IAA München: Autoindustrie umschalten

Mattis Molde, Neue Internationale 2023, September 2023

Die Internationale Automobilausstellung (IAA) ist nicht mehr das, was sie mal war. Einst war es die Präsentation der neuesten und teuersten Automobile zu Werbe und Verkaufszwecken, ein Ort, an dem Technik- und Autobegeisterte vor allem männlichen Geschlechts ihrer echten Leidenschaft kollektiv frönen konnten. Aber schon die Ausstellung 2021 verzeichnete zeitweise „leere Hallen“ und die Stimmung war „verklemmt“, wie Redakteur:innen von Auto motor und sport (Deutsche Automobilzeitschrift) in einem Interview mit dem VDA (Verband der Automobilindustrie) beklagten.

Die IAA 2023 sieht ein Riesenvolksfest in der Münchner Innenstadt vor, alle dürfen Probe fahren, Autos, E-Bikes, Scooter und sogar überwiegend „kostenfrei“. Angeblich geht es um „Mobility“ und im Werbefilmchen ist auch ganz kurz eine Straßenbahn zu sehen sowie zwei Fußgänger:innen –  auf einem Berggrat wandernd. Wie sind sie dorthin angereist? Sicher mit dem Auto, das aber unsichtbar bleibt.

Ein Filmchen so wie die übliche Autowerbung, in der es meist um viel entlegene Natur geht, gerne steil, mit Schnee oder Sand, die ein kraftvolles Fahrzeug erfordert, gerne auch Familie mit Kindern, die im SUV (Sport Utility Vehicle; Stadtgeländewagen bzw. Geländelimousine) wundervoll geschützt sind, oder –„alternativ“ – junge moderne Individuen, die ihre besondere Individualität mit einem ebenso besonderen Kleinwagen ausleben. In dieser Werbung kommen praktisch nie andere Autos vor, schon gar nicht die Realität verstopfter Innenstädte oder blockierter Autobahnen. Das einzige Auto, das vorkommt, ist das Produkt der werbenden Firma.

Beim IAA-Werbefilmchen muss man sich anstrengen, mal kurz im Hintergrund zwei Rücklichter zu entdecken – Berge und Baby sind länger zu sehen. Die Automobilbranche hat ganz offensichtlich ein Imageproblem.

Es ist nicht so, wie die Autoindustrie gerne tut, dass sie unverdientermaßen schlechtgeredet wird. Nein, sie ist schlecht: hauptverantwortlich für den Klimawandel und für eine Verkehrspolitik, die ineffizient und teuer ist und das größte Hindernis für eine Wende dieser. Ein wahrheitsgetreuer Film über diese Branche müsste Autounfälle und Abholzungen zeigen, Waldbrände und Ölpest. Sie setzt ihre Interessen mit Lobbyarbeit, Drohungen und kriminellen Methoden durch. Sie muss bekämpft werden und die IAA ist ein guter Platz, diesen Kampf zu propagieren.

Der Gegner

Der VDA richtet die IAA aus und besorgt die ganze politische Vertretung des deutschen Autokapitals mit Büros in Berlin, Brüssel und China. Er sorgt für die unglaublichen Subventionen für die Industrie in Form von Geldern für die Transformation (E-Mobilität, Biosprit …), Forschung, Abwrackprämien und E-Auto-Zuschüsse, für Autobahnbau und Aufbau von Ladestruktur und dazu die Unterstützung, die Autowerke von den Bundesländern erhalten. Hinzu kommt Subvention durch Kurzarbeit in einem Umfang, der die Erwerbslosenversicherung schon bis 2022 über 30 Milliarden Euro gekostet hat.

Der VDA sorgt für eine ökologisch unsinnige Klimapolitik der EU, die aber maßgeschneidert für große Oberklassen-Pkw  ist: Beurteilt wird der Flottenverbrauch, das heißt durchschnittliche CO2-Ausstoß aller neuverkauften Fahrzeuge eines Herstellers, berechnet aus dem Spritverbrauch entsprechend den Angaben eben dieses Herstellers. Für E-Autos gibt’s „Supercredits“, diese senken diesen völlig fiktiven Flottendurchschnitt überproportional.

Die Logik dieses Systems, das so offensichtlich die Böcke/Ziegen zu Gärtner:innen macht, bewirkt auch, dass der Kauf jedes Kleinwagens oder E-Mobils dem jeweiligen Hersteller den Verkauf weiterer fetter SUVs erlaubt und so umgekehrt der möglicherweise gute Wille der Käufer:in konterkariert wird.

Die Autoindustrie, die dicke staatliche Subventionen kassiert, zeigt keine, Scham zugleich ein massives Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durchzuziehen. Der Personalabbau ist im vollen Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind es noch 760.000 im Jahr 2022. Fast 100.000 weniger. Der Geschäftsführer des VDA, Jürgen Mindel, spricht jetzt anlässlich der IAA von „über 600.000 Beschäftigten“ der Autoindustrie.

Dieser Personalabbau spielt sich vor allem in der Autozulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen werden verkauft oder schließen Standorte. Größere Unternehmen wie Opel, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Tausendergrößenordnung abgebaut und Standorte geschlossen.

Der VDA wäscht seine Hände in Unschuld. „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze“, ließ er per Pressemitteilung am 5.6.21 wissen. Also: Die Klimagesetze, die gerade den CO2-Ausstoß beim Verkehr mitnichten eingedämmt haben, sind schuld daran, dass schon Hunderttausende ihre Arbeit verloren haben.

Dieser Personalabbau hat überhaupt nichts damit zu tun, dass es den großen Unternehmen der Branche schlechtginge. VW zum Beispiel hat seinen Profit von gut 7 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf über 22 Milliarden fast kontinuierlich gesteigert.

Es ist vielmehr so, dass er diese Gewinne generiert. Die Großkonzerne zwingen die Zulieferer, ihre Teileproduktion ins Ausland zu verlagern. Teile für Verbrenner werden nicht weiterentwickelt. Wenn sie auslaufen, erfolgt der Neustart in „Low Cost Countries“. Die Teile für E-Mobility werden schon lange dort gefertigt. Die Klagelieder über die „Deindustrialisierung“ Deutschlands stammen also von den Verursacher:innen derselben.

Als Internationalist:innen geht es uns nicht darum, „Arbeitsplätze in Deutschland“ zu verteidigen. Aber diese Betriebe können auch die Fahrzeuge bauen und die nötigen Technologien entwickeln, die für eine klimagerechte Mobilität nötig sind. Ihre Belegschaften können die Kraft sein, die der Klimabewegung bislang fehlt, um andere Entscheidungen durchzusetzen.

Strategie

Auf diese Kraft der ganzen Arbeiter:innenklasse müssen wir setzen. Die Rezepte der Klimabewegung waren bislang hilflos:

  • Die individuelle Kaufentscheidung beeinflusst nicht, welche Autos gebaut werden, und schon gar nicht, welche Verkehrssysteme zur Verfügung stehen. Der Bau und Betrieb von öffentlichen Alternativen muss politisch durchgesetzt werden gegen die Interessen der Autoindustrie.

  • Staatliche Richtlinien und Vorgaben bei Subventionsvergabe werden die Autokonzerne zu nichts zwingen können, sondern umgekehrt: Die stärkste Fraktion des deutschen Exportkapitals setzt in „ihrem Staat“ ihren Willen durch.

  • Straßen zu blockieren, ist mutig, aber es trifft nicht den eigentlichen Gegner. Der VDA und seine politischen Gehilfen rufen nach Polizei und Staatsanwalt. Die kommen auch und schlagen zu. Abgasbetrug aber bleibt straflos.

Das entscheidende Problem für die Verbindung von Umweltbewegung und Lohnabhängigen stellen jedoch die Führungen der Arbeiter:innenklasse, vor allem die Bürokratie und Apparate in den Gewerkschaften und Großkonzernbetriebsräten dar, die letztlich „ihre“ Autoindustrie über die Interessen der Gesellschaft stellen. Schlagwörter wie Transformation und ökologischer Umbau sind für sie Phrasen, die der Zusammenarbeit mit Kapital und Regierung mehr Glanz verleihen sollen.

Es reicht daher nicht, die Lügen der Autoindustrie offenzulegen und die Schwächen der Umweltbewegung zu kritisieren. Vor allem müssen wir für einen Kurswechsel Richtung Klassenkampf in den Betrieben und Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter:innenbewegung kämpfen.

Die Autoindustrie kann nicht ökologisch „transformiert“ werden, ohne die Macht des Kapitals anzugreifen, ja zu brechen. Andernfalls bleibt es bestenfalls bei Stückwerk. Die Enteignung der Autoindustrie – ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle – bildet daher eine Schlüsselforderung. Nur so kann ein planmäßiger Umbau im Interesse der Lohnabhängigen und ökologischer Nachhaltigkeit angegangen werden. Diese Perspektive muss sich auch die Bewegung gegen die IAA zu eigen machen.




Nein zur Schlichtungsempfehlung

Martin Suchanek, Infomail 1229, 28. Juli 2023

„Einigung im Tarifstreit bei der Bahn absehbar“, verkündet die Tagesschau am 26. Juli. Nach mehreren Verhandlungswochen hinter verschlossenen Türen haben die Vorsitzenden der Schlichtungskommission, Prof. Heide Pfarr (SPD, von der EVG benannt) und Dr. Thomas de Maizière (CDU, von der Bahn AG ernannt), eine Empfehlung veröffentlicht. Diese sieht lt. EVG folgende fünf Punkte vor:

„1. Entgelt-Erhöhung in fast allen Bereichen um 410 Euro. Umgesetzt wird in zwei Stufen mit jeweiligem Festbetrag: Stufe eins 200 Euro im Dezember 2023 und Stufe zwei im August 2024 um 210 Euro.

2. Einmalzahlung, damit unsere Kolleginnen und Kollegen schnell Geld kriegen. Auszahlung von 2.850 Euro als steuerfreie Inflationsausgleichsprämie im Oktober 2023.

3. Strukturelle Entgelterhöhung kommt für fast 70.000 Kolleginnen und Kollegen. Verschiedene Funktions-/Berufsgruppen bekommen durchschnittlich nochmal 100 Euro monatlich dazu.

4. Keine Spaltung, alle Berufsgruppen sind im Tarifabschluss einbezogen. Wir konnten Spaltung durch Ausgrenzung verhindern.

5. Verkürzung der Laufzeit von 27 auf 25 Monate. Das bedeutet, dass die neue Tarifrunde bereits in 20 Monaten startet.“

Dass es bei der Schlichtung selbst zu keiner Einigung kam, lag wohl nicht an der Gewerkschaft EVG. Auf ihrer Homepage redet und rechnet sie das Ergebnis schön, ihre Schlichtungskommission empfiehlt dem Bundesvorstand die Annahme. Das letzte Wort, so heißt es weiter, hätten die Mitglieder, die bis Ende August über das Ergebnis in einer Urabstimmung entscheiden könnten.

Hört sich demokratisch an, ist es aber nicht, wie wir noch sehen werden. Doch zuerst kurz zur Einschätzung des Abschlusses.

Stärken?

Natürlich gebe es lt. EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch auch negative Aspekte der Empfehlung, diese würden aber durch die positiven Seiten eines guten Kompromisses weit überwogen.

„Für uns als EVG sehe ich in der Schlichtungsschlussempfehlung klare Stärken. Hervorzuheben ist, dass in der Laufzeit eine dauerhafte wirksame Entgelterhöhung erreicht wird. Das bedeutet für die allergrößte Zahl unserer Mitgliedschaft ein dauerhaftes Lohnplus im zweistelligen Bereich. Das ist eine Erhöhung, die es in dieser Größenordnung in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gab – das haben unsere Kolleginnen und Kollegen mehr als verdient.“ (https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/10862/)

Über die grassierende Rekordinflation, die Einkommenserhöhungen innerhalb von zwei Jahren wieder auffrisst, verliert Loroch kein Wort. Auch die ursprüngliche Forderungen – tabellenwirksame (!) 12 %, mindestens aber 650 Euro bei einem Jahr Laufzeit – werden nicht mehr erwähnt. Warum auch? Für die Schlichtungskommission waren schließlich längst nicht mehr die ursprünglichen Forderungen Verhandlungsziel, sondern die bei Privatunternehmen wie Transdev erzielten Abschlüsse (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/07/06/tarifkampf-der-evg-schlichtung-ablehnen/).

