder auf einen Teil ihres Einkommens verzichten mussten, massenweise aufgekündigt. Die Kurzarbeit wurde zwar erst kürzlich bis Ende März 2021 verlängert, aber offenbar reicht das den UnternehmerInnen nicht und das, obwohl allzu oft gleichzeitig Boni für ManagerInnen und Gewinne an AktionärInnen ausgeschüttet werden. Die Frage für die ArbeiterInnenklasse ist deshalb, wie sie die direkten und indirekten Gefahren der Massenarbeitslosigkeit abwenden kann.

Entlassungen über Entlassungen

Die meisten Jobs stehen bei MAN auf dem Spiel. Der Konzern plant, den Standort Steyr, wo vor allem LKWs produziert werden, zu schließen. Damit wären auf einen Schlag 2.300 Arbeitsplätze weg. Kaum auszudenken, was das nicht nur für die Beschäftigten und ihre Familien, sondern auch für die gesamte Stadt bedeuten würde. Und das Ganze, obwohl von der Konzernmutter Traton (mehrheitlich im Besitz der Volkswagen AG) dieses Jahr 500 Millionen Euro an Dividenden ausgeschüttet werden!

Beim Flugzeugteilehersteller FACC werden schon ab November 630 Beschäftigte ihre Jobs los. Damit verliert dort fast jede/r Fünfte den Job.

Schon länger ist auch klar, dass ATB Morley (Spezialist für elektrische Großmotoren) sein Werk in der Steiermark schließen wird, wenn die ArbeiterInnen nicht doch noch ausreichend Druck aufbauen können und dazu die nötige Solidarität erhalten (dem Arbeitskampf dort haben wir einen eigenen Artikel gewidmet. 360 ArbeiterInnen verlieren dort ihre Jobs.

DOKA, ein Unternehmen für Schalungstechnik, streicht fast jede sechste der 2.000 Stellen in der Produktion – 600 Jobs werden hier abgebaut. Auch hier ist der Vorwand die fehlende internationale Nachfrage.

Ein weiteres wichtiges Unternehmen, bei dem 1.800 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verlieren, ist der Kristallglashersteller Swarovski. Im Produktionsstandort Wattens in Tirol verliert mehr als jede/r Dritte verliert den Job und das, obwohl Swarovski in den letzten Monaten viele Millionen Euro an Zuschuss aus der staatlichen Kurzarbeitsregelung bezogen hatte. Der letzte große Betrieb, in dem Massenentlassungen anstehen  – ohne Zweifel werden in den kommenden Wochen viele folgen –, ist das Hotel Sacher. 140 Beschäftigte werden hier bald den Job los sein und auch das, obwohl viel Geld über die Kurzarbeitsregelung bezogen wurde. Was hier jedoch die größte Sauerei darstellt, ist die Tatsache, dass eigentlich so schnell nach Ende der Kurzarbeit keine Entlassungen stattfinden dürften – solange die Gewerkschaft nicht zustimmt. Wie die Tageszeitung „Der Standard“ berichtet, ist aber genau das passiert.

Wirtschaftliche Aussichten

Die Gründe für die Massenentlassungen sind von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich. Bei der Mehrheit wird auf die „internationale Auftragslage“ oder die „schwere wirtschaftliche Situation“ verwiesen. Und das ist auch angesichts der wirtschaftlichen Ausgangssituation kaum verwunderlich. Das österreichische Bruttoinlandsprodukt ist im 2. Quartal um mehr als 10 % gegenüber dem 2. Quartal 2019 eingebrochen. Auch schon das 1. Quartal hatte ein Minus verzeichnet. Wie stark die Wirtschaft dieses Jahr einbrechen wird, hängt nicht nur vom Verlauf einer etwaigen 2. Welle von COVID-19 ab, sondern auch davon, wie sich die europäische und Weltwirtschaft entwickeln wird. Die Lage sieht alles andere als rosig aus.

Doch wir können uns nicht einfach den „objektiven“ Mächten des Marktes unterwerfen. Wir brauchen stattdessen eine Politik für unsere Klasse. Denn nur zu oft ist es so, dass in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Beschäftigten als Erstes geopfert werden und in wirtschaftlich guten Zeiten nur die AktionärInnen und das Management profitieren. Wir müssen dieses Wirtschaftssystem, das grundlegend darauf aufgebaut ist, dass die arbeitenden Menschen, die den Reichtum in unserer Gesellschaft produzieren, die letzten sind, die auch einen relevanten Teil davon abbekommen, beenden. Stattdessen bekommen den Reichtum durch Gewinne oder Dividenden diejenigen, die nichts andere leisten, als Eigentum zu besitzen und andere Leute für sich arbeiten zu lassen. Falls sie überhaupt arbeiten, steht ihr Einkommen in keinem Verhältnis zur Leistung.

