USA: Die Wurzeln des grassierenden antiasiatischen Hass

Benji Weiss, Workers Power USA, Infomail 1144, 31. März 2021

In dem Jahr seit der Ermordung von George Floyd trat einmal mehr die harte Realität des Rassismus zutage, den AfroamerikanerInnen 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und ein halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtsbewegung immer noch erleben.

Auch Trumps Unterstützung durch und Billigung von weißen RassistInnen, seine Beschimpfung derjenigen, die Grenzen im Süden der USA überqueren wollen, und der sogenannten Illegalen als „krankheitsübertragende Kriminelle“ unterstrichen die Tatsache, dass auch viele andere Gemeinschaften heute Zielscheibe von Rassismus sind.

Gewalt bis zum Mord

Eine Serie von Schießereien in drei Massagesalons und Kurbädern in Atlanta, Georgia, am 16. März, lenkte die Aufmerksamkeit auf die rassistische Gewalt gegen Menschen asiatischer Herkunft. Sechs der 8 Opfer waren Migrantinnen aus diesem Kontinent. Dies wiederum unterstrich die Tatsache, dass verbale Beschimpfungen und körperliche Angriffe, die manchmal sogar in Mord gipfeln, eine allzu regelmäßige Erfahrung für AmerikanerInnen chinesischer, koreanischer, philippinischer, japanischer, vietnamesischer und anderer asiatisch-pazifischer Herkunft sind.

Die Tragödie von Atlanta hat eine landesweite Debatte ausgelöst, der sich der Staat und die Medien nicht entziehen können. Im Januar wurde der 84-jährige Vicha Ratanapakdee, thailändischer Herkunft, bei seinem Morgenspaziergang in San Francisco zu Boden gestoßen; zwei Tage nach dem Überfall starb er. In New York City wurde einem 61-jährigen Mann , der von Philippinen stammte, mit einem Paketmesser das Gesicht aufgeschlitzt, während in Oakland, Kalifornien, ein 91-jähriger Mann zu Boden geworfen wurde. In diesem Jahr wurden dort bereits 20 solcher gewalttätigen Angriffe gemeldet.

Ein Anfang des Monats veröffentlichter Bericht des „California State University’s San Bernadino Center for the Study of Hate and Extremism“, einem Institut für Studien zu Hass und Extremismus, verweist auf einen 150-prozentigen Anstieg antiasiatischer Hassverbrechen in den größten Städten Amerikas im Verlauf der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020.

Laut dem Bericht sind nicht nur diese Fälle um 150 Prozent gestiegen, von 49 im Jahr 2019 auf 120 im Jahr 2020, sondern dies geschah, während die Hassverbrechen insgesamt um 6 Prozent zurückgingen, von 1.877 im Jahr 2019 auf 1.773 im Jahr 2020. Ein Bericht der politischen Gruppe „Stop AAPI Hate“ (Stopp dem Hass gegen asiatische AmerikanerInnen und Leute von den pazifischen Inseln) katalogisierte außerdem rund 3.800 rassistische Vorfälle, die sich gegen asiatische Menschen in den USA richteten, darunter auch schwere Verbrechen.

Antichinesische Hetze

Dieser rasante Anstieg hängt eindeutig damit zusammen, dass Donald Trump die Tatsache aufgriff, dass die weltweite Pandemie in Wuhan begann, um auf Fox News zu behaupten, dass das Virus im Institut für Virologie in dieser Stadt begann und dass die Weltgesundheitsorganisation dies vertuscht habe, weil China sie irgendwie in der Tasche habe. Von da an nannte Trump Covid-19 regelmäßig „chinesische Grippe“ oder „das chinesische Virus“. QAnon und andere VerbreiterInnen wirrer Verschwörungstheorien behaupteten, es handele sich tatsächlich um einen chinesischen Bazillus der biologischen Kriegsführung, der die US-Wirtschaft absichtlich zu Fall bringen solle. All dies half bequem, um die eigene unverantwortliche Weigerung der Regierung zu vertuschen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, was dazu führte, dass die USA den schlimmsten Ausbruch der Welt verzeichneten.

Damit verbunden ist die sowohl von offen reaktionären als auch von vermeintlich „progressiven“ Elementen der herrschenden Mächte verbreitete Darstellung, dass China eine Bedrohung für „unsere Lebensweise“ darstellt. Es ist viel über Chinas Aggression gegenüber Taiwan und im Südchinesischen Meer gesagt worden. Es wurde viel über die Verfolgung der UigurInnen, der TibeterInnen und derjenigen, die für demokratische Rechte in Hongkong kämpfen, gesagt. Natürlich sind diese Anschuldigungen wahr, aber wenn sie von einer Regierung und den einflussreichen Medien kommen, die ebenso schändliche Verbrechen vertuschen, die von Amerikas eigenen Verbündeten begangen werden, ist das einfach die reinste Heuchelei.

Um nur einige Beispiele zu nennen, gibt es den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, der einen völkermörderischen Krieg im Jemen führt, oder Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi, der 70.000 – 100.000 politische Gefangene in seinen Gefängnissen gefangen hält. Trotz dieser Verbrechen unterzeichneten die USA 2017 einen 110-Milliarden-Dollar-Deal für Waffenlieferungen an die Saudis und schicken jährlich etwa 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe nach Ägypten.

Dann ist da noch Amerikas engster Verbündeter, Israel, mit seiner unerbittlichen Verfolgung der PalästinenserInnen, die zum Teil von den USA finanziert wird. Washington könnte all diese Barbarei stoppen, indem es den Hahn der militärischen und wirtschaftlichen Hilfe und Investitionen zudreht, aber es tut es nicht. Warum nicht? Weil keine imperialistische Macht sich von den Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte leiten lässt oder jemals ließ, sondern ihre eigene Ausbeutung anderer Völker auf der ganzen Welt mit allen Mitteln verteidigt und ausweitet.

In der Tat war der Rassismus untrennbar mit dem Kapitalismus seit seiner frühesten Phase verbunden, als Millionen von AfrikanerInnen als SklavInnen nach Amerika transportiert wurden und der europäische Kolonialismus einen großen Teil der indigenen Völker von Gebieten auf der ganzen Welt auslöschte. Auch im industriellen Kapitalismus wurde er eine riesige Anzahl von chinesischen KontraktarbeiterInnen verwendet, um seine Eisenbahnen und Kanäle zu bauen. Er rechtfertigte diese verschiedenen Formen der Superausbeutung und Zwangsarbeit mit der Behauptung, dass seine Opfer von Natur aus unzivilisiert seien, in der Tat, weniger als gleichwertige menschliche Wesen. Ja, die Nazis hatten VorgängerInnen in den sogenannten demokratischen Nationen.

Imperialistische Rivalität und Rassismus

Jahrzehntelang war die amerikanische Bourgeoisie glücklich, hochprofitable Geschäfte mit China zu machen, da sie es als einen Markt für US-Produkte sah, einen Ort, an den sie die Produktion ihrer Konzerne auslagern konnte, während sie gleichzeitig die Restauration des Kapitalismus als Beweis für ihre globale Überlegenheit bejubelte. Warum also die zunehmende Hysterie und Feindseligkeit gegenüber China im letzten Jahrzehnt, beginnend mit Obamas militärischer Schwerpunktorientierung nach Asien, über Trumps Handelskrieg bis hin zu Bidens Menschenrechtskreuzzug?

All dies hat wenig oder nichts mit den sehr realen Verfehlungen der chinesischen Regierung zu tun. Vielmehr geht es darum, die imperialen Interessen der USA zu schützen und auszuweiten, die Dominanz der amerikanischen multinationalen Konzerne gegen die aufstrebende Wirtschaftsmacht China zu schützen. Die einzigen, die von der Verschärfung dieses Konflikts profitieren, der jetzt nicht mehr nur eine Frage des Handels ist, sondern einen militärischen Aspekt annimmt, sind Amerikas KapitalistInnen.

Wenn die USA die Leiden der UigurInnen oder die Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong anprangern oder die wachsende chinesischen Wirtschaftskraft in der sog. Dritten Welt „entdecken“, so werden diese nur als propagandistische Werkzeuge benutzt, um die eigene wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft der USA in der Welt aufrechtzuerhalten. Solche Propaganda hilft dem berechtigten Widerstand gegen Xi Jinpings Verbrechen wenig bis gar nicht.

US-KommentatorInen und -PolitikerInnen haben den wachsenden Einfluss Chinas als Großinvestor im globalen Süden, insbesondere in Afrika, hervorgehoben, manche nennen dies sogar Imperialismus. Damit haben sie Recht. Was wir sehen, ist in der Tat die Entwicklung eines neuen Rivalen zum US-Imperialismus. Dass sich die USA darüber beschweren, ist angesichts der Rolle, die sie den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts über gespielt haben, in der Tat dreist.

Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die USA zusammen mit Britannien, Japan und Frankreich, China zu zerschlagen. Dann blockierten sie nach der Revolution von 1949 die Volksrepublik und stärkten später effektiv Mao Zedongs stalinistisches Regime. Nachdem sich dieses Regime mit dem Tiananmen-Massaker und der Restauration des Kapitalismus vor dem Zorn des eigenen Volkes gerettet hatte, pumpten US-Konzerne Milliarden hinein, um die neuen Profitmöglichkeiten zu nutzen. Was sie jetzt ablehnen und hassen, sind nicht die Verbrechen von Xi Jinping, sondern die aufsteigende Macht und Rivalität des chinesischen Imperialismus.

Xi Jinping stellt keine größere Bedrohung für die amerikanische ArbeiterInnenklasse dar als „unsere eigene“ Regierung und die großen Konzerne, ja sogar weniger. Indem sie den Hass auf das Fremde im Ausland und auf die Menschen asiatischer Herkunft zu Hause schüren, wollen unsere Bosse, dass die arbeitenden Menschen ihnen die Lüge abkaufen, dass die USA eine gutartigere, demokratischere Form der Unterdrückung und des Imperialismus sind, nur weil sie im eigenen Land gewachsen ist. Das treibt die Menschen nur dazu, ihre eigene Unterdrückung zu verstärken, indem sie Menschen hassen, die nur oberflächlich anders sind als sie selbst und dabei ihre/n wahre/n FeindIn nicht erkennen. Aber, wie Karl Liebknecht 1914 in berühmten Worten sagte: „Der Hauptfeind steht in unserem eigenen Land.“

Wurzeln des antiasiatischen Rassismus

Der Rassismus gegen asiatische AmerikanerInnen hat tiefe Wurzeln. Chinesische ArbeitsmigrantInnen kamen in den späten 1840er Jahren in die Goldminen und spielten dann in den 1850er Jahren eine große Rolle beim Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien. Teile der weißen ArbeiterInnenschaft, die selbst erst kürzlich vor der Unterdrückung in Europa eingewandert waren, wurden aufgepeitscht und forderten, dass die „Coolies“ (TagelöhnerInnen) ausgeschlossen oder zurück in ihre Heimat geschickt werden sollten. In Kalifornien entschied der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates, dass ChinesInnen nicht vor Gericht aussagen durften, weil sie „eine Rasse von Menschen sind, die von der Natur als minderwertig gezeichnet wurde und die unfähig zu Fortschritt oder intellektueller Entwicklung sind.“

In den Jahren 1875 und 1882 wurden antichinesische Einwanderungsgesetze erlassen, die bis 1942 in Kraft blieben, als das nationalistische China ein Verbündeter der USA gegen Japan war. Zur gleichen Zeit wurden 120.000 japanische AmerikanerInnen, 62 Prozent von ihnen vollwertige US-StaatsbürgerInnen, für die Dauer des Krieges in unwirtlichen Wüstenlagern interniert. In den 1890er Jahren wurde eine heftige sinophobe Kampagne rund um die Idee der „gelben Gefahr“ aufgepeitscht. Ihr Ursprung lag im zaristischen Russland, von wo aus sie schnell vom kaiserlichen Deutschland aufgegriffen und dann in die „Great Republic“ (Großartige Republik) exportiert wurde. Hier wurde sie nicht nur von nativistischen (Nativismus: Lehre von den unveränderlichen Erbanlagen; die Red.) und Jim-Crow-ReaktionärInnen (Jim Crow: segregationistische Rassengesetzgebung in den US-Südstaaten; die Red.), sondern auch von Teilen der ArbeiterInnenbewegung eifrig aufgenommen. Sie ist ein wahrer geborener Zwilling des Antisemitismus.

Einige GewerkschafterInnen, vor allem in den FacharbeiterInnengewerkschaften, die bereits versucht hatten, irische EinwanderInnen und dann schwarze ArbeiterInnen auszuschließen, argumentierten, dass chinesische ArbeiterInnen „unfähig seien, sich zu organisieren“. Samuel Gompers, der berüchtigte antimarxistische Führer der American Federation of Labour, schrieb 1902 ein Pamphlet mit dem Titel „Meat vs. Rice. American Manhood versus Asiatic Coolieism: Which shall Survive?“ („Fleisch gegen Reis. Amerikanische Mannhaftigkeit gegen asiatisches Kulidasein: Was wird überleben?“) Die Bilanz der 1901 gegründeten Socialist Party of America war jedoch nicht viel besser. Sie war „farbenblind“ gegenüber dem Rassismus gegen schwarze ArbeiterInnen, ignorierte Jim Crow im Süden und prangerte die Ankunft von eingewanderten ArbeiterInnen aus China oder Japan an.

Als die Zweite Internationale auf ihren Konferenzen in Amsterdam (1904) und Stuttgart (1907) Einwanderungskontrollen verurteilte, wurde dies von einer Mehrheit der US-Delegierten entschieden abgelehnt, insbesondere von einem der wichtigsten Führer der Partei, Morris Hilquit. Er schloss sich den holländischen und australischen Delegierten an und unterstützte eine Resolution, die sich gegen die Einreise von ArbeiterInnen aus „rückständigen Rassen“, also ChinesInnen und JapanerInnen, in die USA und nach Europa aussprach. Victor L. Berger, ein weiterer führender Sozialist und selbst ein österreichisch-jüdischer Einwanderer, forderte, dass die USA „ein Land des weißen Mannes“ bleiben müssten.

Sogar ein prominenter Marxist aus der Zeit vor 1914, Gerhard Ernest Untermann Sr., der Übersetzer der drei Bände von Marx‘ Kapital, war ein unverhohlener weißer Rassist und sagte: „Ich bin entschlossen, dass meine Rasse in diesem Land und in der Welt die Oberhand haben soll.“ Es bedurfte eines harten Kampfes, zuerst von den revolutionären SyndikalistInnen der IWW (Industriearbeiterinnen der Welt), dann von den US-KommunistInnen in den 1920er Jahren und den TrotzkistInnen in den 1930er Jahren, um den Rassismus gegen Schwarz und AsiatInnen unter Teilen der weißen ArbeiterInnen zu bekämpfen. Das ist ein Kampf, den wir heute wieder führen müssen.

