Solidarität mit den Protesten gegen Tesla!

Jan Hektik, Infomail 1250, 3. April 2024

Der Wald in Grünheide ist besetzt und wird es wohl vorerst auch bleiben. Durch die Besetzung wollen Aktivist:innen den Ausbau der dort ansässigen Teslafabrik verhindern, um die Umwelt und die dort lebende Bevölkerung vor dem zerstörerischen Einfluss der „Gigafactory“ zu schützen. Die Kritik und Proteste gegen das Projekt kommen aus drei Richtungen. Sie beziehen sich auf den Schutz der Umwelt, der ansässigen Bevölkerung sowie der Arbeiter:Innen in der Fabrik. Zuletzt sabotierten sie hierfür einen Strommast, was zu Produktionsausfällen bei Tesla und einem verschärften Ton gegenüber den Aktivist:innen führte.

An dieser Stelle möchten wir einen Überblick über die Ausgangslage, die Protestformen gegen die Erweiterung der Teslafabrik sowie die Auswirkungen des Protestes geben, um anschließend eigene Schlussfolgerungen für den weiteren Kampf zu ziehen.

Warum ist die Tesla Fabrik so problematisch?

Doch bevor wir auf das Spezifische bei Tesla eingehen, zunächst einmal zum Grundproblem: E-Autos werden als umweltfreundliche Alternative zum Verbrennerauto dargestellt und vermarktet. Ignoriert wird dabei der immense Umweltschaden durch die Lithiumgewinnung, die Ineffizienz von Individualverkehr sowie die Frage der Stromerzeugung (CO2 aus dem Schornstein statt dem Auspuff). Zugleich gerät die eigentlich dringend notwendige Verkehrswende bei der Fokussierung auf die E-Mobilität aus dem Blick (Mehr dazu hier).

Bei Tesla kommt hinzu, dass der Ausbau der Fabrik die Rodung eines Waldes im Landschaftsschutzgebiet notwendig werden lässt. Es handelt sich hierbei um einen Mischwald, dessen Zerstörung erhebliche Auswirkungen auf das Ökosystem und die Umwelt haben könnte. Darüber hinaus befindet sich die Fabrik teilweise in einem Trinkwasserschutzgebiet. Nicht nur führt der enorm hohe Verbrauch der Fabrik schon jetzt zu Trinkwasserknappheit und zu Einschränkungen der Entnahme für die Bevölkerung. Auch die Qualität des Wassers leidet unter der umweltschädigenden Produktion angeblich „grüner“ Teslakarossen, was gesundheitsschädigende Folgen für die ansässige Bevölkerung mit sich bringen kann. Elon Musk hat all diese Probleme mit seinem ihm eigenen Charme bisher einfach abgetan – schließlich will er auch weiterhin Milliardengewinne einfahren. Umwelt- und Sicherheitsstandards stehen diesem Vorhaben nur im Weg.

Darüber hinaus gab es bereits etliche große „Pannen“ und Unfälle im Teslawerk Grünheide und einen besonders dreisten Umgang damit seitens der Firmenleitung, was dazu führte, dass auch Teile der bürgerlichen Presse sowie einige Sozialdemokrat:innen das Projekt kritisch betrachten. Bei einem Unfall im Jahr 2022 wurde Lack verschüttet, welcher vermutlich in die Kanalisation gelaufen ist. Darüber hinaus kam es im Werk auch schon zu mehreren Unfällen aufgrund der unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen. Dabei wurden Arbeiter:innen wiederholt verletzt.

Weiterhin attestiert der Wasserverband Strausberg-Erkner (WSE) seinem Vertragspartner Tesla wiederholte und andauernde Grenzwertüberschreitungen bezüglich der  Schadstoffe im Abwasser der Fabrik. Teilweise würden die Grenzwerte um das Fünffache überschritten. Trotz mehrfacher Abmahnungen sei keine Besserung in Sicht. Kein Wunder also, dass sich bei derartigen Problemen Widerstand gegen den weiteren Ausbau der Fabrik regt.

Widerstand

Protest gegen diese Verhältnisse kommt vor allem von drei Seiten: einer Bürger:innenitiative in Grünheide, der IG Metall sowie von ungefähr 90 Umweltaktivist:Innen, die den Wald besetzt haben, der gerodet werden soll.

Der Schutz des Trinkwassers steht dabei im Fokus der Besetzung und der Bürger:innenitiative der Gemeinde Grünheide, die sich in einer Abstimmung bei 76 % Wahlbeteiligung mit 57 % gegen eine Erweiterung ausgesprochen hat. Der darauffolgende Vorschlag der Gemeinde, angesichts des Ergebnisses gegebenenfalls nur den halben Wald zu roden, ist ein Hohn und ein Schlag ins Gesicht der Bürger:inneninitiative sowie der ansässigen Bevölkerung.

Auch die Situation der Arbeiter:innen bei Tesla ist kritikwürdig. Betriebsunfälle häufen sich und führen zu schweren Verletzungen bei der überwiegend aus dem Ausland (hauptsächlich Polen) stammenden Belegschaft. Gleichzeitig liegt die Bezahlung 15 – 20 Prozent unter dem Branchendurchschnitt und die Verträge beinhalten rechtlich umstrittene Knebelklauseln.

Die Situation bei Tesla entspricht somit einer Bilderbuchkritik des Marxismus am Kapitalismus: Auf Kosten von Natur, Anwohner:Innen und Arbeiter:Innen werden die Profite der Unternehmen mit staatlichen Mitteln geschützt und durchgesetzt.

Das Protestcamp

Um den Ausbau der Fabrik zu verhindern, haben Aktivist:innen ein Protestcamp im Wald nahe der Fabrik errichtet. Nachdem die Besetzer:Innen des Waldes zunächst Auflagen der Polizei erhalten hatten, welche die Erweiterung des Camps untersagte, den Abriss der Baumhäuser vorschrieb und das Camp bis zum 15.03.2024 begrenzte, wandten sich die Besetzer:innen mit einer Klage an das Verwaltungsgericht Potsdam. Offensichtlich haben sie aus den Erfahrungen der Waldbesetzungen im Hambi und Dani gelernt, da unter anderem ein Baugutachten von den Aktivist:innen beauftragt wurde. Das Gericht hat nun die Auflagen für unwirksam erklärt, sodass das Camp zunächst unbefristet bleiben darf. Wie weitere Instanzen ggf. entscheiden werden, bleibt abzuwarten. Wir erinnern uns, dass auch bei der Besetzung des Hambacher Forsts das Verwaltungsgericht Köln zunächst positiv für das Camp entschied und die Entscheidung dann später von höherer Instanz gekippt und die Räumung für rechtmäßig erklärt wurden. Gleichzeitig ist die öffentliche Unterstützung für das Camp, besonders in der Umgebung von Grünheide, sehr hoch. Der Ruf von Tesla ist hingegen sehr schlecht. Gute Bedingungen also, um die Besetzung möglichst lange aufrechtzuerhalten.

Auch von den Forderungen und politischen Aussagen her, die auf den Transparenten im Camp zu lesen sind, scheinen die Besetzer:innen die progressivste Kraft darzustellen. Wir lesen hier Solidaritätsbekundungen mit Palästina, Verbindungen internationaler Kämpfe wie bspw. in Chile gegen die Ausbeutung und Umweltzerstörung im Zusammenhang mit der dortigen Lithiumgewinnung sowie Kritik am Konzept des Individualverkehrs, wie wir sie oben ebenfalls dargelegt haben.

Zudem scheinen die Besetzer:Innen diejenigen zu sein, die sich am stärksten darum bemühen, die Proteste gegen die Gigafactory zu verbinden. Sie beziehen sich positiv auf die Bürger:innenitiative und haben ihre Besetzung kurz nach der Abstimmung gegen die geplante Erweiterung begonnen. Auch versuchen sie, Kontakte und Verbindungen zu den Arbeiter:innen bei Tesla herzustellen, was sich jedoch aufgrund der Knebelverträge und Drohungen von Kündigungen schwierig gestaltet.

Zudem haben sie es bei Tesla mit einem Betriebsrat zu tun, der fest an der Seite der Bosse steht und öffentlich für deren Interessen Stellung bezieht. So erklärte er sich nach den Anschlägen auf die Stromversorgung nicht nur solidarisch mit der Firmenleitung. Die Betriebsratsvorsitzende entblödete sich darüber hinaus auch nicht, die Teslageschäftsführung für ihre Ankündigung zu loben, die Löhne der Beschäftigten während des erzwungenen zweiwöchigen Stillstands weiter zu zahlen – also etwas umzusetzen, wozu Tesla ohnehin gesetzlich verpflichtet ist.

Der Brandanschlag und seine Folgen

Der Brandanschlag auf den Strommast, der zum Produktionsstillstand führte, wurde begangen, um die Teslaproduktion lahmzulegen. Allerdings kam es auch zu Stromausfällen in der umliegenden Wohngegend. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für die bürgerlichen Medien und Politiker:innen, um die Sabotage und Besetzung zu verurteilen und dadurch vom eigentlichen Skandal abzulenken – der umweltzerstörerischen und menschenfeindlichen Produktion ressourcenverschlingender Luxuskarossen gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung.

Anstatt daher die Verurteilung der Aktivist:innen zu fordern, sollten wir uns fragen, wo die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Körperverletzung aufgrund der Vergiftung des Trinkwassers bleiben? Oder die Schadensersatzansprüche gegen Tesla wegen der Trinkwasserknappheit? Oder die Ermittlungen wegen massenweisen Betrugs gegenüber den mit rechtswidrigen Knebelverträgen gebeutelten Arbeiter:innen?

Stattdessen haben sich Medien und Politiker:innen aber auf die Aktivist:innen eingeschossen. Wir aber stellen uns gegen jede Verfolgung und Verurteilung dieser Menschen. Zwar lehnen auch wir die Anschläge ab, da sie nur zur Isolation gegenüber den Massen und zur stärkeren Repression durch den Staat führen. Dennoch erklären wir uns solidarisch mit denjenigen, die in ihrer Verzweiflung angesichts der Lage zu solchen Mitteln der direkten Aktion greifen. Wir erklären uns auch solidarisch mit den Besetzer:innen, die ihrerseits betonen, dass der Anschlag auf den Strommast nicht aus ihren eigenen Reihen erfolgte.

Perspektive

Wir sind solidarisch mit allen Formen des Protestes gegen die Erweiterung des Werkes, ohne dabei vor taktischer Kritik zurückzuschrecken. Weniger klar ist die Sache bei der IG Metall, die bei den Betriebsratswahlen Ende März 2024 stärkste Kraft wurde. Ihre Kritik an Tesla beschränkt sich weitgehend auf die schlechten Arbeitsbedingungen. Trotz des Geredes von der Transformation der Wirtschaft wird von ihr die Sinnhaftigkeit der Produktion von E-Autos nicht grundsätzlich infrage gestellt.  Im Gegenteil: Auf der IG-Metall-Website wird der IG-Metall-Bezirksleiter  mit den Worten zitiert: „Die IG Metall ist die Gewerkschaft aller Beschäftigten in der Autoindustrie in Deutschland. Für uns ist völlig selbstverständlich, dass wir den Aufbau und auch den Ausbau des Werkes in Grünheide befürworten. Wir sind für ein Tesla in Grünheide, das den Beschäftigten die in der Branche üblichen guten Arbeitsbedingungen bietet.“

Es geht aber bei Tesla nicht nur um die Frage von längeren Taktzeiten und angemessenen Bandpausen, sondern darüber hinaus um Fragen von Trinkwassergefährdung, Umweltzerstörung und der Unvereinbarkeit von kapitalistischer Produktionsweise und nachhaltiger Entwicklung. Die Probleme, die Tesla durch die Produktion von Elektroautos verursacht, reichen weit über den Betrieb in Grünheide hinaus – im Gegensatz zu der beschränkten Perspektive der Gewerkschaftsfunktionär:innen, die nicht fähig sind, über den Tellerrand des einzelnen Betriebes hinauszublicken.

Gewerkschaften müssen handeln – im Interesse der gesamten Klasse!

Bei diesen grundlegenden Fragen dürfen sich die Gewerkschaften aber nicht einfach wegducken, in der Hoffnung, dass „die Politik“ schon die richtigen Entscheidungen auf überbetrieblicher Ebene treffen und für eine „grüne Transformation“ sorgen wird. Gerade sie wären in der Lage, hier für Verbesserungen zu kämpfen – und zwar auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, nicht nur im einzelnen Betrieb. Die Bürger:inneninitiative und die Besetzer:innen des Waldes jedenfalls scheinen für einen Schulterschluss mit den Gewerkschaften bereit zu sein. Das Bündnis „Wir fahren zusammen“ von FFF und ver.di ist trotz vieler Probleme ein positives Beispiel für diese Art von Allianz zwischen Gewerkschaften und Umweltbewegung.

Da die Führungen der Gewerkschaften aber nach wie vor eine sozialpartnerschaftliche Politik der Klassenkollaboration verfolgen und einen bornierten, einzelbetrieblichen Blick auf die Probleme an den Tag legen, ist es an uns Mitgliedern, innerhalb der Gewerkschaften dafür zu kämpfen, dass diesen Kräften aus der Umweltbewegung die Hand gereicht, ein Ausbau des Werks verhindert und ein gemeinsamer Kampf für eine Verkehrswende im Interesse der arbeitenden und konsumierenden Massen geführt wird.

Weiterhin muss die IG Metall nicht nur Kritik an den Verträgen und Arbeitsbedingungen üben, sondern auch effektiven Widerstand dagegen organisieren. Wo sind die Kundgebungen gegen die Arbeitsbedingungen, die Streiks gegen die vergleichsweise niedrigen Löhne? Wo bleibt die Klage vor dem Arbeitsgericht zur rechtlichen Überprüfung der Schweigeklauseln? Diese Fragen gilt es zu verbinden mit einer darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Perspektive.

Als GAM sind wir Teil der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), die versucht, über Gewerkschaftsgrenzen hinweg kämpferische Kolleg:innen zu vernetzen und einen gemeinsamen Kampf für demokratische und klassenkämpferische Gewerkschaften zu führen.

Wir fordern:

  • Solidarisierung der Gewerkschaften mit der Besetzung des Waldes und Unterstützung der Bürger:inneninitiative!
  • Schluss mit Knebelverträgen, Zeitarbeit und untertariflicher Bezahlung!
  • Stopp der Teslaerweiterung und erneute Überprüfung der umweltschädigenden Aspekte der bestehenden Produktion unter Einbeziehung von Expert:innen und unter Kontrolle der Gewerkschaften!
  • Produktionsstopp der Teslafabrik bis zur Klärung der obigen Frage bei vollständiger Lohnfortzahlung für die Beschäftigten!
  • Verstaatlichung der Automobilindustrie, Beschäftigungsgarantie, Weiterführung und Umstellung der Produktion in Richtung echter Wende des Massenverkehrs unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Für die Erarbeitung und Durchsetzung eines Umweltnotplanes durch die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!