Branchenübergreifender Widerstand notwendig!

Was die Entlassungen aktuell so besonders macht, ist, dass sie in vielen Branchen und weit verteilt übers Land stattfinden. Das macht den Widerstand dagegen nicht unbedingt einfacher. Wenn zum Beispiel ein ganzes Werk abwandern soll oder geschlossen wird, dann ist ein Arbeitskampf, der sich auf die Beschäftigten im Betrieb beschränkt, nicht so einfach in der Lage, ausreichenden Druck aufzubauen, solange nicht zu sehr radikalen Maßnahmen wie Werksbesetzungen oder Ähnlichem gegriffen wird.

Von Seiten der Gewerkschaft braucht es deshalb eine branchenübergreifende Kampagne, verbunden mit Demonstrationen und Streiks, für ein generelles Kündigungsverbot aus „wirtschaftlichen Gründen“. Wenn ein Betrieb sich genötigt sieht, Entlassungen deshalb vorzunehmen, weil zu wenige Geld da ist, dann sollte die Konsequenz sein, dass der Betrieb unter Kontrolle der Beschäftigten entschädigungslos verstaatlicht wird.




Enteignung des Kapitals und Reorganisation von Handel und Logistik

Jürgen Roth, Infomail 1111, 19. Juli 2020

Angesichts der drohenden Massenlassungen bei Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK) stehen tausende Beschäftigte mit dem Rücken zur Wand. Nicht nur in diesem Einzelhandelskonzern brechen die Umsätze ein, vollzieht sich eine massive Umstrukturierung.

Die Gewerkschaft ver.di, Betriebsräte, aber sicher auch viele Angestellte hoffen, dass „ihre“ Filiale, ihr „Arbeitsplatz“ durch Protestaktionen doch gerettet werden kann – eine Gesamtkonzept für eine von Krise und Umstrukturierung geprägte Branche fehlt jedoch. Daher erscheint auf den ersten Blick der entschlossene Kampf einzelner Häuser, einzelner Standorte, verbunden mit Druck durch die Kommunalpolitik als einzige Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern.

In Wirklichkeit zeigen sich jedoch die Grenzen dieser rein gewerkschaftlich und betrieblich ausgerichteten Taktik. Vom Standpunkt des einzelnen Handelskapitals macht es schließlich Sinn, ja erzwingt die Konkurrenz geradezu, die unprofitablen oder weniger profitablen Häuser zu schließen – schließlich geht es wie bei jedem kapitalistischen Unternehmen nicht darum, die KäuferInnen mit möglichst guten Produkten zu versorgen, sondern aus dem Handel möglichst großen Gewinn zu ziehen. Dabei setzen den „klassischen“ Kaufhäusern, die natürlich selbst auch immer profitorientiert waren, die aktuelle Krise, schrumpfende Kaufkraft der Masse der KundInnen, Internethandel, aber auch die Immobilienspekulation massiv zu.

Konkurrenz und Privateigentum

Eine grundlegende Lösung des Problems ist freilich unmöglich, wenn die Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Beschäftigten – Kampf gegen alle Entlassungen, Kürzungen, weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit, Erhalt der jeweiligen Standorte – nicht mit grundlegenden Forderungen verbunden wird, die das Privateigentum selbst in Frage stellen.

Das beginnt schon bei der Frage von Grund und Boden. Diese müssen durch die Gemeinden entschädigungslos enteignet werden, um zu gewährleisten, dass Wohnen, Gewerbe und Dienstleistungen dem Allgemeinwohl zugutekommen können, ohne von den Rentenansprüchen des parasitären Grundbesitzes abhängig zu sein. Wenn z. B. Benko mehr Geld mit der Vermietung der Häuser machen kann als mit dem Einzelhandel, so ist es aus seiner Sicht nur folgerichtig, diese „abzustoßen“, um mit Immobilienspekulation höhere Gewinne einzufahren. Wenn das unterbunden werden soll, müssen Grund, Boden und Immobilien enteignet werden – daran führt kein Weg vorbei!

Zweitens führt die Konkurrenz im Handel bei sinkender Kaufkraft logischerweise dazu, dass sich die einzelnen Kapitale durchsetzen können, wenn sie ihrerseits die Kosten drücken. Daher planen sie, unrentable oder wenig rentable Standorte zu schließen, die Belegschaften auszudünnen, die Arbeitsintensität zu erhöhen und Löhne zu kürzen. Für die Lohnabhängigen kann es aber nicht darum gehen, die Konkurrenzfähigkeit „ihres“ Unternehmens zu sichern – das kann nur zur Verschlechterung der eigenen und anderer Arbeitsbedingungen führen und die Entsolidarisierung untereinander befördern.