Den antirassistischen Kampf und den Kampf der ArbeiterInnenklasse vereinen

Glücklicherweise hat die „Black Lives Matter“-Bewegung jedoch bereits eine große Anzahl weißer AntirassistInnen, insbesondere junge Menschen, Frauen und die anschwellenden Reihen der Democratic Socialists in antirassistische Mobilisierungen einbezogen.

Als KommunistInnen müssen wir für den Schutz der demokratischen Rechte aller unterdrückten Menschen kämpfen: von Frauen, vo rassistisch, national und ethnisch Unterdrückten, ImmigrantInnen und LGBTQI+-Menschen. Wir müssen gegen die reaktionären, nativistischen und anderweitig chauvinistischen Elemente kämpfen, die zeitweise die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen durchdrungen haben, und die Kämpfe der asiatischen sowie aller unterdrückten ethnischen und nationalen Gruppen gegen rassistische Angriffe und Diskriminierung unterstützen.

Am 21. März fand in Birmingham eine Kundgebung mit dem Slogan „Stop Asian Hate“ (Stopp dem Hass gegen AsiatInnen) statt, die von Weißen, Schwarzen, Latinx (Latinos/Latinas) unterstützt wurde, aufgerufen von, der Alabama Asian Cultures Foundation (Asiatische Kulturstiftung Alabama), Black Lives Matter, Hispanic Interest Coalition of Alabama (Hispanische Interessenkoalition Alabama), die Vietnamesische Studentische Assoziation an der Universität von Alabama in Birmingham und anderen. Die RednerInnen setzten den antiasiatischen Rassismus in Beziehung zu den Erfahrungen schwarzer Menschen und der Notwendigkeit, gegen alle Formen von Rassismus und weißer Vorherrschaft zu kämpfen. Aber wir müssen auch alle Versuche bekämpfen, von welcher Seite auch immer, verschiedene Teile der rassistisch Unterdrückten, wie AsiatInnen und Schwarze, gegeneinander aufzuhetzen.

Wir können nicht auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft hinarbeiten, ohne alle Systeme der Unterdrückung anzugreifen. Die gesamte ArbeiterInnenklasse muss die Aufstachelung unserer HerrscherInnen zum Kampf gegeneinander zurückweisen. Der wahre Feind von uns allen sind die KapitalistInnenklasse und alle Systeme, die ihr dienen. Das bedeutet nicht, dass wir in irgendeiner Weise „farbenblind“ gegenüber den verschiedenen Formen von Rassismus und Unterdrückung und deren Bedeutung sind. Wir müssen alle Beispiele von Unterdrückung und Ausbeutung bekämpfen, um ein unbesiegbares Instrument des Kampfes aufzubauen: eine unabhängige Partei der ArbeiterInnenklasse und eine neue Internationale zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus. Das Wachstum der DSA, die Bestrebungen, Amazon gewerkschaftlich zu organisieren, geben auch dafür Hoffnung.

Die ArbeiterInnen müssen für die Niederlage des Imperialismus und Kapitalismus in allen anderen Ländern ebenso kämpfen wie in unserem eigenen. Wie Marx in jenem grundlegendsten Dokument der revolutionären Arbeiterbewegung, dem Kommunistischen Manifest, sagte, haben die arbeitenden Menschen kein eigenes Land: Wir können und müssen uns vereinigen.




USA: Präsident Biden verspricht „besser wiederaufzubauen“

Dave Stockton, Infomail 1139, 20. Februar 2021

Die meisten politischen FührerInnen der Welt jubeln über die Ablösung von Donald Trump. Sie haben es als eine tröstliche Wiederbehauptung der amerikanischen Demokratie gefeiert, nach vier Jahren Zerrüttung der internationalen Institutionen, die die zunehmend widersprüchlichen Interessen der großen imperialistischen Mächte verwalten.

Zu Trumps „Errungenschaften“ gehörte die Weigerung, ernsthafte Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu ergreifen. Infolgedessen hat die Zahl der Todesopfer in den USA bereits 400.000 erreicht, während die Aussetzung der US-Mitgliedschaft bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deren Gesamtbudget um 20 Prozent reduzierte.

Dann gab es den Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und die einseitige Aufkündigung des Iran-Atomabkommens. Diejenigen, die sich auf die „Weltpolizistin“ verlassen, fanden ihre Annäherungsversuche an die chinesischen und nordkoreanischen Diktatoren alarmierend. Gleiches gilt für ihren „Deal des Jahrhunderts“, die Abkehr von der Zweistaatenlösung für Palästina bei gleichzeitiger Anerkennung der israelischen Siedlungen, auch wenn letzterer nur eine De-facto-Situation offenlegte.

Trumpismus und die Republikanische Partei

Während viele Menschen in den USA und auf der ganzen Welt seinen demütigenden Abgang feiern, dominiert der Trumpismus noch immer die Republikanische Partei.

Eine Umfrage des Hörfunk- und Fernsehsenders NBC, die nach dem gescheiterten Putschversuch im Januar durchgeführt wurde, zeigt, dass 28 Prozent der Befragten sagten, Trumps Worte und Taten an diesem Tag hätten ihre Unterstützung für ihn tatsächlich verstärkt. Nur 5 Prozent sagten, sie bedauerten nun ihre Unterstützung, und zwei Drittel sagten, diese habe sich nicht geändert. Nur 11 Prozent machten Trump für die Gewalt verantwortlich, während etwa die Hälfte die Verantwortung auf „Social-Media-Unternehmen“ und „Antifa“ schob.

190 RepublikanerInnen aus dem RepräsentantInnenhaus stimmten gegen Trumps Amtsenthebungsverfahren wegen Anstiftung zum Aufruhr. Nur 10 schlossen sich den Abgeordneten der Demokratischen Partei an, um es zu durchzubringen. Auch 45 republikanische SenatorInnen votierten gegen einen Amtsenthebungsprozess, genug, um die für eine Verurteilung benötigte Zwei-Drittel-Mehrheit zu blockieren. Dies geschah trotz der eklatantesten Verletzung der US-Verfassung in ihrer über zweihundertjährigen Geschichte.

Die zwei Monate, in denen der unterlegene Amtsinhaber versuchte, das Wahlergebnis vom November zu kippen, gipfelten darin, dass seine UnterstützerInnen den Kongress stürmten, um die Amtseinführung des gewählten Präsidenten zu verhindern. Am Inaugurationstag verwandelte sich Washington in ein bewaffnetes Lager mit 26.000 eingesetzten NationalgardistInnen, von denen 5.000 bis Mitte März bleiben werden.

Trotz Bidens Appellen zur Einigkeit und Heilung werden die DemokratInnen mit Obstruktion und Sabotage ihres Gesetzgebungsprogramms konfrontiert sein, sobald sich der Staub des 6. Januar gelegt hat. Die Republikanische Partei wird darauf hoffen, bei den Zwischenwahlen im November 2022 die Kontrolle über den Senat zurückzuerlangen. Zwar sind eine Handvoll SenatorInnen und Abgeordnete des RepräsentantInnenhauses aus der Reihe getanzt, was sein Gesetzgebungsprogramm ein wenig erleichtern könnte, doch werden sie zweifellos die Verschleppungstaktik (Filibuster: endloses Reden im Senat zur Verhinderung einer Beschlussfassung) mit maximaler Wirkung einsetzen, um Kürzungen bei Ausgabenprogrammen und faule Kompromisse bei Sozial- und BürgerInnenrechtsfragen zu erzwingen.

Das Putsch-Abenteuer scheiterte jedoch, weil kein ernst zu nehmendes Element innerhalb des Staatsapparates, der Justiz, der Legislative oder des Militärs einen Staatsstreich dulden würde, und deshalb wäre es, selbst wenn es sein Ziel, die SenatorInnen und RepräsentantInnenhaus-Abgeordneten zu vertreiben oder als Geiseln zu nehmen, erreicht hätte, ins soziale Nichts gefallen. Damit ein echter Putsch etwas bewirken kann, muss sich ein Teil des staatlichen Repressionsapparates auf seine Seite schlagen und der Rest neutral bleiben.

Diejenigen, die zum Kapitol marschierten und es stürmten – wer auch immer für den lächerlich unzureichenden Schutz des Parlamentsgebäudes verantwortlich war –, hatten jedoch voll und ganz die Absicht, Letzteres zu erzwingen und Trump verfassungswidrig an der Macht zu lassen, also einen Staatsstreich durchzuführen. Am Ende stellte sich heraus, dass es ein miserabler Putsch war.

Doch angesichts der Kontrolle der Republikanischen Partei über so viele GouverneurInnenämter und Hauptstädte und einer rechten Mehrheit im Obersten Gerichtshof wird Bidens berühmtes Verhandlungsgeschick sehr gefragt sein, und die radikaleren Teile dieses Programms werden vom ersten Tag an unter Beschuss stehen.

Konfrontiert mit einem lautstarken linken Flügel in seiner eigenen Partei, wird er den Vorwand der republikanischen Obstruktion brauchen, um Forderungen nach „Gesundheitsversorgung für alle“ oder einem „grünen New Deal“ abzuwehren. Wer glaubt, die Achse der Politik drücke Joe nach links, ist genau auf dem Holzweg.

Biden, der Retter?

Biden kommt nun ins Amt und posiert als Retter der Demokratie, als Bewahrer der Republik und als Wiederhersteller der verfassungsmäßigen Ordnung. Er hat versprochen, die von Trump vernachlässigten Themen aufzugreifen: Amerikas grassierende Covid-19-Epidemie zu bekämpfen, die Klimakatastrophe, die steigende Arbeitslosigkeit und Armut anzugehen, das Gesundheitssystem zu reparieren und die führende Position der USA in der Welt wiederherzustellen. Außerdem hat er versprochen, sich mit Polizeirassismus, Einwanderung und der verfallenden Infrastruktur zu befassen.

Das Konjunkturprogramm beinhaltet eine Zahlung von 1.400 US-Dollar an jede/n Einzelne/n, Hilfe für finanzschwache Bundesstaaten und lokale Regierungen, die Verlängerung des Arbeitslosengeldes mit 400 US-Dollar pro Woche, Mittel zur Wiedereröffnung von Schulen und Universitäten, mehr Steuergutschriften für Kinder, Zugang zu Qualität und die Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde.

Sein Programm ist sicherlich lang an Versprechen. Auf seiner Website kann man über „höhere Löhne, stärkere Sozialleistungen und faire und sichere Arbeitsplätze“ lesen und ein Versprechen, „die Gewerkschaften und die Macht der Arbeit,nehmer’Innen zu stärken“, indem „das Gesetz zum Schutz des Rechts auf Organisierung (PRO), die Gewährleistung von Card Check (Beitragseinzug an der Quelle), Gewerkschafts- und Verhandlungsrechte für Beschäftigte im öffentlichen Dienst“ und eine erschwingliche Gesundheitsversorgung aufgenommen werden.

Der Senat, mit nur einer Stimme (Vizepräsidentin Kamala Harris hat das ausschlaggebende Votum) Mehrheit für die Demokratische Partei, kann sich als echtes Hindernis für die weitreichenderen Versprechen Bidens erweisen. Ohne eine deutliche Mehrheit können durch Verschleppungstaktik Gesetze blockiert werden. Das ist an sich schon undemokratisch, aber der Senat selbst ist ein grob undemokratisches Gremium. Zwei SenatorInnen vertreten jeden Bundesstaat, unabhängig von der Größe seiner Bevölkerung. Die 39 Millionen EinwohnerInnen Kaliforniens erhalten die gleiche Stimmkraft wie die 578.000 BewohnerInnen Wyomings.

Was die Versprechungen angeht, wird dies jedoch zweifellos Millionen als das weitreichendste Programm seit den 1960er Jahren erscheinen. Abhängig von der erfolgreichen Einführung von Impfungen und Tests zur Kontrolle von Covid-19 wird es Biden wahrscheinlich eine Sympathiewelle bescheren und bildet die Grundlage für ein Intervall labilen Gleichgewichts, bis die nächste Krise am Horizont erscheint.

Revolutionären MarxistInnen kommt die Aufgabe zu, die Unzulänglichkeiten und Schwächen von Bidens Maßnahmen aufzuzeigen:

  • „Gesundheitsversorgung für alle“, aber nicht kostenlos am Ort der Nutzung und daher nicht für alle.
  • Erleichterung für diejenigen, die in Gefahr sind, ihre Häuser zu verlieren, aber kein Erlass ihrer Schulden.
  • Ein Stopp von Trumps Mauer und von Lagern für Kinder von MigrantInnen, aber kein Ende der Abschiebungen.

Immerhin hat Barack Obama jährlich mehr „Illegale“ abgeschoben als Trump. Und wahrscheinlich wird es trotz Kamala Harris‘ und Joes Lob für „Black Lives Matter“ keinen ernsthaften Versuch geben, den Rassismus der Polizeidienststellen aufzudecken oder die Straffreiheit für mordende PolizistInnen zu beenden, geschweige denn sie „abzuschaffen“.

Bidens Kabinett besteht größtenteils aus rechtsgerichteten DemokratInnen, die aus den Regierungen Obama und Clinton stammen. Im Finanzministerium sitzt Janet Yellen, die als Neoliberale und Freihändlerin bekannt ist; im Außenministerium Antony Blinken, ein Serienbefürworter von US-Militärinterventionen; im Handelsministerium Gina Raimondo, eine Risikokapitalgeberin, die in die private Gesundheitsversorgung investiert und eine Gegnerin von Einzahlungssystemen ist; und als Justizminister Merrick Garland, der von den Polizeigewerkschaften unterstützt wird.

Trotz der Ernennung von John Kerry zum Sondergesandten für das Klima wird diese Regierung kein wirklich radikales Programm für eine grüne industrielle Revolution entwickeln. Auch wird es nichts in der Größenordnung von F. D. Roosevelts New Deal geben, wenn es um ein Programm zum Aufbau der Infrastruktur geht. Während er einige Begriffe von Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez geklaut hat, würde es eine massive Kampagne der Gewerkschaften, der Schwarzen und anderer rassistisch Unterdrückter erfordern, um einen substanziellen Schritt in diese Richtung zu initiieren.