Bahn: 35 Stunden für die 35-Stunden-Woche!

Martin Suchanek, Infomail 1246, 5. März 2024

Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der Bahn AG nimmt die GDL die Streiks zur Durchsetzung ihrer Tarifforderungen wieder auf. Die Arbeitsniederlegung beginnt am 6. März, 18.00, im Güterverkehr, am 7. März, 2.00 morgens, folgt der Personenverkehr.

Befristet ist der Streik auf 35 Stunden, um damit noch einmal der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für die Beschäftigten im Schichtdienst Nachdruck zu verleihen.

Warum scheiterten die Verhandlungen?

Nach gut einem Monat Geheimverhandlungen samt Friedenspflicht verließ die Gewerkschaft die bis zum 3. März terminierten Unterredungen am 29. Februar vorzeitig. Offizieller Grund: Der DB-Vorstand hätte Interna an die Bild-Zeitung weitergegeben und damit die vereinbarte „Vertraulichkeit“ gebrochen. Was immer man davon halten mag, so lässt diese Begründung tief in die Bürokrat:innenseele der GDL-Spitze um Weselsky blicken. Wie die GDL bei Tarifabschlüssen mit der privaten Konkurrenz selbst immer wieder hervorhebt, stellen für sie Geheimverhandlungen und Sozialpartner:innenschaft nicht das Problem dar, sondern der mangelnde „Respekt“ des Bahnvorstandes für ihre Gewerkschaft. Schon deswegen – aber noch vielmehr wegen ihrer unkritischen Haltung zur AfD, der Gründung einer eigenen GDL-Verleihfirma und ihrer Unterstützung der Bahnprivatisierung – ist ein unkritisches Abfeiern von Weselsky und Co. unangebracht.

Doch immerhin. Die Verhandlungen sind gescheitert, ein fauler Kompromiss konnte bei den Geheimgesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und „natürlich“ auch der GDL-Mitglieder nicht erzielt werden. Und das ist eine gute Nachricht für alle Gewerkschafter:innen und Linken.

Der Bahnvorstand, die bürgerliche Presse und die Bundesregierung schieben die Schuld dafür natürlich einseitig der GDL zu. Diese habe nur stur ihre Maximalforderungen wiederholt, statt diese am Verhandlungstisch aufzuweichen. Selbst das ist Unsinn. Die GDL hatte schon vor Beginn der Verhandlungen einen Kompromiss gegenüber einer sofortigen Umsetzung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ins Spiel gebracht – nämlich die Tarifvereinbarungen bei den Privatbahnen, die eine schrittweise Umsetzung der Forderung vorsehen.

So beinhalten die Abschlüsse bei Netinera Deutschland (u. a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead, dass dort ab 2028 die 35-Stunden-Woche kommt. Bis dahin sollen eine schrittweise Anpassung der Arbeitszeit, eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten, eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro und Zuschläge von +5 % erfolgen. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die Laufzeit der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.

Die GDL wäre sicher bereit gewesen, einen solchen Abschluss mit den dazu gehörigen Kröten auch bei der DB AG hinzunehmen und abzufeiern. Er hätte die Umsetzung der 35-Stunden-Woche deutlich gestreckt, die geforderte Laufzeit hätte sich von einem Jahr auf 2 Jahre verdoppelt und die Entgelterhöhung wäre klar unter den 550 Euro für alle geblieben.

Ebenso wie die Mär von der ultrasturen GDL können wir die psychologisierenden Einschätzungen beiseitelassen, die die Länge bzw. Kürze der Verhandlungen nur der Profilierungssucht des GDL-Vorsitzenden Weselsky zuschreiben.

Wirkliche Ursachen

Ein Licht auf die wirklichen Ursachen des Scheiterns wirft ironischer Weise die Erklärung des Bahnvorstandes. Die GDL, so heißt es, hätte sich seit Beginn der Verhandlungen Anfang Februar über Wochen nicht bewegt und „bis zuletzt dogmatisch auf der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich“ beharrt. Lassen wir einmal beiseite, dass die GDL so dogmatisch gar nicht war, so läuft der ganze Vorwurf darauf hinaus, dass die Gewerkschaft bei den Verhandlungen ihre eigenen Forderungen nicht gänzlich zurückgenommen hat oder jedenfalls nicht in einem für die DB akzeptablen Maß.

Nach Jahrzehnten sozialpartnerschaftlicher Tarifrundenrituale gilt es mittlerweile als normal, dass eine Gewerkschaft ohnedies nicht ernsthaft für ihre aufgestellten Forderungen eintritt. Das steht jetzt ein Stück weit infrage. Und das geht natürlich nicht. Daher rufen Unternehmerverbände und Unionsparteien einmal mehr nach Zwangsschlichtungen bei „kritischer Infrastruktur“. Dort sollten Streiks erst möglichst werden nach einer etwaigen gescheiteren Schlichtung und auch dann nur innerhalb enger Grenzen.

Dass sich die GDL bei der Bahn zu einer härteren Gangart gezwungen sieht, hat nichts mit einer grundsätzlich fehlenden Kompromissbereitschaft oder einem grundlegend anderen Charakter der Gewerkschaft zu tun, sondern damit, dass sie vor dem Hintergrund des reaktionären Tarifeinheitsgesetzes einen Existenzkampf nicht nur gegen das Management, sondern um ihre Anerkennung als Gewerkschaft führt. Daher muss sie sich gegen die größere und bei Lohnverhandlungen moderatere EVG zu profilieren versuchen.

Und das bringt Forderungen nach weiteren Einschränkungen des Streikrechts zutage, eine öffentliche Hetze gegen den Streik, der auf dem Rücken der Fahrgäste ausgetragen würde. Anders als bei früheren Arbeitskämpfen stimmt mittlerweile auch der Fahrgastverband Pro Bahn in diesen Chor ein. Bahn AG und GDL würden die Verkehrwende, die die Regierung ohnedies nur im Schneckentempo voranbringt und die Verkehrsminister Wissing sabotiert, wo er nur kann, kaputtmachen. Die Regierung müsse jetzt intervenieren, fordert Pro Bahn – ein Aufruf, das Streikrecht der GDL zu beschneiden!

Solidarität mit dem Streik!

In Wirklichkeit stellt der Vorwurf, die GDL (oder im Frühjahr 2023 auch die EVG) würde mit Streiks die Verkehrwende kaputtmachen und die Menschen von der Schiene vertreiben, reinen Zynismus dar. Schließlich sind die Gewerkschaften und die Beschäftigten ganz sicher nicht schuld, dass die Bahn seit Jahrzehnten kaputtgespart wird, ein unsinniger und chaotisierender Privatisierungsvorschlag dem nächsten folgt, die Preise stetig erhöht werden, statt den kostenlosen ÖPNV einzuführen oder wenigstens das Deutschlandticket für die nächsten Jahre bei 49 Euro zu fixieren. Selbst dazu sind jene nicht willens oder fähig, die jetzt über ein angeblich drohendes Streikchaos wettern.

Dabei macht die GDL nur, was jede ernstzunehmende Gewerkschaft tun sollte. Sie versucht, ihren Forderungen mit eskalierenden Streiks Nachdruck zu verleihen. Daher kündigt sie für die nächsten Wochen an, die Arbeitsniederlegungen nicht mehr längerfristig vorher bekanntzugeben, so dass die Bahn AG keine Notfahrpläne erstellen kann. Diese sog. Wellenstreiks sind eine durchaus kluge und naheliegende Taktik, um den Druck auf die Gegenseite zu erhöhen. Zugleich signalisiert sie auch, dass die GDL selbst vor einem unbefristeten Vollstreik zurückschreckt, ja, deren Vorsitzender Weselsky hat diesen wiederholt ausgeschlossen.

Die Bahn AG, die Regierung und sämtlich bürgerlichen Kräfte werden versuchen, die GDL durch öffentlichen Druck in die Knie zu zwingen – vor allem, indem sie sich als Vertreter:innen der Fahrgäste aufspielen. Die GDL hat zweifellos recht damit, wenn sie den Bahnvorstand für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich macht, weil dieser zu keinen substantiellen Zugeständnissen bei der 35-Stunden-Woche bereit ist.

Aber es reicht gegen eine offensive öffentliche Medienkampagne sicher nicht, das nur bei einer Pressekonferenz zu erklären. Damit die GDL den weiteren Arbeitskampf erfolgreich bestehen kann, muss sie auch anfangen, diesen anders als bisher zu führen. Es reicht nicht, dass die Mehrzahl der Streikenden einfach zuhause bleibt. Vielmehr wird es für einen längeren Arbeitskampf nötig sein, dass diese aktiv mit Infoständen, Demonstrationen, Flugblättern, auf sozialen Medien für ihren Streik werben und erklären, warum ein Sieg der GDL im Interesse aller Lohnabhängigen liegt. Der Kampf muss auch auf öffentlicher und politischer Ebene geführt werden, nicht nur auf einer rein gewerkschaftlichen.

Das erfordert auch, dass der Streik und erst recht die Verhandlungen nicht mehr als reine Top-Down-Veranstaltungen von Claus Weselsky geführt werden können oder sollen. Das liegt zum einen daran, dass die GDL-Spitze wie schon bei Aufnahme der Geheimverhandlungen Ende Januar durchaus auch faule Kompromisse einzugehen imstande ist und daher von den Beschäftigten kontrolliert werden muss. Es ist auch deutlich, dass ein längerer Streik nur durch die Aktivierung der Mitgliedschaft in Vollversammlungen und gewählten, abwählbaren und rechenschaftspflichtigen Streikkomitees durchhaltbar sein wird, also durch eine massive Verbreiterung der Basis der aktiven Gewerkschafter:innen.

Schließlich erfordert ein solcher Arbeitskampf die aktive Unterstützung durch die gesamte Gewerkschaftsbewegung und die Bildung von Solidaritätskomitees, um Gegenöffentlichkeit zu erzeugen und Solidaritätsaktionen und -streiks durchzuführen.

Und die EVG?

Die Solidarisierung mit der GDL wäre dabei zuerst die Aufgabe ihrer „Konkurrenz“ bei der Bahn AG. Doch was tut die EVG? Sie schweigt sich aus – bestenfalls!

Wer beim Angriff auf andere Gewerkschafter:innen, die für Arbeitszeitverkürzung und höhere Löhne streiken, nichts tut, der unterstützt letztlich die Kapitalseite! Im Tarifkampf „unparteiisch“ zu bleiben, hilft nur der Konzernleitung und sonst niemand.

Es schwächt letztlich sogar die EVG selbst, die bei ihren nächsten Tarifrunden und Arbeitskämpfen dem GDL-Vorstand schon jetzt die Argumente liefert, dann seinerseits die Füße stillzuhalten. Diese wechselseitige Entsolidarisierung stellt letztlich ein Kernproblem der Bahnbeschäftigten dar – und muss durchbrochen werden.

Die durchaus berechtigten und richtigen Kritikpunkte der EVG an der GDL, wie z. B., keine klare Kante gegen die AfD und gegen Rassismus zu zeigen und der von Unionsparteien, FDP und Grünen forcierten Zerschlagung der Bahn keinen Widerstand entgegenzubringen, werden letztlich hohl und verlieren ihre Wirkung, wenn sie nur als Vorwand dienen, der GDL jede Solidarität, jede Unterstützung zu versagen, wenn sie richtig, also im Interesse der Gewerkschaftsmitglieder handelt.

Die EVG-Spitze belässt es dabei keineswegs nur bei reiner Passivität. Sie geht vielmehr offen gegen eigene Gliederungen wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt vor, die sich offen mit dem GDL-Streik solidarisierte. Statt diese Solidarität zu verallgemeinern, drohen den Vorstandsmitgliedern der Betriebsgruppen jetzt Rügen und Funktionsverbote. In Wirklichkeit müssten solche gegen die Spitze der EVG wegen ihres unsolidarischen und gewerkschaftsschädigenden Verhaltens verhängt werden.

Bei der Bahn ist Solidarität eine unerlässliche Grundvoraussetzung für den laufenden Streik und zukünftige Kämpfe. Ein GDL-Erzwingungsstreik braucht die Solidarität aller Beschäftigen, aller Gewerkschafter:innen. In der EVG und unter den Bahnbeschäftigten braucht es Versammlungen von Abteilungen und Betriebsgruppen, um nicht nur die Solidarität mit der GDL zu erklären, sondern auch die Forderung zu erheben, selbst den Kampf um eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich für den gesamten Konzern aufzunehmen, so also den Kampf und die Streikfront direkt auszuweiten – und letztlich auch gemeinsame, gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees zu bilden.




Gegen Ausverkauf des Hamburger Hafens

Bruno Tesch, Infomail 1245, 21. Februar 2024

Die Gewerkschaft Vereinigte Dienstleistungen (ver.di) hat für den 21.2.2024 zu einer Demonstration vor dem Hauptsitz des Hamburger Hafen- und Logistikbetreibers HHLA in der Speicherstadt gegen den Verkauf von großen Anteilen an die weltgrößte Containerreederei MSC (Mediterranean Shipping Company), einen schweizerisch-italienischen Konzern, aufgerufen. MSC will die bisher an der Börse gehandelten HHLA-Aktien aufkaufen und erhält zusätzlich 19,9 % vom Hamburger Senat, was ihre Anteile auf 49,9 % hochhieven würde.

Was steht auf dem Spiel?

Die weitere Privatisierung birgt in erster Linie hohe Risiken für die Beschäftigten. Denn MSC ist bekannt für seine rigorosen Praktiken bei der „Umstrukturierung“ von Personal und Arbeitsverdichtung, die das Unternehmen bei einer solch grenzwertigen Beteiligung, einer fast überbordenden Minorität, geltend machen könnte.

Darüber hinaus wendet sich ver.di auch gegen die Gefährdung von Interessen für die „Stadtgesellschaft“, denn nicht nur die HHLA, auch der Gesamthafen mit anhängenden Betrieben wäre betroffen. Der Hamburger Hafen, lange Zeit Vorzeigeobjekt und Identifikationsmuster für die Weltgeltung der Hansestadt, hat es mit Auslastungsschwankungen zu tun. Fehlende Instandhaltung des technisches Arsenals bedingt, dass immer wieder Teile des Fahrzeug- und Containergeschirrs an den Kränen stillstehen. Die Geschäftsführung drängt auf stärkere Zentralisierung und Automatisierung der Betriebsabläufe und damit Kostendämpfung, um im Containergeschäft wieder attraktiver zu werden. Die Reedereien wiederum können durch Absprachen ihre Marktmacht spüren lassen.

Der Deal wurde bereits im Vorjahr vom Hamburger Senat eingefädelt. Der sieht darin eine strategische Partner:innenschaft, um in einem Umbau des Hafenbetriebs mit mehr Rentabiltät und Effizienz gegen den weltweit steigenden Konkurrenzdruck die Fahrrinne zu verbreitern.  Der gesamte Containerbereich soll umorganisiert werden, um Einsparungen von bis zu 150 Millionen Euro zu erreichen.