Daher kann es der LohnarbeiterInnenschaft und ihren Verbündeten, den 99 % dieser Gesellschaft, nicht darum gehen, gleiche und scheinbar „faire“ Konkurrenzbedingungen im Handel künstlich zu schaffen, sondern ihn von unten zu planen, durch ein gesellschaftliches System der Verteilung zu ersetzen. Das setzt jedoch voraus, dass Handel und Warenlogistik – also die fungierenden Kapitale in diesem Sektor – entschädigungslos unter ArbeiterInnenkontrolle enteignet werden.

Damit diese Maßnahmen ihre volle Wirkung dauerhaft entfalten und Teile einer Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion in der Gesellschaft werden, bedarf es natürlich auch der Enteignung der Banken und Konzerne sowie des Sturzes ihres Staates und Ersetzung durch einen ArbeiterInnenstaat. Eine Verstaatlichung einzelner Sektoren wie Handel und Logistik kann daher nur als Übergangsmaßnahme verstanden werden – aber schon als solche kann sie den aktuell drohenden Entlassungen und Schließungen, also der Lösung der Krise in diesem Sektor auf dem Rücken der Beschäftigten und KonsumentInnen entgegenwirken.

Die bei Amazon, Ebay oder anderen Sektoren des Handels und Vertriebs Arbeitenden sind sicher die erste Ansprechadresse für die Beschäftigen bei GKK oder anderen Ketten auf diesem Weg.

Ein erster Schritt im gemeinsamen Kampf der gesamten Branche müsste die Anpassung und Erhöhung der Tarife auf den höchsten Standard sein – konkret bei Amazon und anderen die Einführung des besser entlohnten Tarifs für den Einzelhandel, ein Ziel, für das die GewerkschafterInnen bei Amazon schon seit Jahren, bisher erfolglos gekämpft haben. Gemeinsame, flächendeckende bis hin zu politischen Streiks könnten so der praktische Beginn des Schulterschlusses von Beschäftigten in verschiedenen Formen des Handels (Laden, Kaufhaus, Online) und in der Handelslogistik werden.

Für einen integrierten und geplanten Handels- und Logistiksektor im Interesse der 99 %!

Die entschädigungslose Verstaatlichung aller großen Player in diesen Brachen würde aber nicht nur ermöglichen, dass Entlassungen verhindert und die vorhandene Arbeit unter den Beschäftigten aufgeteilt wird, prekäre Arbeitsverhältnisse in tariflich gesicherte umgewandelt werden. Sie würde auch die Reorganisation des Handels und der Logistik im Interesse der KonsumentInnen und ökologischer Nachhaltigkeit ermöglichen.

Eine Fusion von Internet- und sonstiger Warenlogistik zu einem einzigen Unternehmen in Staatshand kann sicherstellen, dass Arbeits- und Öffnungszeiten verringert werden, auch ländliche Gebiete vollständige wohnortnahe Angebote wahrnehmen können. Dazu kann einerseits der Lieferservice auf Wunsch für Güter des alltäglichen Bedarfs erweitert, andererseits er auf das auch ökologisch rationale Maß zurechtgestutzt werden. Wie? Indem z. B. die im Internet bestellten Artikel ebenso schnell wie bisher oder zügiger entweder im nächstgelegenen Laden abgeholt werden können, wo sie vorrätig sind, oder von dort Sammelauslieferungen erfolgen, sei es aus dem Lager oder nach Eingang der übers Internet bestellten gelieferten Produkte. Auf diese Weise erfolgt die Feinverteilung an der Basis, in der Fläche und die Großlieferung wie bisher über Großhandel bzw. Fabrik an den Einzelhandel einschließlich der von KundInnen im Internet bestellten Güter. Dieser integrierte Distributionssektor, der schon Formen einer zukünftigen, sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen würde, spart nicht nur Arbeitszeit, sondern auch Verpackungsmüll und Treibstoff. Ein in der ganzen Republik flächendeckendes Angebot, also auch in Landstrichen, die schon lange Jahre weder Warenhäuser, Lebensmittelgeschäfte, (Zahn-)ÄrztInnen, Apotheken oder Restaurants und Kneipen kennen, tut das Seinige dazu mit eingesparten Wegen und Zeiten sowie einer Bevölkerung, die erstmals wieder Berücksichtigung und Wertschätzung erfährt, wie sie ihr immer schon angemessen gewesen wären.