Das große Thema des Jahres 2020, die anhaltenden Polizeimorde an Schwarzen und anderen Menschen, ist nicht gelöst. Trotz symbolischer Gesten von Biden, wie Obama wird er wenig oder nichts tun.

Aktionsprogramm

Die Antwort der ArbeiterInnenbewegung auf Bidens Versprechen sollte darin bestehen, ihre eigenen Ziele zu formulieren und sich darauf vorzubereiten, für sie durch Massenmobilisierungen und Arbeitskämpfe zu streiten. Nur durch eine solche Klassenunabhängigkeit von der offen bürgerlichen Demokratischen Partei könnte Biden dazu gezwungen werden, einige seiner Verpflichtungen zu erfüllen.

In keinem Bereich wäre dies notwendiger als bei den ArbeiterInnenrechten: das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, auf einen Tarifvertrag für alle Beschäftigten usw. Hier reicht ein Lobbyistenkongress nicht aus; diese Rechte werden nur auf dem industriellen Schlachtfeld gewonnen, obwohl sie gesetzlich anerkannt werden können.

Die Mittel, um einen existenzsichernden Lohn und „Medicare for All“ zu finanzieren, würden massive Eingriffe in den Reichtum der MilliardärInnen erfordern, angefangen bei den 400 reichsten AmerikanerInnen, deren Gesamtvermögen laut Forbes-Rangliste dem der ärmsten 64 Prozent der amerikanischen Haushalte entspricht. Von einer Partei des Finanzkapitals und der MilliardärInnen zu erwarten, dass sie dies tut, führt nur die arbeitslose Jugend, die schwarzen und Minderheitengemeinschaften und die Gewerkschaftsbewegung an der Nase herum.

Die Aufgabe besteht darin, von der Basis ausgehend einen Kampf für ein Aktionsprogramm mit Maßnahmen zu organisieren, die die Krisen im Gesundheitswesen, in der Bildung, im Wohnungswesen, die private Verschuldung, die Umweltkatastrophe, aber auch den mörderischen Rassismus der Polizei und das neue Gefängnissystem, das v. a. Schwarze inkriminiert (ein neues Jim-Crow-System), lösen können.

Nicht zuletzt ist es wichtig, die massenhafte Antikriegsbewegung der frühen 2000er Jahre wiederzubeleben, wann immer es zu neuen Interventionskriegen kommt, als welch menschenrechtlicher Unsinn auch immer sie getarnt sind.

Dann gibt es den Kampf der ArbeiterInnen für die Kontrolle über Sicherheitsmaßnahmen, für eine deutliche Anhebung der Löhne, Gesundheits- und Rentenansprüche. Vor kurzem hat ein Streik in New York City, von den Hunts-Point-LagerarbeiterInnen, ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung von 1 US-Dollar pro Stunde gewonnen. Auch die Chicagoer LehrerInnen bereiten sich auf Aktionen vor. Das zeigt, dass der Klassenkampf wieder aufleben wird, besonders wenn die Aussperrungen nachlassen.

All diese Fronten des Kampfes müssen einen Schwerpunkt im Aufbau einer kämpfenden ArbeiterInnenpartei, einer Partei des Klassenkampfes, finden, indem sie sich von der Demokratischen Partei lösen. Das schnelle Wachstum der Demokratischen SozialistInnen (DSA) in den letzten fünf Jahren und die Siege der „demokratischen SozialistInnen“ auf den Wahlzetteln der Demokratischen Partei zeigen eine wachsende Offenheit der Jugend, der ArbeiterInnen und von People of Color (PoC) für die Idee des Sozialismus. Doch die DSA hat Angst, einen sauberen Bruch mit der zweiten Partei des US-Imperialismus zu vollziehen.

Auf dem diesjährigen DSA-Kongress müssen die Kräfte, die die Organisation bereits zu größerer Unabhängigkeit gedrängt haben, hart daran arbeiten, einen wirklichen Bruch vorzunehmen. Damit einher geht die Notwendigkeit eines offen antikapitalistischen Programms. Andernfalls wird die Partei eine schlechte Imitation des europäischen Reformismus bleiben, eingelullt in Passivität durch Wahlkampf und demokratische Illusionen.

Anstatt vier Jahre darauf zu warten, dass die ganze Bandbreite des undemokratischen Charakters der US-Verfassung aufgedeckt wird, sollten die DSA-Ortsverbände dem Aufbau von Einheitsfronten im Kampf gegen weiße RassistInnen, der Unterstützung von gewerkschaftlichen Rekrutierungs- und Organisierungskampagnen und der Kampagne für das Recht von Frauen auf Abtreibungseinrichtungen Vorrang einräumen.

All diese Themen und mehr müssen in einem Aktionsprogramm zusammengefasst werden, das den Sozialismus als die totale Ablösung des Kapitalismus versteht, der durch revolutionäre ArbeiterInnenaktionen errungen wird.

Die DSA ist bereits 70-80.000 Mitglieder stark und wächst weiter. Um ihren Übergang zu einer Partei der ArbeiterInnenklasse zu vollenden, sollte sie ihre Türen für neue KämpferInnen öffnen, sich entschieden von der Demokratischen Partei lösen und für ein revolutionäres antikapitalistisches Programm kämpfen.




Joe Biden: Was können wir von dem neuen US-Präsident erwarten?

Ronja Keller, REVOLUTION, Infomail 1136, 23. Januar 2021

Trotz des Sturms aufs Capitol wurde am 20. Januar Joe Biden in das Amt des Präsidenten eingeführt. Endlich können wir mal einen Artikel über US-Politik schreiben, in dem es nicht primär um Trump geht! Aber wird es mit Biden denn so viel besser? Was hat der neue Präsident bisher so gemacht? Was hat er versprochen und wie wird sein Kabinett aussehen? Im folgenden Artikel wollen wir uns einen Überblick darüber verschaffen und feststellen, ob die arbeitenden Massen und unterdrückten Menschen wohl auf eine Verbesserung ihrer Lage durch Biden hoffen können.

Joes bisherige Laufbahn

Der neue Präsident hat eine lange Geschichte in der US-Politik, denn bis zur Präsidentschaft Obamas war er 36 Jahre lang Mitglied des Senats und während Obamas achtjähriger Amtsperiode Vizepräsident. Dabei hat er eine seine politische Agenda mehrmals klargemacht:

Biden ist vor allem durch seinen Standpunkt in der Außenpolitik aufgefallen. Bei vielen Brennpunkten sprach er sich für eine US-amerikanische Intervention aus. Während des Balkankriegs war er für eine aktive und gewaltsame Einmischung der USA, für Lufteinsätze der NATO. Er unterstützte mehr Bodentruppen im Afghanistankrieg und damit die Linie des damaligen republikanischen Präsidenten George W. Bush. Auch den syrischen Bürgerkrieg sollte die US-Army weiter anfachen. Bei dem Thema Finanzen stimmte Biden meist für einen ausgeglichenen Haushalt („Schwarze Null“), womit er unter anderem den Abbau der Sozialsysteme unterstützt hat. Außerdem hat er eine Gesetzesänderung durchgeboxt, durch die es unmöglich geworden ist, bei zu hohen Studien- oder Kreditkartenschulden Privatinsolvenz anzumelden, sodass viele ArbeiterInnen für immer mit dieser Last leben müssen. Er stand somit immer hinter dem kapitalistischen System und dem US-Imperialismus. Dies wird er auch weiter tun. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit schon mehrfach von übergriffigem Verhalten berichtet wurde inklusive sexueller Nötigung einer ehemaligen Angestellten.

Was können wir von seinen Versprechen erwarten?

Der Wall Street hat Biden versprochen, dass alles beim Alten bleibe und er keine größeren Veränderungen vornehmen werde. Dies wird sich auch für die Ausbeutung der Menschen ähnlich verhalten. Er hat keine Lösungen für die Probleme wie steigende Armut oder (Jugend-) Arbeitslosigkeit.

Biden möchte einen besseren Neuaufbau nach dem „Build Back Better“-Konzept, kurz: BBB. Das heißt: staatliche Finanzierungen für einen „grüneren“ und „gerechteren“ Kapitalismus. Dies beinhaltet auch Elemente des Green New Deals. Konkret sollen 7 Billionen US-Dollar für grünen Verkehr und Maßnahmen, um den US-Kapitalismus aufzubauen und damit die Hoffnung auf gut bezahlbare Arbeitsplätze, ausgegeben werden. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Biden dieses Versprechen hält, und selbst wenn, ist die Rettung der sozialen Lage von unzähligen Menschen ohne ein bewusstes Eingreifen in die Produktionsverhältnisse nicht zu machen. Ohne Enteignung und Kontrolle der Betriebe durch die Beschäftigten ist es eher wahrscheinlich, dass die Förderungen bloß wieder in den Taschen der KapitalistInnen landen. Da die demokratische Mehrheit im Senat hauchdünn ist, sind bloß faule Kompromisse zu erwarten, die keinen annähernden Ausgleich für die Auswirkungen der Krise bringen, die die ausgebeuteten und unterdrückten Massen erlitten haben und noch werden, da der Senat die Vorschläge des Präsidenten blockieren kann.

Bei der #Black-Lives-Matter-Bewegung gegen rassistischen Polizeiterror ist Biden auf Versöhnung aus. Er stellt sich nicht konkret auf eine Seite, da er weder die AktivistInnen vergraulen will noch seine eher konservative Basis. Es ist natürlich eine Illusion zu glauben, dass dadurch eine Versöhnung möglich ist und es Gerechtigkeit für rassistisch Unterdrückte in diesem System geben kann. Dazu kommt noch, dass Biden schon in der Vergangenheit immer ein Verfechter von Recht und Ordnung war und damit die Rechte der Polizei eher stärken als schwächen wird. Als Lösung für die anhaltende Polizeigewalt sagte er, dass Polizist_Innen „ins Bein statt ins Herz schießen sollten“. Auch das Gesundheitssystem, welches momentan sehr profitorientiert ist und dringend verbessert werden müsste, wird wohl nicht grundlegend geändert, obwohl es eine zentrale Forderung des linken Flügels ist, dass es eine allgemeine Krankenversicherung geben soll.

Immerhin können wir damit rechnen, dass seine Corona-Politik nicht so katastrophal ist wie die Trumps, auch wenn es schwierig werden dürfte, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.

Wer ist in seiner Regierung?

Keines der Mitglieder seines Kabinetts, die bisher feststehen, gehört dem linken Flügel der Demokrat_Innen an. Weder Bernie Sanders noch Elizabeth Warren als wichtige linke Vertreter_Innen stehen auf der Liste. Biden selbst hat gesagt: „Das ist ein Team, das die Tatsache widerspiegelt, dass Amerika zurück ist. Bereit, die Welt anzuführen und sich nicht von ihr zurückzuziehen.“ Dass er für die Vorherrschaft des US-Imperialismus kämpfen wird, gibt er damit offen zu. Doch schauen wir uns mal einige Mitglieder an:

Bereits im Wahlkampf stand fest, dass Kamala Harris Vizepräsidentin werden wird. Dass sie als „Woman of Colour“ in diesem Amt ist, stellt für viele bereits eine Errungenschaft dar, jedoch zeigt ihr Lebenslauf, dass sie wenig mit den Kämpfen der meisten schwarzen Frauen in Amerika zu tun hatte. Außerdem trat sie in der Vergangenheit, wie auch Biden, für das Polizeiwesen, Sicherheit und Ordnung ein. Ihre harte Linie zeigt sie beispielsweise darin, dass sie die Kriminalisierung von Eltern unterstützt hat, deren Kinder die Schule schwänzen. Weiter hat sie auch einmal Ermittlungen gegen Polizisten, die einen Schwarzen erschossen haben, abgelehnt. Als „Woman of Colour“ erwarten viele von ihr einen Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung, doch auf die Frage, wie sie diesen Kampf unterstützen will, spricht sie bloß darüber, wer sie ist, aber nicht, was sie vorhat. Sie bedient damit die identitätspolitische Linie der DemokratInnen.

Außenminister wird Antony Blinken. Mit ihm kommt jemand auf den Posten, der für eine kriegerische Politik steht und sich für traditionelle Bündnisse, wie die NATO, einsetzen wird. Blinken wird auch eine Verbindung zur Rüstungsindustrie nachgesagt. In seiner Funktion als Nationaler Sicherheitsberater für Vizepräsident Biden unter Obama befürwortete er unter anderem die Unterstützung der USA für die saudische Intervention im Jemen, welche bis heute furchtbare humanitäre Folgen zeitigt.

Finanzministerin wird Janet Yellen, die während der Obama-Administration Präsidentin des Federal Reserve Board, also des Vorstands der Notenbank, war. Sie war maßgeblich an der staatlichen Rettung von Banken und Unternehmen während der Krise 2009 beteiligt. Mit ihr werden wohl großzügige Konjunkturpakete für Unternehmen zu erwarten sein.

All diese Punkte belegen den Klassencharakter des neuen Präsidenten und der Demokratischen Partei. Genauso wie Trump liegen seine Interessen ganz klar darin, das System zu retten und die USA an erster Stelle in der Welt zu halten, jedoch mit einer anderen Taktik. Auch die Kriegsgefahr kann zunehmen, gerade mit Hinblick auf Russland, China oder Iran, wenn es darum geht, die Größe der USA zu verteidigen. Für die Arbeiter_Innenklasse und unterdrückten Menschen wird sich wohl nicht viel ändern. Migrant_Innen werden weiterhin inhaftiert, „People of Colour“ durch Polizeiterror getötet, Sparmaßnahmen gefordert, Angriffe auf Rechte und Leistungen für Arbeiter_Innen fortgesetzt. Eine Erholung für die Arbeiter_Innenklasse wird es nicht geben.

Welche Perspektive gibt es?

Sicher ist Biden dazu bereit, noch weiter nach rechts zu rücken – mit Hinblick auf die wirtschaftliche Krise und den wachsenden Druck von rechts in Politik und auf der Straße, gerade nach dem Sturm aufs Capitol. Dadurch wird es wohl viele Kompromisse geben. Das kann auch dazu führen, dass der rechte Flügel der Demokrat_Innen weiter wächst und mit ihm die Angriffe auf die Unterdrückten und Ausgebeuteten.