Nur so ist zu erklären, warum die EVG eine Laufzeit von 25 Monaten, die damit gerade zwei Monate unter der Forderung der Bahn AG bleibt, als „Erfolg“ verkauft.

Wie viele andere Gewerkschaftsapparate übt sich auch die EVG darin, das Ergebnis erst gar nicht mit den Forderungen direkt zu vergleichen, für die Zehntausende Kolleg:innen in den Warnstreik traten. Wozu auch? Damit würde es ja nur leichter durchschaubar und transparenter. Statt dessen rechnet die EVG die Entgelterhöhungen unzulässig hoch. So verkündet ihre Homepage folgende Zuwächse für ausgewählte Berufsgruppen:

„- Fahrdienstleiter*innen (307) bekommen bis zu 900 Euro mehr // das entspricht ca. 30 Prozent Lohnplus

– Zugbegleiter*innen (508) bekommen bis zu 840 Euro mehr // das entspricht ca. 22 Prozent Lohnplus

– Werkstattmitarbeiter*innen & Instandhalter*innen (107) bekommen bis zu 860 Euro mehr // das entspricht ca. 24 Prozent Lohnplus“.

Unterschlagen wird dabei nicht nur die Laufzeit von 25 Monaten. Würden wir die Zuwächse von 410 Euro auf ein Jahr beziehen, so kämen wir auf 196,80 Euro tabellenwirksame Lohnerhöhung pro Jahr – also nur weniger als ein Drittel der ursprünglich geforderten 650 Euro. Hinzu kommt, dass bei der Berechnung des Lohnplus die Einmalzahlung von 2.850 Euro munter mit den tabellenwirksamen Lohnerhöhungen in einen Topf geworfen wird. Schließlich beziehen sich die drei Beispiele auf Berufsgruppen, die eine über die 410 Euro hinausgehende zusätzliche Einkommenserhöhung erhalten sollen. Das betrifft rund 70.000 Bahnbeschäftigte in Jobs, die nicht nur für die EVG und ihre Verhandlungsmacht strategisch wichtig sind (insbes. Fahrdienstleiter:innen), sondern wo auch Personalmangel herrscht. Für Zehntausende andere Beschäftigte gibt es diesen Zusatzbonus nicht – eine klare Spaltungslinie, die die EVG-Schlichtungskommission stillschweigend akzeptiert.

Nein zur Schlichtungsempfehlung!

Ein solches Ergebnis stellt keinen „guten Kompromiss“, sondern einen frechen und schlechten Ausverkauf dar. Daher rufen nicht nur wir, sondern viele kritische Bahner:innen wie z. B. die „Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen“ dazu auf, bei der Urabstimmung gegen die Schlichtung und für einen Streik für die ursprünglichen Forderungen zu stimmen.

Dass dabei, wie die EVG-Spitze verkündet, die Mitglieder das letzte Wort hätten, ist auch eine Lüge. Erstens wurden sie nie gefragt, ob sie überhaupt in die Schlichtung gehen wollten. Das entschied der bürokratische Apparat ganz alleine. Er beschloss ohne Befragung, geschweige denn Diskussion der Basis, nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen eine „Zwischenrunde“ einzuschieben, in der die Kolleg:innen über Wochen nur eines tun konnten – warten. Diese erzwungene Passivität nützt tragischerweise auch noch der Gewerkschaftsbürokratie. Nach Monaten von langgezogenen, fruchtlosen Verhandlungen, zwei Halbtagswarnstreiks, einem gerichtlich faktisch untersagten Warnstreik (was in einem Vergleich zu einem Sieg umgedeutet wurde) und wochenlangen Schlichtungsgesprächen hinter verschlossenen Türen sind viele unmotiviert, frustriert und teilweise auch nur froh, dass das alles endlich vorbei ist.

Hinzu kommt, dass in der schönen bürokratisch organisierten Veranstaltung namens Gewerkschaftsdemokratie für die Ablehnung der Schlichtung und die Durchführung von Streiks 75 % der Stimmen notwendig sind. Eine einfache Mehrheit reicht nicht – eine Minderheit aber sehr wohl zur Annahme der Schlichtung!

Zudem verfügt der Gewerkschaftsapparat über das Informationsmonopol. Nur er kann alle Mitglieder erreichen, er bestimmt die öffentlichen Verlautbarungen und den Inhalt der „Tarifinformationen“, die mit mehr oder weniger gleicher Einschätzung auch von den bürgerlichen Medien verbreitet werden.

Dass der Apparat und die Führung der EVG die Annahme der Schlichtung empfehlen, sollte aber niemand wundern. Als getreue Sozialpartner:innen wollten sie nie einen Vollstreik für die Forderungen, der Monate dauern und sich womöglich mit der Tarifrunde der GDL überschneiden könnte. Dabei wäre das für alle kämpferischen Beschäftigten – in der EVG und in der GDL – eine Chance, die unsägliche Spaltung, die zuerst den Apparaten, vor allem aber der Bahn AG und den Bahnzerschlager:innen in der Regierung und bei den Unionsparteien nutzt, zu beenden. Ein drohender Ausverkauf und eine zweijährige Laufzeit werden auch diesen anstehenden, entscheidenden Kampf massiv erschweren.

Daher:

  • Nein zur Schlichtung! Erzwingungsstreik für 12 %, mindestens aber 650 Euro bei einem Jahr Laufzeit!

  • Vollversammlungen in den Betrieben, Werkstätten, Abteilungen und Betriebsgruppen zur Diskussion über die Schlichtung und Abstimmung über die Empfehlung!

  • Erstellung von Informationsmaterial für die Beschäftigten, das erklärt, warum die Ergebnisse der Schlichtung abzulehnen sind!

  • Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition in EVG und GDL! Aufbau der Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen!



Warum wir die Schlichtung und ihr Ergebnis ablehnen und für einen gemeinsamen Kampf von GDL und EVG sind.

Bahnvernetzung. Vernetzung klassenkämpferischer Eisenbahner:innen, Infomail 1228, 13. Juli 2023

Die Deutsche Bahn AG hat nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen mit der EVG eine Schlichtung vorgeschlagen – der BuVo folgte mehrheitlich der Empfehlung des Vorstandes darauf einzugehen. Das Ergebnis der Schlichtung soll danach urabgestimmt werden.

Wir lehnen das ab und sagen:

  • Nein zur Schlichtung! Das Verfahren ist bereits formal undemokratisch. Am Ende reichen 25 % aller abstimmenden EVG-Mitglieder um das Ergebnis anzunehmen, während es 75% ablehnen müssen, um in einen Erzwingungsstreik zu treten. Kolleg:innen, die unter den EVG-Tarifvertrag fallen, werden ausgeschlossen, wenn sie in der GDL oder in keiner Gewerkschaft sind.

  • Wir fordern den Abbruch des Verfahrens und eine Urabstimmung JETZT und schnellstmöglich über den Erzwingungsstreik – und zwar bei allen Unternehmen, für die verhandelt wurde und wird. Der Transdev-Abschluss kann nicht das Ziel sein – Keine Kompromisse und keine Verschlechterung: 12 %, mindestens 650 Euro, 1 Jahr Laufzeit! Das Schlichtungsverfahren bedeutet weitere Geheimgespräche und Intransparenz hinter verschlossenen Türen. Wir geben in so einem Verfahren nicht nur die Kontrolle an gewerkschaftliche Verhandlungsführer:innen ab, die wir auch schon nicht wählen können, sondern auch an Schlichter:innen aus der Politik, die die immer auch das „Wohl des Konzerns“ im Auge behalten werden.

  • Anstatt uns Gegeneinader aufzustacheln und spalten zu lassen treten wir für die Zusammenarbeit zwischen EVG- und GDL-Kolleg:innen ein. Es braucht den unmittelbaren gemeinsamen Streik von beiden Gewerkschaften, dass kann nur von uns Bahner:innen selbst kommen, weder Burkert, noch Weselsky wollen das.

  • Statt einem undemokratischen Schlichtungsverfahren, das immer auch die Leiden des Managements berücksichtigen muss, brauchen wir einen Streik, der unter unserer direkten Kontrolle liegt. Auch wenn es diesmal viel transparenter läuft als 2020 ist das trotzdem nicht genug. Tarifkommission und zu bildende Streikkomitees müssen direkt wähl- und abwählbar sowie rechenschaftspflichtig sein, auf Betriebsversammlungen muss abgestimmt werden, wie gekämpft wird. Annahme / Ablehnung des Ergebnisses nach einfacher Mehrheit! Volle Transparenz: Wir wollen Einsicht in aller Verträge und Verhandlungsstände mit allen Unternehmen und Gewerkschaften.

  • Binden wir Reisende und Pendler:innen besser ein! Es braucht eine Kampagne unter Fahrgästen und die Forderungen, dass nicht sie mit Fahrpreiserhöhungen die Zeche zahlen. Wir müssen klar machen, dass höhere Löhne für das Bahnpersonal eine höhere Qualität für den Bahnbetrieb bedeutet. Der DGB steht hier in der Verantwortung eine Solidaritätskampagne zu fahren, die allen klar macht, warum der Streik der Bahner:innen unterstützt werden muss! Keine Abmahnung für Kolleg:innen, die wegen bestreikten Züge nicht zur Arbeit kommen! Genauso müssen EVG und GDL Arbeitskämpfe anderer Gewerkschaften unterstützen!



Tarifkampf der EVG: Schlichtung ablehnen!

Leo Drais, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat sich in der überaus zähen Tarifrunde mit der DB AG auf eine Schlichtung eingelassen, nachdem sie sich bereits in der Vorbereitung der Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik befand. Diese wird auch kommen – das Schlichtungsergebnis soll urabgestimmt werden. Es ist zu erwarten, dass die EVG dann die Annahme empfiehlt, gerade mal 25 % der abstimmenden Mitglieder reichen dafür. Demgegenüber müssten 75 % das Ergebnis ablehnen, sprich für einen Erzwingungsstreik stimmen, damit dieser stattfindet.

Schachzug der Bürokratie

Das Ganze ist ein geschickter Zug der EVG-Führung, die in den letzten drei Monaten viel dafür getan hat, nicht zu streiken, die immer wieder betont hat, Lösungen gebe es nur am Verhandlungstisch, die eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht Frankfurt zu einem Sieg umdeutete, die mit Transdev einen Abschluss gemacht hat, zu niedrig, zu lang in der Laufzeit, den sie wie mit dem Zaunpfahl winkend auch bei der DB gern genommen hätte – nur: Nicht mal diesen Abschluss wollte die DB akzeptieren.

Der Abschluss bei Transdev, dem größten privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) nach dem staatlichen der DB AG (Betreiber u. a. der Bayerischen Regiobahn, NordWestBahn, S-Bahn Hannover) beinhaltet eine Laufzeit von 21 Monaten und eine zweistufige Bruttofestgelderhöhung von 290 Euro ab November und 130 Euro ab August 2024; Nachwuchskräfte kriegen die Hälfte. Zusätzlich kommt eine Inflationsausgleichsprämie über 1.400 Euro. Daneben erfolgten Verbesserungen im Bereich der Zuschläge und noch Weiteres. Von den ursprünglichen Forderungen: Laufzeit 12 Monate, 650 Euro in die Tabelle ist dennoch nicht viel geblieben. Andere private EVU folgten dem Abschluss.