Diese knappe Skizze müsste natürlich konkretisiert werden. Wir wollen aber mit den obigen Überlegungen deutlich machen, dass beim Kampf gegen die drohenden Massenentlassungen der politische Horizont über die Frage der Verteidigung des Bestehenden hinausgehen kann – und muss! Wenn wir der ruinösen Konkurrenz etwas entgegensetzen wollen, muss diese Auseinandersetzung mit einer positiven Vorstellung zur Reorganisation des gesamten Sektors, letztlich der gesamten Gesellschaft verbunden werden.




Galeria Karstadt Kaufhof: Langsam gehen die Lichter aus

Jürgen Roth, Infomail 1111, 17. Juli 2020

Von 172 Filialen plante der Konzern Galeria Karstadt Kaufhof (GKK) zunächst, 80 zu schließen. Mittlerweile haben Verhandlungen mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die Zahl reduzieren können, zunächst auf 62, mittlerweile (Stand: 19.6.2020) auf 56. Dagegen wehren sich die Beschäftigten.

Von Krise zu Krise: dauernder Niedergang

Der Warenhauskonzern Arcandor wurde im Gefolge der letzten großen Krise abgewickelt. Betroffen waren die Karstadt-Kette sowie das Versandhaus Quelle. Karstadts übriggebliebene Filialen übernahm der Finanzinvestor Berggruen im Juni 2010. Diese wechselten in den Besitz der Hudson’s Bay Company, um im Juni 2019 nach Erwerb der ersten Anteile an Galeria Kaufhof im Jahr 2018 vollständig an die Signa Holding des österreichischen Investors im Immobilien-, Medien- und Handelsbereich René Benko überzugehen ebenso wie die KaDeWe-Gruppe. Bereits von 2004 – 2009 belief sich der Sanierungsbeitrag der Belegschaften Arcandors auf 345 Mio. Euro, der in den Nachfolge- und Fusionsunternehmen bis heute ununterbrochen gesteigert wurde. Kein Wunder, dass sich dagegen und die drohende Filialschließungen Protest regt.

Gegenwehr in Berlin

Noch in dieser Woche wird die Entscheidung von GKK erwartet, welche ihrer Berliner Filialen geschlossen werden sollen. Die Signa Holding plant deren 6 plus die der Karstadt Sports-Filiale in Charlottenburg. Über 1.000 Jobs stehen zur Disposition. Besonders betroffen ist der Bezirk Lichtenberg mit den beiden Filialen im Ring-Center an der Frankfurter Allee und im Linden-Center am Prerower Platz in Neu-Hohenschönhausen. Dort fand am 14. Juli eine ca. einstündige Protestaktion mit etwas über 100 TeilnehmerInnen statt.

Im Fahnenmeer – ver.di, DIE LINKE und [’solid]-Linksjugend zeigten Flagge – sprach zunächst Erika Ritter, Leiterin des ver.di-Landesfachbereichs Handel. Sie verwies auf die hohen Mieten und zweifelte, ob ein Entgegenkommen des Vermieters ECE Projektmanagement (zum Versandhandelskonzern Otto gehörig) beide Standorte retten könne, dazu sei die Signa Holding zu „brutal unterwegs“. Doch ver.di würde weiterhin im Kampf um beide Häuser nichts unversucht lassen – nur was das denn sein soll, verriet die Funktionärin nicht. Lobende Worte fand die Gewerkschafterin für die Bemühungen des rot-rot-grünen Senats um den Erhalt der Hauptstadtstandorte. Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) habe sich frühzeitig in die Verhandlungen eingeklinkt. Das Wirtschaftsressort hält sich zum Stand der Dinge indes bedeckt.

Und es scheint, dass der Senat den „Kampf“ der Bezirksebene überlässt. Bürgermeister Michael Grunst (DIE LINKE) forderte, der Eigentümer solle begreifen, dass das Einkaufszentrum Linden-Center systemrelevant sei, denn Neu-Hohenschönhausen sei Zuzugsgebiet, und wenn Kaufhof dichtmache, so wiederum Ritter, gehe das ganze Einkaufszentrum den Bach runter. Tatsächlich nimmt die Filiale als Ankermieterin einen Großteil seiner Fläche ein. Neben den hohen Mieten beklagten Grunst und Wirtschaftsstadtrat Kevin Hönicke (SPD) die Konkurrenz durch den Internethandel. Letzterer soll auch am Sonntag schließen, um gleiche Konkurrenzbedingungen mit den Warenhäusern zu schaffen – so der absurde Vorschlag –, und die AnwohnerInnen sollten in ihrem Kiez einkaufen.