Weder wird die Demokratische Partei die ArbeiterInnenklasse verteidigen, noch wird sie die Angriffe auf ihre Rechte abwehren. Sowohl die demokratische als auch die republikanische Partei sind Parteien des Kapitals und der Wall Street. Sie haben nicht die Absicht, das System grundlegend zu ändern, sondern würden vielmehr alles dafür tun, genau dieses System aufrechtzuerhalten. Umso wichtiger ist es, soziale Bewegungen wie BLM oder die Gewerkschaftsbewegung weiter aufzubauen und mit dem Ziel zu einen, eine ArbeiterInnenpartei in den USA zu etablieren. Eine Verbesserung der Lage schafft kein Präsident, sondern das kann nur der Druck auf die Regierung, der von den Ausgebeuteten und Unterdrückten kommen muss.




Westsahara: neuer Zank um Afrika

Urte March, Infomail 1134, 13. Januar 2021

In den letzten Tagen seiner Präsidentschaft wird das Chaos, das Donald Trump zu Hause anrichtet, durch kalkulierte Provokationen im Ausland ergänzt. Indem er die marokkanische Souveränität über das umstrittene Territorium der Westsahara im Austausch für die „Normalisierung“ der marokkanischen Beziehungen zu Israel anerkennt, hat Trump einen Doppelschlag gelandet: Er untergräbt selbst jeden noch so symbolischen Widerstand gegen Israels Annexion von besetztem palästinensischem Land und öffnet gleichzeitig ein ressourcenreiches afrikanisches Gebiet für die Ausbeutung durch das internationale Kapital.

Der Schritt ist ein Verrat an den Rechten der indigenen Sahrauis und birgt das Risiko, weitere Gewalt und Instabilität in der unruhigen Region zu schüren. Ein genauerer Blick auf den Konflikt in der Westsahara offenbart eine komplexe Dynamik der sich verschärfenden Groß- und Regionalmachtrivalität in Westafrika.

Hintergrund

Das Wüstengebiet der Westsahara ist umkämpft, seit sich die spanische Kolonialverwaltung 1975 zurückzog und ein versprochenes Referendum über die Selbstbestimmung aufgab. Die Region wurde in einen Bürgerkrieg zwischen einer neu gegründeten antikolonialen Befreiungsbewegung, der Polisario-Front, und den Nachbarländern Marokko und Mauretanien gestürzt, die beide auf territoriale Ansprüche drängten.

Marokkanische Streitkräfte übernahmen bald die Kontrolle über das Gebiet. Der darauf folgende Guerillakrieg führte zu einem Massenexodus von zivilen Flüchtlingen nach Algerien, dem Hauptsponsor der Polisario. Heute sind die geschätzten 200.000 Flüchtlinge, die immer noch in von der Polisario verwalteten Lagern außerhalb der algerischen Grenzstadt Tinduf leben, zum Überleben vollständig auf internationale Hilfe angewiesen. Die Polisario kontrolliert auch ein Stück unfruchtbares Land, das etwa 25 Prozent des Westsahara-Territoriums umfasst, die selbsternannte Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), die von der von Marokko verwalteten Zone durch die Berme abgetrennt ist, eine stark militarisierte Sand- und Steinmauer, die gebaut wurde, um Guerillas fernzuhalten.

Das versprochene Referendum über die Unabhängigkeit, das 1991 durch einen von der UNO vermittelten Waffenstillstand wiederbelebt wurde, kam nicht zustande, da es Streitigkeiten darüber gab, wer wählen darf und was auf dem Stimmzettel stehen soll. Währenddessen hat Marokko eine aggressive Siedlungspolitik betrieben, um eine Mehrheit für die Integration zu garantieren. Seit 1991 hat die Polisario den bewaffneten Kampf zugunsten einer politischen Kampagne und des Aufbaus einer Zivilverwaltung in den von ihr kontrollierten Gebieten weitgehend aufgegeben.

Doch zwei Jahrzehnte gescheiterter Diplomatie nähren den Ruf nach einem bewaffneten Befreiungskampf unter jungen Sahrauis, die keine Alternative zur Öde und Entbehrung in den Lagern sehen. Im November letzten Jahres kündigte die Polisario an, den Waffenstillstand offiziell zu beenden und Tausende von Freiwilligen zum Kampf zu mobilisieren, nachdem marokkanische Streitkräfte einen Pro-Unabhängigkeits-Protest in der Grenzstadt El Guerguerate gewaltsam aufgelöst hatten.

Imperialistische Interessen

Die USA sind das erste Land, das Marokkos Souveränität über die Westsahara offiziell anerkennt, was Marokkos regionaler wirtschaftlicher Expansion einen wertvollen diplomatischen Schub verleiht. Das Gebiet bietet reiche Beute, darunter Phosphat – ein begrenzt vorkommendes Mineral, das für synthetische Düngemittel unerlässlich ist –, Schiefergas und unerschlossene Binnenlands-Öl- und Gasreserven. Marokko und die Westsahara zusammen besitzen mehr als 72 Prozent aller Phosphatgestein-Reserven der Welt und bieten die Aussicht auf ein globales Monopol, da kleinere Reserven anderswo erschöpft sind.

Die strategische Lage der Westsahara an der Atlantikküste macht sie außerdem unverzichtbar für die Verbindung der sich schnell entwickelnden Länder südlich der Sahara mit Europa. Ein staatlicher Entwicklungsplan für die „südlichen Provinzen“ – ein Begriff der marokkanischen Regierung für die besetzte Westsahara – schlägt den Ausbau von drei Häfen vor, einschließlich eines neuen 1-Milliarde-US-Dollar-Megahafens in Ad-Dakhla, für den in diesem Monat die Ausschreibungen für den Bau beginnen sollen. Die Gewässer vor der Küste beherbergen auch eine lukrative Fischereiindustrie und ungenutztes Potenzial für die Erzeugung von Wind- und Gezeitenenergie.

Trumps Anerkennung der marokkanischen Souveränität öffnet die Schleusen fürs US-Kapital, und die Geier haben keine Zeit verschwendet. Als der Geschäftsführer von Soluna Technologies, John Belizaire, kurz nach Trumps Erklärung die Absicht seines Unternehmens ankündigte, einen 900-Megawatt-Windpark in Ad-Dakhla zu bauen, erklärte er, die Region sei „reich an Ressourcen und Potenzialen an Land wie auf See [und] wird als Brücke und Bindestrich zwischen Marokko und seiner afrikanischen Tiefe dienen“.

Aus den gleichen Gründen haben imperialistische Länder auf der ganzen Welt ein gemeinsames Interesse daran, die Westsahara für ihren eigenen Anteil an der „Entwicklung“ zu öffnen. Als Teil seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative wetteifert China bereits mit Marokkos traditionellem imperialistischen Sponsor, Frankreich, um den Bau eines neuen Abschnitts der Hochgeschwindigkeitseisenbahn in Marokko, die König Mohammed VI. versprochen hat, weiter südlich nach Ad-Dakhla zu verlängern. Russland hat kürzlich ein neues Fischereiabkommen mit Marokko unterzeichnet, das russischen Fangschiffen erlaubt, in den Gewässern vor der Westsahara zu fischen. Die EU arbeitet unter einem ähnlichen Fischereiabkommen, entgegen wiederholter Urteile des Europäischen Gerichtshofs.

Die Golfstaaten, die Investitionsmöglichkeiten sowie die Handelsvorteile einer besseren Anbindung an Europa ins Auge fassen, haben alle die marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara unterstützt, ohne die diplomatischen Folgen einer formellen Anerkennung zu riskieren. Als die Vereinigten Arabischen Emirate im vergangenen November eine diplomatische Vertretung in dem Gebiet eröffneten, sagten sie, dies sei eine „Anerkennung der ,marokkanischen Identität’“ der Westsahara.

Folgen

Die öffentliche Wiederbelebung der Beziehungen zwischen Marokko und Israel wird an sich keine wesentliche Abweichung vom Status quo darstellen. Jahrzehntelang hat die marokkanische Monarchie mit Israel in militärischen und nachrichtendienstlichen Angelegenheiten kooperiert, indem sie eine Rückschaltung zu anderen arabischen Nationen bereitstellte und im Austausch für Waffen, militärisches Training und verdeckte Operationen nachrichtendienstliche Informationen über Israels FeindInnen in der Region lieferte. Marokkanische BeamtInnen behaupten, dass sie keine vollen diplomatischen Beziehungen mit Israel aufnehmen, sondern nur „Verbindungsbüros“ wiedereröffnen, die im Jahr 2000 geschlossen wurden, und erklärten, dass die israelisch-marokkanischen Beziehungen „bereits normal“ seien. Die Zurückhaltung ist sicherlich zum Teil darauf zurückzuführen, dass 88 % der marokkanischen Bevölkerung, im Gegensatz zu ihrer reaktionären Monarchie, die diplomatische Anerkennung Israels ablehnen.

Mehr als alles andere ist die Ankündigung symbolisch – ein weiterer Sieg für Trumps „Deal des Jahrhunderts“ kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt und ein Gütesiegel für die Ausbeutung der Westsahara, die bereits in vollem Gange ist. Natürlich schadet er nicht nur den Sahrauis, sondern ist auch ein weiterer Schlag gegen die palästinensische Sache, da er die israelischen Menschenrechtsverletzungen und die illegale Besetzung der Palästinensergebiete weiter legitimiert.

Aber der Schritt könnte dennoch neue Probleme für Marokko und seine Verbündeten schaffen. Weitere Unruhen und bewaffneter Widerstand der Polisario werden durch die eklatante Missachtung des Völkerrechts wahrscheinlich noch verschärft werden. Algerien, das die Polisario-Front unterstützt und sie in der Vergangenheit mit Waffen und Finanzmitteln versorgt hat, hat sich bisher auf rhetorisches Anprangern beschränkt, könnte aber leicht eine energischere Intervention erneuern, wenn die Feindseligkeiten eskalieren. Eine komplexe Konstellation von bewaffneten Gruppen mit Verbindungen zu Marokko, Algerien und der Westsahara operiert in Mali und in der gesamten Sahelzone und könnte in den Konflikt hineingezogen werden, wenn er zu einem Stellvertreterkrieg entartet. Ein islamistischer Aufstand auf niedrigem Niveau im Norden Malis und im Tschad hat Frankreich veranlasst, sein militärisches Engagement in der Region zu verstärken und als Ordnungshüter für die Interessen der gesamten westlichen Allianz gegen die Übergriffe Chinas zu fungieren.

Nichtsdestotrotz scheint es, dass der Trend zur internationalen Anerkennung des marokkanischen Anspruchs auf die Westsahara wahrscheinlich weiter anhalten wird. Die kommende US-Administration unter Biden hat, obwohl sie selbst vielleicht keinen so aggressiven Schritt gesetzt hätte, wenig Anreiz, die Entscheidung zurückzunehmen, und unterstützt weitgehend Trumps Politik gegenüber Israel. Obgleich sie sich einst auf eine säkulare arabische nationalistische Tradition berief und ein Programm sozialer Reformen förderte, hat die Polisario-Front jetzt kein politisches Programm und keine Strategie, die über die Forderung nach Unabhängigkeit hinausgeht. Mit Algerien als einzigem regionalen Verbündeten verfügt sie über wenig internationalen Einfluss und besitzt kaum eine Chance auf nennenswerte militärische Fortschritte, selbst wenn sie nach 20 Jahren, in denen sie wie eine Nichtregierungsorganisation agiert hat, eine Kampftruppe mobilisieren könnte.

SozialistInnen unterstützen das Recht auf Selbstbestimmung für alle Nationen und unterstützen die nationalen Befreiungskämpfe der unterdrückten Völker, einschließlich der Sahrauis in der Westsahara. Doch wir erkennen auch an, dass die Unabhängigkeit allein die wirtschaftlichen oder sozialen Probleme nicht lösen wird; in einer Ära der imperialistischen Rivalität kann sie diese sogar oft verschärfen. Trotz ihres Reichtums an einigen wichtigen Ressourcen nennt die Westsahara eine winzige Bevölkerung ihr Eigen, und die Wüstenlandschaft macht Landwirtschaft und die meisten Industrien unrentabel. Selbst wenn die Unabhängigkeit möglich wäre, wäre das Land weiterhin völlig abhängig von ausländischen/m Investitionen und Schutz, sein halbkolonialer Status bliebe weitgehend unverändert.

Die einzige Möglichkeit, dem sahrauischen Volk kulturelle und wirtschaftliche Freiheit zu garantieren, besteht darin, dass es sich mit den ArbeiterInnenklassen der Nachbarländer, insbesondere mit der demokratischen Jugendbewegung gegen die verkrustete FLN (Nationale Befreiungsfront Algeriens)-Diktatur vereint und für den Sturz ihrer reaktionären Regime kämpft und sich in einer sozialistischen Staatenföderation zusammenschließt, die das imperialistische Kapital enteignen und für die Bedürfnisse der Völker der gesamten Region einsetzen kann.




USA: Stellungnahme zu Trumps faschistischer Provokation

Workers Power (USA) und Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1133, 7. Januar 2021

Die Erstürmung des US-Kapitols durch einen Mob von FaschistInnen, auf Veranlassung von Donald Trump, war ein gescheiterter Versuch des in die Enge getriebenen, aber immer noch bissigen Präsidenten, den Kongress (und den Vizepräsidenten) zu zwingen, die Anerkennung des demokratischen designierten Präsidenten Joe Biden aufzugeben.

Vor, während und nach der Wahl peitschte Trump den harten Kern seiner AnhängerInnen mit der Behauptung auf, dass die Demokratische Partei im Begriff wäre, die Wahl zu „stehlen“, und dies dann in die Tat umgesetzt hätte. Eine kleine Ironie daran, dass Trump selbst dabei ertappt wurde, als er den  Republikaner aus dem Bundesstaat Georgia, Brad Raffensperger, anbettelte, 11.000 Stimmen zu „finden“, um ihm den Sieg in diesem Staat zu gewähren.

In mehreren Tweets rief er seine AnhängerInnen am 6. Januar zu einem „wilden“ Versuch, Biden aufzuhalten, nach Washington auf. Am Tag selbst sprach er persönlich auf der Kundgebung, forderte seine AnhängerInnen auf, „stark zu sein“ und stachelte sie an, die Pennsylvania Avenue hinunter zum Sitz des Kongresses zu „laufen“, um die Minderheit der RepublikanerInnen zu unterstützen, die versuchten, die Bestätigung der Wahl von Joe Biden zu verhindern. Sein persönlicher Anwalt, Rudy Giuliani, rief sogar zu einem „Prozess durch Kampf“ auf.

Offensichtlich war es kein Zufall, dass der normalerweise schwer bewachte Capitol-Komplex nur mit einer symbolischen Polizeipräsenz versehen war, um mit einer Massendemonstration fertig zu werden, die von Trump zur Raserei aufgepeitscht worden war. In der Tat: Bilder zeigen, dass die Polizei Metallbarrieren öffnet, um den Mob durchzulassen.