Die Bahn provozierte mit einem Angebot von 27 Monaten Laufzeit und einer Erhöhung von gerade mal 200 Euro in zwei Schritten (Dez 23, Aug 24, jeweils 100 Euro). Das „Angebot“ wurde von der Zentralen Tarifkommission (ZTK) abgelehnt und ebenso vom Bundesvorstand der EVG. Somit waren die Verhandlungen gescheitert.

Die Entscheidung ist wahrscheinlich Ausdruck von zwei Aspekten: Erstens kann natürlich eine Gewerkschaftsführung, auch wenn sie sich noch so sehr um die Sozialpartner:innenschaft mit den Bossen bemüht, nicht jeden Scheiß unterschreiben, zumal die EVG im Coronajahr 2020 komplett die Füße stillgehalten und unter dem Deckmantel der Beschäftigungssicherung eine Nullrunde unterschrieben hat – ohne irgendeine Vordiskussion mit der Basis.

Dieses Mal bemühte sich der Apparat von Anfang an, dem ganzen Verfahren einen demokratischeren Anstrich zu geben, natürlich weit ab von einer direkten Kontrolle durch die Mitglieder. Man organisierte Tarifwerkstätten und eine Mitgliederbefragung, beides mit deutlichen Schwächen. Bei Ersteren durfte zwischen drei Hauptforderungen nur eine gewählt werden, bei Zweiterer konnten alle mehrfach abstimmen, jedoch ohne, dass in dem Ergebnis irgendeine Verbindlichkeit lag; die Laufzeit fehlte gleich ganz.

Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Zusammensetzung des EVG-Apparates verändert. Mehr junge Gewerkschaftssekretär:innen und Ehrenamtliche sind abgefuckt davon, wie der Laden läuft. Zudem ist natürlich einerseits allen Gewerkschaftsoffiziellen klar, dass mit einem zu schlechten Abschluss Austrittswellen drohen, zum anderen, und das ist nicht zu unterschätzen, gibt es bei der Bahn anders als für die IG Metall bspw. eine relevante Konkurrenzgewerkschaft mit der GDL. Diese hat ihrerseits mittlerweile ihre Forderungen für die Tarifrunde ab Herbst aufgestellt, darunter eine 35-Stundenwoche für Schichtarbeiter:innen sowie 555 Euro mehr in die Tabelle. Schließt die EVG zu schlecht ab, gibt es für alle Mitglieder immer auch die Möglichkeit, zu ihr zu gehen, und das weiß natürlich der Apparat beider Vereinigungen.

Davon abgesehen ist es natürlich so, dass die Tarifkommissionen bei den unterschiedlichen Unternehmen anders zusammengesetzt sind.

Dann kam die DB mit dem Angebot einer Schlichtung um die Ecke und der EVG-Apparat witterte die Chance: ein guter Sozialpartner sein und gleichzeitig die Mitgliedschaft einbinden. Das Ergebnis der Schlichtung wird urabgestimmt, die Verantwortung über die Annahme der Mitgliedschaft in einem Verfahren überantwortet, das selbst formal undemokratisch ist. Am Ende klopfen sich EVG-Vizevorsitzende Cosima Ingenschay und Co. auf die Schulter und sagen: „Die Mitgliedschaft hat entschieden“, selbst wenn mehr als 50 % das Ding ablehnen sollten. Es scheint demokratisch, aber der ganze Weg dahin und die Abstimmung selbst waren und sind es nicht. Allein schon deshalb muss die Schlichtung abgelehnt werden. Immerhin einige, wenigstens die Vertreter:innen der Jugend, haben dies getan.

Annahme verweigern

Darüber hinaus ist erstens zu erwarten, dass bei der Schlichtung nicht das rauskommt, was ursprünglich gefordert wurde. Zwar gehört es zu den üblichen Ritualen in deutschen Tarifverhandlungen, weit unter den eigenen Forderungen abzuschließen, doch nur, weil es „schon immer so gemacht“ wird, wird es dadurch nicht richtiger. Warum wird nicht eskalierend vorgegangen? Eine DB, die ungestraft einfach mal 2 Monate gar nicht verhandelt hat, hätte es nicht anders verdient, als mit einem Erzwingungsstreik bestraft zu werden, wo mit jeden Tag die Forderung erhöht wird.

Zweitens muss die Schlichtung (und damit ihr Ergebnis) deshalb abgelehnt werden, weil sie nicht nur ein Zugeständnis an die Bahn darstellt, sondern auch, weil die EVG damit von dem Wohlgefallen der Schichter:innen abhängig wird. Diese kann sie zwar selbst mitbestimmen, zum Redaktionsschluss sind diese auch noch nicht bekannt, erfahrungsgemäß sind es jedoch Politiker:innen, die vorgeblich zwar über dem Konflikt stehen, jedoch immer auch das „Wohl des Konzerns“ im Blick behalten (wie die EVG-Spitze selbst auch; schließlich verteidigt sie die DB nicht aus fortschrittlichen Gründen gegen deren drohende Zerschlagung, sondern für den Erhalt des Status quo).

Wir sollten von der Schlichtung nicht mehr erwarten als den Transdev-Abschluss. Wir sollten sie deshalb ablehnen und, weil sie ein undemokratisches Verfahren ist, das am Ende mit der Urabstimmung einen demokratischen Touch erhalten soll. Unsere Mittel für einen Abschluss, der unseren Forderungen entspricht, sind noch nicht ins Spiel gebracht worden: Ablehnung des Schlichtungsergebnis, Durchführung des Erzwingungsstreiks.

Und wenn das Ganze sich schon bis in den Herbst hinzieht, dann liegt der gemeinsame Kampf mit den Kolleg:innen der GDL auch auf der Hand. Immerhin stehen wir täglich zusammen gegen diesen Konzern um Sicherheit und Pünktlichkeit auf der Schiene ein, das heißt, wir können auch zusammen gegen seinen Tarif kämpfen. Wir sollten gegenseitig die Forderungen durch die der höchsten von der anderen Seite ersetzen. Von den Führungen der EVG und der GDL gibt es in unterschiedlichem Maß daran kein Interesse, die Zusammenarbeit wird aus der Basis kommen müssen.

Genauso gilt das für ein Eintreten für wirklich demokratische Tarifrunden: Tägliche Betriebsversammlungen, direkt gewählte und rechenschaftspflichtige Vertreter:innen in der Tarifkommission. Abstimmungen über Annahme und Streik nach einfacher Mehrheit. Kann sein, dass ein solches Verfahren noch Jahre auf sich warten lassen wird. Trotzdem: Der Grundstein für eine Diskussion dazu muss jetzt in der Tarifrunde gelegt werden.

Und noch etwas müssen wir selbst in die Hand nehmen: GDL- und EVG-Chef:innen sind denkbar schlecht darin, der Medienhetze etwas entgegenzusetzen, wenn es zu Streiks kommt. Es wird einfach darauf verwiesen, dass diese rechtens seien – das heißt im Umkehrschluss dann eben auch, ein gerichtliches Streikverbot kampflos zu akzeptieren.

Streik und Reisende

Wie können die Reisenden also mitgenommen werden? Es gibt gleich mehrere Möglichkeiten. Erstens: Einbeziehung durch Erweiterung der Forderungen. Keine Fahrpreiserhöhung, kostenloser Nahverkehr und massive Angebotserweiterung, bezahlt durch die Profite von VW und Co. Zweitens: Aufklärung. Nicht die streikenden Kolleg:innen sind schuld an der Misere, sondern der Konzern und der Staat. Der Streik findet auch dafür statt, dass die Arbeitsbedingungen bei der Bahn besser werden. Verkehrswende braucht Eisenbahner:innen. Von diesen gehen in manchen Bereichen 70 – 80 Prozent in den nächsten zehn Jahren in Rente. Daher braucht es nicht nur einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs, sondern auch ein deutlich verbessertes Investitionsprogramm für Neueinstellungen!

Drittens: Gezielter Erzwingungsstreik. Es wäre durchaus möglich, gezielt und schwerpunktmäßig den Güterverkehr der Auto- und Schwerindustrie zu bestreiken und Personenverkehr zeitweilig auszunehmen, verbunden mit einem Streik im Bereich Vertrieb und Fahrkartenkontrolle. Das würde aber einen höheren Organisationsgrad brauchen und vor allem wäre dafür die Voraussetzung, dass wir als Beschäftigte den Streik selbst kontrollieren. Die Ironie wäre dann übrigens, dass der Reiseverkehr auf einmal pünktlicher wäre – in einem vollen, heruntergefahrenen Netz fällt es auf, wenn die Züge fehlen, die die bedeutendsten Industrien des Landes bedienen, also jene, die seit Jahrzehnten für einen chronische Benachteiligung der Schiene verantwortlich sind.




GDL – Genossenschaft Deutscher Lokomotivführer?

Leo Drais, Infomail 1226, 12. Juni 2023

Die Führung der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL, Eigenschreibweise nicht gegendert) hat am 5. Juni an einem selbstverkündeten „Großen Tag“ ihre Forderungen für die Tarifrunde mit allen Unternehmen für 2023 präsentiert.

Mit viel Applaus wurden die „Fünf für Fünf“ aufgenommen: 555 Euro mehr in der Tabelle, darunter deutliche Entgelterhöhung für Azubis; Zulagen + 25 %; 35 Stunden-Woche für Schichtarbeitende (inkl. Wahlrecht für Beschäftigte zwischen 40- und 35- Stundenwoche); Inflationsausgleichsprämie 3.000 Euro; 5-Schichten-Woche, 5 % Arbeit„geber“:innenanteil für die betriebliche Altersversorgung; nach 5 Schichten, spätestens nach 120 Stunden muss der nächste Ruhetag beginnen (Mindestfrei: 48 Stunden); 12 Monate Laufzeit.

Neben diesen Forderungen gab es dann noch eine Überraschung. Die GDL hat zum Juni 2023 eine eigene Genossenschaft eintragen lassen, die als Leiharbeitsfirma zunächst Triebfahrzeugführer:innen für den Eisenbahnmarkt stellen will. Mitglied werden kann nur, wer in der GDL ist. Die Konditionen sollen dabei den Forderungen der GDL entsprechen.

Fair Train e. G.

Die Gründung der Genossenschaft Fair Train kommt nicht ungefähr. Sie ist eine versuchte doppelte Kampfansage: Sowohl an gewisse Eisenbahnunternehmen –  allen voran den „roten Riesen“ DB – aber auch in Richtung der Konkurrenzgewerkschaft EVG.

Bereits im Vorfeld sollen Gespräche über Fair Train gelaufen sein – natürlich nicht mit der Mitgliedschaft, die mehr oder weniger vor den Kopf gestoßen war, sondern mit den sogenannten Wettbewerbsbahnen, also Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die nicht im Eigentum des Bundes sind (sog. NE-Bahnen). Man muss ja als gute, als bessere Sozialpartnerin erstmal abchecken, ob der Sozialpartner Kapital überhaupt Interesse an den verliehenen Kolleg:innen hat.

Anscheinend gibt es dieses Interesse – und warum auch nicht. Insbesondere im Güterverkehr würde über Leiharbeit für die Unternehmen ein Risiko genommen werden, nämlich wenn man z. B. im Falle einer Wirtschaftskrise und abbestellter Güterzüge das lästige Personal an der Backe hat. Neben dem rollenden Material (das auch oft genug geleast ist oder gemietet) wäre man dann einen anderen laufenden Kostenfaktor los und man könnte sich ganz aufs Kerngeschäft, also Geld Verdienen, konzentrieren.