Welch Trost für die Beschäftigten, dass laut Beschäftigungssicherungstarifvertrag für sie bei Schließung ein Platz in einer Auffanggesellschaft für ein halbes Jahr vorgesehen ist. Das war die einzige „konkrete“ Perspektive für eine Belegschaft, die in den letzten Jahren radikal von 200 auf etwas über 50 runtergekürzt worden ist.

Beschäftigungssicherungstarifvertrag

Am 13. Juli einigte sich ver.di mit der Unternehmensleitung und dem Generalbevollmächtigten auf einen Tarifvertrag, der im Entlassungsfall greifen soll. Für Beschäftigte aus Filialen, die auf der Schließung stehen, soll eine Weiterbeschäftigung im Unternehmen – nicht unbedingt an ihrem alten Arbeitsplatz – gesichert sein, falls die entsprechende Niederlassung doch noch gerettet wird. Bei teilweiser Rücknahme der Schließung erfolgt die Übernahme der Übriggebliebenen nach Sozialauswahl unter Mitbestimmung der örtlichen Betriebsräte. Die Frist zur Entscheidung über einen Eintritt in die Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (BQG) im Anschluss an das Arbeitsverhältnis wurde für alle Beschäftigten bis zum 21. Juli, 17:00 Uhr verlängert. Für Beschäftigte in Mutterschutz, Elternzeit oder Urlaub sowie für Erkrankte gilt eine Annahmefrist von einer Woche nach Wegfall des Hindernisses, längstens bis zum 31. August 2020.

Beschäftigte ab dem 60. Lebensjahr erhalten eine besondere Beratung und können sich ebenfalls bis zum 31. August 2020 entscheiden. Die Bezüge in der BQG sollen nun zum Monatsende bezahlt werden und nicht – wie zunächst vorgesehen – erst zum 15. des Folgemonats. Auch zu einer möglichen Übernahme in eine andere Filiale erzielte ver.di für die betroffenen Beschäftigten eine bessere Absicherung.

Kein Vertrauen in die ver.di-Bürokratie, Betriebsräte und reformistischen Parteien!

Der ver.di-Apparat und die Betriebsräte wollen im Schulterschluss mit den „demokratischen“ Parteien auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene die Abwicklung lediglich „sozial“ abfedern, nicht verhindern. Darauf dürfen sich die GKK-MitarbeiterInnen nicht verlassen. Die Erfahrung hunderter, wenn nicht tausender solcher Abwicklungen haben gezeigt, dass Sozialpläne und „Abfederungen“ für die Betroffenen in der Regel in Arbeitslosigkeit oder in schlechter bezahlter und prekärer Beschäftigung enden.

Es braucht daher einen radikalen Kurswechsel, eine gewerkschaftliche und betriebliche Kampftaktik, die als zentrales Ziel die Verhinderungen aller Entlassungen und Lohneinbußen formuliert.

Daher müssen die Beschäftigten selbst den Kampf gegen alle Entlassungen und sonstigen Verschlechterungen in die Hand nehmen und kontrollieren und „ihre“ Gewerkschaftsführung, Betriebsräte sowie die reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien (Linkspartei, SPD) zur Unterstützung zwingen. Als Erstes müssten dazu in allen GKK-Filialen, auch in den (einstweilen) nicht zur Entlassung anstehenden, Betriebsversammlungen einberufen werden, die sich über eine gemeinsame Vorgehensweise und Ziele verständigen. D. h. es geht zunächst darum, alle Beschäftigten des Konzerns, alle Standorte in den Kampf zu ziehen. Wahrscheinlich droht vielen der „Geretteten“ bald selbst die Schließung oder Umstrukturierung – und damit der Verlust des Arbeitsplatzes. Da sie zu einem späteren Zeitpunkt selbst Teil eines kleineren Konzerns wären, wäre auch ihre Kampfkraft geschwächt. Es ist daher nicht nur ein Gebot der Solidarität mit allen von Entlassung bedrohten, sondern es liegt auch in ihrem Eigeninteresse, jetzt gemeinsam gegen alle Filialschließungen vorzugehen.

Auf dieser gemeinsamen Grundlage, alle Entlassungen, alle Schließungen und Einbußen zu verhindern, müsste ein Aktionsplan beschlossen und eine nur den Beschäftigten rechenschaftspflichtige und jederzeit abwähl- und ersetzbare Kampfleitung gewählt werden. Der Kampf gegen alle Entlassungen kann nur erfolgreich sein, wenn er alle Maßnahmen aus dem Arsenal des Arbeitskampfes einbezieht einschließlich bundesweiter Streiks und Besetzungen.