Konkret würde das v. a. bedeuten, dass mindestens 400 Arbeitsplätze, laut ver.di-Rechnung sogar 718 Vollzeitstellen, künftig entfallen. Teams in den Terminals werden aufgelöst.

Seit diese Pläne bekanntgeworden sind, haben etliche Kolleg:innen  darauf reagiert und bereits „abgemustert“, weil sie angesichts der  Ungewissheit, ob sie nicht von Umschichtungen mit Lohneinbußen und gesteigerter  Arbeitsintensität oder gar Jobverlust betroffen sein werden, keine Zukunft mehr für sich und ihre Familien sehen.  So menschlich verständlich diese Abwanderungen auch sein mögen, sind sie doch das völlig falsche Signal.

Gegenwehr

Als die Mine vom geplanten Verkauf hochging, löste dies am 6.11.2023 eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. Diese wurde daraufhin kurzerhand von der bürgerlichen Justiz für illegal erklärt und zog Abmahnungen gegen Streikbeteiligte nach sich. Die Unterstützung der Gewerkschaften beschränkte sich auf nachfolgende Protestveranstaltungen. Die Mehrheit der derzeit noch rund 3.600 lohnabhängig Beschäftigten bei der HHLA lehnt den schmutzigen Deal nach wie vor vehement ab. Durch ihren Druck und den hohen Aufmerksamkeitswert für die Hafenthematik sieht sich die Gewerkschaft ver.di nun bemüßigt, unter dem Motto „Wir lassen uns nicht verraMSChen“ eine Demonstration anzusetzen.

Mit großer Teilnahme ist zu rechnen, denn auch die Betriebsräte von Burchardkai und Altenwerder haben nicht nur zur Beteiligung am Protest aufgerufen, sondern schon im Vorwege durch einen täglich erscheinenden Rundbrief unter dem Titel „Kaikante“ die Mitarbeiter:innen auf das Ereignis eingestimmt.

Natürlich ist zu erwarten, dass die Bürokrat:innen aus Gewerkschaft und Betriebsrat der Schlagseite einer nationalistischen bzw. provinziellen Sichtweise zuneigen werden und es bei punktuellen Protesten belassen.  Allerdings sind sie in diesem Zusammenhang aus den „Ewig grüßt das Murmeltier“-Tarifrundenmühlen ausgeschert und haben sich in ein politisches Fahrwasser begeben.

Diese Klippe hoffen sie, durch Appelle an die Regierenden (zumeist ja ihre sozialdemokratischen Parteifreund:innen) und das Hervorkehren ihrer Qualitäten als Verhandlungsprofis zu umschiffen. Wie bereit der Senat zum Einlenken ist, hat er ja bereits im November bewiesen, als seine Vertreterin Gespräche mit den Streikenden abgelehnt hat. Seither ist er keinen Deut von seiner Deallinie mit dem Privatinvestor abgewichen.

In den Mittelpunkt der Forderungen muss nicht nur die Bewahrung von öffentlichem Eigentum, sondern vor allem die Frage, wer kontrolliert es, gerückt werden. Dazu braucht es gewählte und jederzeit abrufbare Organe aus der Arbeiter:innenbewegung und eine Ausweitung von Kampfmaßnahmen, die sich nicht vom bürgerlichen Apparat und seinen Gerichten abschrecken lässt.

Diese Ausweitung muss sowohl räumlich wie auch thematisch angegangen werden. Die Streiks der Hafenarbeiter:innen im Sommer 2022 – auch an anderen Standorten – sind noch nicht vergessen. Hier liegt Potenzial, auf das die Aktivist:innen unter den HHLA-Beschäftigten zur Unterstützung und Verbreiterung der Kampffront zurückgreifen könnten. Ebenso notwendig ist das Andocken an verwandte Bereiche wie das Transport- und Verkehrswesen, das im Augenblick im angrenzenden Niedersachsen sich in Streikbewegung befindet.

Ferner bedarf es eines rationalen Seeverkehrskonzepts, das anstelle der selbst im nationalen Rahmen zunehmenden unsinnigen Konkurrenz mit weitreichenden Folgen für Beschäftigte und Natur (Elbvertiefung) die Güterströme international und rational regelt. Dies kann nur unter Arbeiter:innenkontrolle aller europäischen und Überseehäfen und Hinzuziehen von Expert:innen, die das Vertrauen der Beschäftigten genießen, erfolgen. Dieser Plan richtet sich sowohl gegen privates Kapital in Gestalt der Logistikkonzerne und Reedereien wie staatliches, z. B. des Ausverkäufers Senat.




Erfolgreicher Warnstreik bei der Lufthansa: Streik für die volle Erfüllung der Forderungen!

Mattis Molde, Infomail 1244, 9. Februar 2024

Am Mittwoch, 7.2.24, konnten mehr als 100.000 Passagier:innen an den Flughäfen Frankfurt/Main, München, Hamburg, Berlin und Düsseldorf nicht wie geplant fliegen. Der Warnstreik des Bodenpersonals der Deutschen Lufthansa, zu dem die Gewerkschaft ver.di aufgerufen hatte, zwang die Fluggesellschaft zur Absage von rund 90 Prozent der geplanten Flugverbindungen.

Wie immer denken die Bosse bei Streiks völlig selbstlos. Auch Lufthansa-Personalvorstand Michael Niggemann sorgen nicht die wirtschaftlichen Folgen für den Konzern und seine Bonuszahlung, sondern ganz uneigennützig sprach er gegenüber der FAZ von einem „bitteren Tag für unsere Fluggäste“ . Diese wären ja einfach zu vermeiden, würden er und seine Kolleg:innen die Forderungen der Beschäftigten erfüllen.

Berechtigte Forderungen

Diese sind völlig berechtigt: 12,5 Prozent mehr Gehalt, mindestens aber 500 Euro monatlich bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Ebenfalls wird eine konzerneinheitliche Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3.000 Euro gefordert. Auch die Schichtarbeit soll aufgewertet werden.

Das zuletzt vorgelegte Angebot der Lufthansa sieht acht Nullmonate ohne Vergütungsentwicklung zu Beginn, niedrige Erhöhungsschritte und eine 36-monatige Laufzeit vor. Dieses würde im ersten Jahr beispielsweise eine durchschnittliche Erhöhung von weniger als 2 Prozent bedeuten. Zudem sollen Beschäftigte außerhalb der Lufthansa Technik eine geringere Inflationsausgleichsprämie erhalten.

Die Forderungen für die rund 25.000 vor allem bei der Deutschen Lufthansa, Lufthansa Technik, Lufthansa Cargo, Lufthansa Technik Logistik Services, Lufthansa Engineering and Operational Services Mitarbeiter:innen sind deshalb so berechtigt, weil über die Reallohnverluste hinaus, die alle Beschäftigten durch die Inflation erlitten hatten, die der Lufthansa besonders während der Coronakrise litten. Die Milliarden Staatsknete zur Rettung des Konzerns sicherten alles Mögliche, auch die Spitzengehälter der Vorstandsmitglieder ab, die Arbeitenden aber mussten bluten. Generell liegen viele Löhne an den Flughäfen nahe des Mindestlohnes, weil sie durch Ausgliederungen und Verkäufe von Firmen über Jahrzehnte gedrückt worden waren.

So gibt selbst ver.di-Verhandlungsführer Marvin Reschinsky in einer Presseerklärung vom 5.2.  zu, dass „schon heute die Beschäftigten bei der Lufthansa rund 10 Prozent weniger in der Tasche als noch vor drei Jahren haben. Trotz Rekordgewinnen soll sich diese Situation mit dem Angebot der Arbeitgeber weiter verschlimmern. Darauf und auch auf den Spaltungsversuch geben die Beschäftigten jetzt eine klare Antwort“. So richtig eine kämpferische Antwort bis hin zum Durchsetzungsstreik ist – bei ver.di muss dringend auch diese Bilanz hinterfragt werden. Nicht hinter verschlossenen Vorstandstüren, sondern von den Mitgliedern, denen diese Vorstandsleute Rechenschaft ablegen sollen!

Druck von unten ist besonders auch deshalb nötig, weil ver.di schon wieder die Bereitschaft zum Einknicken signalisiert: „Dieser Streik wäre unnötig, wenn Lufthansa den Bodenbeschäftigten die gleichen Erhöhungen zugestehen würde wie anderen Beschäftigtengruppen im Konzern,“ meint Reschinsky. Welche Tarifabschlüsse er auch immer damit anspricht, die der Pilot:innen, des Kabinenpersonals oder der Verwaltung – so viele Beschäftigte haben in letzter Zeit ganz schlechte Erfahrung mit ver.di gemacht: Ob Öffentlicher Dienst in Stadt, Land oder Bund, Post oder Häfen – die Abschlüsse waren Kilometer von der ursprünglichen Forderung entfernt.

Besondere Wachsamkeit ist auch bei der „Inflationsausgleichsprämie“ angebracht. Diese diente in allen bisherigen Abschlüssen dazu, die tabellenwirksame Erhöhung zu drücken und insgesamt Reallohnverlust zu vereinbaren. Diese steuer- und abgabenfreie „Prämie“ geht nämlich nicht in die Lohntabellen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und Schichtzulagen und auch nicht in die Rente ein. Sie fehlt auch bei Arbeitslosen-, Kranken- oder Elterngeld. Mogelpackung also.

Solidarität!

Alle Beschäftigten, besonders Gewerkschafter:innen, sollten mit diesem Streik solidarisch sein, denn den Kolleg:innen steht zu, was da gefordert wird. Die Aufforderung von Jost Lammers, dem Chef des Flughafens München und Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Luftverkehrswirtschaft BDL und des Airports Council International (ACI) Europe, dem europäischen Dachverband der internationalen Verkehrsflughäfen, „mit Augenmaß die weiteren Tarifrunden zu gestalten“, ist unverschämt angesichts des „Augenmaßes“ der Bosse bei Gewinnen und Vorstandsvergütungen. Seine Aussage „Das Streikrecht ist ein sehr hohes und wichtiges Gut. Es sollte aber das letzte Mittel sein“ ist im Zusammenhang mit Forderungen aus CDU und AfD, das Streikrecht zu beschneiden, als Drohung zu werten.

Der Rekordgewinn der Lufthansa wirft aber noch andere Fragen auf: Diese Gelder sind dringend nötig zum Ausbau von klimafreundlichen Verkehrsarten. Sie dürfen keinesfalls zur Erweiterung des Flugnetzes und der Erhöhung der Flüge genutzt werden und schon gar nicht darf dies mit geringen Gebühren subventioniert werden, wie der Lufthansa-Vorstand bei dieser Gelegenheit fordert.

Das sind die Gelder, die zum Beispiel die Kommunen und die Bahn brauchen, wo gerade ebenfalls Streiks stattfinden. Gerade ver.di sollte sich an die Spitze stellen im Kampf für ein zusammenhängendes Verkehrskonzept, das das Klima schützt, Mobilität für alle erlaubt und mit Lohndrückerei und Arbeitsüberlastung Schluss macht. 




Claus Weselsky – ein Gewerkschaftsbürokrat wie andere auch

Leo Drais / Martin Suchanek, Infomail 1243, 28. Januar 2024

Der Bahn-Streik wird vorzeigt abgebrochen, verkündete GDL-Chef Weselsky zur Überraschung der Öffentlichkeit am 27. Januar. Die Bahn AG sei bei den Verhandlungen zum Verhandeln bereit, frohlockt der große Vorsitzende in der Presserklärung der Gewerkschaft: „Insbesondere die Verhandlungsbereitschaft der DB zur Arbeitszeitabsenkung für Schichtarbeiter ist zentral bedeutsam. Die Bereitschaft, auch über einen Tarifvertrag für die Infrastruktur zu verhandeln, ist nunmehr vorhanden. Im Falle einer Einigung wäre das ein starkes Signal für das gesamte Eisenbahnsystem und ein Schub hin zur Attraktivitätssteigerung der Eisenbahnberufe.“

Ist damit die Umsetzung der Forderungen der GDL gewährleistet? Wohl nicht. Ein mehr oder minder fauler Kompromiss – orientiert an den Abschlüssen bei privaten Verkehrsunternehmen und nicht an den Forderungen, für die die Mitglieder im Streik angetreten sind – zeichnet sich schon jetzt am Ende der Verhandlungen ab. Diese beginnen am 5. Februar beginnen und sollen bis zum 3. März dauern – Verlängerung möglich.

Offenkundig reicht die bloße Erklärung der Verhandlungsbereitschaft zu „allen Themen“ durch die Bahn AG – und der gestern noch als unbelehrbar, selbstherrlich, geldgierig und beratungsresistent denunzierte Bahnvorstand mutiert zum vertrauenswürdigen Sozialpartner nach Weselskys Geschmack.

Der GDL-Löwe erweist sich als zahmes Kätzchen. Für die Dauer der Verhandlungen wurde eine Friedenspflicht vereinbart, ein bisschen vom DB-Vorstand am Bauch gekrault, ein kleiner sozialpartnerschaftlicher Finger zum reinbeißen, und schon miaut der große Claus zufrieden. Die Gewerkschaft verzichtet freiwillig auf jedes gewerkschaftliche Druckmittel.

Vor allem liegt die Vermutung nahe, dass es am Ende mal wieder um die Konkurrenz der EVG geht. Deren Tarifverträge gelten dank des reaktionären Tarifeinheitsgesetzes im Zuckerstück schlechthin des deutschen Eisenbahnuniversums – der DB InfraGO (ehemals Netz) als Infrastrukturbetreiber. Hier einen Fuß in die Tür zu kriegen, allein schon das bloße Versprechen des DB – Vorstandes darüber zu sprechen, hat gereicht, um den Streik vorzeitig zu beenden. Claus Weselsky ist wieder das, was er eigentlich sein will – ein anerkannter Sozialpartner am Verhandlungstisch anstatt ein Kampfpartner der Eisenbahner:innen.  

In kleinen Kreis soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit und „natürlich“ auch der GDL-Mitglieder verhandelt werden. „Alle Inhalte, Zwischenstand, Zwischenergebnisse etc. unterliegen der strengen Vertraulichkeit und werden nicht nach außen getragen,“ heißt es auf der Homepage der GDL.

Über jeden Winkelzug der Verhandlungen, über das Ergebnis, über das Ende des Streiks entscheidet in Gutsherrenmanier der große Vorsitzende der GDL, Herr Weselsky, samt Stab. In strenger Vertraulichkeit mit den Kapitalvertreter:innen fährt der letzte Rest von Gewerkschaftsdemokratie an die Wand. Die Mitglieder werden nach gelungener Mauschelei allenfalls von ihrem „Erfolg“ informiert.