Den begünstigenden Rahmen für Fair Train stellen dabei im Gegensatz zum Fernverkehr auf der Straße zwei Faktoren da. Erstens ist, auch wenn der Eisenbahnmarkt europaweit liberalisiert ist, das Bahngeschäft nach wie vor ein vor allem nationales Ding. Während auf deutschen Autobahnen als Folge der EU-Osterweiterung sehr viele Fahrer:innen aus osteuropäischen Ländern unterwegs sind und es einen gnadenlosen Preiskampf nach unten gibt (ausgetragen u. a. über Lohnkosten, schlechte Arbeitsbedingungen usw.), fahren auf deutschen Gleisen in den allermeisten Fällen nach wie vor deutsche Lokführer:innen. Denn während die Sprache für das Fahren eines LKW quasi egal ist und die Straßenverkehrsregeln auch weitestgehend gleich sind, ist der Bahnbetrieb etwas, das zwingend die Landessprache voraussetzt sowie eine besondere Qualifikation, im jeweiligen Land Züge bewegen zu dürfen. Das begrenzt von vornherein natürlich den Arbeitskräftemarkt enorm, der – und das ist der zweite Aspekt – weitgehend leergefegt ist.

Das führt uns zum Kalkül der GDL-Chef:innen. Wenn ausreichend viele Lokführer:innen zu Fair Train wechseln, dann könnte sich die GDL zumindest für das Lokpersonal die Tarifverhandlungen sparen, sondern dem Markt einfach die eigenen Konditionen aufdrücken. Weit davon entfernt, diese Größe zu haben, werden die nächsten ein, zwei Jahre zeigen, ob die e. G. by GDL ein Experiment oder mehr ist.

Politisch falsch und fatal ist sie schon jetzt.

Kampf statt Markt

Die Idee, sich durch den Zusammenschluss zu einer Genossenschaft dem Gewitter des Marktes, also dem Druck der Kapitalist:innen zu entziehen, ist nicht neu. Gewisse Überbleibsel gibt es davon bis heute, etwa in Form von Wohnungsbaugenossenschaften, Volksbanken oder der Raiffeisensparkasse. Auch Produktionsgenossenschaften oder eine Art Arbeiter:innenselbstverwaltung sind nicht neu.

Für die Arbeiter:innenklasse birgt diese Strategie, Wettbewerb durch Wettbewerb zu ersetzen, mehrere problematische Aspekte:

  • Das Geschäftsrisiko der Kapitalist:innen wird automatisch zu unserem. Haben wir als Beschäftigte z. B. der Deutschen Bahn in Krisensituationen immer noch die Möglichkeit, die Kosten der Krise dem Konzern aufzudrücken (im Endeffekt kommt unser Lohn selbst in dem maroden Cargo-Laden immer noch pünktlich), gibt es diese Möglichkeit für Beschäftigte einer Leiharbeitsgenossenschaft nicht. Der Kunde bestellt die Dienstleistung ab und fertig.
  • Sollte Fair Train keine marktrelevante Stellung einnehmen, kann es sehr schnell in einen Preiskampf mit anderen Personaldienstleister:innen geraten. Die Mitglieder der Genossenschaft werden zu Selbstausbeuter:innen. Ökonomisch exakt betrachtet, sind sie es von vorneherein. Im Endeffekt muss hier auf einen Nachfrageüberhang für Arbeitskräfte spekuliert werden.
  • Nicht zuletzt bedeutet der Schwenk von der Gewerkschaft zur Genossenschaft auch nicht, einer Arbeiter:innenselbstverwaltung näherzukommen. Im Gegenteil wird hier wie in allen Genossenschaften zwar einmal im Jahr zur regulären Mitgliederversammlung geladen werden, die wirtschaftlichen Geschicke der Firma liegen aber ganz in den Händen einer intransparenten und nicht wählbaren Führung.
  • Die Genossenschaft wird also nicht nur einem Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozess unterzogen, sie fungiert vor allem als Kapital. Die GDL wandelt sich, je nach Erfolg der Unternehmung, von einer Gewerkschaft zu einer weiteren Zeitarbeitsfirma. Die Genossenschafter:innen mit einem hohen Anteil entwickeln sich entweder selbst zu Leuten, die vom Gewinn ihrer Unternehmung leben wollen. Die Genossenschafter:innen mit geringen Anteilen, die weiter als Lokführer:innen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, geraten in eine widersprüchliche Klassenposition – und das umso mehr, je höher ihr Anteil an der Genossenschaft ist.

Dass die Führung der Unternehmung intrasparent, nicht wählbar sein und gemäß dem Diktat des Marktes agieren wird müssen, bringt uns zurück zur aktuellen Situation. Einerseits befindet sich die GDL dank Tarifeinheitsgesetz z. B. bei der Deutschen Bahn AG in Konkurrenz zur Gewerkschaft EVG (über die man am „Großen Tag“ in populistischer Manier gepfeffert herzog, als sei sie die eigentliche Feindin, und wenn man sich den Eisenbahnbossen schon mit einer Leiharbeitsfirma andient, ist an dieser Vermutung vielleicht auch was dran – kampfstarke Streikgewerkschaft hin oder her), die bei der DB abgesehen vom Zugpersonal die Mitgliedermehrheiten innehat. Daher auch das Eintreten der GDL-Führung und Claus Weselskys für die Zerschlagung der DB. Für eine weitere Liberalisierung des Eisenbahnmarktes stünde die GDL dann schon mit Fair Train in den Startlöchern, ganz nach dem Motto: Egal, welches Unternehmen den Zug besitzen, mieten oder fahren lassen will: Wir stellen das Personal.

Dem was wir, auch aus Sicht einer Verkehrswende, brauchen, bringt uns das nicht näher. Anstatt einer Genossenschaft, wo sich die Eisenbahner:innen zusammenfinden sollen gegen einen durchliberalisierten Markt oder einen Managementselbstbedienungsladen DB, braucht es eine einzige staatliche Bahn, die wir als Eisenbahner:innen in Verbindung mit den lohnabhängigen Kund:innen demokratisch kontrollieren. Denn Eisenbahn können wir besser als „die da oben“ – sitzen sie im Bahntower, auf der Bühne oder uns gegenüber. Sie wollen alle nur das Beste für uns, Herr Seiler, Herr Weselsky und Herr Burkert – und doch sind sie die Fortsetzung einer eisenbahnzerstörenden Geschichte.




Deutsche Bahn: Zwischen Tarifkämpfen und Umstrukturierung

Leo Drais, Neue Internationale 274, Juni 2023

An sich kann so ein Eisenbahnsystem eine feine Sache sein, das Rückgrat einer umfassenden Verkehrswende, überall auf dem Kontinent in einem stabilen Netz mit hoher Taktung und für alle da.

Züge werden sicher auf einem Gleis geführt. Eine ganze Reihe an funktionierenden Sicherungssystemen wie Stellwerken oder Zugbeeinflussungen sorgt dafür, dass keine Kollisionen passieren und Weichen und Bahnübergänge sicher befahren werden können. Geschehen einmal menschliche Fehler, greift die Technik ein. Ein gut ausgebildetes Eisenbahnpersonal weiß mit Störungen souverän umzugehen, hat dafür ein widerspruchsfreies und anwendungsorientiertes Regelwerk zur Hand und ist für Reisende überall mit Rat und Tat da.

So faszinierend wie ausgereift.

Und dann noch der bestechende Vorteil in der Klimabilanz. Das System wird flächendeckend mit Strom aus erneuerbaren Energien durch eine Oberleitung versorgt und muss seine Energie daher nicht mitführen. Beim Bremsen wird eine große Menge Strom zurückgespeist, wobei der Energieverbrauch pro Tonne sowieso schon viel geringer als bei Straßenfahrzeugen ist. Durch die geringe Reibung zwischen Stahlrad und Schiene kann ein durchschnittlicher erwachsener Mensch eine 80 Tonnen schwere Lok im ebenen Gleis von Hand verschieben.

Die schöne Welt der Eisenbahn.

Nur, so ist sie nicht.

Sinnbildliche Entgleisung

In der deutschen Bahnwelt ist das alles höchstens teilweise vorhanden, wenn überhaupt. Verspätungen und Ausfälle kennen alle. Weniger bekannt ist, was die Ursachen dafür sind. „Gründe dafür sind Verzögerungen im Betriebsablauf“, eine euphemistische Tautologie, eine schöngerechnete Statistik, ausgefallene Züge gelten nicht als verspätet. Der Streik der EVG Ende März bedeutete für DB Fernverkehr den pünktlichsten Tag seiner Geschichte – wo kein einziger Zug fährt, kann doch im DB-Neusprech auch keiner verspätet gewesen sein?

Die Verzögerung ist doch nicht anderes als eine synonyme Verspätung, aber warum gibt es sie? Da sind die Gleise, die nicht mehr vorhanden sind oder nur noch eingeschränkt befahren werden können. Da sind die Züge, die kaputt sind, ohne Ersatz. Da ist das Personal, das es nicht gibt. Aber auch das sind ja Symptome, keine Ursachen einer privatwirtschaftlich ausgerichteten Bahn im Staatsbesitz. So bleibt man gerade auf einem durchschnittlich soeben noch erträglichen Level, dort festgehalten von Kolleg:innen, die trotz literweise Eisenbahnherzblut die Schnauze voll haben und sich sagen „So geht es nicht weiter!“, und am nächsten Tag geht es doch weiter, irgendwie, vielleicht sogar mal zufällig ganz nach Plan. Der Zusammenbruch des Bahnbetriebs droht nicht an einem Tag X in der nahen Zukunft, er findet täglich statt, mal nur punktuell, dann regional und beim nächsten Herbststurm mal wieder flächendeckend.

Dass es so nicht weitergehen darf, dieser Meinung sind auch FDP, CDU und Grüne. Sie meinen, die Fehler der ersten Bahnreform von 1994 erkannt zu haben und fordern schon länger eine Bahnreform 2.0. Was die SPD im Koalitionsvertrag noch durch Verklausulierung abtun wollte, wurde im April von der Union mit einem Reformpapier wieder in die Debatte getragen. Leider darf man nicht darauf hoffen, dass die Bestrebungen im Bundestag wie alle anderen Absichtserklärungen zu einer besseren Bahn im Tagesgeschäft von Parlament und Autoministerium untergehen. Es scheint, als würde die Bahn ab 1. Januar wirklich von allen Problemen befreit – InfraGo!

Die Ideen der Union einerseits und von FDP und Grünen in der Ampel andererseits sind nicht deckungsgleich, aber teilen eine gemeinsame Motivation: die weitere Trennung von Netz und Betrieb, eine Losung, die bereits bahntechnische Ahnungslosigkeit, dafür politischen Neoliberalismus offenbart.

Das Rad-Schiene-System ist eines, wo kurz gesagt im Zug Triebfahrzeugführer:innen sitzen und diesen fahren und vom Stellwerk aus Fahrdienstleiter:innen diesen lenken. Beide gestalten Bahnbetrieb, netz- und fahrzeugseitig. Kein anderes Transportsystem verfügt über eine innigere Verbindung zwischen Fahrweg und Fahrzeug. Allein schon deshalb ist beide voneinander zu trennen nichts anderes als eine sinnbildliche Entgleisung.

Aber aus neoliberaler Sicht macht diese seit Jahrzehnten Sinn. Denn während es (Großbritannien hat es vorgemacht) kaum möglich ist, die sehr aufwendige und komplexe Fahrweginfrastruktur gewinnbringend zu privatisieren, ohne dass sie binnen kürzester Zeit wirklich unbefahrbar wird, ist das mit Fahrzeugen eher möglich. Immerhin operieren sich gegenseitig im Weg stehend in Deutschland mittlerweile 400 sogenannte Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) auf den Gleisen der bundeseigenen DB Netz AG, wobei hinter vielen dieser EVU auch nur große Monopole oder Töchter anderer europäischer Staatsbahnen stehen.

KaputtGo

Die Ampel sieht vor, ab dem 1. Januar 2024 die Infrastruktursparten DB Netz und DB Service und Station zusammenzuführen – Name: InfraGo, „Infrastruktur gemeinwohlorientiert“, ein Ansatz der im Gegensatz zum Begriff der Gemeinnützigkeit zu nichts verpflichtet.