Ein solches Vorgehen müsste mit weiteren Forderungen verbunden werden. Das Unternehmen soll seine Bilanzen vor gewählten BelegschaftsvertreterInnen unter Hinzuziehung von ExpertInnen, die deren Vertrauen genießen, offenlegen. Weigert sich GKK, dies zu tun oder die Vermögenssubstanz zur vollständigen Weiterführung des Betriebs einzusetzen, wäre das nur ein weiteres Argument dafür, dass der Konzern ohne Entschädigung verstaatlicht wird und die Rücklagen und Vermögen von Leuten wie Benko zur Sanierung konfisziert werden. Die (staatliche) Geschäftsführung muss durch Kontrollkomitees aus Belegschafts- und KundInnenvertreterInnen mit Vetorecht gegen jede unternehmerische Entscheidung überwacht werden.

Die Verstaatlichung unter Kontrolle der Beschäftigten wird aber auch aus einem anderen Grund notwendig. Die Einzelhandelsbranche selbst steht vor massiven Umstrukturierungen. Auf marktwirtschaftlicher Basis kann das nur durch „Bereinigungen“ infolge der kapitalistischen Konkurrenz erfolgen. Weniger profitable oder unprofitable Standorte werden dieser Logik zufolge geschlossen – ganz egal, ob ein solches Kaufhaus für die Versorgung der Bevölkerung oder Lebensqualität relevant ist oder nicht.

Um die Interessen der Beschäftigen zu verteidigen, aber auch die verheerende Wirkung der Konkurrenz abzumildern, muss die Kontrolle über die Kaufhäuser den KapitalistInnen entrissen werden – nicht bloß Benko, sondern letztlich in der gesamten Branche. Bei GKK zeigt sich, dass der auf einzelbetrieblicher Ebene, Standort für Standort geführte Kampf nicht ausreicht, ja nicht ausreichen kann, um die drohende Katastrophe für tausende Beschäftigte zu verhindern. Auch daher ist eine grundlegende Kurskorrektur der Politik von ver.di und der Betriebsräte nötig. Nur ein gemeinsamer konzern-, ja letztlich branchenweiter Kampf kann die Entlassungen verhindern.

  • Kampf gegen alle Entlassungen und Schließungen! Keine Geheimverhandlungen, kein Sozialplan oder Tarifabkommen ohne vorherige Diskussion und Abstimmung unter den Beschäftigten!
  • Belegschaftsversammlungen in allen Filialen und Standorten! Wahl von Aktionskomitees und Koordinierung des Abwehrkampfes!
  • Streiks und Besetzungen zur Verhinderung der Schließungen! Entschädigungslose Enteignung von GKK unter ArbeiterInnenkontrolle!



Lufthansa – Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle!

Stefan Katzer, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Dass die Rettung „ihres“ Konzerns tausenden Beschäftigten den Job kosten könnte, ist eine Erfahrung, die derzeit die KollegInnen der Lufthansa machen müssen. Ob irgendwer der 26.000 von Entlassung bedrohten Beschäftigten über diese bittere Ironie wird lachen können, ist stark zu bezweifeln. Stattdessen ist zu hoffen, dass sich die berechtigte Wut der Beschäftigten über diese Pläne in organisierten Widerstand wandelt.

„Die Beschäftigten können aufatmen“, heißt es hingegen bei der FAZ (25.06.), nachdem die AktionärInnen der Lufthansa Ende Juni für die Annahme des sogenannten Rettungspakets, d. h. der Beteiligung des Bundes am Konzern im Umfang von 9 Milliarden Euro, gestimmt haben. Dies soll den Konzern vor einer ansonsten drohenden Insolvenz bewahren. Doch wer profitiert wirklich von dieser Rettung – und welche Alternative gibt es dazu?

Ganz im Sinne der AktionärInnen

Der bereits vor der Corona-Pandemie durch die Konkurrenz von sog. Billigfliegern unter Druck geratene Konzern wurde durch den fast vollständigen Einbruch der Geschäfts- und Urlaubsreisen im Zuge der Krise hart getroffen. Die Aktienkurse brachen stark ein. Lufthansa ist seit Mitte Juni nicht mehr im DAX vertreten.

Die Leitung des Konzerns kündigte als Reaktion bereits an, nach der Krise nur mit verringerten Kapazitäten weitermachen zu wollen, und droht nun insgesamt 26.000 KollegInnen nicht nur in Deutschland mit Entlassung. Diese „signifikante Senkung der Personalkosten“ sei notwendig, um „die Chance eines besseren Re-Starts“ nicht zu verpassen, so Carsten Spohr, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Lufthansa AG, im reinsten KapitalistInnen-Deutsch. Kurzum: die Kosten der Krise sollen auch hier die Beschäftigten zahlen, denen der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht – denn Ziel ist es, auch in Zukunft die Dividenden der AktionärInnen zu sichern.