Die GDL-Spitze agiert in dieser Tarifrunde ähnlich der Konkurrenzgewerkschaft EVG, bloß dass diese sich auch noch zur Schlichtung hinreißen ließ. Der Abschluss der GDL wird – allein, um ihn gegenüber der eigenen Mitgliedschaft besser zu verkaufen – voraussichtlich etwas besser als jener der EVG-Konkurrenz werden. Faktisch verzichtet der GDL-Vorstand mit den Geheimverhandlungen auf den Kampf um die volle Durchsetzung der Forderungen und wird sich im Rahmen der meisten anderen Abschlüsse der letzten Jahre bewegen. 

Es reicht ein bisschen besser zu sein als die EVG-Konkurrenz. Die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts bei den Privatbahnen wurde erkauft mit einer Aufgabe des Wahlmodels 12 Tage mehr Urlaub. Und doch ist Claus Weselsky nicht komplett wie andere Gewerkschaftsbürokrat:innen – er spricht und bandelt auch offen mit der AfD, die nicht nur rassistisch, queerfeindlich und sexistisch und daher schon feindlich gegen vielen Eisenbahner:innen gegenüber ist, sondern als Autopartei schlechthin auch absolut eisenbahnfeindlich ist! Aber solange der große Claus mitreden darf, ist ihm das alles egal. Er hat Autodeutschland längst akzeptiert, ein Eisenbahndeutschland will er nicht – sonst würde er die Cargoverkleinerung bekämpfen, sonst wäre er nicht für die weitere Zerschlagung der DB. 

Die Mitglieder der GDL, die in den letzten Tagen ihre Entschlossenheit beim Streik eindrucksvoll bewiesen haben bleibt nur, den sozialpartnerschaftlichen Kuschelkurs Weselskys nicht mitzumachen. Bei Mitgliederversammlungen und in den Ortsgruppen sollten sie den neuen Kurs nicht nur besprechen, sondern ablehnen. Sie sollten einen Entscheid der GDL-Mitgliedschaft über das Abkommen mit der Bahn AG fordern, die Geheimverhandlungen und die Friedenspflicht ablehnen und die Durchführung eines Streiks zur Durchsetzung aller Forderungen verlangen. Sie müssen dafür eintreten, dass die Streikführung und die Verhandlungskommission unter Kontrolle der Mitglieder gestellt werden, dass diese von ihnen gewählt und abwählbar sein müssen. Nur so kann sichergestellt werden, dass ein Arbeitskampf nicht in der üblichen, üblen bürokratischen Manier abgebrochen wird, dass die Streikenden nicht am Katzentisch der Sozialpartner:innenschaft abgespeist werden statt bei voller Entfaltung ihrer Kampfkraft einen wirklichen Durchbruch zu erzielen.




GDL-Streik: Volle Durchsetzung der Forderungen, oder?

Leo Drais, Neue Internationale 280, Februar 2023

Seit dem 10. Januar legten die Mitglieder der GDL bundesweit für drei Tage den Bahnverkehr lahm. Die Streikfront stand fest, fast nichts ging mehr bei der Bahn. Denn die Beschäftigten mussten in den letzten Jahren nicht nur Reallohneinbußen hinnehmen, sondern vor allem die Arbeitsbedingungen sind angesichts von Schichtarbeit, Überstunden Streik und Kampf der Gewerkschafter:innen verdienen die Solidarität und Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse – auch der DGB-Gewerkschaften!

Wie bei jedem Arbeitskampf bei der Bahn, also auch den Warnstreiks der EVG, hat es sich der Konzern auch diesmal nicht nehmen lassen, zu sabotieren, herauszuzögern und die GDL vors Arbeitsgericht zu zerren. Im Unterschied zum verbotenen EVG-Streik im vergangenen Sommer war die Staatsjustiz der GDL erst- wie zweitinstanzlich wohlgesonnener und erlaubte den Streik, was sicher auch an der rechtlich besseren Absicherung der GDL liegt.

Sie hatte – und darin unterscheidet sie sich bei der Bahn positiv von den Tarifrundenritualen der DGB-Gewerkschaften – die Verhandlungen schnell eskalieren lassen und eine Urabstimmung durchgeführt. Nach dem Weihnachtsfrieden wurde gestreikt – nicht unbefristet und nicht, ohne am Montag und Dienstag die An- und Abreise für die rechten Apparatschiks des deutschen Beamtenbundes (die GDL ist hier Mitgliedsgewerkschaft) zur Jahrestagung in Köln sichergestellt zu haben. Man bestreikt sich ja nicht selbst, sprich, den eigenen Apparat. So wichtig die Solidarität mit dem Streik, so wenig sollten wir freilich blauäugig sein gegenüber der Politik der GDL-Führung.

Volle Durchsetzung der Forderungen oder des Netinera-Abschlusses?!

Das Paket „Fünf für Fünf“ (fünf Forderungen für fünf Berufsgruppen), mit dem die GDL ins Rennen ging, belief sich auf 555 Euro mehr in der Tabelle, darunter deutliche Entgelterhöhung für Azubis; Zulagen + 25 %; 35-Stunden-Woche für Schichtarbeitende (inkl. Wahlrecht für Beschäftigte zwischen 40- und 35-Stundenwoche); Inflationsausgleichsprämie 3.000 Euro; 5-Schichten-Woche, 5 % Arbeit„geber“:innenanteil für die betriebliche Altersversorgung; nach 5 Schichten, spätestens nach 120 Stunden, muss der nächste Ruhetag beginnen (Mindestfrei: 48 Stunden); 12 Monate Laufzeit.

Doch wird das jetzt durch einen Erzwingungsstreik durchgesetzt? Nein. Bereits jetzt ist klar, dass die Abschlüsse bei Netinera-Deutschland (u a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead als Vorbilder dienen sollen.

Was steht dort drin? Ab 2028 kommt die 35-Stunden-Woche, bis dahin schrittweise Anpassung der Arbeitszeit; eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten; eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro; Zuschläge +5 %. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.

Und auch wenn das Ganze sicher kein vollendeter Verrat ist, ist es mit Sicherheit auch kein „historischer Abschluss“, wie die GDL titelt. Die Reallohnverluste der vergangenen drei Jahre werden damit nicht ausgeglichen werden. Die Streikbeteiligung bei DB, Transdev und City-Bahn dürfte trotzdem hoch sein, während bei Netinera kein:e Kolleg:in die Möglichkeit hatte, über den „historischen Abschluss“ in einer Urabstimmung zu entscheiden. Die sonst so laute GDL-Spitze rühmt sich hier damit, dass sie auch leise könne. Am Ende ist sie eben eine Sozialpartnerin wie andere Gewerkschaften auch. Netinera warb Lokführer:innen sogar damit, dass Claus Weselsky ODEG fahren würde, wäre er noch Lokführer.

Bis zum 20. Januar hat die GDL weitere ähnliche Tarifverträge mit Abellio Rail und anderen privaten Unternehmen abgeschlossen. Während Weselsky durchaus zu Recht über den Bahnvorstand herzieht, überhäuft er die privaten Bahnunternehmen mit Lob. „Alle Unternehmen haben lösungsorientiert gehandelt und so die Abschlüsse ermöglicht“, heißt es in einer Pressemitteilung vom 19. Januar. Kurzum, wird die GDL als echte Sozialpartnerin anerkannt, braucht es auch keine Streiks. Dann reicht in guter deutscher Manier ein Verhandlungsmarathon.

Nach den Warnstreiks vom Januar hat die Bahn AG ein neues Verhandlungsangebot vorgelegt, auf das bei Drucklegung noch keine Reaktion der GDL vorliegt. Deutlich ist jedoch eines: Der GDL geht es nicht um die Durchsetzung der vollen Forderungen bei der Bahn, sondern darum, dass diese die Abschlüsse der privatisierten Konkurrenz übernimmt.

Linke sollten also keine Illusionen hegen. Auch bei der GDL gibt es weder Streikdemokratie noch jederzeit wähl- und abwählbare Gremien. Gerade deshalb müssten wir fordern: volle Durchsetzung der Forderungen durch einen unbefristeten Erzwingungsstreik. Das wäre im sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftssumpf der BRD in der Tat mal historisch.

Nur Tarif?

Trotzdem muss man natürlich anerkennen, dass die Abschlüsse der GDL besser sind als die der EVG. Wie schon in der Vergangenheit erscheint Letztere als Konkurrentin, der es Mitglieder abzuluchsen gilt. Dass die DB weiterhin das schändliche Tarifeinheitsgesetz anwendet, gießt hier weiter Öl ins Feuer – war das Gesetz nicht zuletzt auch von DGB-/SPD-Spitzen durchgesetzt worden. Auch der EVG-Vorsitzende Burkert hatte dem als Bundestagsabgeordneter zugestimmt.

Dass die GDL als kämpferischer Stern am deutschen Gewerkschaftshimmel prangt, liegt zum einen an ihren in Relation zu anderen Abschlüssen betrachteten vergleichsweise guten Erfolgen. Es ist aber eben eine relative Betrachtungsweise, in der eigentliche Eisenbahnzerstörer:innen und sozialpartnerschaftliche Füße-Stillhalter:innen – nichts anderes ist auch die Spitze der GDL – als Held:innen erscheinen, weil die EVG-Spitze und ihre Vorgänger:innen bei Transnet (Stichwort Norbert Hansen) einfach noch beschissener waren.

Es gehört zu den Paradoxien des deutschen Klassenfriedens, dass CDU-Mitglied Claus Weselsky sich mit einer angehaucht klassenkämpferischen Rhetorik als glaubwürdigster Arbeiter:innenführer stilisieren konnte. Dass die CDU eine wesentliche Zerstörerin der Eisenbahn in Deutschland war, 16 Jahre die Union das Autoministerium führte, sie das Tarifeinheitsgesetz mit verabschiedet hat – all das hat ihn nie sein Parteibuch abgeben lassen.

Und das ist kein Zufall. Im Verständnis des großen Vorsitzenden Claus ist der Markt gar nicht das Problem für die Bahn, solange es Gewerkschaften gibt, die für einen „fairen“ Preis der Ware Arbeitskraft sorgen. Dass die GDL da im vergangenen Sommer mit der „Fair-Train e. G.“ eine eigene Leiharbeitsfirma gegründet hat, ist nur folgerichtig.

Auch wenn es Claus Weselsky bestreitet – die GDL ist auch eine politische Kraft. Sie ist für die weitere Zerschlagung des Eisenbahnsystems, sprich der DB. Die GDL hat kein Problem mit hunderten EVU (Eisenbahnverkehrsunternehmen), solange diese mit ihr Abschlüsse tätigen. Doch genau diese hunderte EVU sind Teil der Eisenbahnkrise in Deutschland – nicht nur die verfluchte DB. Scheiße bleibt Scheiße, auch wenn man sie noch weiter aufteilt.

Zudem verschwimmt hinter Weselskys gewerkschaftlicher Rolle sein leidenschaftlicher Konservatismus. Er beriet das AfD-Absprengsel Bündnis Deutschland und eine Distanzierung von AfD-Mitgliedern in den eigenen Reihen lehnt er ab – das sei nicht Aufgabe der Gewerkschaften.

Natürlich ist die GDL mehr als nur Claus Weselsky. Die Ortsgruppe der S-Bahn-Berlin ist vergleichsweise links und die GDL Mitglieder allgemein spiegeln wahrscheinlich einfach durchschnittliches gewerkschaftliches Bewusstsein wider, was, bedingt durch das Charisma ihres Vorsitzenden und die passablen Abschlüsse, stolz auf seine Mitgliedschaft ist. Mit dem baldigen Ruhestand Weselskys stellt sich hier die Frage, wer in seine großen Fußstapfen folgen soll. Ob es wirklich Mario Reiß wird, bleibt abzuwarten – jüngst kam heraus, dass er es war, der als GDL-Mitglied im Aufsichtsrat des sonst so verfluchten DB-Konzerns 2022 zugestimmt hatte, die Vergütung des DB-Vorstandes zu erhöhen, während die GDL sonst nicht müde wird, die Bonuszahlungen von Lutz, Seiler und Co. anzuprangern. Nicht genug damit – die Mitgliedschaft wurde obendrein belogen und die Zustimmung zu den Vorstandsgehältern den Aufsichtsratsmitgliedern der EVG in die Schuhe geschoben (die ihrerseits auch nicht den Arsch in der Hose hatten, abzulehnen, sondern sich bloß zu enthalten).

Eine Gewerkschaft, eine Eisenbahn

Natürlich verdient die GDL, verdienen die Kolleg:innen unsere Solidarität, erst recht die der EVG-Mitglieder. Eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wäre definitiv ein Zugewinn, erst recht in einem von Wechselschichtarbeit geprägten Berufsleben. Gegen die Angriffe des DB-Konzerns, der nicht nur den Streik mit einer einstweiligen Verfügung stoppen wollte, sondern mit Verweis auf „Fair-Train e. G.“ der GDL auch generell die Tariffähigkeit richterlich absprechen lassen will, gehört jene verteidigt.

Zugleich dürfen wir nicht kritiklos in den „Claus, Claus, Claus“-Chor einstimmen. Politisch ist die GDL die rechtere der beiden Bahngewerkschaften. Strukturell undemokratisch ist sie ähnlich wie die EVG, vielleicht noch eine Spur autoritärer. Wer einfach nur das bessere Angebot für den eigenen Geldbeutel sucht, wird vielleicht zur GDL gehen, vielleicht auch nicht, je nach Tarifeinheitsgesetz und DB-Betrieb.

Wer jedoch wirklich eine funktionierende Bahn mit guten Löhnen und selbstbestimmter Organisation haben will, muss einen Kampf in GDL wie EVG für eine einzige, basisdemokratische Verkehrsgewerkschaft führen. Anstatt sich gegeneinander aufzubringen oder aufbringen zu lassen, sollten sich die Basiseinheiten beider Gewerkschaften mal zusammentun und darüber diskutieren: Was für eine Bahn, was für eine Gewerkschaft brauchen und wollen wir? Viele private EVU auf marodem Netz oder doch eine staatliche europäische Bahn ohne Profitzwang? Mit einer Gewerkschaft, die sich nicht nur auf Tarif konzentriert, sondern beginnt, in der Organisation der Eisenbahn und der Verkehrswende eine entscheidende Rolle in Planung, Bau und Betrieb zu spielen, indem sie für Arbeiter:innenkontrolle über die Bahn kämpft.

Auf dem Weg dahin liegt noch nicht mal der Schotter, geschweige denn ein befahrbares Gleis. Wir müssten es selbst bauen. Und große Vorsitzende werden uns dann im auch im Weg stehen.




Tesla-Streik in Schweden: Organisieren für den Sieg und die Macht über die Gewerkschaften!