Das ist sicher sinnhaft, immerhin ist die Trennung zwischen Bahnsteigkante (DB Service und Station) und Gleis (DB Netz) eine Lücke, die Reisende beim Einstieg in den Zug (der dann DB Regio oder Abellio oder Transdev  oder … gehört) zwar mühelos überschreiten, aber innerbetrieblich mitunter unüberwindbar scheint. Diese Infrastruktursparte, zu der DB Energie wiederum nicht gehören soll, obwohl ein Zug so wenig ohne Strom oder Diesel fahren kann wie ohne Gleis, soll zu 100 Prozent im „integrierten DB-Konzern“ verbleiben.

Aber was steht sonst noch im Koalitionsvertrag? Man wolle die DB in öffentlicher Hand weiterführen, man wolle die Struktur und Transparenz verbessern, die Infrastruktursparte dürfe ihre Gewinne behalten, und man beabsichtige, mehr in letztere zu investieren. Außerdem würden die EVU markt- und gewinnorientiert weitergeführt.

Diese Klauseln lassen viel Spielraum. Klar ist jedoch, dass man zwischen einem „Weiter so“, einem „Irgendwie muss es besser werden“ und einem „Da lässt sich doch Geld mit verdienen“ liegt. Am grundlegenden Gedanken – der Staat pumpt Steuergeld in die Infrastruktur, die EVU fahren auf dieser, unterbieten sich und verdienen Geld, das auf Kosten der Reisenden und Beschäftigten in privater Hand (oder der anderer DB-Unternehmen oder Staatsbahnen) landet – wird nichts geändert. Letzteres ist in den vergangenen Jahren im Nahverkehr wiederholt in die Hose gegangen, Stichwort Abellio Baden-Württemberg.

Darüber hinaus lassen die Ideen der Ampel die Tür zu einer Teilprivatisierung anderer DB-Teile außerhalb der Infrastruktur offen, schließen dafür die, durch die von staatlicher Seite her Investitionen ins rollende Material (bspw in eine große europäische Nachtzugflotte) stattfinden sollten.

Die Pläne der Union laufen demgegenüber auf eine offenere Zerschlagung hinaus. Sie will eine Autobahn-GmbH 2.0, sprich die Schieneninfrastruktur in eine GmbH des Bundes überführen. Scheuer weiß eben, wie es geht. Begründet wird dies damit, dass bei einer AG wie der DB der Durchgriff der Eigentümerin ins Geschäft des Konzerns fehle, eine GmbH ermögliche diesen. Der DB-Konzern solle weiterhin ein international tätiger Logistikkonzern bleiben – immerhin ist DB Schenker die Profitperle von dem Laden, der außerdem „im Hinblick auf China“ stark bleiben müsse.

Weder der eine noch der andere Plan wird uns ein Eisenbahnsystem bringen, das dem beschriebenen Verkehrswendetraum aus der Einleitung näher kommt. Weder InfraGo im DB-Konzern, noch eine bundeseigene Schienen-GmbH ändern etwas an den neoliberalen strukturellen Problemen, nichts daran, dass beim gegenwärtigen Planungsrecht und Investitionsstau der Ausbau der Oberleitung noch 175 Jahre dauert, bis das gesamte Netz elektrisch fährt. Es ändert nichts daran, dass das, was 30 Jahre lang zerstört, runtergefahren und entlassen wurde, unter kapitalistischen Bedingungen nicht in ein, zwei Jahren repariert, ausgebaut, eingestellt, ausgebildet ist. Es verkleinert nicht den Managementwasserkopf auf das gesamte Bahnsystem hin betrachtet, wo jedes Unternehmen natürlich seinen eigenen hat. Es ändert nichts an der politischen Bevorzugung der Straße gegenüber der Schiene. Deutschland – Autoland, passend waren die Ex-Chefs der DB Mehdorn und Grube Zöglinge der Autoindustrie, und keiner von beiden hatte vergessen, wer ihn groß gemacht hat.

Und es bleibt vermutlich dabei, dass die Schweiz 5 – 6 mal mehr pro Kopf in die Schiene steckt als die BRD.

Und die Gewerkschaften?

Die unterschiedliche bahnpolitische Ausrichtung von Union und Ampel findet ihren Spiegel in den Gewerkschaften EVG und GDL und passt „zufälligerweise“ zum Parteibuch ihrer Vorsitzenden.

Die „Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer“ (GDL) mit ihrem großen Vorsitzenden Claus Weselsky (CDU) steht für eine Zerlegung des DB-Konzerns, die „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft“ (EVG) mit dem ehemaligen SPD Bundestagsabgeordneten Martin Burkert an der Spitze der Bürokratie will die DB behalten.

Hinter beidem steht ein politisches Kalkül der jeweiligen und konkurrierenden Apparate. Die DGB-Gewerkschaft EVG ist historisch eng mit dem DB-Konzern verflochten. Der frühere Vorsitzende der Vorgängerin Transnet, Norbert Hansen, ist damals dann auch mir nichts, dir nichts vom Vorstand der Gewerkschaft in den des Konzerns gewechselt. Viele ihrer Mitglieder arbeiten in Büroetagen der DB AG und es ist vor allem dieser Konzern, wo die EVG insgesamt eine Mitgliedermehrheit gegenüber der GDL hat. Zudem gibt es wohl hunderte EVG-Betriebsräte, die ihr Pöstchen eben in einem der vielen DB-Wahlbetriebe besetzen, wo die GDL bisher nicht gut ihren Fuß reinbekommen hat. Logisch, dass da im Apparat die Alarmglocken schrillten, als die FDP und Grünen während der Koalitionsverhandlungen mit ihren Zerschlagungsplänen um die Ecke kamen. Es wurde eine Demo in Berlin organisiert, und die mit dem EVG-Apparat verbundene SPD setzte die oben beschriebenen Klauseln durch. Hauptsache, erstmal regieren! Jetzt machen ihre Koalitionär:innen Ernst und es hängt tatsächlich an der SPD, ob und in welcher Form InfraGo kommt.

Die GDL (Mitglied im historisch konservativen Beamtenbund) rechnet dafür darauf, dass eine Zerschlagung der DB ihren Einfluss im Eisenbahnsektor unterm Strich vergrößern würde. Sie ist in der DB vor allem in Opposition zur EVG und hierin durch härter geführte Tarifkämpfe und ein verbal lauteres Donnerwetter groß geworden. Die von der Transnet Verratenen fanden eine Alternativgewerkschaft, die seither vieles durchsetzten konnte, was die EVG dann nachgetragen bekam. Trotzdem – und hier kommt das von Burkert und SPD mit gebaute und verabschiedete Tarifeinheitsgesetz ins Spiel – hat in vielen der DB-Unternehmen die EVG die Mehrheit oder ihr wurde sie zweifelhaft zugesprochen (S-Bahn Berlin). Heißt: Der Tarifvertrag der EVG gilt, nicht der der GDL. Und es ist was dran, wenn Claus Weselsky der DB eine größere Nähe zur EVG vorwirft. Trotzdem und ganz gleich, ob darin mehr Kritik oder Neid liegt (auch die GDL-Spitze will zuerst Sozialpartnerin sein, auch ihre Führung verbringt mehr Zeit mit Vorständen und Aufsichtsräten als mit den Beschäftigten an der Basis), Weselsky musste die Kränkung erfahren, dass die EVG beim Streik aufgrund einer besseren Organisiertheit in den Stellwerken das schaffte, was der GDL bisher nicht gelang – weitgehender Stillstand auf den Schienen.

Während sich die GDL in den letzten Jahren bei Tarifverhandlungen oft als die kämpferischere Gewerkschaft präsentierte, steht sie bei der Frage der Zerschlagung der DB deutlich rechts von der EVG. Während letztere ein Bündnis mit Bahnvorstand und der SPD in dieser Frage sucht, sekundiert die GDL den Neoliberalen von CDU, FDP und Grünen und der Seite der konkurrierenden Kapitalfraktionen.

Vom GDL-Vorstand gibt es daher erst gar keine Vorbehalte gegen die weitere Bahnprivatisierung. Doch auch die EVG-Spitze spricht nicht wirklich an, was notwendig wäre, um die Eisenbahn stabil einzugleisen, so dass es heißen muss: Nein zur Zerschlagung der DB, aber auch kein weiter so als DB! Keine Kungelei mit dem DB-Vorstand in dieser Frage! Einem technisch untrennbaren System muss nicht nur eine ebensolche organisatorische Struktur entsprechen. Es kommt auch darauf an, wer diese in wessen Interesse kontrolliert und umbaut – in der eines staatlichen, gewinnorientierten Konzerns oder in dem der Beschäftigten und lohnabhängigen Nutzer:innen? Das heißt, eine verstaatlichte europäische Bahn ohne Gewinnausrichtung und unter Kontrolle der Lohnabhängigen und Nutzer:innen muss das Ziel sein!

Dies wäre ein Schritt zu einem integrierten, europäischen Verkehrssystem. Ein solches wird jedoch auf privatkapitalistischer Basis nie zu haben sein, es erfordert nicht nur technische Kompetenz, massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs und dementsprechende Neueinstellungen, sondern auch eine demokratische planwirtschaftliche Reorganisation der gesamten Produktion und Infrastruktur im Verkehrssektor.

Ansatz Tarifrunden

Spricht man diese Vorstellungen aus, treffen sie auf Zustimmung und offene Ohren unter Kolleg:innen, aber in der Folge darauf sofort auch auf Resignation und Fatalismus. Daran tragen beide – GDL wie EVG – ihren Anteil. Ihre Politik läuft darauf hinaus, der neoliberalen Realität eines zerstörten Bahnsystems nicht eine andere mögliche Realität entgegenzuhalten, sondern wesentlich den eigenen Platz in hunderten Bahnunternehmen zu finden und ihn der anderen Gewerkschaft nicht zu überlassen. Gesetzen wird sich sogar verbal gefügt, der Realität sowieso. „Es ist nun einmal so, wie es jetzt ist, die Bahnreform ist lange passiert, es gibt kein Zurück mehr.“ Visionen werden als Träumerei abgetan, nett zwar, aber eben – unrealistisch.

Es ist die Aufgabe aller linken Eisenbahner:innen klarzumachen, dass das Jetzt keine Unvermeidlichkeit darstellt, eine andere Bahn möglich ist, auch wenn sie nicht vom Himmel fällt und es viel Ausdauer dafür braucht. Ansätze dafür sind da. Wer das als Träumerei abtut, für den wird es schwerlich ein Erwachen aus dem gegenwärtigen Albtraum geben können.

Die künstliche Trennung zwischen Netz und Betrieb zu beenden, heißt die Spaltung zwischen den Eisenbahner:innen in zwei Gewerkschaften zu überwinden.

Was jetzt gerade zwar ein gewisses Feuer in die Tarifrunden bringt, ist auf lange Frist und in der täglichen Zusammenarbeit schädlich. Dass die gerade in Tarifverhandlungen stehende EVG-Spitze noch keinen schlechten Abschluss wie ver.di bei der Post oder im öffentlichen Dienst unterschrieben hat, liegt nicht nur daran, dass die Angebote der DB so beschissen waren und der Druck durch die Inflation hoch ist, sondern eben auch daran, dass im Hintergrund eine GDL lauert, die ab Herbst verhandeln und sich entsprechend auf alles konzentrieren wird, was die EVG nicht abschließt.

Darüber hinaus bringt die Spaltung zwischen EVG und GDL jedoch nur ihren Apparaten (beide existieren durch sie) und den Unternehmen was. Beide Apparate haben ein paternalistisches Verständnis ihren Mitgliedern gegenüber: Die EVG schrieb in ihrem letzten Aushang so was wie „Wir verhandeln weiter, es kann jedoch sein, dass wir Euch nochmal brauchen.“ Beide wollen die Kontrolle über die Kämpfe behalten und nicht der Basis überlassen. Beide haben kein Interesse, die der DB vorgeworfene intransparente Struktur bei sich selbst durch direkte Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit aller Funktionär:innen zu ersetzen, führen Tarifgespräche hinter verschlossenen Türen, tätigen Abschlüsse, die unter Umständen für viel Unmut sorgen.