Rund 9 Milliarden Euro pumpt der Staat in den Konzern. Er erhält dafür 20 % der Aktien plus 2 Wandelanleihen in Höhe von jeweils 5 %, kauft diese also um ein Vielfaches des aktuellen Marktwertes auf Kosten der SteuerzahlerInnen und der Beschäftigten. Dies wurde möglich, weil die Bundesregierung, trotz der zur Verfügung gestellten Steuergelder und entsprechender Forderungen aus den Gewerkschaften, die Staatshilfe an keinerlei Auflagen geknüpft hat, was die Sicherung von Arbeitsplätzen anbelangt. Ihr musste klar sein, was das für die Beschäftigten bedeutet.

Dem Bund geht es in diesem Zusammenhang auch gar nicht um die Sicherung von Arbeitsplätzen, sondern vor allem um die Rettung eines „Global Player“ in der Luftfahrtbranche, an dessen Fortexistenz ein längerfristiges strategisches Interesse des Staates als Sachwalter der Interessen des Gesamtkapitals besteht. Vorrangiges Ziel ist dabei der Erhalt eines Konzerns, dessen Zweck auch weiterhin darin liegt, Profit für seine EigentümerInnen/AktionärInnen abzuwerfen.

Auf Kosten der Beschäftigten

Das geht natürlich nicht ohne diejenigen, die diesen Profit erwirtschaften, die sogenannten Beschäftigten. Diese werden durch den nun vorgelegten Plan letztlich in zwei Lager gespalten, von denen die einen (unmittelbar) von Entlassungen bedroht sind, während die anderen hoffen können – vermutlich unter schlechteren Bedingungen – weiter für „ihren“ Konzern Profite erwirtschaften zu dürfen.

Die Profit bringende Ausbeutung desjenigen Teils der Belegschaft, der auch in Zukunft für den Konzern verwertbar bleibt, wird nun durch die Hilfen der Bundesregierung gesichert. Sie sollen dafür, dass sie weiter „mit“arbeiten dürfen, auf substanzielle Teile ihres Einkommens verzichten und schlechtere Arbeitsbedingungen hinnehmen. So sollen z. B. PilotInnen, natürlich nur „vorübergehend“, auf bis zu 45 % ihres Gehalts verzichten. Alle anderen sollen mit KurzarbeiterInnengeld und Entlassungen abgespeist werden. Die Einzigen, die sich über eine solche „Rettung“ somit wirklich freuen können, sind die Aktionärinnen und Aktionäre. In ihrem Interesse erfolgt diese Rettung.

Diese hatten bereits vor der außerordentlichen Hauptversammlung Druck aufgebaut, um ihre Interessen gegen die der Beschäftigten durchzusetzen. So hatte etwa der Großaktionär Thiele seine Anteile am Konzern zunächst auf 15 % erhöht, um anschließend in Verhandlungen sicherzustellen, dass der Bund der Umstrukturierung des Konzerns nicht im Wege stehen würde. Er befürchtete, dass der Bund trotz des Versprechens, sich nicht in die Politik des Unternehmens einzumischen, am Ende doch seine Stimme gegen Massenentlassungen erheben würde. Letztlich stimmte Thiele dem Paket zu. Man scheint sich geeinigt zu haben.

Die Alternative – im Sinne der Beschäftigten

Die Alternative zu dieser Rettung besteht nun aber nicht darin, die Lufthansa einfach pleitegehen zu lassen und damit die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Was es stattdessen braucht, ist eine Strategie, die die unmittelbaren Interessen der Beschäftigten mit der Perspektive einer planvollen Umstrukturierung des gesamten Verkehrssektors verbindet.

Die Beschäftigten und mit ihnen solidarische ArbeiterInnen sollten deshalb für die entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung des Konzerns unter Kontrolle der Belegschaft kämpfen. Dies würde nicht nur die Sicherung der Arbeitsplätze und damit der Einkommen ermöglichen, sondern auch eine Umstrukturierung des Konzerns und des Verkehrssektors insgesamt hin zu nachhaltigen Formen der Mobilität im Interesse der Beschäftigten. Dabei muss es letztlich um den durch die ArbeiterInnen selbst kontrollierten Umbau dieses Sektors gehen. Neben der Ersetzung von Kurzstreckenflügen geht es dabei auch um den Ausstieg aus dem Individualverkehr im Zusammenhang mit dem Ausbau eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs.

Diese Umwandlung kann nur erreicht werden, wenn die in diesen Sektoren Beschäftigten dafür gewonnen werden und eine tragende Rolle bei diesem Umbau spielen. Dies muss im Zusammenhang mit einem Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der ArbeiterInnen gegen den Widerstand der Herrschenden erkämpft werden. Denn denen geht es weder um die Rettung von Arbeitsplätzen noch um die der Umwelt, sondern einzig um die ihrer Profite.