Jens-Hugo Nyberg, Infomail 1236, 14. November 2023

Jahrzehntelang haben die Gewerkschaften des Dachverbandes LO (Landsorganisationen i Sverige) gezögert, zu Streiks und anderen Arbeitskampfmaßnahmen aufzurufen. Gelegentlich wurden sie dazu gedrängt, haben dies aber in der Regel nur halbherzig getan und Abschlüssen zugestimmt, die weit schlechter waren, als ihre Mitglieder gehofft hatten. Die mangelnde Bereitschaft der führenden Vertreter:innen der Gewerkschaftsbewegung zu kämpfen, war ein entscheidender Grund dafür, dass wir Schritt für Schritt einen Rückzieher gemacht haben und die Politik immer weiter nach rechts gerückt ist. Dank der Abschaffung spezifischer Steuern für Wohlhabende ist Schweden heute ein sehr gutes Land, um reich zu sein, und wir haben Marktanpassungen auf breiter Front erlebt. Für den Rest von uns wird der Stress immer größer und die Sicherheit immer geringer.

Arbeitsniederlegungen und Solidaritätsaktionen

Am 27. Oktober trat die Metallarbeiter:innengewerkschaft IF Metall mit allen Beschäftigten von Tesla – oder TM Schweden, wie sie hier genannt werden – in den Streik. Dies geschah, nachdem sich das Unternehmen auf Anweisung der Zentrale geweigert hatte, einem Tarifvertrag zuzustimmen. Ab dem 7. November legte die Gewerkschaft Transport vier Häfen mit einer Blockade gegen Tesla lahm, und für die übrigen Häfen wurde dies für den 17. November angekündigt. Am selben Tag veröffentlichte die Gewerkschaft der Beschäftigten bei den Wohnungsunternehmen (Fastighetsanställdas Förbund; Verband der Immobilienangestellten) eine Ankündigung, die Reinigung der Tesla-Werkstätten zu blockieren, und die Gewerkschaft der Elektriker:innen (Elektrikerförbundet) kündigte an, die Stromzufuhr zu den Werkstätten und Ladestationen zu stoppen. Auch die Service- und Kommunikationsgewerkschaft SEKO schaltet sich in den Kampf ein. Ab dem 20. November wird keine Post mehr an Tesla zugestellt. Mit anderen Worten, eine Mobilisierung der LO-Gewerkschaften, wie es sie seit dem Streik und der Blockade gegen den Spielwarenhersteller Toys „R“ Us nicht mehr gegeben hat, wo der Handel nach einem dreimonatigen Streik, der sowohl von den LO- als auch von den TCO-Gewerkschaften (Tjänstemännens Centralorganisation; Zentralorganisation der Angestellten) unterstützt wurde, das Unternehmen zum Einlenken und zur Unterzeichnung eines Tarifvertrags zwang.

Der Grund dafür, dass selbst die Spitzen der Gewerkschaften Kampfbereitschaft zeigen, liegt natürlich darin, dass sich die Bürokrat:innen nun tatsächlich bedroht fühlen. Sie sind bereit, in vielen Situationen einen Rückzieher zu machen. Ihre Positionen und absurd hohen Gehälter haben im Allgemeinen nicht unter den schlechten Lohnabschlüssen der letzten Jahre und dem Verrat an den Hoffnungen ihrer Mitglieder gelitten. Doch jetzt, da Tesla sich weigert, Tarifverträge zu unterzeichnen, sind auch sie an ihre Grenzen gestoßen. Wenn sich diese Weigerung durchsetzt, ist die Position der Gewerkschaftsorganisationen und damit der Gewerkschaftsbürokratie ernsthaft gefährdet. Deshalb sprechen sie jetzt ein Machtwort.

Tesla befindet sich in Schweden angesichts dieser gewerkschaftlichen Machtdemonstration in der Defensive und wird unmittelbar nicht viel ausrichten können. Es wird schwierig sein, den Betrieb in nennenswertem Umfang aufrechtzuerhalten, es sei denn, es gelingt ihnen, einen erheblichen Streikbruch zu erzielen. Das werden sie sicherlich versuchen, aber bisher scheint das wenig Aussicht auf Erfolg zu haben.

Die meisten anderen Unternehmen in Schweden würden angesichts der Tiefe der gewerkschaftlichen Kampagne wahrscheinlich schnell nachgeben oder ihre Pläne einfach aufgeben. Nun ist es aber Tesla, mit dem reichsten Mann der Welt, Elon Musk, im Sattel. Er könnte es sich leisten, noch lange weiterzumachen. Auch die Kosten für die beteiligten LO-Gewerkschaften werden sich in Grenzen halten, und sie werden sich einen langen Konflikt leisten können. Die Streikkassen sind recht gut gefüllt.

Streikrecht

Die Lage könnte sich zwar ändern, wenn die Käuferseite (Händler:innen usw.) einen großen Gegenangriff starten würde mit dem Ziel, die Konsument:innen demagogisch in den Konflikt zu ziehen. Dies scheint jedoch nicht wahrscheinlich zu sein. Es ist jedoch klar, dass die Rechte und die Kapitalist:innenklasse insgesamt über das Geschehen beunruhig und verärgert sind. Ihnen missfällt offensichtlich, dass sich selbst Gewerkschaften mit Tarifverträgen und damit einer Friedenspflicht an Sympathiestreiks beteiligen können. Wenn sie selbst darauf zurückgreifen – was sie eigentlich einmal gerne getan haben –, würde das die Gewerkschaften und andere Lohnabhängige beim nächsten Mal eher dazu ermutigen, dies wieder zu tun.

Daher ist es wahrscheinlich, dass die Unternehmensverbände und die Rechte eine politische Offensive zur Einschränkung des Rechts auf Solidaritätsstreiks starten werden. Diese hat bereits begonnen. Stefan Koskinen, Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Unternehmerverband Almega, hat zum Beispiel schnell erklärt, dass die Tatsache, dass auch Unternehmen mit Tarifverträgen von Solidaritätsstreiks betroffen sein können, eine Bedrohung für das schwedische Modell darstellt. Das ist natürlich reiner Unsinn, aber eine bezeichnende Absichtserklärung der Kapitalist:innen. Eine deutliche Mehrheit der Mitglieder des Parlaments gehört Parteien an, die entweder Anträge gestellt haben oder in ihren Parteiprogrammen festhalten, dass sie das Recht auf Solidaritätsstreiks einschränken wollen. Gleichzeitig ist dies ein Thema, bei dem die Sozialdemokratie vielleicht nicht so leicht nachgeben will. Es ist möglich, dass die Rechte eine große Schlacht in diesem Bereich scheut, aber in jedem Fall ist dies eine Bedrohung, auf die wir vorbereitet sein müssen.

Bei Tesla würde dessen Niederlage den Kampf für Tarifverhandlungen in den USA stärken. Dort haben die United Auto Workers (UAW) kürzlich einen 46-tägigen Streik abgebrochen, nachdem Ford, Stellantis und General Motors einen Rückzieher gemacht hatten. Musk will den Autoarbeiter:innen nicht weiter nachgeben und auch nicht noch mehr Feuer ins Öl gießen, aber gleichzeitig ist es schwierig, hier einen Betrieb zu führen, wenn der gesamte LO ein Machtwort spricht. Vielleicht könnte er eine Lösung in Erwägung ziehen, die derjenigen von Amazon in Schweden ähnelt. Das Geschäft wird an Subunternehmer:innen ausgelagert, für die Tarifverträge gelten. Es wäre sicherlich noch schwieriger für Musk, wie Jeff Bezos von Amazon so zu tun, als ob nicht Tesla, sondern nur ein/e Subunternehmer:in Tarifverträge hätte, wenn dies so eindeutig nach einer Niederlage für die schwedische Gewerkschaftsbewegung geschehen ist. Aber vielleicht ist das eine Möglichkeit.

Organisiert die Basis!

Darüber wollen wir nicht weiter spekulieren. Wichtig ist, dass dies ein Kampf ist, den die Arbeiter:innenbewegung gewinnen muss. Wenn es einem Unternehmen erlaubt wird, Tarifverträge zu verweigern, werden andere folgen. Diesmal scheint die Gewerkschaftsführung dem gleichen Ziel verpflichtet zu sein. Es wäre jedoch unklug, wenn sich die Basis der Gewerkschaften ausschließlich auf die Führung verlassen würde, um den Kampf zum Sieg zu führen. Auch wenn sie diesmal motivierter ist als sonst, wissen wir, wie vielen schlechten Verträgen und faulen Kompromissen sie zugestimmt hat.

Vor allem aber beruht die Führung der überbezahlten Bürokrat:innen über die Gewerkschaften auf der Passivität der Mitglieder. Ein Sieg gegen Tesla allein wird den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung nicht aufhalten, aber er könnte ein Signal setzen. Um die herrschende rechte Politik zurückzuschlagen, brauchen wir kämpferische und offensive Gewerkschaften, wobei politische Streiks eine wichtige Waffe sind. Um dies zu erreichen, müssen wir eine Basisbewegung in den Gewerkschaften organisieren, mit dem Ziel, die überbezahlten kämpferischen Bürokrat:innen durch echte Vertreter:innen der Mitgliederinteressen zu ersetzen – Vertreter:innen, die für einen durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn den Job übernehmen, so lange bleiben, wie sie das Vertrauen der Mitglieder haben und nicht zögern, für ihre Interessen zu kämpfen. Alle radikalen Mitglieder der betroffenen Gewerkschaften, alle, die es satt haben, dass die Verträge schlecht sind, die Arbeiter:innenbewegung ständig zurückgedrängt wird: Jetzt ist die beste Zeit, sich zu organisieren! Übt Druck auf die Gewerkschaftsführung aus, damit sie keinen einzigen Schritt gegen Tesla zurückgeht, und ersetzt sie dann durch eine neue, die entschlossen ist, jede rechte Politik zurückzuschlagen!




Neun Punkte zum Tarifabschluss der EVG mit der DB

Statement der Vernetzung für kämpferische Eisenbahner:innen, 17. September 2023, ursprünglich veröffentlicht auf https://bahnvernetzung.de/, Infomail 1232, 20. September 2023

Dieser Text ist das Produkt einer gemeinsamen Diskussion von Bahnbeschäftigten aus EVG und GDL.

1. Forderungen – nicht erfüllt

Mindestens 650 Euro in die Tabelle (für Nachwuchskräfte die Hälfte), ein Jahr Laufzeit waren gefordert. Heraus kam eine steuerfreie Einmalzahlung von 2850 Euro, genannt Inflationsprämie, im Oktober 2023 sowie eine Erhöhung von 410 Euro (Nachwuchskräfte erhalten jeweils die Hälfte) in zwei Schritten. Laufzeit: 25 Monate – satzungswidrig!

Natürlich wurde das Ganze damit begründet, dass man ja nie das bekommt, was gefordert wird. Mit dieser Einstellung kann hohen und berechtigten Erwartungen, die der Inflation entsprechen, natürlich nicht gerecht werden. Warum führen wir Tarifauseinandersetzungen nicht eskalativ? Ein „Sozialpartner“, der Verhandlungen einfach so verlässt, hat neben Streik keine andere Antwort verdient, außer, dass wir dann eine noch höhere Forderung stellen, wir den Preis nach oben treiben.

Bei allem Negativen, etwas Positives: Immerhin kriegen jetzt in einem Staatsunternehmen (!) alle den Mindestlohn ohne irgendwelche Zuschläge und Schönrechnereinen durch den Konzern. Für die niedrigsten Lohngruppen sprang mitunter ordentlich was raus (teilweise weit über 20 %). Aber selbst das blieb unter den Forderungen und hört sich, angesichts der bisherigen Einkommen besser an als es ist. Bei Lidl wird ja auch nicht mit Prozenten gezahlt, somit kann mehr trotzdem noch zu wenig sein. Die Erhöhungen für die unteren Lohngruppen haben etliche Kolleg:innen dazu bewogen, mit JA zu stimmen. Wir respektieren das, aber wir halten angesichts des insgesamt schlechten Abschlusses daran fest, dass das NEIN die richtige Antwort gewesen wäre.

2. Gespaltene Tabelle, gespaltene Belegschaft

Für manche hält der neue Tarifvertrag zudem eine dritte tabellenwirksame Erhöhung zum März 2025 bereit, für manche eben nicht. Der Blick in die Tabelle lässt zum Teil an Willkür erinnern. In der Lohngruppe 355 (die höchste für Fahrdienstleiter:innen) gibt’s auch bei neun Jahren Betriebszugehörigkeit keine dritte Erhöhung. So halten wir natürlich kein Personal im direkten Bahnbetrieb, und das ist unabdingbar, wenn wir das mit der Verkehrswende und guten Arbeitsbedingungen ernst meinen … für Martin Seiler hingegen darf diese nur möglichst wenig kosten!

Die Funktionsgruppen 2 und 6 bekamen statt einer dritten Erhöhung nur das Versprechen, dass für sie 2025 nachgezogen werden soll. Die Funktionsgruppe 4 (Lokführer:innen) wurde mit der Begründung ausgeklammert, dass auf sie angeglichen worden sei. Ein Blick in die Tabelle offenbart, dass das so nicht hinkommt. Es kommt der Verdacht auf, als wären die Lokführer:innen von der EVG aufgegeben worden, die meisten von ihnen fallen bei der DB unter einen Tarifvertrag der GDL.

Das Ganze war ein natürlich ein rechtlich unveränderbarer Schlichterspruch – schön und gut. Doch warum stimmte der Bundesvorstand dem mehrheitlich zu? Dass es auch anders gegangen wären zeigten die Vertreter:innen der Jugend und die anderen, die hier gegen gehalten haben! Der BuVo hätte das üble Spiel der Bahn AG nicht mitmachen müssen!

So bleibt, dass 52 % den Schlichterspruch annahmen – immerhin eine formal demokratische Mehrheit. Die Wahlbeteiligung war zudem bedenklich niedrig.

48 % lehnten den Schlichterspruch ab – verglichen mit den Urabstimmungen anderer Gewerkschaften in den letzten Jahren eine fette Backpfeife für Tarifkommission und Bundesvorstand. Und zwar eine umso größere als das der BuVo das Informationsmonopol über die „Tarifinformationen“ zur Schlichtung verfügte und die bürgerlichen Medien in diesem Sinne trommelten. Selbst unter diesen Bedingungen stimmte fast die Hälfte gegen den Abschluss.

3. Scheitern, Urabstimmung, Schlichtung, Urabstimmung?!

Überhaupt, dieses Schlichtungsverfahren. Warum wurde sich auf ein Verfahren eingelassen, dass die DB vorschlägt, nachdem sie alles daran gesetzt hatte, die Verhandlungen zu sabotieren und zum Scheitern zu bringen? Allerspätestens hier war das Verständnis an der Basis für die Taktik von BuVo und Tarifkommission weg.