Die drohende Zerschlagung der Bahn – um nicht immer beim verharmlosenden Wort Umstrukturierung zu bleiben – stellt letztlich für die Beschäftigten und Nutzer:innen einen noch grundlegenderen Angriff als die Tariffragen dar. Doch genau für diese sieht das deutsche Recht keine Streikmöglichkeit vor. Das erschwert natürlich objektiv die Kampfbedingungen, zumal die EVG-Führung peinlich darauf achtet, nicht über das gesetzlich Vorgegebene hinauszugehen. Umso dringender ist es, dass klassenkämpferische Gewerkschafter:innen in EVG und GDL das Spiel ihrer eigenen Führungen nicht länger mitmachen und einen gemeinsamen Kampf gegen die sog. Bahnreformen fordern, ein klares NEIN zu jeder Zerschlagung und weiteren Privatisierung. Um diesem Angriff entgegenzutreten, braucht es gemeinsame Belegschaftsversammlungen und die Vorbereitung von Arbeitskampfmaßnahmen bis hin zu unbefristeten politischen Streiks. Eine solche Bewegung bedarf zugleich der Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse, aller Gewerkschaften.

Das alles sind Punkte, um eine Opposition gegen festgefahrene und undemokratische gewerkschaftliche Strukturen, aber auch gegen die der Eisenbahn selbst aufzubauen, um überhaupt erstmal wieder die Diskussion darüber zu führen, wie alles anders sein könnte und wie wir konkret – per Bahn – dahin kommen.




Gericht erzwingt Absage des Bahnstreiks – EVG-Führung knickt ein

Martin Suchanek, Infomail 1222, 14. Mai 2023

Der Vorstand der Deutsche Bahn AG kann auf deutsche Gerichte zählen. Nachdem das Unternehmen die Gewerkschaft EVG und die Beschäftigten weiter mit Scheinangeboten hinhalten wollte, hatte die EVG einen 50-stündigen Warnstreik, beginnend am 14. Mai, beschlossen. So sollte der Druck auf den Konzern und andere Unternehmen im Kampf um die Tarifforderungen – 12 %, mindestens aber 650 Euro monatlich mehr für alle bei einem Jahr Laufzeit – erhöht werden.

Daraus wird nun nichts. Die Bahn AG versuchte am 13. Mai, den Warnstreik per Einlassung vor dem Arbeitsgericht Frankfurt/Main zu verhindern. Mit Erfolg: Die Richterin hatte laut Medienberichten in der Verhandlung mehrfach erklärt, dass sie den Streik für rechtlich problematisch halte. Mit dieser Verbotsdrohung im Raum verband das Gericht den „Vorschlag“ eines verpflichtenden Vergleichs zwischen Bahn AG und EVG. Die Bahn AG müsse, so der Vergleich, auf die Forderung nach Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns für rund 2.000 Beschäftigte eingehen – dafür müsse der Streik vom Tisch und eine intensive Verhandlungsrunde über die „restlichen“ Forderungen starten.

Von diesen Forderungen der EVG ist keine zugesagt. Die Gewerkschaftsführung gab angesichts eines drohenden Streikverbots und der vom Gericht in den Raum gestellten zusätzlichen Drohung, dass im Falle eines Verbots auch Schadenersatzzahlungen für die anderen Warnstreiks in Millionenhöhe auf sie zukommen könnten, klein bei. Sie ließ sich schlichtweg erpressen.

Es gibt nichts zu beschönigen

Die Bahn AG errang einen klaren Sieg, was sie triumphierend auch selbst betont. Für sie hat sich der Gang vor Gericht gelohnt – zahlen sollen dafür die Beschäftigten.

Und die EVG-Spitze? Sie knickt ein. Ein Streik, der ohnedies abgeblasen wird, braucht schließlich nicht verboten zu werden. Sie verzichtet darauf, selbst vor Gericht für das Streikrecht zu kämpfen, sie lässt sich von dessen Drohszenarien einschüchtern – und sie verzichtet erst recht darauf, dessen unverhohlene Parteinahme für die Bahn AG, diesen klaren Akt von Klassenjustiz anzuprangern.

Da die EVG nicht wie eine vorgeführte Papiertigerin dastehen will, macht sie auch noch gute Miene zum bösen Spiel – und es damit noch schlimmer. In einer eigenen Presseerklärung entblödet sie sich nicht, die Niederlage als Erfolg auszugeben. So erklärt ihr Verhandlungsführer Loroch: „Schon die Androhung des Warnstreiks hatte Erfolg. Der Arbeitgeber hatte vor Gericht unmissverständlich erklärt, dass er unsere Forderungen zum Mindestlohn erfüllt. Auf Anraten des Gerichts haben der Arbeitgeber und wir einen Vergleich geschlossen.“

Der/Die Arbeit„geber“:in gibt einer Forderung nach und hält an der Ablehnung aller anderen fest. Dieser „Erfolg“ reicht – und die EVG setzt den Streik „vorerst“ aus.

Für die Beschäftigten bei der Bahn bedeutet das einen herben Rückschlag. Statt ihre eigenen Kräfte für die Tarifrunde und den Kampf gegen die drohende „Reform“ der Bahn zu stärken, knickt die Gewerkschaftsführung ein. Bei den kommenden Verhandlungen droht ein Ausverkauf durch den Apparat. Dazu müssen alle klassenkämpferischen Kolleg:innen jetzt klar und deutlich NEIN sagen. Vor Gerichten und in Mauschelrunden mit der Bahn AG wird nichts zu holen sein. Statt den schrittweisen Rückzug anzutreten und diesen schönzureden, muss von der EVG gefordert werden, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und die Urabstimmung zur Durchsetzung der Forderungen möglichst rasch einzuleiten.

Darüber hinaus rächt sich die über Jahre von der EVG-Führung besonders intensiv betriebene Politik der Klassenzusammenarbeit mit Unternehmen und Regierung. 2015 unterstützte die EVG gegen andere Gewerkschaften und die Interessen der Arbeiter:innenklasse das Gesetz zur Tarifeinheit, also eine weitere massive Einschränkung des Streikrechts. Jetzt wenden sich genau jene Gerichte gegen die EVG, die ihre Spitze dereinst gegen andere in Stellung bringen wollte. Vertrauen in die Bürokratie ist also fehl am Platz.

Folgerungen

Für die Beschäftigen gilt es, zwei zentrale Schlussfolgerungen zu ziehen, gerade wenn es darum geht, wie der Kampf gegen den Konzern und die Klassenjustiz erfolgreich geführt werden kann:

1. Die bürgerlichen Gerichte stehen auf Seiten des Kapitals. Die gesamte Gewerkschaftsbewegung muss die Erpressung durch das Arbeitsgericht Frankfurt/Main verurteilen und eine Kampagne gegen jede Einschränkung des Streikrechts starten. Am 13. Mai traf es die EVG, morgen kann es jede andere treffen.

2. Müssen sich die kämpferischen Gewerkschafter:innen in der EVG (und auch in der GDL) organisieren und dafür eintreten, dass die Tarifrunde unter Kontrolle der Basis, von gewählten, abwählbaren und rechenschaftspflichtigen Tarifkommissionen und Streikleitungen geführt wird. Die gute Nachricht zum Schluss: Dazu gibt es einen ersten Ansatz: die Bahnvernetzung von Kolleg:innen aus EVG und GDL. Unterstützt die Kolleg:innen oder, noch besser, wenn ihr Bahner:innen seid, schließt Euch ihr an!




Schweden: Sieg für den Eisenbahner:innenstreik!

Arbetarmakt, Stockholm, Infomail 1222, 6. Mai 2023

Vor der Wahl versprach die Sozialdemokratische Partei in der Region Stockholm, die Abschaffung von Zugbegleiter:innen in Pendler:innenzügen zu stoppen, ein Vorschlag, den sie als „verheerend“ und „moderat gescheitert“ bezeichnete. Nach der Regierungsübernahme hat sie gemeinsam mit der Zentrumspartei und der Grünen Partei und mit Unterstützung der Linkspartei diesen Beschluss umgesetzt.

Aus Protest haben die Lokführer:innen im Nahverkehr in diesem Frühjahr Proteste organisiert, die Zahl der Krankmeldungen wurde erhöht, und am Montag traten sie in einen wilden Streik. In einem Flugblatt, das sich an die Öffentlichkeit wendet, erklären die Lokführer:innen, dass sie seit fast zwei Jahren protestieren, aber alle Einwände ignoriert wurden. Die Forderung ist klar: Zugbegleiter:innen zurück in den Führerstand und zum Sicherheitsdienst!

Ihnen stehen Drohungen mit rechtlichen Schritten seitens der gierigen Kapitalist:innen der Privatbahn MTR entgegen. Außerdem sind sie mit der Passivität der Seko, Gewerkschaft der Beschäftigten im Kommunikations- und Dienstleistungsbereich, und der Heuchelei der politischen Führung konfrontierte. Aber die Lokführer:innen verfügen, wie in den bisherigen zwei Streiktagen deutlich wurde, über etwas viel Wichtigeres und Stärkeres: die massive Unterstützung all derer, die die Pendler:innenzüge in der Region Stockholm nutzen und eine sichere Verkehrssituation wollen.

Am Dienstag, den 2. Mai, besuchten die Genoss:innen von Arbetarmakt die Kundgebung der Streikenden vor dem Stockholmer Hauptbahnhof und verteilten anschließend in der Nähe Plakate zur Unterstützung des Streiks. Wir haben natürlich auch zum Streikfonds der kämpfenden Arbeiter:innen beigetragen der zu diesem Zeitpunkt (2. Mai) erstaunliche 1,3 Millionen SEK gesammelt hat.

Wir fordern alle, die diesen wichtigen Kampf unterstützen, auf, die Kundgebung vor dem Hauptbahnhof zu besuchen, um ihre Unterstützung zum Ausdruck zu bringen, mit Arbeitskolleg:innen, Freund:innen und Gewerkschaftskolleg:innen über den Streik zu sprechen, Geld in den Streikfonds zu spenden und bereit zu sein, den völlig berechtigten Arbeitskampf weiter zu unterstützen. Die Website des Streikkomitees findet Ihr hier: https://vildstrejkpendeln.blogg.se/, und der Streikfonds (organisiert von der Workers‘ Solidarity Association) hat eine Swish-Nummer 123 699 29 52 oder ein Bankkonto 418-6482, auf dem der Vermerk „train host“ steht.

Sicherheit vor Profit! Sieg für den Pendler:innenstreik! #rörintemintågvärd




EVG und ver.di: vom Verkehrsstreik zum Erzwingungsstreik zum Verkehrswendestreik

Leo Drais, Neue Internationale 272, April 2023

Der 27. März 2023 galt schon als Superverkehrsstreiktag, bevor er überhaupt anbrach. Die bloße Ankündigung des Warnstreiks genügte, damit die Deutsche Bahn bereits von vornherein sagte: „Wir stellen den Fernverkehr für einen Tag komplett ein.“ Auch wenn die EVG den Warnstreik nur für die Zeit von 4 bis 15 Uhr angesetzt hat, tut sich die Bahn mit dem Komplettausfall einen wirtschaftlichen Gefallen: Am Dienstag stehen die meisten ICE an der richtigen Stelle. Nebenbei lässt sich so die Pünktlichkeitsstatistik ein bisschen frisieren. Schließlich meint die DB ja, ausgefallene Züge seien nicht verspätet.

An manchen Ort geht an diesem Montag fast gar nichts. In München oder Leipzig fahren weder S-Bahnen noch Busse, in Hamburg laufen keine Schiffe in den Hafen, auf allen Flughäfen außer Berlin streikt das Bodenpersonal, Autobahntunnel sollen gesperrt werden.