Welche Intrigen auch immer hinter diesem höchst verdächtigen Einsatz der Sicherheitskräfte steckten, der in lebhaftem Kontrast zu den schwer bewaffneten paramilitärischen Kräften stand, die im Juni letzten Jahres friedliche Black-Lives-Matter-DemonstrantInnen angriffen, das Ergebnis war die weite Öffnung der Gräben innerhalb der Republikanischen Partei zwischen Trump-AnhängerInnen und einem Großteil des republikanischen Establishments. Es hat auch die Übereinkunft des Kapitals herbeigeführt, wenn nicht hinter Joe Biden, so zumindest in der Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung.

Vier Jahre lang hat sich das „respektable“ republikanische Establishment auf einen unberechenbaren Demagogen verlassen müssen, um die WählerInnen für sich zu mobilisieren. Viele von ihnen haben seinen vergeblichen Versuch, das Wahlergebnis zu unterlaufen, gerne mitgemacht. Eine große Anzahl von republikanischen Abgeordneten stimmte noch gegen die Ratifizierung.

Das Lancieren von lästigen Klagen, das Aufstellen von nachweislich falschen Behauptungen über Betrug, das Auffordern von GenerälInnen zum Eingreifen und sogar der Versuch einer dreisten Wahlmanipulation waren für viele von ihnen offenbar akzeptabel.

Aber zu einer Demonstration aufzurufen, um den Sitz der bürgerlichen Vertretung einzuschüchtern und das heilige Ritual der Übertragung der Exekutivgewalt von einer Partei auf die andere mit einer gewalttätigen Provokation zu unterbrechen, ging zu weit, wie die Kader des „tiefen Staates“ zweifellos deutlich machten.

Trotz des schmachvollen Scheiterns des Putsches hat er eine zweifache Bedeutung. Wie der Münchner Bierkeller-Putsch von 1923 hat er allen AnhängerInnen der „white supremacy“ (Überlegenheit der weißen „Rasse“) und faschistischen Gruppen einen gemeinsamen Bezugspunkt gegeben und sie in eine rechtsextreme Massenbewegung gezogen. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese entwickeln wird, aber es ist sicher, dass Biden und die DemokratInnen an der Regierung, die die Politik des Wirtschaftsliberalismus verfolgen, den rassistischen Sumpf, in dem sie gedeiht, nicht trockenlegen werden.

Trotzdem hat Joe Biden die Kontrolle über beide Häuser gewonnen, und nun wird sein Programm auf die Probe gestellt. Es ist unvermeidlich, dass er wenig oder nichts für die Gesundheitsversorgung für alle tun wird, die bei der Pandemie so lebenswichtig ist, wenig, um die Killer-Cops zu kontrollieren, wenig, um die Massenwelle der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Nicht zuletzt wird sich die Demokratische Partei als völlig nutzlos erweisen, wenn es darum geht, die demokratischen Rechte zu verteidigen, sei es gegen die staatlichen Kräfte oder gegen die wachsenden der FaschistInnen.

Der erste Test, den faschistischen Provokationen zu widerstehen, könnte schon bei Bidens Amtseinführung kommen. Die ArbeiterInnenbewegung, BLM und die Jugend, die DSA (Demokratische SozialistInnen), müssen mächtige Selbstverteidigungskräfte mobilisieren, um die FaschistInnen von den Straßen zu fegen, wo und wann immer sie auftauchen.

Aber alle Ausgebeuteten und Unterdrückten brauchen ein Programm der ArbeiterInnenklasse, um mit den miteinander verbundenen Covid-, ökonomischen, Klima- und Demokratiekrisen fertig zu werden: ein Programm der Hoffnung, das auf der Enteignung des Reichtums der Bosse und einer demokratischen Planung im Weltmaßstab beruht und die einzige Alternative zu den neoliberalen DemokratInnen und der rechtsextremen Politik der Verzweiflung darstellt.

Dies zu tun bedeutet, eine Partei der ArbeiterInnenklasse aufzubauen, unabhängig von den prokapitalistischen FälscherInnen Bernie Sanders und der „Riege“ (prominenter demokratischer SozialistInnen); eine Partei, deren Mitglieder die ArbeiterInnenklasse am Arbeitsplatz, in den Gemeinden und auf der Straße organisieren, als Teil des Klassenkampfes, um den Kapitalismus zu stürzen und zur sozialistische Revolution zu führen.




US-Imperialismus vor, während und nach Trump

Moritz Sedlak, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

1 US-Imperialismus: Geschichte und Perspektiven

Die USA sind die weltweit wichtigste imperialistische Macht. Das bedeutet, die Dynamik des weltweiten Kapitalismus ist maßgeblich von Entwicklungen bestimmt, die von den Vereinigten Staaten ausgehen oder sich, wie die zunehmende Konkurrenz aus China, auf ihre Rolle beziehen.

Der Fall der Sowjetunion zementierte die vermeintlich unanfechtbare Führungsrolle der USA. Seitdem ist sie aber zunehmend unter Beschuss geraten. Die ökonomische Seite dieser Entwicklung sind der anhaltende Verlust der Kostenvorteile in der Industrie, die Errichtung von Hochtechnologiezentren außerhalb der USA und die relative Abnahme der Bedeutung der US-Finanzindustrie. Politisch sind die Formierung der EU als imperialistischer Block (der aber weiterhin zu instabil für eine Unabhängigkeit vom US-Kapital bleibt), aber vor allem der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht Ausdruck dieser Anfechtbarkeit.

Dementsprechend steht die Außenpolitik der Trump-Regierung für eine bedeutende Veränderung des US-amerikanischen Imperialismus. Der Bruch mit vielen internationalen Handelsbündnissen und eine forschere Intervention in die Militärbündnisse, aber auch der Austritt aus der Weltgesundheitsbehörde WHO oder dem Pariser Klimaabkommen wird von den bürgerlichen Medien gerne als irrational dargestellt. Teilweise versteigen sich die angeblichen ExpertInnen sogar in einen Vergleich der Trump-Politik mit den Forderungen der Linken in der antiimperialistischen und Antiglobalisierungsbewegung besonders gerne unter Bemühung eines sehr vagen Begriff von Populismus.

Marxistische Analyse

Ulrich Küntzel skizziert in seinem Buch „Der nordamerikanische Imperialismus“ eine marxistische Analyse der US-Außenpolitik seiner Zeit. Wie Hilferding und Lenin versteht er die zentrale Rolle des Kapitalexports in der Zuspitzung internationaler Spannungen und damit in der Gestaltung des imperialistischen Weltsystems. Während wir über den zeitlichen Horizont seiner Darstellung hinausgehen, wollen wir uns in diesem Artikel an denselben Leitlinien orientieren:

Es liegt auf der Hand, daß Militarismus und Wettrüsten schon für sich allein die internationalen Spannungen verschärfen können. Das Finanzkapital spitzt jedoch die internationalen Konflikte auch wirtschaftlich zu: durch Kapitalausfuhr. Die Trusts jeder imperialistischen Nation suchen sich Rohstoffquellen und Absatzmärkte außerhalb der eigenen Staatsgrenzen zu sichern und ihre Konkurrenten mittels der eigenen Diplomatie und Wehrmacht – die USA daneben durch ihre Geheimdienste CIA und NSA – von den eigenen Einflußgebieten fernzuhalten.i

Das NAFTA-Freihandelsabkommen der USA mit Kanada und Mexiko war ein Paradebeispiel für imperialistische Machtausübung durch Handelsbündnisse und eines, an dem sich GlobalisierungskritikerInnen jahrelang abarbeiteten. Aus NAFTA sind die USA unter Trump ebenso ausgestiegen wie aus dem fertig verhandelten TPP im Pazifikraum und den TTIP-Verhandlungen mit der EU. Dazu kommen die offene und parteiische Unterstützung amerikanischer Unternehmen durch die außenpolitischen Institutionen und der Handelskrieg. Hier brach die Regierung Trump mit der Außenpolitik der letzten Jahrzehnte – eine wichtige Machtverschiebung zwischen den US-Kapitalfraktionen.

Trump begründete den Handelskrieg mit China mit „unfairen“ Wettbewerbspraktiken und forderte für zeitweise Deeskalationen den Kauf amerikanischer Waren ein. Auch der populäre Boykott von Huawei und das drohende Verbot der Social-Media-Plattform TikTok sind eine offene Ansage, MarktführerInnenschaften von chinesischen Unternehmen nicht zu akzeptieren. An die Stelle der Rhetorik vom freien Wettbewerb ist eine offene Rückendeckung von Firmeninteressen durch Außenpolitik und militärisches Säbelrasseln getreten.

Trumps Versprechen

Zentrale Wahlversprechen von Trump waren der weitgehende Truppenabzug aus Irak und Afghanistan und eine Einstellung der Einmischungen in Syrien und Libyen. Das ist so nicht umgesetzt worden. Auch aus dem „angedrohten“ Rückzug aus den NATO-Militärbasen in Europa ist ein Verschieben von Truppen in Länder mit vermeintlich US-freundlicheren Regierungen geworden. Dennoch haben Trump und seine Verbündeten eine zentrale Änderung der außenpolitischen Doktrin, weg von der „Weltpolizistin USA“, angekündigt. Die Bekanntgabe dieses Vorhabens wird von heftigen, aber kurzen Aggressionen begleitet, zum Beispiel dem angedrohten Krieg gegen den Iran. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den dauerhaft angelegten Besatzungs- und Einschüchterungskampagnen unter Bush und Obama.

Eine noch wichtigere Verschiebung gab es in Bezug auf Freihandelsabkommen, die man als zentrales Werkzeug imperialistischer Staatspolitik verstehen kann. In den 1980er und 1990er Jahren trieben sie und das „regelbasierte Handelssystem“ den Zugriff amerikanischer Kapitale auf die Halbkolonien des globalen Südens voran. Das war auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Kampagne der politischen Unterwanderung, geheimdienstlicher Kampagnen und militärischer Aggression gegen Regierungen, die sich dem nicht unterordnen wollten und vor allem in Lateinamerika größtenteils beseitigt wurden. Angesichts der weitgehend verlorengegangenen Wettbewerbsvorteile amerikanischer Unternehmen und des verschärften Wettbewerbs imperialistischer Kapitalexporte um die Überausbeutung des globalen Südens wurde die imperialistische Konkurrenz zunehmend zur Gefahr für die amerikanische Vorherrschaft.

Die militärischen Interventionen der USA waren ab den 1990er Jahre vor allem auf die Sicherstellung der Energieversorgung, direkt durch Erdölimporte und indirekt durch geostrategische Absicherung, motiviert. Die Blutbäder in den beiden Golfkriegen, die Invasion Afghanistans und die Besatzung des Irak waren die konkreten Ergebnisse, außerdem die stetige Einflussnahme auf afrikanische Länder und die Drohungen gegen Libyen und Iran. Hier veränderten der technologische Wandel und der Aufstieg der USA zur Energieexporteurin die Bedingungen. Die Interessen, zumindest aus der Energieindustrie, sind sogar umgedreht, weil sich die teure Förderung aus Schiefergas und Teersand nur bei hohen Weltmarktpreisen überhaupt lohnt.

Der imperialistische Staat

Die Rolle des kapitalistischen Staates ist die des „ideellen Gesamtkapitalisten“ii. Das bedeutet drei Dinge: Zuerst einmal muss der Staat das Gesamtinteresse, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, durchsetzen mit Repression und Befriedung gegen aufbegehrende ArbeiterInnen und Unterdrückung, mit Regulierung und Gesetzen gegen die kurzfristigen Profitinteressen der EinzelkapitalistInnen. Historisch bedeutete das auch und vor allem das (teilweise gewaltsame) Durchsetzen von Märkten, Eigentumsrechten und dem System der Lohnarbeit, die von Konservativen fälschlich als „natürliche Ordnung“ des Kapitalismus dargestellt werden.iii

Zweitens muss der Staat die Interessen der EinzelkapitalistInnen gegeneinander abwägen, im Großen den aufstrebenden Fraktionen den Vortritt erlauben, aber auch eine Art „fair play“ zwischen diesen sicherstellen. Aber zuletzt tritt der Staat auch selbst als Kapitalist in Erscheinung, ist also nicht nur Werkzeug der KapitalistInnen, sondern entwickelt eigene unternehmerische Interessen.

Diese Rolle wird noch einmal auf die Spitze getrieben vom imperialistischen Staat. Der hat wiederum zwei zentrale Aufgaben: (1) Das Erweitern der Absatzmärkte für die Warenproduktion des inländischen Kapitals und für den Kapitalexport, (2) das Abwägen der Interessenswidersprüche zwischen Kapitalfraktionen im eigenen Land. Für die USA als weltweite Führungsmacht kommt, wie für andere imperialistische Länder auch, noch das Abwägen der Interessen von verbündeten Staaten und ausländischen Kapitalfraktionen dazu.

Wo der Kapitalismus an die Grenzen der inländischen Kapitalakkumulation stößt, erweitern die stärksten Kapitale ihren Einflussbereich über die Staatsgrenzen hinweg. Beim Erschließen von Absatzmärkten, aber auch günstigen Ressourcen und Arbeitskraft werden sie in der Regel vom militärischen und diplomatischen Staatsapparat unterstützt. Mit anderen Worten orientiert sich die Aufgabenstellung des ideellen Gesamtkapitalisten Staat am Expansionsdrang der Einzelkapitale.

Sie orientiert sich nur oberflächlich am Warenverkauf. Tatsächlich ist die zentrale Aufgabe jeden Kapitals die Akkumulation, also die Verwertung durch die Ausbeutung von Arbeitskraft. Die imperialistische Wirtschaftspolitik orientiert sich deshalb auch zentral am Kapitalexport. Für die USA bedeutet das, die Profite aus US-amerikanischen Unternehmen entweder direkt oder durch Kredite in die Ausbeutung außerhalb der USA zu investieren, wobei die Profite in der Regel wieder an das Ursprungskapital zurückfließen. Buchhalterisch ist das angesichts der heute weit verbreiteten multinationalen Steuerkonstruktionen nicht ganz so einfach nachzuzeichnen, Konzernstrukturen und die Nationalität der BesitzerInnen der weltweit größten Unternehmen geben hier aber deutliche Hinweise.