Begründet wurde die Teilnahme an der Schlichtung anstelle einer direkten Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik unter anderem mit dem Argument, den öffentlichen Diskurs auf unsere Seite zu ziehen. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil eingetreten. Das stetige Nachgegeben gegenüber dem Vorstand hat ihm und den Medien geholfen, das Ergebnis in ihrem Sinn zu deuten. Zweitens wäre es in einem Erzwingungsstreik auch möglich gewesen, eine eigene Gegenöffentlichkeit zu schaffen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen – und zwar, indem an Bahnhöfen und mit Unterstützung der anderen DGB-Gewerkschaften oder auch der Klimabewegung die Relevanz hoher Löhne für einen funktionierenden Bahnbetrieb in den Mittelpunkt gestellt wird und klar gemacht wird, dass höhere Löhne nicht durch höhere Fahrpreise erkauft werden sollen, sondern in dem vom Bund mehr Geld in die Bahn kommt und Seilers und Lutzens Gehalt zusammengestrichen wird!

Keine Gewerkschaft darf ihre Kämpfe danach ausrichten, was die Medien von ihnen hält. Eine EVG, die ihren Kampf richtig führt, die wird eben von FAZ bis Bild gehasst!

4. Transparenz vs. Schönreden

Mit dem Urabstimmungs-Schlichtungs-Hin-und-Her landen wir beim Thema Transparenz im Allgemeinen. Kein Vergleich zu 2020, wo in einer Nacht- und Nebelaktion mit dem Konzern ein Kündigungsschutz mit einer Nullrunde erkauft wurde, um später das Erreichte der GDL nachgetragen zu bekommen. Und trotzdem: Die TR23 ging schon durchwachsen los (die Tarifwerkstätten waren längst nicht allen zugänglich; die Online-Befragung enthielt keine Abstimmungsoption zur Laufzeit; und wer sitzt eigentlich für mich in der Tarifkommission?).

Dann gab es zwei Warnstreiks, bei keinem wurde verständlich erklärt, warum eigentlich nur einen halben Tag gestreikt wird, obwohl die Stimmung für einen ganztägigen war. Und dann: Der 50-Stunden-Streik, den es niemals gab. Das Frankfurter Arbeitsgericht kassierte ihn mit einem Vergleich. Diese Niederlage wurde nicht ehrlich eingestanden. An sich wäre das kein Problem gewesen. Es hätte klar gemacht werden müssen, dass Konzern und Staat einen kapitalen Angriff auf das Streikrecht verübt haben und die EVG vor der Wahl stand, sich auf den Vergleich einzulassen oder eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht zu riskieren. Eine kämpferische und demokratische Gewerkschaftsführung hätte die Mitgliedschaft aber darauf vorbereiten und im Voraus ein Mandat für das weitere Vorgehen einholen müssen. Trotzdem hätte hier zügig das Scheitern der Verhandlungen erklärt und eine Urabstimmung eskaliert werden können. Stattdessen wurde der abgesagte Streik zu einem Sieg in der Mindestlohnfrage umgedeutet und zäh weiter verhandelt, und verhandelt, und verhandelt, und es machte sic breit:

5. Das Gefühl, gar nicht richtig gekämpft zu haben

Die Taktik der DB war eindeutig auf Sabotage, gerichtliche Angriffe und Verzögerungen zu setzen. Die EVG-Spitze hat sich dieser Taktik gefügt und weitgehend als Bittstellerin agiert. Lediglich zwei halbe Warnstreiks fanden statt. Die Stimmung vor dem 50-Stunden-Streik war gut und ließ hoffen. Spätestens nach dem Frankfurter Urteil hätte der Fokus auf der Vorbereitung eines unbefristeten Erzwingungsstreiks liegen müssen. Doch der Verhandlungsführer Loroch wurde nicht müde zu sagen: „Lösungen gäbe es nur am Verhandlungstisch.“ Und hier bestimmten Seiler und der Konzern das Tempo.

Zurück bleibt das verbreitete Gefühl, das wir mehr hätten erreichen können – und mit wir ist die einfache Mitgliedschaft in den Betrieben gemeint. Das 48 % mit NEIN gestimmt haben ist nicht einfach nur die Ablehnung des Schlichterspruchs. Es muss auch eine Bereitschaft zu kämpfen darin gesehen werden, die auch trotz eines zähen Vierteljahrs noch da war – oder gerade deswegen.

Schwierig wäre der Kampf sicher geworden, in manchen Betrieben ist der Organisationsgrad nicht hoch, hätte durch einen gut geführten Streik aber auch deutlich gehoben werden können. Aber, schwierig wäre es auch deshalb geworden, weil der BuVo selbst ja gar keinen Bock auf einen Erzwingungsstreik hatte. Er empfahl die Annahme des Schlichtungsergebnisses mit den Worten:

6. „Friss oder stirb!“

Auf eine immer ärmer gewordene Transparenz folgte eine demagogische Note. Wenn abgelehnt wird, dann müsse von vorne angefangen werden, alles auf Null, alles verloren. Mit dieser Perspektive, die suggeriert, dass das alles ist, was drin war, kann natürlich auch nicht mehr erstreikt werden. Dabei hätte eine gewisse Streikschwäche (auch der Streikkasse) dadurch ausgeglichen werden können, die Komplexität des Bahnbetriebs auszunutzen, beispielsweise durch einen Clusterstreik: Heute Ost und Süd und West, Morgen Mitte, Nord und Süd-Ost. Der Fahrplan verträgt so was nicht. Aber das nur als ein Beispiel. Die größte Schlagkraft wird gespürt, wenn überall zu jeder Zeit gestreikt wird, es täglich Streikversammlungen gibt, die selbst entscheiden, wie es weitergeht. Darauf aufbauend braucht es eine zentrale, von Delegierten der Streikversammlungen gewählte Streikleitung, die den gesamten Kampf koordiniert und sicherstellt, dass der Streik überall unterstützt wird. Damit hätte gewonnen werden können.

Weit davon entfernt, so zu kämpfen, wäre bei einem 75% – NEIN durchaus die Gefahr da gewesen, dass die DB ein Exempel an uns statuiert hätte, indem sie den Streik mit allen Mitteln bekämpft hätte. Seiler ist das zuzutrauen. Und der EVG-Vorstand-Mehrheit leider auch, dass sie hier willig eingeknickt wäre. Sie will „Sozialpartner“ sein, eine Niederlage wäre vielleicht nicht nur als unvermeidbar in Kauf genommen worden, sondern als Argument dafür genutzt worden zu sagen: „Besser, ihr hört beim nächsten Mal auf uns, wenn wir eine Empfehlung abgeben!“

7. Ein Riss geht durch die Gewerkschaft – gut so!

Dafür, dass BuVo und geschäftsführender Vorstand alle Kommunikationskanäle (die aber halt nicht so gut sind) in der Hand hat, konnte für ein NEIN (zu dem auch wir aufriefen) gut mobilisiert werden. In der Presse wurde bereits von einer zerrissenen Gewerkschaft gesprochen, Claus Weselsky bezeichnete die EVG mal wieder als „Trümmertruppe“.

Aber sehen wir es mal von dieser Seite: Es ist gelungen, eine Debatte in einer bisher relativ sicher und bürokratisch kontrollierten Gewerkschaft zu führen. Betriebsgruppen(-vorstände) hauten Aufrufe zum NEIN raus. Ohne eine große Unzufriedenheit und einen Druck, der anfängt, sich seine Kanäle zu suchen, wäre das nicht möglich gewesen. Und natürlich ist da der Druck einer anderen Gewerkschaft. Im Vergleich zur IG Metall etwa hat die EVG kein Monopol im Bahnsektor, die GDL spielt mindestens im Hinterkopf bei allen Erwägungen der EVG-Spitze eine Rolle. Was hier Dynamik brachte, ist mittelfristig jedoch nur schädlich. Wir sind davon überzeugt, dass die Spaltung zuerst der DB und zudem den Führungen von GDL und EVG nutzt, sie können auf die anderen zeigen und mit unterschiedlichen Begründungen sagen: „Wir sind nicht so wie die.“

Die Spaltung schadet uns nicht nur in den getrennt geführten Tarifauseinandersetzungen. Sie schadet uns noch viel mehr, wenn es darum geht, eine drohende „Bahnreform 2.0“, die Zerschlagung und weitere Privatisierung zu verhindern. Die GDL-Führung steht hier auf Seiten der Regierung und der privaten Bahnunternehmen, die EVG-Spitze ist zwar dagegen, einen Kampfplan zur Mobilisierung und zum Vollstreik gegen diesen Generalangriff hat sie aber auch nicht.

Der Riss der jetzt durch den EVG-Apparat bis runter zur Basis geht, ist nicht deckungsgleich mit dem JA / NEIN – Verhältnis. Es gibt auch die, die mit JA gestimmt haben und die Art und Weise, wie diese Tarifrunde lief, trotzdem bescheiden bis beschissen fanden. Es ist ein Riss in dem die Frage klafft: Wie und wofür wollen wir eigentlich kämpfen. Zentral damit verbunden ist die Frage:

8. Sozialpartnerin oder Kampforganisation?

Was soll die EVG sein? Kristian Loroch betont, es brauche Zeit die brüchig gewordene Sozialpartnerschaft mit der DB (von der im Übrigen auch die GDL spricht) wieder zu kitten. Aber wofür? Für Seiler und Lutz bedeutet Sozialpartnerschaft einen nützlichen Trottel (die Vorstände der Gewerkschaften) zu haben, der den Beschäftigten Kröten verkauft. Die Zeit der Sozialpartnerschaft ist vorbei, und der Konzern weiß das. Die Inflation, die kaputte Infrastruktur, die roten Zahlen, das eigene Vorstandsgehalt, die viel zu geringe Kohle von Volker Wissing – das alles lässt kaum Spielraum.

Er wird nur durch gut geführte Kämpfe vergrößert. Anstatt irgendein Vertrauen mit Martin Seiler wieder herzustellen, für das der sich innerlich kaputt lacht. Vielmehr sollten wir uns auf uns selbst konzentrieren; bilanzieren, diskutieren und aufstellen für das, was da alles kommt: die Tarifrunde unserer Kolleg:innen bei der GDL, eine Umstrukturierung bis möglicher Zerschlagung des Konzerns, die Tarifrunde 2025…Scheiß auf Sozialpartnerschaft, werde Kampforganisation, EVG!

9. Austreten, wechseln, oder was?

Die Stimmung in der EVG reicht von ganz zufrieden mit dem Ergebnis bis hin zu Resignation und Austritt.

Unterdessen leckt der Vorstand auf seine Weise Wunden. Die Hans-Böckler-Stiftung soll eine Studie machen und rausfinden, was (aus Sicht des Hauptamtes?) falsch lief. Bestimmt wird man zu dem Schluss kommen, dass die Verhandlung mit 50 Unternehmen gleichzeitig einfach zu viel war und dass die Kommunikation nicht rund lief, viele Kolleg:innen nicht nachvollziehen konnten, was gerade Phase war.

Und darüber hinaus?

Wir denken statt einer Studie braucht es jetzt die Debatte in der Mitgliedschaft der EVG über eine Neuausrichtung der EVG: Direkt gewählte Gremien, die jederzeitig wähl- und abwählbar sowie rechenschaftspflichtig sein müssen und wo Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr verdienen dürfen als einen durchschnittlichen Facharbeiter:innenlohn, von der Basis direkt geführte und kontrollierte Kämpfe, einen breiten und demokratischen Prozess für die Forderungen für 2025 und einen vorgezogenen Gewerkschaftstag, um Strukturen und Satzung zu ändern – es reicht jedoch nicht, nur den Vorstand auszutauschen! Die Wahl der Delegierten zum Gewerkschaftstag muss nach offener Diskussion in den Betriebsgruppen und unter den Kolleg:innen erfolgen. Wir müssen die Gewerkschaft von Grund auf ändern. Statt formal demokratischer, in Wirklichkeit aber von der Bürokratie dominierter Strukturen, brauchen wir eine Gewerkschaft, in der die Mitglieder das Sagen haben.

Wir brauchen einen Kampfplan gegen eine Bahnreform 2.0 genauso wie ein „Weiter-So!“ mit dem DB Konzern – wir sind für eine einzige staatliche Bahn!

Rechenschaftspflicht, Wähl- und Abwählbarkeit durch die Mitglieder muss alle Gremien einer kämpferischen Gewerkschaft auszeichnen. Tarifkommissionen und Streikleitung müssen gewählt und abwählbar sein.

Am Wichtigsten ist uns jedoch ganz unmittelbar einen gemeinsamen Kampf aller Eisenbahner:innen zu haben. Wenn ab November die Tarifrunde der GDL bei der Bahn startet, dann ist das richtige Signal in Richtung der Kolleg:innen der GDL, dass sich die EVG hier solidarisch zeigt. Und wenn es so war, dass GDL-Kolleg:innen bei der EVG hätten mitstreiken dürfen – dann gilt dass doch umgekehrt genauso, oder, EVG-Apparat?

Die Spaltung zwischen unseren Gewerkschaften, das gegeneinander Schießen – wir sind es Leid! Wer ist den eigentlich der Gegner? Die andere Gewerkschaft oder der Konzern? Wir sind davon überzeugt, dass ein gemeinsamer Kampf mit gemeinsamen, direkt von der Basis entwickelten Forderungen uns mehr, viel mehr bringt als dieses ganze „Wer ist die geilere Gewerkschaft?“ Strukturell sind beide ähnlich undemokratisch und eng mit dem Konzern. Beide müssen neu ausgerichtet werden. Ohne Druck aus der Basis wird es weder eine Zusammenarbeit beider Gewerkschaften geben, noch eine Vereinigung aller Eisenbahner:innen (und Verkehrsbeschäftigten) in einer Gewerkschaft, in der wir selbst die Hebel in der Hand haben.

Einfach nur austreten oder abseits stehen und kritisieren wird nichts ändern, es ist ein Abwarten darauf, dass die Gewerkschaften irgendwann besser werden und ein Vermeiden von anstrengender Arbeit…

Wenn ihr diese Ansätze gut findet und unsere Bilanz teilt, dann tretet mit uns in Kontakt, teilt sie, bringt sie in Eure Betriebe ein und kommt zum Bahnvernetzungstag am 21. / 22. Oktober in Berlin. Kontakt unter: info@bahnvernetzung.de




Bitte wenden! Ein antikapitalistisches Mobilitätsprogramm

Leo Drais, Neue Internationale 276, September 2023

So breit der Konsens über die Notwendigkeit einer Verkehrswende auch ist, so unterschiedlich ist die Vorstellung, was darunter verstanden wird. Selbst in der Politik der CDU finden sich floskelhafte Versprechen etwa über die Verlagerung auf die Schiene – wobei es dann auch bleibt. Von einer echten Verkehrswende kann in Deutschland nicht die Rede sein. In anderen Ländern sieht es nur geringfügig besser aus, international existiert die Verkehrswende sowieso nicht.