Dieser gemeinsame Warnstreik von ver.di und EVG liefert eine richtige Antwort auf die Verhandlungs„angebote“ der Kommunalen Arbeit„geber“:innenverbände (VKA) und der Deutschen Bahn in den parallel laufenden Tarifrunden im öffentlichen Dienst, an Flughäfen und in 50 Eisenbahnunternehmen. Aber es wird mehr brauchen, viel mehr, nicht nur wenn ein Ausgleich der Inflation erfolgen, sondern auch ausreichend Personal speziell im öffentlichen Nah- und Fernverkehr eingestellt werden soll.

Ungewohnt groß, gewöhnlicher Ablauf

Der gemeinsame Warnstreik von EVG und ver.di gibt im Ansatz eine Vorstellung davon, wie weh wir den täglichen Abläufen der Wirtschaft tun können, welche Macht wir eigentlich haben. Sicher wird dadurch „der Druck erhöht“, wie die Vorsitzenden Burkert (EVG) und Werneke (ver.di) es verkündet haben.

Abgesehen vom Ausmaß läuft der Montag jedoch in den üblichen eingelaufenen Bahnen der deutschen Sozialpartner:innenschaft und Tarifrundenrituale. Die Gewerkschaftsführungen kontrollieren, rufen auf, blasen ab. Man wird für die Zwecke der Bürokratie in Bewegung gesetzt, wobei – natürlich – Dampf abgelassen wird und am Ende vielleicht auch ein paar Prozente mehr rauskommen. Nicht mal Solidaritätsstreiks in den Verkehrsbetrieben, wo gerade nicht verhandelt wird, finden statt, obwohl das rechtlich durchaus möglich wäre. Somit wird in Berlin die BVG weiterfahren, während die S-Bahn steht.

Dass der Streik so massiv eingreifen, kann liegt in der Natur der Sache Verkehr, wobei die EVG mit einem Streik dieser Größe bei der DB durchaus auf neuen Gleisen fährt. 2018 hielt sie zwar einen Dreistundenstreik ab, der seinen Namen eigentlich nicht verdiente, darüber hinaus verfügt sie jedoch schlicht über keine Streikerfahrung. Gestreikt hat in der Regel die GDL. Zu ihr steht die EVG zumindest bei der DB in Konkurrenz, seit der Konzern das Tarifeinheitsgesetz anwendet: Wer die meisten Mitglieder in den jeweiligen DB-Betrieben hat, dessen Tarifvertrag wird angewandt. Die EVG profitiert dabei vor allem davon, dass sie deutlich mehr Fahrdienstleiter:innen als die GDL organisiert. Auch wenn der Organisationsgrad in dieser Berufsgruppe an manchen Orten erschreckend niedrig ist, reicht bereits ein bestreiktes Stellwerk, um den Fahrplan eines Knotens empfindlich zu stören. Das allein ist es, was dafür sorgt, dass die DB bereits vor dem Streik ankündigt, Züge flächendeckend ausfallen zu lassen.

Das anscheinend unvermeidliche Gegeneinander der Apparate von GDL und EVG wird durch das Tarifeinheitsgesetz dieses Jahr übrigens besonders absurd. Hat die EVG ihren Abschluss, ist die GDL mit Verhandeln dran. Während die EVG zum jetzigen Warnstreik sagt, dass alle, auch GDL-Mitglieder streiken dürfen, da sie zu den aufgerufenen Berufsgruppen gehören, sagt die GDL das Gegenteil: Die Friedenspflicht sei ausschlaggebend. Anstatt zusammen zu kämpfen, wird durch die Führungen beider Gewerkschaften seit Jahren die Spaltung in der Belegschaft vertieft – langfristig kann uns das nur schaden.

Erzwingungsstreik!

Die Kampfbereitschaft unter den Verkehrsarbeiter:innen ist groß. Trotzdem droht, wie bei der Post, dass die Gewerkschaftsführungen diese Bereitschaft aus feigem Eigeninteresse nicht nutzen und den Arbeitskampf eskalieren und einem trotzdem am Ende erzählen, wie gut dieser Abschluss sei. Das gilt es zu verhindern! Ein Vorspiel lieferte die EVG bereits bei der Bahn: Anstatt einen ganzen Tag zu streiken, wofür auf jeden Fall die Motivation da gewesen wäre, wird die Arbeit nur bis 15 Uhr niedergelegt. Man wolle auch „deeskalierend“ wirken und „nicht schon das ganze Pulver verschießen“. Wie kann man sich nur so den Wind aus den eigenen Segeln nehmen? Man kann, wenn man den Streik bürokratisch von oben herab kontrolliert!

Die Strategie der deutschen Regierung und Konzerne läuft darauf hinaus, vermittels der Inflation die Krisenkosten von Corona und Krieg auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Genau das steht hinter dem angebotenen Blendwerk an Einmalzahlungen! Weil die Konkurrenz international schärfer wird, wird auch der Verteilungsspielraum kleiner, erst recht, wenn man Milliarden in die Aufrüstung stecken will. Schon allein deshalb bräuchte es auch von unserer Seite einen viel schärferen Kampf. Aber zumindest in der EVG haben Apparatstimmen schon gezwitschert, dass man es so weit nicht kommen lässt und man vor dem Sommer einen Abschluss anstrebt. Wenn das die Bosse wissen, müssen sie ja einfach nur abwarten.

In ver.di und EVG müssen wir auf Urabstimmungen über Erzwingungsstreiks hinarbeiten. Wir brauchen Debatten in den Betriebsgruppen, die genau das flächendeckend fordern müssen. Keine Tarifkommission darf ohne Zustimmung der Basis etwas abschließen. Im Gegenteil sollte diese direkt von der Basis gewählt werden und abwählbar sein, wenn die Delegierten scheiße abschließen. Um das überprüfen zu können, braucht es wiederum öffentliche Verhandlungen. Wir sollten auf Streikversammlungen selbst entscheiden, wie gekämpft wird und wann es reicht.

Aber von solchen basisdemokratischen Abläufen sind wir weit weg. Manchen Betriebsgruppen muss überhaupt erstmal Leben eingehaucht werden.

Streik und Verkehrswende

Nicht nur was den Ablauf des Arbeitskampfes angeht, läuft alles wie bekannt. Auch der Inhalt treibt nicht über das übliche mehr Geld hinaus. Weder EVG noch ver.di politisieren den Kampf wirklich für eine Verkehrswende. Obwohl es so naheliegt – höhere Löhne bedeuten attraktivere Berufe im Nahverkehr, wo in den nächsten Jahren teilweise über 70 Prozent in Rente gehen – ist das Thema politischer Streik natürlich Teufelszeug. Der sei halt verboten, was willkommene Ausrede ist. Schließlich ist es für einen Apparat bequemer, dass im Wesentlichen alles bleibt wie bisher. Heute heiße Worte, morgen im Aufsichtsrat.

Eine Verkehrswende wird weder durch Volker Wissing (VW) und die Ampel noch durch die Autokonzerne und Verkehrsbetriebe und auch nicht durch die Art und Weise, wie EVG und ver.di kämpfen, Realität werden, selbst dann nicht, wenn sich die Klimabewegung noch so sehr solidarisiert und den Apparaten ihre Unterstützung anbietet.

Ein Verkehrswende, die ihren Namen verdient, ist eine Kriegserklärung an eine Festung des deutschen Kapitalismus, die Autoindustrie. Sie muss dafür enteignet werden. Sie wird nur Realität werden, wenn wir sie gegen VW und den gleichnamigen Konzern erkämpfen, wenn wir nicht nur ein paar Stunden für mehr Lohn, sondern tagelang für einen kostenlosen Nahverkehr und seinen massiven Ausbau streiken, wenn wir die Busse in die Autobahnauffahrten stellen und den Beschäftigten in der Autoindustrie sagen: Solidarisiert euch, kämpft dafür, dass eure Autofabrik unter eurer Kontrolle und ohne Lohnverluste etwas Sinnvolles produziert!

Das ist zur Zeit sicher genauso weit weg wie basisdemokratische Streik- und Gewerkschaftsstrukturen. Aber die aktuellen Streiks bieten die Chance dafür, die Diskussion darüber voranzubringen. Zum Beispiel indem wir fordern, dass sich die DB im Tarifabschluss dazu verpflichtet, die Fahrpreise im Fernverkehr nicht zu erhöhen, oder indem wir uns dafür starkmachen, dass das 49-Euroticket durch eine Besteuerung des 22-Milliardengewinns von VW finanziert wird.




Fahrplanwechsel: 0,1 % Verkehrswende und ein halbes Stuttgart 21

Leo Drais, Infomail 1206, 11. Dezember 2022

Alle Jahre wieder treten zum zweiten Dezembersonntag neue Netzfahrpläne für Busse und Bahnen in Kraft. Wohin geht die Reise? Etwa in Richtung Verkehrswende? Ein Eisenbahner skizziert.

Mehr und teuerere Züge

Natürlich ist hier nicht der Raum, auf jede Regionalbahn, jeden Bus einzugehen (das merkt mensch ja auch selbst bei der täglichen Fahrt). Vielmehr geht es darum, einen allgemeineren Blick zu werfen, konkret: Gibt es mehr oder weniger ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) und SPFV (Schienenpersonenfernverkehr)? Was sollen sie kosten und wo liegen deren Probleme?

Im Fernverkehr werden einzelne Verbindungen verlängert, die Vergrößerung der Flotte wird fortgesetzt. Zwischen Stuttgart und Ulm wird eine Schnellfahrstrecke in Betrieb genommen, dazu unten mehr. Die Preise werden im Schnitt um 5 Prozent erhöht – bei 10 % Inflation kann das eigentlich niemanden überraschen.

Im Nahverkehr, der Sache von Verkehrsverbünden, sprich Ländern und Kommunen einerseits sowie Verkehrsunternehmen andererseits, ändert sich lokal unterschiedlich viel. In Berlin und Brandenburg tauschen beispielsweise ODEG und DB Regio verschiedene Linien. Erfahrungsgemäß können solche Umstellungen glattgehen oder wochenlang knirschen.

Egal, wie gut es laufen wird: Die Vergabe von Strecken an unterschiedliche Eisenbahnverkehrsunternehmen im Wettbewerb ist und bleibt eine Sinnlosigkeit, die einem Gesamtsystem Bahn schadet, und damit auch Reisenden. Es spricht kaum was gegen die Anschaffung neuer Züge (außer, dass es die bisher eingesetzten Fahrzeuge auch oft noch sehr gut tun), mit denen das Ganze oft garniert wird. Wohl aber sprechen viele gesamtgesellschaftliche Argumente gegen Wettbewerb im ÖPNV. Entgegen neoliberaler Fantasien bringt er keinen günstigeren Verkehr. Als Beispiel sei hier Abellio in Baden-Württemberg erwähnt, das mit einem unterfinanzierten Angebot Ausschreibungen gewonnen hatte – und dann insolvent ging. Der Staat sprang ein und half mit Steuergeldern. Ein anderes Beispiel aus den letzten Jahren ist das der S-Bahn Hannover: Weil DB-Regio hier die lukrative Ausschreibung verlor, wurde durch alle Instanzen geklagt – auch wieder auf Kosten von Steuergeldern. Zu guter Letzt bedeuten solche Umstellungen immer auch eine Belastung für Beschäftigte – bis hin zum Jobverlust oder Arbeitsortswechsel.

Überhaupt ist der Nahverkehr in Deutschland ein Zahlungsgerangel sondergleichen.

Die eine Hälfte sollen Fahrscheine einbringen, die andere Subventionen, also auch wieder: Steuergelder! Aus wessen Tasche die vor allem kommen? Immerhin sind Mehrwert- und Lohn-/Einkommensteuer, also Massensteuern, die größten Einnahmequellen. Bei all dem ist der Nahverkehr chronisch unterfinanziert, was auch alle Kolleg:innen in Bus, Tram und Zug in der eigenen Tasche spüren genauso wie die Bewohner:innen von Kleinkleckersdorf, die mit jedem neuen Verkehrsvertrag bangen, ob Zug oder Bus demnächst noch bei ihnen halten.