Auf dieser Grundlage werden wir in diesem Artikel die Interessen der US-Kapitalfraktionen in verschiedenen Perioden und die Auswirkungen auf die Außenpolitik nachzeichnen. Nach einer kurzen Aufzählung der Veränderungen aus den letzten Jahren in Abschnitt 2 zeichnen wir die Entwicklung des US-Kapitalismus skizzenhaft nach. Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der Kolonisierung der USA, dem Aufbau des US-amerikanischen Kapitalismus und erster imperialistischer Bestrebungen sowie den qualitativen Brüchen im Ersten Weltkrieg und der Großen Depression. Abschnitt 4 behandelt die Ablösung der europäischen Kolonialreiche und der alten Koloniallogik durch den modernen Imperialismus, die Rolle des US-Finanzkapitals und die Konsolidierung der USA als imperialistische Führungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Abschnitt 5 beschreibt die geostrategischen Herausforderungen des Kalten Krieges, während Abschnitt 6 die Interventionen in Lateinamerika untersucht, auch um den Zusammenhang von Kapital- und Warenexport der USA mit Beispielen zu illustrieren. In Abschnitt 7 widmen wir uns schließlich der Periode des Freihandels und der „regelbasierten Weltordnung“ und besonders der Frage, welche Kapitalfraktionen diesen Kurs gegen andere, und zu deren Nachteil, durchsetzen wollten. Das erlaubt uns, im Abschnitt 8 die Bruchpunkte der US-Außen- und Wirtschaftspolitik in die Konflikte innerhalb des US-Kapitals einzuordnen. Die Vorstöße, aber auch Niederlagen der Trump-Regierung lassen sich dann ganz ohne Psychologisierung erklären. In Abschnitt 9 beschreiben wir schließlich die neue globale Situation, den grundlegenden Widerspruch zwischen den Interessen an protektionistischer Durchsetzung von kapitalistischen Einzelvorhaben und teurer geostrategischer Eingrenzung Chinas.

Das Ergebnis des Artikels ist eine historische Definition des US-Imperialismus, die eng an ein Verständnis der Kapitalexportdynamiken gebunden ist. Dieses auf die Situation besonders seit 2008 anzuwenden, und der Abgleich mit den Veränderungen der Trump-Außenpolitik im Vergleich zu den Regierungen Bush und Obama erlaubt uns schließlich, den Grundkonflikt im US-Imperialismus des 21. Jahrhunderts herauszuarbeiten.

2 Außenpolitik vor, während und nach Trump

Die Außenpolitik der USA steht auf drei stabilen Füßen militärischer, diplomatisch-geheimdienstlicher und wirtschaftlicher Herrschaft. Die Rolle als weltweite imperialistische Führungsmacht ist mehr als nur ein Regime des Kapitalexports (aber auch Kapitalimport über die amerikanischen Finanzmärkte), aber untrennbar damit verbunden.

Wie in jedem kapitalistischen Land ist ein stabiler politischer Herrschaftsanspruch, zum Beispiel des US-Präsidenten, an die Interessen wichtiger Teile des Kapitals und die weitgehende Duldung durch den Rest geknüpft. Das bedeutet in der Regel, dass scharfe Wendungen in der Regierungspolitik auch einen Wandel der Kapitalinteressen oder der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen widerspiegeln. Umgekehrt sind Logik und Stoßrichtung politischer Veränderungen nur mit einer vernünftigen Analyse der Kapitalinteressen verständlich.

Aus zwei Gründen sind es in den USA vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf widerspiegeln. Zum weltweiten Führungsanspruch als wichtigste imperialistische Macht kommt noch die weitgehende Dezentralisierung der Wirtschaftsgesetzgebung auf die Bundesstaaten (also Steuern, Mindestlöhne und Regulierungen) und ein komplexes System von „checks and balances“ (Gewaltenteilung) auf Bundesebene hinzu. Aus diesen beiden Gründen sind es vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf oft zuerst widerspiegeln. Gleichzeitig hat die internationale Konkurrenz, zum Beispiel der Führungsanspruch Chinas oder die Formierung der EU als imperialistischer Block, mehr Auswirkungen auf die führenden Kapitalfraktionen in den USA als in anderen Ländern.

In den 1980er Jahren fügte das Kapital in den imperialistischen Ländern, ausgehend von den USA und Britannien, der ArbeiterInnenbewegung mit der erfolgreichen neoliberalen Wende entscheidende Niederlagen zu. Der historische Burgfrieden SozialpartnerInnenschaft, der die Stabilität in den Zentren gesichert und eine stabile Überausbeutung der Halbkolonien ermöglicht hatte, wurde abgelöst durch eine gezielte Absenkung der Lohn- und Steuerkosten.

Gleichzeitig veränderte sich auch der außenpolitische Fokus der USA, von regelbasierten Absprachen in der Wirtschaftspolitik (beispielsweise das Bretton-Woods-Abkommen zur Währungsstabilität) hin zu immer wichtiger werdenden Freihandelsabkommen. Diese sicherten freie Wege für den imperialistischen Kapitalexport, Zugang zu Absatzmärkten für (vor allem technologieintensive) Konsumwaren und nicht zuletzt eine Kontrolle der ölfördernden Staaten, die mit der Ölpreiskrise ab 1973 für die imperialistische Herrschaft zu einem Unsicherheitsfaktor geworden waren. Die Freihandelsabkommen sollten Protektionismus verhindern und den Wettbewerbsvorteil der Industriekapitale in den imperialistischen Staaten auch auf Absatzmärkten fern der Produktionsstätte verwertbar machen. Gleichzeitig hängt die internationale Arbeitsteilung in Form von globalen Produktionsketten von ungehindertem Transport ab. Und zuletzt ermöglichten die InvestorInnenschutz-Paragraphen der multilateralen Abkommen wie GATT und WTO den finanziellen Kapitalexport, der zum Hauptgeschäft der US-amerikanischen Finanzindustrie wurde.

In dieser Zeit wurde auch die Eskalation von Schuldenkrisen in den Halbkolonien zu einer regelmäßigen Erscheinung. In der neoliberalen Neuordnung der internationalen Beziehungen wurde diese Verschuldung zum zentralen Hebel. IMF und Weltbank forderten im Gegenzug für „Rettung“ vor der Staatspleite den Ausverkauf verstaatlichter Infrastruktur, aber auch massive Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse ein. Davon profitierte das US-Kapital, das Investitionsmöglichkeiten in den privatisierten Industrien und fast unbegrenzte Ausbeutung von Rohstoffen und günstiger Arbeit erschloss.

Die Militärpolitik in dieser Zeit verband drei Hauptmotive: den geostrategischen Kampf gegen die Ausbreitung des Stalinismus (Vietnamkrieg), die Absicherung gegen erstarkende Ölrentenstaaten und das Eindämmen demokratischer und sozialer Bestrebungen in Lateinamerika und Afrika.

Vor allem seit dem Zusammenbruch der stalinistischen „Ostblock“staaten und ihrer Einflusssphäre sind die Interessen des US-Kapitals im Wandel. Der Wettbewerbsvorteil bei Lohnkosten und Profitabilität in der Industrieproduktion ist seit den 1990er Jahren weitgehend verschwunden, die Auslagerung von Produktion deutlich wichtiger. Danach war es vor allem die Vorherrschaft in der Hochtechnologie- und Finanzindustrie, die eine weitere Orientierung auf Freihandelsabkommen und die so genannte „regelbasierte Ordnung“ legitimierten. Dem Hochtechnologiesektor kommt der überproportionale Fokus auf geistiges Eigentum (TRIPS-Klauseln), dem Finanzsektor die Öffnung für Auslandsinvestitionen zugute, die in diesen Verträgen wichtige Rollen spielen.

Andere US-Kapitalfraktionen, die höhere Lohnkosten haben als die internationale Konkurrenz, wurden von diesen Abkommen aber teilweise schlechtergestellt. Und außerdem bedeuteten die europäische Integration durch das Zusammenwachsen der EU sowie der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht, dass zunehmend Produktionsketten ohne Endmontage in den USA aufgebaut wurden.

Gleichzeitig erschloss die Energiebranche in den USA neue Methoden der Ölförderung (vor allem Schiefergas und Teersand), deren Profitabilität aber an einen möglichst hohen Weltmarktpreis für Öl und Gas gekoppelt ist. Ihre Erwartungen an die US-Außenpolitik sind weniger, niedrige Öl- und Gaspreise sicherzustellen, sondern direkte Unterstützung gegen die Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das ist mitverantwortlich für die Debatten um russische Pipelineneubauten (zum Beispiel der Nordstream 2), zu denen die amerikanischen Unternehmen auch auf Schiffen transportiertes Flüssiggas (Liquified Natural Gas, LNG) als Alternative anbieten. Folgerichtig stand im „Friedensvertrag“ am Ende der Strafzölle gegen die EU auch eine Selbstverpflichtung, die LNG-Einfuhr bis 2023 zu verdoppeln. Für den Ausbau der Terminals sind 650 Millionen Euro an Subventionen geplant.iv

Das hat die Interessen des US-Kapitalexports deutlich verschoben. Statt im Freihandel eigene Vorteile auszuspielen (die es so auch nicht mehr gibt), rufen wichtige Kapitalfraktionen nach einer direkten Subvention ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch militärische und diplomatische Aggressionen. Dafür steht der Schwenk unter Trump, vor allem der Rückzug und die Neuverhandlung von Abkommen wie NAFTA, TTIP und TPP nach kurzen, aber heftigen Handelskriegen und das direkte Embargo gegen chinesische Hochtechnologie und russische Öl- und Gasprodukte.

Auch die Verschiebung in der Militärpolitik spiegelt diese neuen Interessen wider (auch wenn Trump sie bisher nicht gegen die entscheidenden Fraktionen im militärisch-industriellen Komplex der USA durchsetzen konnte). Der versprochene Rückzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzzeitig angestrebte Entspannung mit Iran und Russland sind möglich, weil das US-Kapital als Ganzes weniger von niedrigen Ölpreisen abhängig ist, teilweise sogar von hohen Kursen profitiert.

Die Außenpolitik der Trump-Regierung steht für den Anfang einer möglichen Verschiebung der US-Kapitalinteressen auf dem Weltmarkt. Sie ist nicht abgeschlossen und steht im Kampf mit anderen Kapitalfraktionen (vor allem in der Finanzindustrie), die den deregulierten Handel und Kapitalexport höher schätzen.

Gleichzeitig versucht sie aber den Spagat zwischen höherer Überausbeutung der Halbkolonien durch US-Kapitale und kostspieliger geostrategischer Absicherung gegen den imperialistischen Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht einfach auflösbar und wird durch die Wirtschaftskrise seit 2019 weiter zugespitzt. Bei gleichzeitigem Aufstieg Chinas wird er auf eine weltweite Eskalation hinauslaufen.

3 Der Aufstieg der USA von der Kolonie zur Militärmacht

Die USA begannen ihren aufhaltbaren Aufstieg zur Weltmacht als Ansammlung englischer, französischer und spanischer Kolonien. Die spätere herrschende Klasse ebenso wie die amerikanischen ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen gingen aus den KolonisatorInnen des nordamerikanischen Kontinents hervor. Die Besiedelung erfolgte nach bekanntem kolonialem Muster – Befestigung strategischer Landepunkte, schrittweise Eroberung oder Aneignung von Siedlungsgebieten auf Kosten der lokalen Bevölkerung und schließlich Zerstörung der bestehenden politischen Strukturen bis hin zur genozidalen Vernichtung aller indigenen Ethnien, die den Widerstand wagten.

Siedlerkolonialismus und Widerspruch zur kapitalistischen Produktionsweise

Die besondere Form des Siedlerkolonialismus bedeutete gewisse Herausforderungen für die Durchsetzung des globalen Kapitalismus. Nachdem die britische Vorherrschaft über die amerikanischen Kolonien mehr oder weniger feststand, wurde das zunehmend zum Problem. In Britannien war der Prozess (oder die erste Runde) der „ursprünglichen Akkumulation“ weitgehend abgeschlossen und alle wesentlichen Teile des Wirtschaftskreislaufs waren der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen. Die Subsistenzwirtschaft der Kleinbauern/-bäuerInnen war mit dem „enclosure movement“ zerstört und die ehemaligen SelbstversogerInnen waren entweder zu LandarbeiterInnen ohne Besitz an Grund und Boden als Produktionsmitteln degradiert oder als Proletariat in die Städte gezwungen worden.

In den amerikanischen Kolonien hatte diese Trennung von ProduzentInnen und Produktionsprozess, die berühmte Expropriation der ProduzentInnen, noch nicht stattgefunden. Ganz im Gegenteil drängte der Kolonisationsgedanke die KolonisatorInnen aus der Alten Welt zur Landnahme auf Kosten der lokalen Bevölkerung, aber damit auch zum Landbesitz und zur Selbstausbeutung als unabhängige ProduzentInnen. Marx macht im 25. Kapitel der Ersten Bandes des „Kapital“ auf den diametralen Widerspruch zwischen Mutterland und Kolonie aufmerksam:

Das kapitalistische Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt den Kapitalisten. Der Widerspruch dieser zwei diametral entgegengesetzten ökonomischen Systeme betätigt sich hier praktisch in ihrem Kampf.v

Folgerichtig beriefen sich die emigrierten KapitalistInnen auf ihre Macht und die Unterstützung „ihrer“ Regierung, um dieser Unausbeutbarkeit zu begegnen. Und das englische Parlament folgte mit Erlässen, die die Lohnarbeit vorschrieben, allerdings mit begrenztem Erfolg. Einen Kolonisator in Westaustralien, Peel, beschreibt Marx wie folgt: „Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3000 Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt, ‚blieb Herr Peel, ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen’. Unglücklicher Herr Peel, der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River!.vi

Die englischen Produktionsverhältnisse waren durch große landwirtschaftliche Betriebe und Industriekapital geprägt, an die die Masse der ehemaligen Kleinbauern/-bäuerInnen ihre Arbeitskraft verkaufte. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft war erzwungen durch die systematische Enteignung und die Gesetze gegen Arbeitslosigkeit inklusive der Arbeitslager ähnlichen „poor houses“ (Arbeitshäuser für Arme).

Die systematische Enteignung war im sich noch ausbreitenden amerikanischen Kolonialismus schwer möglich. Um die Kolonien zu vergrößern, musste das Land den indigenen „first nations“ gewaltsam abgenommen, aber auch bestellt werden. Familiäre bäuerliche und forstwirtschaftliche Betriebe an der „frontier“ waren das politökonomische Werkzeug der Wahl, was den Besitz der ProduzentInnen an ihren eigenen Produktionsmitteln ausdehnte, statt ihn einzuschränken.