Jetzt ist das Wort schon einige Male gefallen. Was verstehen wir also unter einer wirklichen Verkehrswende?  Sie besteht vereinfacht gesagt im fortschrittlichen Auflösen der akuten Mobilitätskrise:

  • Klimakrise: 15 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen werden in diesem Sektor emittiert (in der BRD 21 %). Mehr als die Hälfte des Erdöls wird in Flugzeugen (6 %), Schiffen (4 %) und auf den Straßen (40 %) verbrannt. Die Werte sind kritisch zu betrachten, da die Art der Stromerzeugung für den Schienenverkehr in den verwendeten Quellen vermutlich unberücksichtigt blieb.

  • Verkehr als Teil weiterer Umweltprobleme: Luftverschmutzung, Oberflächenversiegelung, Lärmemissionen, Abfälle von Fahrzeugen und Fahrwegen (z. B. Reifenabrieb als Mikroplastik in den Meeren).

  • Verkehr als Teil der Energie- und Ressourcenfrage – die Geschwindigkeit einer Verkehrswende wird zentral von der Energiewende abhängen.

  • Todeszahlen: 2018 starben weltweit 1.350.000 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr. Davon ist der überwiegende Teil in armen Ländern und unter Armen zu beklagen. Für Menschen von 5 – 29 Jahren ist dies die wahrscheinlichste Todesursache. Abgesehen davon existiert die Gefahr von Erkrankungen durch Lärm, Stress, Abgase.

  • Stadt-Land-Frage: Platznot durch städtischen (Individual-)Verkehr auf engstem Raum steht ländlichem Infrastrukturmangel gegenüber. Beides bedeutet auf unterschiedliche Weise einen Verlust von Lebensqualität und sowieso knapper Zeit.

  • Mobilität und Logistik als gesellschaftlich irrationale Konzeption: Warenketten um die ganze Welt, Wettbewerb als Verursacher von überflüssigem Verkehr (Leerfahrten usw.), abgestellte und Raum beanspruchende Massen an Privat-Pkws, transportintensive Just-in-time-Produktion.

  • Krise und Kampf um die Neuaufteilung der Welt: (militärischer) Kampf um Absatzmärkte sowie Ressourcen (Lithium, Öl, Erdgas), Verkehrswegebau den Erfordernissen der imperialistischen Welt entsprechend. Die einsetzende Deglobalisierung wird mittelfristig die Konkurrenz im Güterverkehrssektor zuspitzen.

  • Zurückdrängung des öffentlichen, Bevorzugung des ineffizienten motorisierten Individualverkehrs.

  • Klassen- und Unterdrückungsfrage: Die Möglichkeit, von A nach B zu kommen, im Generellen sowie grenzüberschreitender Verkehr im Speziellen hängen ab von der gesellschaftlichen Stellung und dem Pass. Freien Reisen für die Reichsten in alle Länder der Welt stehen fehlende sichere und legale Fluchtwege für Millionen Menschen gegenüber. Oder noch anschaulicher: Weitgehend ungehinderten Warenverkehren auf einem Weltmarkt stehen unfreie Menschen gegenüber.

  • Abschließend: Klassenkampf unmittelbar im Sektor selbst – Ausbeutung der Verkehrsarbeiter:innen, Kampf um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzerhalt usw.

Ausgehend davon und im Unterschied zu weiten Teilen der bürgerlichen Politik ist die Verkehrswende für uns daher keine vorrangig technologische, sondern zuerst eine gesellschaftliche Frage. Zwar erkennt die bürgerliche Gesellschaft die Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen, aber sie ist unfähig, sie zu verwirklichen. Ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit ist eine, die sich stets ihren eigenen ökonomischen Erfordernissen unterwerfen muss. Was „nachhaltig“ ist und was nicht, was eine Mobilitätswende ist und was nicht, richtet sich für das Kapital an den eigenen Klasseninteressen aus – für die deutsche Autoindustrie bedeutet die Verkehrswende einfach eine Antriebswende.

Demgegenüber ist sie für uns ein integraler Teil antikapitalistischer, sozialistischer Politik, die die Frage der Nachhaltigkeit zuerst aus dem Blickwinkel des langfristigen Erhalts der Lebensgrundlagen der Menschheit betrachtet und nicht aus dem einer kapitalistischen Verwertungslogik.

Eckpunkte eines Programms

  • Herstellen einer Produktions- und damit Verkehrsweise mit ausgeglichenem Mensch-Natur-Verhältnis. Während den Produzent:innen im Kapitalismus ab dem Verkauf der Ware naturgemäß egal ist, was mit ihr passiert – ergo auch bei oder nach ihrem Verbrauch – bedeutet eine ökologische Kreislaufwirtschaft eine möglichst große Langlebigkeit von z. B. Fahrzeugen, ohne die Natur in einem nicht nachhaltigen Maß auszubeuten oder sie als Senke zu vernutzen.

  • Bezogen auf das Verkehrsaufkommen muss der Leitsatz dabei lauten: „So wenig wie möglich, so viel wie nötig.“ Schon hierbei springt ins Auge, dass der Kapitalismus dazu nicht in der Lage ist, weil sein Kreislauf Geld – Produktion – Produkt – Ware – Geld + Gewinn – mehr Produktion, mehr Produkte, mehr Waren … zur Ausdehnung (des Verkehrsaufkommens) drängt und dessen Logistik insgesamt ineffizient organisiert ist. Anders ausgedrückt: Was bringt es, den Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern, wenn trotzdem immer mehr Verkehr produziert wird?

  • Eine wirklich nachhaltige Wirtschaftsweise kann weltweit daher nur als Planwirtschaft verwirklicht werden, die schon bei der Produktion von Fahrzeugen und Transportwegen einbezieht, was am Ende ihrer Lebenszeit passiert. Während für die Kapitalist:innen dieser Gedanke in der Konkurrenz tödlich ist, ist es bei einer Planwirtschaft umgekehrt: Nicht auf den Ressourcenkreislauf zu achten, wäre ihr Untergang (auf lange Sicht ist das allerdings auch für den Kapitalismus der Fall). Andere populäre Konzepte – Postwachstum (Degrowth), Gemeinwohlökonomie etc. – sind schließlich zum Scheitern verurteilt. Sie kennen weder den Weg zu ihrer Verwirklichung noch brechen sie offen mit dem Kapitalismus, von dem auch keine korrekte Analyse geleistet wird.

  • Eine Planwirtschaft im Interesse der gesamten Menschheit hat wiederum die Aufhebung der kapitalistischen Klassengesellschaft (in der die Profitinteressen des Kapitals über den Bedürfnissen der Gesamtheit der Menschen stehen) zur Voraussetzung. Notwendig hierfür ist der Sturz des bürgerlichen Staates und die Errichtung einer demokratischen Rätemacht der Arbeiter:innenklasse über die Gesellschaft, die die Mobilität durch eine Enteignung der Transportindustrie und Entwicklung und Kontrolle der Produktion einem demokratischen Plan unterstellen kann.

  • Das aber erfordert, die Arbeiter:innenklasse nicht nur als zentrale Kraft der Mobilitätswende zu begreifen, sondern sie auch zum bewussten Subjekt dieser zu „erziehen“, was in der Notwenigkeit mündet, revolutionäre Arbeiter:nnenparteien und eine neue Internationale aufzubauen, die die Verkehrsfrage als Teil ihres Programms begreifen.

Verkehrsträger

Diese Eckpunkte sollen ein integrales Mobilitätsübergangsprogramm abstecken, einen Wegweiser, der von tagesaktuellen Forderungen aus auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und damit des Verkehrs zeigt. Dabei müssen wir von dem ausgehen, was heute vorhanden ist. Schauen wir also auf das Potential der heutigen Verkehrsträger in einer Mobilitätswende.

Personenverkehr

  • Eigene Körperkraft (Gehen und Radfahren): die ökologischste Art der Fortbewegung und die mit Abstand meist genutzte, oft sogar schnellste auf der Kurzstrecke.

  • Motorisierter Individualverkehr (v. a. Auto, Moped, Roller, Motorrad): die ineffektivste Art der Fortbewegung, gemessen an der Auslastung der Fahrzeuge (nicht zu verwechseln mit Auslastung der Parkplätze und Straßen!) und möglichen Personenkilometern (ein voll besetztes Standardauto legt in einem Kilometer fünf Personenkilometer zurück, ein voll besetzter ICE 4 bis zu 918 Personenkilometer). Zudem meistens fossil angetrieben. Das E-Auto ist demgegenüber aus gleich mehreren Gründen keine generell grüne Alternative. Seine Herstellung erfordert bisher einen Wasser verschlingenden Lithiumabbau (1 t Lithium erfordert 1.900.000 l). Seine Herstellung emittiert die doppelte Menge an Treibhausgasen gegenüber Autos mit Verbrennungsmotoren und macht diesen Rückstand gegenüber ihren bauartgleichen Geschwistern erst nach 8 Jahren wett. Der flächendeckende E-Auto-Rollout verzögert die Energiewende. Weiterhin weisen E-Auto wie Verbrenner den gleichen ineffizienten Nachteil auf, ihr/en Treibstoff/Depot als zusätzliches Gewicht mit sich führen zu müssen. Weitere aktuelle Probleme des E-Autos: Entsorgung und Selbstentzündlichkeit der Akkus, brennende E-Autos sind kaum zu löschen.

Für die Anbindung kleiner Orte an den nächsten öffentlichen Anschluss oder für Kleintransporter bleibt ein Rest an motorisiertem Individualverkehr als Sharingkonzept bzw. durch öffentliche Ruftaxis in einer Verkehrswende wahrscheinlich sinnvoll.

  • Landgebundener öffentlicher Verkehr (v. a. Bus, Tram, U-Bahn, Bahn): Verkehrsmittel mit dem Potential, den Kern eines nachhaltigen Verkehrs darzustellen, sowohl im Nah- als auch Fernverkehr. Busse (ggf. mit Oberleitung) machen dort Sinn, wo aus Schienenwegen zu wenig Nutzen entspringt oder diese aufgrund der Topographie unmöglich sind. Tramkonzepte können schon ab einigen tausend Menschen im Einzugsgebiet sinnvoll sein. U-Bahn-Konzepte, die ihrerseits vor allem aufgrund der „autofreundlichen Stadt“ einen Hype erfuhren, machen über ihren Erhalt hinaus keinen Sinn wegen Bauaufwands, Evakuierungsschwierigkeiten und der zusätzlichen Wege nach unten und oben. Zudem ist der betonintensive Tunnelbau ebenfalls ein Klimakiller.

Im Regional- und vor allem Fernbahnverkehr ist das Potential des Rad-Schiene-Systems noch lange nicht ausgeschöpft: Elektrifizierung, integrale Taktfahrpläne, internationaler komfortabler Nachtzugverkehr, Knoten- und Streckenentflechtung usw. können potentiell zu Land auch innerhalb von Kontinenten Flugzeug- und Fernautoverkehr ersetzen. Der Hochgeschwindigkeitsbetrieb ist zumindest zu prüfen, da über einer Geschwindigkeit um die 250 km/h Luftwiderstand und daher Energieverbrauch extrem steigen; außerdem hoher baulicher und betonintensiver Aufwand dieser Rennbahnen. Zumindest theoretisch kann jedoch auch ein Zug mit 350 km/h vollkommen ökologisch fahren, immer aber bleibt das eine Frage der Energieerzeugung. Das Konzept eines elektrisch getriebenen Fahrzeugs kann freilich nur wirklich umweltschonend sein, wenn die elektrische Energie auf entsprechende erneuerbare Art gewonnen wird.

  • Luft- und Schifffahrt: im Personenverkehr zur Überquerung der Meere mehr oder weniger alternativlos, beide sehr energieaufwändig und bisher fast komplett fossil betrieben. Fähren machen vielerorts ökologisch möglicherweise mehr Sinn als lange Tunnel und Brücken zur Meeresunter/-überquerung.

Güterverkehr

  • Straße: Im Fernverkehr extrem ineffektiv, nur auf die „letzte Meile“ und in der Kurzstrecke ohne großes Aufkommen mit alternativen Antrieben sinnvoll oder für die minimal notwendige Erschließung von abgelegenen Zielen.

  • Schienengüterverkehr: Landgebundenes Transportmittel mit dem größten Potential, den Kern künftiger Transportketten zu bilden, sowohl lokal wie auch global. Im Vergleich zum Lkw bei gleicher Last deutlich weniger Rollwiderstand zwischen Fahrzeug und Fahrweg bei leicht möglicher externer Energieversorgung (Oberleitung).

  • Luftfahrt: Nur für absolut dringende und notwendige Güter vernünftig, extrem energieaufwändig.

  • Schifffahrt: Sehr energieintensiv. Möglich sind statt Schweröl auch Gasantriebe (auch aus erneuerbaren Quellen, z. B. power-to-gas). Im interkontinentalen Verkehr nach wie vor notwendig, aber mit Änderung der Produktionsweise enorm reduzierbar im Aufkommen.

Soweit zu den technischen Voraussetzungen. In den vergangenen Jahrzehnten haben immer wieder auch neue technische Entwicklungen Furore gemacht, sei es das autonome Fahren oder beispielsweise die Magnetschwebebahn in den Varianten deutscher Transrapid oder als Elon-Musk-Vakuumröhre Hyperloop. Diese sind bisher nie wirklich über das Erprobungsstadium hinausgekommen und bei allen stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage der Sinnhaftigkeit. Vielmehr scheinen sie die Entfremdung zwischen Mensch und Natur auf ein technisch neues Niveau zu heben.

Und natürlich wäre es falsch, sich gegen die Erforschung neuer Verkehrskonzepte zu stellen. Entscheidend muss aber immer die Frage des Gesamtnutzens und -aufwands für die Menschheit als Ganze sein, was schon in sich trägt, dass es eine demokratische Kontrolle und keine der Konzerne und Milliardär:innen braucht.

Die wichtigste Voraussetzung, die der Kapitalismus für eine Verkehrswende geschaffen hat, sind schließlich die Abermillionen Arbeiter:innen einschließlich der Wissenschaftler:innen und Ingenieur:innen, die weltweit in dem Bereich arbeiten. Sie vereinen auf sich eine riesige Expertise darüber, wie ein schnellstmöglicher Umbau von Logistik und Transport überhaupt geschehen kann. Sie können das treibende Subjekt des Umbruchs darstellen.

Übergangsprogramm

Betten wir schließlich die Verkehrswende in die aktuelle Lage einerseits und in eine sozialistische Perspektive andererseits ein. Gleich vorweg: Eine fortschrittliche Verkehrspolitik wird dabei, um der akuten ökologischen Notlage gerecht zu werden, nicht ohne repressive Einschränkungen gegenüber besonders umweltschädlichen Verkehrsweisen auskommen, die manche als eine Gängelung der (bürgerlichen, auf den Besitz und den rechten Fuß beschränkten) Freiheit empfinden werden. Auf der anderen Seite werden sich aber ganz andere, für die Mehrheit der Menschheit ungleich größere Freiheiten ergeben.