Es ist klar, dass dies nicht durch die Beschäftigten der Lufthansa allein geleistet werden kann, sondern dass hierfür breite gewerkschaftliche Mobilisierungen, Streiks und eine politische Strategie notwendig sind. Dabei zeichnet sich bereits jetzt ab, dass Massenentlassungen auch bei anderen Konzernen anstehen, etwa bei Boeing und Airbus.

Es braucht daher dringend ein Programm, das die nun anstehenden Kämpfe verbindet, vereinheitlicht und über den Rahmen des bestehenden kapitalistischen Systems hinausweist. Denn es ist umgekehrt auch klar – und die Erfahrung im Zusammenhang mit der „Rettung“ der Lufthansa zeigt es erneut -, dass alle „Anti-Krisenmaßnahmen“ im bestehenden kapitalistischen System vor allem und vorrangig den KapitalistInnen, AktionärInnen usw. nutzen und auf Kosten der ArbeiterInnen gehen.

Perspektivisch und für die gesamte ArbeiterInnenklasse geht es jetzt also darum, nicht nur solidarisch an der Seite der KollegInnen gegen die angedrohten Entlassungen zu kämpfen, sondern auch für den dringend notwendigen ökologischen Umbau des Verkehrssektors unter ihrer Kontrolle im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten. Um diese Alternative zu erkämpfen, genügen aber keine Bitten an die Regierung, sondern (gesamtgewerkschaftliche) Solidarität, Kampf- und Streikbereitschaft sowie ein konsequentes politisches Programm im Interesse der gesamten, internationalen ArbeiterInnenklasse.

Dies bedeutet aber auch, in den Gewerkschaften wie ver.di, Cockpit, UFO für eine Politik des Klassenkampfes einzutreten – und endlich damit aufzuhören, die jetzt beschlossenen Pläne als „alternativlos“ zu bezeichnen. Das „Krisen- und Absicherungspaket“, auf das sich UFO und Konzern am 25. Juni geeinigt haben, verspricht 22.000 FlugbegleiterInnen zwar Kündigungsschutz – allerdings im Gegenzug zu einem Einkommensverzicht von einer halben Milliarde Euro im Lauf der kommenden vier Jahre. Die Erfahrungen der letzten Zeit zeigen, dass dieser oft nur das Vorspiel für weitere Einschnitte und Entsolidarisierung ist.

Es kann nicht darum gehen, Kürzungen oder Entlassungen „sozialverträglich“ durch Verhandlungen eines sog. Sozialplans zu begleiten. Statt „Opfer“ für die Rettung eines Konzerns zu bringen, der ihnen nicht gehört, müssen die Gewerkschaften jede Kürzung, jede Entlassung bekämpfen. Verhandlungen über Sozialpläne, abgefederte Massenentlassungen und Kürzungen müssen gestoppt werden – es darf keine Verhandlungen hinter dem Rücken und ohne volle Transparenz gegenüber den Belegschaften geben.

Versammlungen und Aktion

Im gesamten Lufthansa-Konzern und all seinen Tochtergesellschaften wäre es dringend notwendig, Belegschaftsversammlungen einzuberufen – nicht nur um die Belegschaft zu informieren, sondern um Kampfmaßnahmen zu diskutieren und einen Vollstreik der Beschäftigten aller Berufsgruppen und Gewerkschaften in Deutschland und weltweit vorzubereiten. Auf den Versammlungen sollten daher der Belegschaft verantwortliche Kampf- und Aktionskomitees gebildet werden. Nur so können die Sanierungspläne auf Kosten der Beschäftigten und der Gesellschaft gestoppt und die notwendige Solidarität im Kampf geschaffen werden, um die entschädigungslose Verstaatlichung des Konzerns unter ArbeiterInnenkontrolle durchzusetzen und einen Schritt zum ökologischen Umbau des Verkehrssystems zu machen.

Der Lage bei der Lufthansa spitzt sich zu. Massenentlassungen wie diese drohen in großen Bereichen. Um diese zu stoppen, müssen wir nicht nur einen gewerkschaftlichen und betrieblichen Abwehrkampf führen, wir müssen diesen mit dem Aufbau einer gesellschaftlichen Bewegung, einer Anti-Krisenbewegung verbinden. Der Kampf gegen Massenentlassungen und für die Verstaatlichung von Unternehmen, die damit drohen, wirklich oder vorgeblich vor der Pleite stehen, wird eine Schlüsselrolle spielen, wenn wir die Abwälzung der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen stoppen wollen.