Zentralisierte Produktionsverhältnisse herrschten vor allem in der Plantagenbewirtschaftung vor. Diese war vor allem für größere zusammenhängende Betriebe profitabel. Statt auf enteignete Kleinbauern/-bäuerinnen griffen die KolonistInnen, vor allem in den südlichen Kolonien, auf Sklavenarbeit und Schuldknechtschaften von AuswanderInnen zurück.

Schuldknechtschaft

In den amerikanischen Städten wurden die industriellen Produktionsverhältnisse, vor allem aber die bürgerliche Hauswirtschaft, auch gewaltsam mit Zwangsarbeitskraft bestückt. Vor allem die ärmsten EinwanderInnen tauschten für die Überfahrt eine jahrelange Arbeitsverpflichtung ein, die an die europäische Leibeigenschaft erinnert. Wie die Sklaverei hatten diese Arbeitsverhältnisse ihren Ausgang in den südlichen Kolonien, beginnend mit Virginia. Diese ArbeiterInnen leisteten ihre Schulden auch auf Plantagen ab.

Dieses Modell funktionierte vor allem im 17. Jahrhundert, als entlassene Haus- und FabrikarbeiterInnen quasi nahtlos durch die massenhaft nachkommenden EmigrantInnen ersetzt werden konnten. Ab dem 18. Jahrhundert nahm die Zahl der „indentured serfs“ (KontraktsklavInnen, -leibeigene) langsam ab. Der zentrale Unterschied zur Sklaverei bestand darin, dass kein gewaltsamer Menschenraub, sondern ökonomische Not den Ausgangspunkt bildete. Gleichzeitig waren die Leibeigenschaftsverhältnisse in der Regel zeitlich begrenzt, und die Betroffenen gingen danach als freie ArbeiterInnen, HandwerkerInnen oder SiedlerInnen in das Wirtschaftsgefüge über.vii

Sklaverei

Die großräumige Plantagenwirtschaft breitete sich ab dem 17. Jahrhundert von Virginia ausgehend vor allem in den südlichen Kolonien aus. Wie die Wollproduktion in England nahmen der zentralisierte Anbau und die industrielle Verarbeitung von Tabak, Reis, Baumwolle und Zuckerrohr die zentrale Rolle in der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in den amerikanischen Kolonien ein. Die ursprüngliche Akkumulation ist entscheidend, weil sie nicht nur die notwendige Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen der KapitalistInnen, sondern das Schaffen eines auszubeutenden Proletariats bedeutet. Die ursprüngliche Akkumulation schafft die wirtschaftlichen Voraussetzungen und die politischen Institutionen von Kapital und Lohnarbeit.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Akkumulation auf Kapitalseite vor allem durch die Ausbeutung von SklavInnen, die aus afrikanischen Ländern und Gesellschaften verschleppt wurden, erreicht. Die terroristische Zerstörung von Familien- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika durch SklavenhändlerInnen wurde auf dem amerikanischen Festland durch den Terror von Folter, Unterversorgung und riesigen Arbeitspensen fortgesetzt. Vor allem in den ersten Jahrzehnten der Sklaverei waren SklavInnen unglaublich günstig und wurden rasend schnell zum Tod durch Arbeit gezwungen. Entsprechend wurden von Virginia Gesetze erlassen, die die Entrechtung der SklavInnen (beziehungsweise die rechtliche Verfügung der SklavenbesitzerInnen) bis zur vollkommenen Entmenschlichung der AfroamerikanerInnen ausdehnten.

Unabhängigkeitskrieg

Bis zum Unabhängigkeitskrieg dehnte sich die Sklaverei so weit aus, dass in manchen Bundesstaaten mehr schwarze als weiße Menschen lebten. Gleichzeitig nahm die Bedeutung der Schuldknechtschaft bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg ab, sowohl im Vergleich mit der Sklaverei als auch mit Lohnarbeitsverhältnissen in den nördlichen Kolonien. Mit den schweren wirtschaftlichen Krisen des späten 18. Jahrhunderts wurden langfristige Arbeitsverträge für die unter Druck stehenden amerikanischen KapitalistInnen auch mehr zur Belastung. Die massive Beschränkung der Einwanderung nach der Unabhängigkeit und die etablierten sozialen Strukturen der freien Lohnarbeit lösten die Schuldknechtschaft als ökonomischen Motor der kapitalistischen Akkumulation schließlich ab.

1776 riefen 13 ehemals britische Kolonien die amerikanische Republik aus. Der Unabhängigkeitskrieg war gleichzeitig kolonialer Aufstand und eine vollwertige bürgerlich-demokratische Revolution. Er wälzte die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die immer mehr zum Hindernis der Produktivkraftentwicklung geworden waren, grundlegend um.

Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass der Nachbau der feudalen englischen Verhältnisse noch schwieriger war als die der kapitalistischen Produktionsbeziehungen. Bis auf das Hudson-Tal im heutigen Bundesstaat New York war es der britischen Krone nie gelungen, tatsächlich feudale Beziehungen in Amerika durchzusetzen (die feudale Enklave hielt dafür bis lange nach der Unabhängigkeitserklärung, nämlich bis 1839, durchviii). Trotzdem trug zum Beispiel die Beschwirtschaftung der Wälder in den westlichen Kolonialgebieten, die der Krone und der Marine vorbehalten war, durchaus feudale Züge. Auch der Landbesitz in den amerikanischen Kolonien war zunächst nach britischem feudalen Recht organisiert gewesen. Das bedeutete, die Krone (beziehungsweise ihre VertreterInnen vor Ort) vergab/en Landrechte und kassierte/n den Lehnszins (englisch: „quit rent“). Auch die Verdrängung der kolonialen Konkurrenz aus den Niederlanden, Spanien, Frankreich und sogar Deutschland hatte die Macht der britischen Krone gefestigt.

Gleichzeitig war es die Plantagenwirtschaft, in der neue Formen der Landwirtschaft (Monokultur) mit einer „neuen“ Form der Klassenausbeutung (Sklaverei) kombiniert wurden (Moore 2020)ix. Rechtlich war auch die Plantagenwirtschaft im Feudalismus verankert, die moderne Sklaverei war aber mit dem aufkommenden Kapitalismus ebenso vereinbar. Tatsächlich spielten die PlantagenbesitzerInnen der südlichen Kolonien eine wichtige Rolle in der Unabhängigkeit von der britischen Krone – ein klassisches Beispiel für die marxistische Überzeugung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grenzen der Produktionsverhältnisse sprengt.x

Dem Aufstand gegen die Monarchie gingen wichtige Rebellionen gegen lokale FeudalherrInen und SklavInnenhalterInnen voraus. Aufstände von SklavInnen und Schuldknechten/-mägden waren seit dem 17. Jahrhundert Teil der amerikanischen Geschichte und wurden nicht immer problemlos niedergeschlagenxi. Die Rebellion in Virginia 1676 („Bacon’s Rebellion“) brannte zum Beispiel die Hauptstadt der Kolonie, Jamestown, nieder.

Bei der Unterdrückung von ArbeiterInnen und SklavInnen standen KapitalistInnen und Kolonialbehörden auf derselben Seite. Aber die feudalen Landrechte standen der explosiven Produktivkraftentwicklung der amerikanischen KapitalistInnen im Weg. Steuern und Einfuhrbeschränkungen, aber auch die künstliche Verknappung der Geldmenge in den Kolonien, sollten verhindern, dass englische KapitalistInnen von ihren Landsleuten in den Kolonien ernsthafte Konkurrenz bekamen.

Gleichzeitig hatte sich im Krieg gegen indigene Nationen und die französische Kolonialkonkurrenz durch die ideologische Spaltungsrolle des Rassismus und die enorme Bedeutung, die den Kleinbauern/-bäuerinnen an der „frontier“ zukam, ein amerikanisches Nationalbewusstsein entwickelt. Dem stand die tyrannische Arroganz der britischen Krone als Feindbild gegenüber. Ein klassenübergreifendes Zweckbündnis wurde zum ersten Mal im Widerstand gegen die Stamp-Act-Steuern 1765 aktiv und begab sich vor allem im Streit um Steuern und Zölle in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1776 gewonnen wurde.xii

Der amerikanische Kapitalismus nach der Unabhängigkeit

Zu diesem Zeitpunkt waren die ehemaligen Kolonien keine Außenstellen des britischen Empires mehr. Plantagenwirtschaft, Bodenschätze und die enthemmte Ausbeutung der SklavInnen bildeten eine ernstzunehmende wirtschaftliche Grundlage, die Zusammenarbeit auf dieser Basis stellte eine eigenständige politische Kraft dar.

Die Schutzzollpolitik der ersten amerikanischen Regierungen schaffte es schließlich auch, eine eigene Schwerindustrie vor allem in den nördlichen Bundesstaaten aufzubauen. Die protektionistische Politik war bereits ein Streitpunkt unter der Kolonialherrschaft gewesen. Die britische Krone hatte schließlich aktiv versucht, den Aufbau einer eigenständigen amerikanischen Industrie zu verhindern. Es dauerte allerdings bis 1789, bis der amerikanische Kongress überhaupt das Recht bekam, bundesweite Zölle einzuführen, und bis nach dem Krieg gegen England 1812, bis diese hoch genug angesetzt waren, um als Schutzzölle bezeichnet zu werden.xiii Die Frage der Schutzzölle wurde auch zu einem zentralen Streitpunkt zwischen den späteren nördlichen und südlichen FeindInnen im BürgerInnenkrieg 1861 – 1865: Die Industriellen im Norden bauten sich ihre Produktion hinter den Zollmauern auf, während die landwirtschaftlichen GroßbesitzerInnen im Süden von günstig importierten Industrieprodukten weitgehend abhängig waren.

Nach dem Sieg der Nordstaaten im BürgerInnenkrieg setzten sich die Industrieproduktion und die doppelte Freiheit der ArbeiterInnen durch. Gleichzeitig wurde die systematische Entrechtung der schwarzen Bevölkerung weitgehend in anderer Form fortgesetzt. Das diente einerseits der enthemmten Ausbeutung von landlosen schwarzen Schuldknechten/-mägden als „sharecroppers“ (PächterInnen) in den großen landwirtschaftlichen Betrieben, andererseits dem Bündnis mit dem finanzstarken und enorm rassistischen Kapital in den Südstaaten.

Wendepunkt im Weltkrieg

In den ca. 50 Jahren zwischen BürgerInnenkrieg und Erstem Weltkrieg entwickelten sich die USA zu einer führenden Industrienation. Die Entwicklung zur imperialistischen Macht erfolgte jedoch bis zum Ersten Weltkrieg auf besondere Weise. Von einer dominanten Rolle des Kapitalexports, vor allem außerhalb des amerikanischen Kontinents, kann erst nach 1918 gesprochen werden.

Bis 1914 ähnelten die Kapitaleinfuhr und die Handelsbilanz der USA derjenigen eines unterentwickelten Landes, obwohl sie bereits die erste Industrienation der Welt waren. […] Wie ein unterentwickeltes Land führten sie [die USA; d. Red.] Agrar- und Montanerzeugnisse aus, und wie ein solches waren sie per saldo Schuldnerland, das heißt: das in den USA angelegte europäische, hauptsächlich britische Kapital betrug etwa 7,2 Milliarden US-Dollar, war also etwa doppelt so umfangreich wie das eigene Auslandskapital der USA, das etwa 3,5 Milliarden US-Dollar ausmachte.”xiv

Das war aber kein „Zurückbleiben“ des sich entwickelnden amerikanischen Imperialismus, sondern eher eine Besonderheit, eine Form von ungleichzeitiger und kombinierter Entwicklung, die wir auch bei anderen Großmächten vor dem Ersten Weltkrieg (z. B. dem ökonomisch rückständigen Russland) finden. Durch den fortschreitenden Landraub an den indigenen „first nations“ richtete sich die Expansion des US-Kapitals über weite Strecken nach innen. Die Staaten verfügten außerdem über eine breite Palette an natürlichen und seltenen Rohstoffen. Die Expansion auf der Suche nach Ressourcen war also nicht so drängend wie für kleinere imperialistische Staaten. Und zuletzt entwickelten sich die USA zu spät, um einen klassischen Kolonialismus anzustreben. Aus diesen Gründen stieß das US-Kapital in dieser Periode noch nicht an die nationalen Grenzen der Akkumulation.

In anderer Hinsicht beteiligte sich das Land aber sehr wohl an der imperialistischen Konkurrenz. Der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898 und die folgende Besatzung von Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen bedeuteten die Durchsetzung der eigenen Vormachtsansprüche auf beiden amerikanischen Halbkontinenten. Auch der gewonnene Krieg gegen Mexiko 1846 – 1848 war getrieben vom Anspruch, den potentiellen Konkurrenten klein zu halten. Mexiko war den USA als unabhängig gewordene Kolonie, geprägt von Plantagenwirtschaft, Genozid an der indigenen Bevölkerung und rascher kapitalistischer Entwicklung, recht ähnlich und durchaus ein natürlicher Konkurrent um die regionale Vorherrschaft – wobei der Begriff der Region auf die 12 Millionen Quadratkilometer Mexikos und der USA schwer anwendbar ist. Zu verhindern, dass sich andere ImperialistInnen in der eigenen Einflusssphäre entwickeln oder festsetzen konnten, war mehr als nur eine Vorbereitung des eigenen Aufstiegs, es war die Vorwegnahme der eigenen imperialistischen Kapitalexportpolitik.

Bereits vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg war das amerikanische Kapital tief in die Kampfhandlungen auf dem Kontinent verstrickt. Milliardenkredite an die kriegführenden Länder bedeuteten widersprüchliche Loyalitäten der amerikanischen Banken. Diese waren gleichzeitig groß genug und mit dem Industriekapital verwachsen, um die Voraussetzungen für den imperialistischen Kapitalexport darzustellen. Mit Kriegseintritt übernahm die Bundesregierung die Ausfallrisiken für die umfassenden Kriegskredite und gab selbst Kriegsanleihen an ihre europäischen Verbündeten von ungefähr 9 Milliarden US-Dollar aus. Die deutschen Reparationen aus dem Vertrag von Versailles gingen großteils direkt an die amerikanischen GläubigerInnen, ab 1924 auch sogar ohne den Umweg über französische oder britische Konten.xv

Durch diese Kredite wurden die USA während des Ersten Weltkriegs schlagartig zum weltweit führenden Kapitalexporteur. Gleichzeitig brachen sie mit dem System der britischen Vorherrschaft, das immer eine passive Waren- bei aktiver Kapitalbilanz aufrechterhalten hatte (also mehr Waren importierte als ins Ausland verkaufte). Die Schutzzollpolitik und die weitgehende Selbstversorgung mit Rohstoffen aus den sehr großen eigenen Gebieten ließen die USA zur ersten weltwirtschaftlichen Vorreiterin mit doppelt aktiver Außenbilanz werden.