  • Für ein ökologisches Notsofortprogramm! Massive Einschränkung des Flugbetriebs, Verbot von Inlandflügen und Flügen unter 2.000 km! Aufbau kontinentaler Fernzug- und Nachtzugnetze! Für den schnellstmöglichen, umfänglichen Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel und baulich getrennter Radwege in der Stadt und auf dem Land! Gleitende Anpassung der Fahrpreise hin zu einem kostenlosen Nah- und Berufsverkehr!Für eine Preisgestaltung, die Bahnreisen gegenüber dem Autoverkehr entscheidend günstiger macht! Einschränkungen und Verbote für bestimmte Fahrzeugklassen (Verbrauchsobergrenzen)! Schnellstmögliche Abkehr vom innerstädtischen Autoverkehr! Weitreichender Stopp der Automobilproduktion und sofortiger Umbau der Fabriken für andere Produkte, einem gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan entsprechend! Verbot des Motorsports als Aushängeschild fossiler und rücksichtsloser Raserei!

  • Für eine Umweltbewegung, die sich zu einer konkret-revolutionären weiterentwickelt und die Arbeiter:innenklasse in den Mittelpunkt einer Mobilitätswende stellt!#wirfahrenzusammen kann dafür nur der Anfang sein.

  • Für die demokratische Gestaltung und Kontrolle eines solchen Notfallplanes und des Verkehrswegebaus im Kleinen und Großen durch Komitees der Beschäftigten im Transportbereich sowie Anwohner:innen, Pendler:innen und Reisende! Für die Finanzierung eines solchen Notprogramms durch eine massive Besteuerung von VW, Shell, Lufthansa und alle die, die jahrzehntelang mit fossiler Mobilität riesige Gewinne getätigt haben!

  • Für die innige Verknüpfung der Energie- mit der Verkehrswende unter Arbeiter:innenkontrolle! Erforschung und Entwicklung von power-to-gas als möglicher Energiequelle alternativer Antriebe wie Speichermedium für Überschussstrom!

  • So oder so steht die Arbeiter:innenklasse nicht zuletzt in den Autokathedralen vor großen Umbrüchen. Aber statt sie als passiven Spielball von Politik und Konzernen zu betrachten, schlagen wir vor: Keine einzige Jobstreichung! Weiterbeschäftigung bei vollem Lohn! Entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der Autoindustrie unter demokratischer Arbeiter:innenkontrolle! Ein Startpunkt kann schon in den kommenden Kämpfen liegen: Für Streiks und Besetzungen unter Kontrolle der Arbeiter:innen selbst, nicht der Gewerkschaftsbürokratie von IG Metall und Co!

  • Gegen das Ausspielen der Verkehrsbeschäftigten gegeneinander, von Pilot:innen und Bodenpersonal, polnischen und deutschen Lkw-Fahrer:innen, EVGler:innen und GDL-Mitgliedern. Wir halten dem die Perspektive einer Neuordnung der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungsketten entgegen im Rahmen eines demokratisch erneuerten und fusionierten DGB! Für eine internationale Transportarbeiter:innengewerkschaft unter direkter Kontrolle aller Logistik- und Transportbeschäftigten statt einer zahnlosen ITF!

  • Für die generelle Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle! Sämtliche Steigerungen und Entwicklungen der Produktivkraft ermöglichen eine weitere Ausweitung der Freizeit – und schaffen somit die Möglichkeit zur Verkehrsvermeidung!

  • Für die weltweite Restrukturierung von Stadt und Land, von Wohn- und Produktionsstätten und damit der Verkehrsinfrastruktur nach einem globalen Wirtschaftsplan! Aufbau von Infrastruktur, wo es der Imperialismus immer verhindert und sabotiert hat! Umbau, wo er eine unökologische Verkehrsweise erschaffen hat: Für die weitgehende Renaturierung von Autobahnen und anderen Asphaltwüsten, sofern sie nicht anders sinnvoll genutzt werden können! Für so wenig wie möglich, so viel wie nötig Transport in der Produktion! Weitgehende Trennung von Transportwegen und Wohnorten! Gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung, Land- und Forstwirtschaft, Dienstleistungs- und Freizeitangeboten, Industrie nach einem Clustermodell (Wohnen und Arbeiten im Mittelpunkt)! Vernetzung durch ein Verkehrskonzept, das öffentliche Schienenverkehre zum Kern hat! Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit – nicht nur als Teil der Frauenbefreiung, sondern auch als Möglichkeit zur Transportvermeidung: Gemeinschaftskantine statt eines privat zu füllenden Kühlschranks!

  • Für offene Grenzen und einen freien internationalen Verkehr! Für das Recht, überall leben und arbeiten zu dürfen, statt unachtsam-bewusstlosen Massentourismus’!

Das Programm ist bewusst skizzenhaft gehalten. Die jeweilige lokale Ausgestaltung der Verkehrswende ist Aufgabe derer, die dort leben und arbeiten. Jedoch ist sie stets vom globalen Standpunkt, als Teil einer internationalen Perspektive zu betrachten.

Zum Schluss wollen wir darauf verweisen, dass Entschleunigung einen konkret erreichbaren Fortschritt darstellen kann. Ein Mensch, der die alltägliche Konkurrenz, Bewusstlosigkeit und Erniedrigung des Kapitalismus nicht mehr kennt und im Gegenzug als Teil eines wirklichen, bewussten Kollektivs arbeitet und lebt und dabei auch noch über ein vielfach größeres Maß an Freizeit als heute verfügt, wird den Drang nach Flucht, Schnelligkeit, Zerstreuung und Besitz eines eigenen Fahrzeugs als Scheinfreiheit auf vier Rädern vermutlich kaum noch spüren. Seine Bewegung durch den Raum würde viel eher bewusstes Erleben statt Mühsal oder Ablenkung bedeuten. Voraussetzung dafür bleibt, die Verkehrsfrage heute mit einem konkreten Antikapitalismus zu verbinden.

Dieses Programm ist ein Auszug aus unserem Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“, Ausgabe 54. Erhältlich bei uns vor Ort oder über die Kontaktadresse info@arbeiterinnenmacht.de




IAA München: Autoindustrie umschalten

Mattis Molde, Neue Internationale 2023, September 2023

Die Internationale Automobilausstellung (IAA) ist nicht mehr das, was sie mal war. Einst war es die Präsentation der neuesten und teuersten Automobile zu Werbe und Verkaufszwecken, ein Ort, an dem Technik- und Autobegeisterte vor allem männlichen Geschlechts ihrer echten Leidenschaft kollektiv frönen konnten. Aber schon die Ausstellung 2021 verzeichnete zeitweise „leere Hallen“ und die Stimmung war „verklemmt“, wie Redakteur:innen von Auto motor und sport (Deutsche Automobilzeitschrift) in einem Interview mit dem VDA (Verband der Automobilindustrie) beklagten.

Die IAA 2023 sieht ein Riesenvolksfest in der Münchner Innenstadt vor, alle dürfen Probe fahren, Autos, E-Bikes, Scooter und sogar überwiegend „kostenfrei“. Angeblich geht es um „Mobility“ und im Werbefilmchen ist auch ganz kurz eine Straßenbahn zu sehen sowie zwei Fußgänger:innen –  auf einem Berggrat wandernd. Wie sind sie dorthin angereist? Sicher mit dem Auto, das aber unsichtbar bleibt.

Ein Filmchen so wie die übliche Autowerbung, in der es meist um viel entlegene Natur geht, gerne steil, mit Schnee oder Sand, die ein kraftvolles Fahrzeug erfordert, gerne auch Familie mit Kindern, die im SUV (Sport Utility Vehicle; Stadtgeländewagen bzw. Geländelimousine) wundervoll geschützt sind, oder –„alternativ“ – junge moderne Individuen, die ihre besondere Individualität mit einem ebenso besonderen Kleinwagen ausleben. In dieser Werbung kommen praktisch nie andere Autos vor, schon gar nicht die Realität verstopfter Innenstädte oder blockierter Autobahnen. Das einzige Auto, das vorkommt, ist das Produkt der werbenden Firma.

Beim IAA-Werbefilmchen muss man sich anstrengen, mal kurz im Hintergrund zwei Rücklichter zu entdecken – Berge und Baby sind länger zu sehen. Die Automobilbranche hat ganz offensichtlich ein Imageproblem.

Es ist nicht so, wie die Autoindustrie gerne tut, dass sie unverdientermaßen schlechtgeredet wird. Nein, sie ist schlecht: hauptverantwortlich für den Klimawandel und für eine Verkehrspolitik, die ineffizient und teuer ist und das größte Hindernis für eine Wende dieser. Ein wahrheitsgetreuer Film über diese Branche müsste Autounfälle und Abholzungen zeigen, Waldbrände und Ölpest. Sie setzt ihre Interessen mit Lobbyarbeit, Drohungen und kriminellen Methoden durch. Sie muss bekämpft werden und die IAA ist ein guter Platz, diesen Kampf zu propagieren.

Der Gegner

Der VDA richtet die IAA aus und besorgt die ganze politische Vertretung des deutschen Autokapitals mit Büros in Berlin, Brüssel und China. Er sorgt für die unglaublichen Subventionen für die Industrie in Form von Geldern für die Transformation (E-Mobilität, Biosprit …), Forschung, Abwrackprämien und E-Auto-Zuschüsse, für Autobahnbau und Aufbau von Ladestruktur und dazu die Unterstützung, die Autowerke von den Bundesländern erhalten. Hinzu kommt Subvention durch Kurzarbeit in einem Umfang, der die Erwerbslosenversicherung schon bis 2022 über 30 Milliarden Euro gekostet hat.

Der VDA sorgt für eine ökologisch unsinnige Klimapolitik der EU, die aber maßgeschneidert für große Oberklassen-Pkw  ist: Beurteilt wird der Flottenverbrauch, das heißt durchschnittliche CO2-Ausstoß aller neuverkauften Fahrzeuge eines Herstellers, berechnet aus dem Spritverbrauch entsprechend den Angaben eben dieses Herstellers. Für E-Autos gibt’s „Supercredits“, diese senken diesen völlig fiktiven Flottendurchschnitt überproportional.

Die Logik dieses Systems, das so offensichtlich die Böcke/Ziegen zu Gärtner:innen macht, bewirkt auch, dass der Kauf jedes Kleinwagens oder E-Mobils dem jeweiligen Hersteller den Verkauf weiterer fetter SUVs erlaubt und so umgekehrt der möglicherweise gute Wille der Käufer:in konterkariert wird.

Die Autoindustrie, die dicke staatliche Subventionen kassiert, zeigt keine, Scham zugleich ein massives Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durchzuziehen. Der Personalabbau ist im vollen Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind es noch 760.000 im Jahr 2022. Fast 100.000 weniger. Der Geschäftsführer des VDA, Jürgen Mindel, spricht jetzt anlässlich der IAA von „über 600.000 Beschäftigten“ der Autoindustrie.

Dieser Personalabbau spielt sich vor allem in der Autozulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen werden verkauft oder schließen Standorte. Größere Unternehmen wie Opel, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Tausendergrößenordnung abgebaut und Standorte geschlossen.

Der VDA wäscht seine Hände in Unschuld. „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze“, ließ er per Pressemitteilung am 5.6.21 wissen. Also: Die Klimagesetze, die gerade den CO2-Ausstoß beim Verkehr mitnichten eingedämmt haben, sind schuld daran, dass schon Hunderttausende ihre Arbeit verloren haben.

Dieser Personalabbau hat überhaupt nichts damit zu tun, dass es den großen Unternehmen der Branche schlechtginge. VW zum Beispiel hat seinen Profit von gut 7 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf über 22 Milliarden fast kontinuierlich gesteigert.

Es ist vielmehr so, dass er diese Gewinne generiert. Die Großkonzerne zwingen die Zulieferer, ihre Teileproduktion ins Ausland zu verlagern. Teile für Verbrenner werden nicht weiterentwickelt. Wenn sie auslaufen, erfolgt der Neustart in „Low Cost Countries“. Die Teile für E-Mobility werden schon lange dort gefertigt. Die Klagelieder über die „Deindustrialisierung“ Deutschlands stammen also von den Verursacher:innen derselben.

Als Internationalist:innen geht es uns nicht darum, „Arbeitsplätze in Deutschland“ zu verteidigen. Aber diese Betriebe können auch die Fahrzeuge bauen und die nötigen Technologien entwickeln, die für eine klimagerechte Mobilität nötig sind. Ihre Belegschaften können die Kraft sein, die der Klimabewegung bislang fehlt, um andere Entscheidungen durchzusetzen.

Strategie

Auf diese Kraft der ganzen Arbeiter:innenklasse müssen wir setzen. Die Rezepte der Klimabewegung waren bislang hilflos:

  • Die individuelle Kaufentscheidung beeinflusst nicht, welche Autos gebaut werden, und schon gar nicht, welche Verkehrssysteme zur Verfügung stehen. Der Bau und Betrieb von öffentlichen Alternativen muss politisch durchgesetzt werden gegen die Interessen der Autoindustrie.

  • Staatliche Richtlinien und Vorgaben bei Subventionsvergabe werden die Autokonzerne zu nichts zwingen können, sondern umgekehrt: Die stärkste Fraktion des deutschen Exportkapitals setzt in „ihrem Staat“ ihren Willen durch.

  • Straßen zu blockieren, ist mutig, aber es trifft nicht den eigentlichen Gegner. Der VDA und seine politischen Gehilfen rufen nach Polizei und Staatsanwalt. Die kommen auch und schlagen zu. Abgasbetrug aber bleibt straflos.

Das entscheidende Problem für die Verbindung von Umweltbewegung und Lohnabhängigen stellen jedoch die Führungen der Arbeiter:innenklasse, vor allem die Bürokratie und Apparate in den Gewerkschaften und Großkonzernbetriebsräten dar, die letztlich „ihre“ Autoindustrie über die Interessen der Gesellschaft stellen. Schlagwörter wie Transformation und ökologischer Umbau sind für sie Phrasen, die der Zusammenarbeit mit Kapital und Regierung mehr Glanz verleihen sollen.

Es reicht daher nicht, die Lügen der Autoindustrie offenzulegen und die Schwächen der Umweltbewegung zu kritisieren. Vor allem müssen wir für einen Kurswechsel Richtung Klassenkampf in den Betrieben und Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter:innenbewegung kämpfen.

Die Autoindustrie kann nicht ökologisch „transformiert“ werden, ohne die Macht des Kapitals anzugreifen, ja zu brechen. Andernfalls bleibt es bestenfalls bei Stückwerk. Die Enteignung der Autoindustrie – ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle – bildet daher eine Schlüsselforderung. Nur so kann ein planmäßiger Umbau im Interesse der Lohnabhängigen und ökologischer Nachhaltigkeit angegangen werden. Diese Perspektive muss sich auch die Bewegung gegen die IAA zu eigen machen.