Jetzt soll das 49-Euro-Ticket als schlechter Ersatz fürs 9-Euro-Ticket kommen – nicht zum Fahrplanwechsel, sondern mit Glück vielleicht im Mai, dafür aber dauerhaft.

Auch hier gab‘s das übliche Finanzierungsgerangel zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Sollten letztere auf Finanzierungslücken sitzen bleiben, wird das Ticket zum Gegenteil aller Absichtsbekundungen führen: Dann werden Linien und Leistungen abbestellt, die Kleinkleckersdörfer:innen fahren Auto oder laufen.

Trotzdem: Zunächst mal ist das 49-Euro-Ticket im Vergleich zum tariflichen Flickenteppich, der seit dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets wieder herrscht, sicher ein Fortschritt, auch wenn es für Geringverdiener:innen viel zu teuer und von einer preislichen Verkehrswende weit weg ist. Einen wirklichen Fortschritt hätte eine Fortführung des 9-Euro-Tickets darstellen können oder noch besser: ein kostenloser Nahverkehr (das hätte übrigens auch viel gespart: Fahrkartenautomaten z. B.).

Wendlingen – Ulm: im Betonrausch

Die größte Änderung im deutschen Schienennetz stellt die Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke zwischen Wendlingen und Ulm dar. Für Reisende verkürzt sich damit die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm um 15 Minuten – vorausgesetzt sie sitzen in einem Zug mit passender Zugsicherung. Weil auf der Strecke das Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System) verbaut ist, kann der TGV Paris – München hier z. B. noch nicht fahren – seine Software passt nicht zu der der Strecke.

Lichthauptsignale hat man hier gespart genauso wie auf den Strecken Leipzig/Halle – Erfurt – Nürnberg vor einigen Jahren bereits. Solange ETCS funktioniert – kein Problem. Wenn es ausfällt, gibt es kein technisches Alternativsystem, es bleiben nur betriebliche Rückfallebenen.

Die Rennstrecke durch die Schwäbische Alb („durch“ im wahrsten Sinne) ist beispielhaft für die Art und Weise, wie Schienennetzausbau in Deutschland läuft. Während er ermöglicht, dass Fernzüge die enge, steile und langsame Geislinger Steige umgehen können, trifft das für Güterzüge nicht zu – die neue Strecke ist noch steiler als die alte. Das hat Tradition und ist zugegeben kein rein deutsches Phänomen. Sowohl die ICE-Neubaustrecken Köln – Frankfurt, Nürnberg – Ingolstadt wie auch Ulm – Wendlingen weisen eine zu große Längsneigung für Güterzüge auf. Zwischen Nürnberg und Leipzig wird es je nach Zuglast ziemlich früh auch eng.

Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, wie gesamtgesellschaftlich und ökologisch sinnvoll der milliardenschwere Schnellfahrstreckenbau überhaupt ist, vor allem, da er der einzige Neubau ist, den die Deutsche Bahn kennt.

Um 74 km wächst das deutsche Schienennetz in diesem Jahr – darunter die 60 km Wendlingen – Ulm. Letztes Jahr wuchs das Schienennetz gerade mal um 4,2 km, zwei kleine Nadelöhre in Frankfurt und Berlin wurden beseitigt. Im selben Jahr wuchs das Straßennetz um 10.000 km (Neu- und Ausbau).

Das Schienennetz ist seit der Bahnreform deutlich geschrumpft. Dem schleppenden Halbausbau des Kernnetzes steht der rapide Rückzug aus der Fläche gegenüber. Während die Güterverkehrsleistung seit 1994 auf der Schiene um 83 Prozent zunahm, schrumpfte das Netz um 15 %. Gleichzeitig wuchsen die Tunnelkilometer – allein seit 2015 um 70 km auf über 500 km im deutschen Netz.

Mitunter sind Tunnel natürlich unvermeidbar, besonders im Bahnbetrieb und hier besonders im Schnellverkehr. Zur Betrachtung gehören aber auch noch zwei andere Größen: Tunnelbau ist beton- und damit CO2-intensiv; und – mit jedem weiteren Kilometer steigt das statistische Risiko von Unfällen und Bränden in deren Röhren, dem Alptraum schlechthin. Bei vergangenen Unfällen war bereits viel Glück im Unglück dabei. Auch die neue Strecke ist tunnelreich.

Wem diese Art des Streckenbaus natürlich besonders viel bringt, ist der Bauindustrie. Im Ländle Baden-Württemberg sitzt mit Herrenknecht einer der Weltmarktführer im Geschäft mit Tunnelvortriebsmaschinen. Er war und ist einer der größten Fans von und Verdiener am tunnelintensiven Stuttgart 21. Das ist zwar offiziell ein eigenständiges Projekt, aber nur damit macht die Führung der neuen Strecke über Wendlingen überhaupt erst richtig Sinn. Eine Beseitigung der Geislinger Steige wäre mit deutlich weniger Tunnelstrecke und sogar für schwere Güterzüge einfacher möglich gewesen.

Blick in die Röhre: S21

Überhaupt, S21. 2025 soll es tatsächlich in Betrieb gehen. Der Bau mag ingenieurtechnisch noch so spektakulär (und pannenhaft) sein, bahnbetrieblich bleibt er problematisch bis schwachsinnig (Kapazitätsverringerung, Bahnsteigeigung, Gleisneigung in den Tunneln, ETCS ohne Lichthauptsignale als Rückfallebene, schwieriger Brandschutz, noch mehr schwer zu evakuierende Tunnel, Kappung der Gäubahn, Entfremdung des Reiseerlebnisses in der Unterwelt, kaum Ausweichmöglichkeiten im Störungsfall, so gut wie keine bahnbetriebliche Flexibilität, … ).

Von dem Projekt haben mittlerweile alle Verantwortlichen gesagt, dass sie es heute nicht mehr bauen würden. Gebaut wird‘s trotzdem! Man kann nicht anders, denn wo kämen wir hin, brächen wir laufende Verträge?

Dabei ist das Projekt weder zwangsläufig noch alternativlos. Bis heute werden von Ausbaugegner:innen sogar solche formuliert, die am Baustand ansetzen. Aber das ist alles längst gesagt im Autoland Deutschland. Geht S21 in Betrieb und wird der jetzige Bahnhof abgerissen, darf sich Stuttgart über den Status einer im Stadtbild eisenbahnfreien Großstadt freuen – insbesondere im Hause Daimler und Porsche wird das so sein.

Kleine und große Baustellen

Das allermeiste bleibt nach dem Fahrplanwechsel, wie es ist: gestört, verbaut und verspätet. Der Bahnbetrieb wie überhaupt der Nahverkehr sind unterfinanziert, und wo Geld ausgegeben wird, wird es im schwäbischen Boden vergraben.

All das ist eine politische Frage, denn das Geld ist da. Es müsste nur der Autoindustrie weggenommen werden, deren Enteignung nach wie vor eine Voraussetzung für eine echte Verkehrswende darstellt. Mit der FDP im Verkehrsministerium ist das natürlich unmöglich.

Bezeichnenderweise stellte VW (Volker Wissing) neulich die Finanzierung des zweigleisigen Ausbaus der Weddeler Schleife zwischen Braunschweig und Wolfsburg inmitten der Arbeiten daran (!) in Frage. Ist halt keine Autobahn …

Die aktuellen Probleme sind in Wirklichkeit dauerhafte, die eher noch größer werden. Bei der Bahn gehen in den nächsten 10 Jahren etwa 70 % der Betriebspersonale in Rente. Das aufzufüllen, wird der Staatskonzern DB mit seiner Vergütung und Personalpolitik nicht schaffen. Warum soll ich zur Bahn in den Schichtdienst, wenn ich bei BMW in der Fabrik das Doppelte kriege?

Gäbe es bei der Bahn nicht so extrem viele Schienennerds und Herzbluteisenbahner:innen, den Karren würde keine:r mehr aus dem Dreck ziehen.

Daneben lahmt der Netzausbau oder wird weiter nur in Projekten gedacht, die jenem unter der Alb ähneln (tunnelintensive Schnellfahrstrecke Hanau – Fulda – Gerstungen (vielleicht entsteht hier der längste Tunnel Deutschlands); Hannover – Bielefeld; Fernbahntunnel Frankfurt … ).

Dazu kommen planungsrechtliche Bremsen. Wenn z. B. das von der Bundesregierung formulierte und unzureichende Ziel einer 75 %igen Elektrifizierung im Schienennetz bis 2030 erfüllt werden soll, bedeutet das, 500 km Strecke jährlich mit Oberleitung zu versehen. Davon sind wir ewig weit entfernt. Das Problem geht hier bereits damit los, dass eine elektrische Aufrüstung rechtlich als Neubau gilt, ergo das komplette, langwierige Planfeststellungsverfahren durchlaufen werden muss. Wäre diese Regierung ernsthaft eine klimafreundliche, würde sie hier sofort ansetzen, das Planungsrecht für Elektrifizierungen entsprechend vereinfachen.

Aber sie ist keine Klimaregierung, wie der Kapitalismus auch kein klimafreundliches System ist.

System Bahn, in der Tat eine Systemfrage

Das Netz ist voll und kollabiert eigentlich täglich irgendwo. Eine Verkehrswende ist mit diesem Schienennetz nicht möglich. Zugleich ist die Vorstellung einer Verkehrswende auf Seiten der Konzernbosse und Regierung auch eine falsche.

Es muss nämlich nicht darum gehen, die heutigen Pendlerströme und Verkehrsmassen einfach auf die Schiene zu packen – zuerst bedeutet Verkehrswende Verkehrsvermeidung. Das aber kann nur eine demokratische Planwirtschaft leisten, eine Reorganisierung von Stadt, Land und Industrie. Alles andere bedeutet, dass ein Netz morgen immer zu klein ist. Das kapitalistische Wachstum lässt grüßen.

Der Verkehr, der dann noch bleibt, sollte die Schiene als Herzstück haben. Den Ausbau müssen Reisende, Pendler:innen und vor allem Beschäftigte demokratisch kontrollieren.

Das ist nicht so utopisch, wie es vielleicht scheint. Vorrangig braucht es nicht unbedingt Rennbahnen, sondern Knoten- und Flächenausbau. Für hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten und Pünktlichkeitswerte in einem europäischen Netz sind entflochtene Knoten letztlich sogar entscheidender. Weniger Tunnel braucht es ebenfalls, auch wenn hier und da eine Schnellfahrstrecke Sinn machen kann, wobei sich die Frage stellt, welche Trassierungsparameter für das Gesamtsystem am sinnvollsten sind (Anbindung von Orten, Nutzung auch für Güterzüge, Vermeidung von aufwendigen Kunstbauten so weit wie möglich … ).

Die Organisierung von öffentlichen Verkehrsträgern steht näher an der Planwirtschaft als viele andere Bereiche, immerhin heißt es – Fahrplan.

Fahrdienstleiter:innen wissen genau, wo Weichen fehlen. Sie könnten Vorschläge erarbeiten, über die demokratisch entschieden wird, wo sie hingehören müssten, und dann das Ganze dem Bahnbau übergeben. Dafür braucht es keine langjährigen Planfeststellungsverfahren.

Genauso wissen Lokführer:innen, welche Umläufe und Fahrzeugbedarfe Sinn machen.

Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Das Ganze muss keine Wunschvorstellung bleiben, aber damit aus Träumen Realität wird. heißt es für alle Beschäftigten im Nah- und Fernverkehr heute, dass sie beginnen müssen, sich selbst in Betriebskomitees zu organisieren und nicht nur diese oder jene Wünsche und Beschwerden auszusprechen. Das nächste Jahr bietet dafür möglicherweise Gelegenheit: Sowohl EVG wie GDL haben ihre Tarifrunde und zeigen sich streikbereit. Die Gewerkschaften tun gut daran, die Verkehrswende mit der Bezahlung der Beschäftigten zu verbinden, damit das Fahrplanjahr 2023 vielleicht zu einem Startpunkt einer Bewegung für die Verkehrswende wird – Beschäftigte und Klimabewegung im Schulterschluss!