Der Kapitalexport über Kredite und Auslandsinvestitionen führte über die Erträge zu einem stetigen Zahlungsfluss in die USA. Dasselbe galt für die Waren, die ins Ausland verkauft und aus dem Ausland bezahlt wurden. Strukturell waren die Importe durch geringen Arbeitseinsatz (und daher Arbeitswert), die großteils industriellen Exporte durch hohen Arbeitswert geprägt. „Kurz: als weltwirtschaftliches Führungsland sprengen die USA die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung.xvi

Hier zeigt sich auch, dass in der politisch-ökonomischen Analyse Imperialismus- und Krisentheorie nicht voneinander trennbar sind. Die hohe Abhängigkeit der amerikanischen Profite von inländischer Arbeit und die geringen Einsparpotentiale auf Kosten von Lohnsenkungen vertieften die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren ungemein.

Geschichte: Veränderte Lage durch Depression und Weltkrieg

Die Regierung unter Roosevelt versuchte zwischen 1933 und 1939, die strukturelle Krisenanfälligkeit und die soziale Instabilität durch Fiskalpolitik und einen garantierten Lebensstandard für die amerikanische ArbeiterInnenklasse zu lösen. Die durch die imperialistischen Extraprofite finanzierte höhere Absicherung der ArbeiterInnenaristokratie im Speziellen und der Klasse im Allgemeinen ist eine wichtige Voraussetzung für Stabilität in den imperialistischen Zentren. Dabei stützten sich die Vorschläge des „New Deal“ auf eine Koalition aus Teilen des Finanz- und Industriekapitals und versprachen die Befriedung der verarmten ArbeiterInnen und KleinBauern/-bäuerinnen. Die wichtigsten Elemente waren ein institutionalisiertes gewerkschaftliches Koalitionsrecht, eine Fixpreisgarantie für größere FarmerInnen, die Entflechtung der Industrie und die Trennung von Anlage- und Geschäftsbanken (Glass-Steagle-Act).

Das zweite große Versprechen des New Deals war eine frühkeynesianische Krisenstrategie, die zusammengebrochene Binnennachfrage durch Fiskalpolitik, also erhöhte und teilweise schuldenfinanzierte Staatsausgaben, wieder aufzurichten. Das scheiterte weitgehend. Erst der Zweite Weltkrieg, der über Rüstungspolitik und Preiskontrollen sowohl Beschäftigung als auch Profite stabilisierte, führte die USA aus der Krise. Aber auch die Schaffung staatlicher und genossenschaftlicher Energieträger wirkte sich stabilisierend auf Preise und Inflation aus.

4 Die veränderte Lage nach dem Zusammenbruch der europäischen Kolonialherrschaft

In Folge des Zweiten Weltkriegs standen sich zwei Modelle in der amerikanischen Außenpolitik gegenüber. Eine wirtschaftliche Vernichtung der europäischen KriegsgegnerInnen wurde, zum Beispiel durch den Morgenthau-Plan symbolisiert, vorgeschlagen, der die Binnennachfrage in Europa nachhaltig zerstört hätte. Dem gegenüber stand die großzügige Aufbauhilfe unter antikommunistischem Banner des Marshall-Plans, der schließlich zum Modell der amerikanischen Außenpolitik werden sollte.

Imperialistische Abhängigkeit der Halbkolonien

Die internationale Vorherrschaft durch Entwicklungspolitik und geopolitische Abhängigkeiten wurde für die USA umso wichtiger, als nach dem Zweiten Weltkrieg die verbliebenen europäischen Kolonialreiche zusammenbrachen. Anstelle der direkten Besatzung, die vor allem Britannien und Frankreich eine Vormachtstellung in der imperialistischen Aufteilung der Welt sicherte, trat die Dominanz durch Kapitalexport, Handelsabkommen, militärische Bedrohung und Geheimdienstapparate. Hier konnten die USA sich sowohl mit ihren besonders großen Ressourcen hervortun als auch vom weggefallenen Wettbewerbsnachteil gegenüber den ehemaligen Kolonialreichen profitieren.

Seit dem zweiten Weltkrieg ist das Imperium der Vereinigten Staaten an die Stelle der europäischen Kolonialreiche getreten. Es besteht aus völkerrechtlich unabhängigen Staaten, nicht Kolonien. Organisiert ist es durch nordamerikanische Kapitalausfuhr, und zwar durch direkte Investitionen (Bestand Ende 1972 25,2 Milliarden in den unterentwickelten Ländern, 94 Milliarden insgesamt), subsidiär durch die ,Auslandshilfe’. Die nordamerikanische Kontrolle variiert zwischen einerseits indirektem, elastischem Einfluß, dem nicht nur unterentwickelte Länder unterliegen, sondern auch die bis zum zweiten Weltkrieg selbständigen imperialistischen Mächte Europas sowie Japan, andererseits unverhüllter Waffengewalt, womit Marionettenregierungen wie die südvietnamesische, südkoreanische, guatemaltekische gegen ihre eigene Bevölkerung verteidigt werden.xvii

Das drückte sich auch in der Politik des „Cordon sanitaire“ (Sicherheitsgürtel) aus, mit dem sich die USA gegen ihre neuen Hauptfeinde Sowjetunion und China umgaben. Die USA bauten ihre geostrategische Absicherung auf der Abhängigkeit neokolonialer Staaten in Asien und Afrika auf. In einige dieser Länder gab es kaum Kapitalexport, und die „Entwicklungshilfe“ beruhte fast ausschließlich auf geostrategischen Interessen (Taiwan, Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Pakistan, Türkei, Israel und Griechenland). In Afrika mischten sich militärische mit wirtschaftlichen Interessen, wo es amerikanischen KapitalistInnen gelingen sollte, Profite mit Rohstoffausbeutung zu machen, zum Beispiel in Libyen (Erdöl), im späteren Kongo (Kobalt, Kupfer, Uran) und in Ägypten. In Südafrika profitierten AnlegerInnen von der höheren Profitrate aufgrund der Apartheiddiktatur und der systematischen Überausbeutung der schwarzen ArbeiterInnenklasse.

Umkehr in die Verschuldung

Die 1960er Jahre führten zum ersten entscheidenden Bruch in der Rolle des amerikanischen Imperialismus. Während in den 1920er Jahren die Zahlungsunfähigkeit der europäischen KreditnehmerInnen, die Schwierigkeiten hatten, ausreichend Dollars für Rückzahlungen zusammenzukratzen, das Bankensystem unter Druck gesetzt hatte, begannen die USA spätestens ab 1965, sich massiv in europäischen Währungen und Yen zu verschulden. Die Schulden überstiegen die Deviseneinnahmen um ein Vielfaches und dienten nicht zuletzt dazu, den extrem teuren Vietnamkrieg zu finanzieren.

Diese Verschuldung bewerkstelligten die USA vermittels der damaligen Stellung des Dollar als Weltwährung: die ausländischen Notenbanken mit Ausnahme der Banque de France hielten ihre Notendeckung überwiegend nicht in Gold, sondern in Devisen, hauptsächlich Dollardevisen.xviii

In dieser Periode drückte sich die imperialistische Vormachtstellung nicht mehr durch die internationale Dominanz der US-Kredite, sondern durch die militärische und politische Vormachtstellung innerhalb des westlichen Blocks aus. Diese militärisch-geheimdienstliche Überlegenheit wurde ab den 1960er Jahren wiederum zur Grundlage des Aufbaus weiterer ökonomischer Abhängigkeiten, auch und vor allem in Südamerika.

Amerikanischer Kapitalexport und der Krieg in den Hinterhöfen

Neben den genannten Interventionen in Asien und Afrika konzentrierte sich die US-Außenpolitik in den 1960er Jahren auch auf Lateinamerika. Das war eine direkte Fortführung der Marionettenregierungen und direkten Eroberungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Vor allem die engen Verflechtungen der fast monopolartig agierenden United Fruit Company mit dem Militär- und Geheimdienstkomplex der USA, inklusive Putschen, Diktaturen und Mordschwadronen gegen GewerkschafterInnen sind auch weltweit skandalisiert worden.

Eine zentralisierte Strategie in Lateinamerika wurde über die Entwicklungshilfe organisiert. Zur effizienten Verteilung und Erzwingung von politischen Reformen wurde 1961 die „Allianz für den Fortschritt“ gegründet, die Hilfszahlungen an konkrete politische Projekte und vor allem Landreformen knüpfen sollte.xix Das gleichzeitige Entwicklungsversprechen, in der Abhängigkeit massives Wirtschaftswachstum in den betroffenen Staaten zu ermöglichen, blieb selbstverständlich unerfüllt.

Die Dependenztheorie erkennt richtig, dass die Entwicklung der süd- und mittelamerikanischen Wirtschaften in dieser Periode fast ausschließlich vom Investitionsverhalten des US-Kapitals und den importierten Technologien abhängt.xx Der Kapitalexport aus den imperialistischen Ländern baut und festigt so die Grundlagen der internationalen Arbeitsteilung. Diese war bereits in der kolonialen Unterentwicklung durch den Kolonialismus festgelegt, wo die Rohstoff- und Arbeitsressourcen der Kolonien das Wachstum der Zentren finanzierten und das eigene dadurch gehemmt wurde. Die Übersetzung der wirtschaftlichen Abhängigkeit in entsprechende politische Strukturen sollte zum Beispiel durch die „Allianz für den Fortschritt“ institutionalisiert werden.

Die imperialistische Rolle der USA in Süd- und Mittelamerika beginnt knapp vor dem Ersten Weltkrieg, fällt also mit ihrem Aufstieg zur imperialistischen Macht zusammen. Zwischen 1897 und 1914 verfünffachten sich die US-Investitionen von 308 Millionen US-Dollar auf 1,6 Milliarden US-Dollar.xxi

Ab den 1960er Jahren nahmen die Direktinvestitionen erneut massiv zu und stiegen bis 1980 um das Dreifache, bis 1990 sogar um das Fünffache an.xxii In den meisten Ländern sank das Verhältnis ausländischer Direktinvestitionen zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 1914 und 1960 recht massiv, stieg jedoch bis 1990 wieder leicht an. Sowohl von den Interessen des US-Kapitals als auch von der Abhängigkeit der süd- und mittelamerikanischen Halbkolonien ausgehend, blieb der verächtlich „Hinterhof Amerikas“ genannte Halbkontinent also immer zentral für den US-Imperialismus.

Warenexporte

Wie zuvor ausgeführt, war der Aufstieg der USA zur imperialistischen Weltmacht nach dem Ersten Weltkrieg aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens war für den Durchbruch die amerikanische Kolonialgeschichte deutlich weniger relevant als die Kreditabhängigkeit anderer imperialistischer Staaten; die Bedeutung direkt-kolonialer Überausbeutung blieb für den amerikanischen Imperialismus weitgehend marginal. Zweitens waren die USA gleichzeitig Waren- und Kapital-Nettoexporteurinnen.

Mit dem Umdrehen der Kreditabhängigkeit nahm in den 1970er Jahren die Bedeutung des Warenexports wieder deutlich zu. Zwischen 1970 und 1974 stieg der Anteil der Exporte am US-Bruttoinlandsprodukt von 6 auf 10 %. Auf eine kurze Dämpfung des Exportwachstums 1981 – 1987 (wegen des gestiegenen Dollarkurses) folgte ein weiterer Anstieg bis in die 1990er Jahre.xxiii

5 Kalter Krieg und das „Ende der Geschichte“

Der Kalte Krieg war die prägende geopolitische Ordnung nach dem Sieg über den Nazifaschismus. Er war Ausdruck der Teilung der Welt in zwei Hauptblöcke, in denen die USA und die UdSSR jeweils wirtschaftlich vorherrschend waren. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass kapitalistische Produktionsformen vorherrschend sind und andere Produktionsverhältnisse dem untergeordnet werden. Genauso funktioniert das auch mit dem Imperialismus, der durch das kapitalistische Herrschaftsverhältnis zwischen Nationen „definiert“ ist, deren ökonomische und politische Dynamik die Grundlage einer Imperialismusanalyse sein muss. Eine „Checkliste“, mittels derer Kriterien abgehakt werden, um festzustellen, ob ein Land nun imperialistisch wäre oder nicht, gibt es nicht.

Imperialismus stellt vielmehr eine internationale, ökonomische und politische Ordnung dar. Es ist diese Totalität, nicht einzelne Eigenschaften, die einem Land und dessen Gesamtkapital eine bestimmte Stellung zuweist/zuweisen. Darüber bestimmt sich, ob ein Land imperialistisch ist oder nicht.

Der Sieg über den Faschismus erlaubte der Sowjetunion die umfassende Ausbreitung der bürokratischen Planwirtschaft und die endgültige Durchsetzung der Theorie von den geopolitischen „Einflusssphären“. Diese war gleichzeitig eine vorgeblich zeitweise Anerkennung der kapitalistischen Vorherrschaft außerhalb der sowjetischen Einflusssphäre. Auf der anderen Seite wurde durch den Sieg im Krieg ohne große wirtschaftliche Zerstörung im eigenen Land die Vorherrschaft der USA in den kapitalistischen Ländern abgesichert. Das US-amerikanische Kapital war in der Lage, durch Kriegsproduktion und Aufbau die Weltwirtschaftskrise zu überwinden.

Die antisowjetische Haltung wurde in den Nachkriegsjahren zu den Leitlinien der US-imperialistischen Politik. Militärbündnisse, Wirtschaftsverträge und „Entwicklungshilfe“ waren neben dem profitablen Kapitalexport auf die geostrategische Absicherung ausgerichtet. Die gemeinsame „Bedrohung“ erlaubte auch eine relative Einheit der konkurrierenden nationalen Kapitale unter amerikanischer Führung, zumindest in den imperialistischen Ländern.

Ein wichtiges strategisches Element des kalten Kriegs bildete der Rüstungswettlauf. Nachdem die sowjetischen Einflusszonen zu groß waren, um sie mit Embargos oder Boykotts erfolgreich in die Knie zu zwingen, stellten das Wettrüsten und kostspielige Kriege (Afghanistan, Kambodscha, Angola, Mosambik, Äthiopien und Nicaragua) einen Versuch dar, die bereits stagnierende bürokratische Planwirtschaft in die Krise zu treiben. Gleichzeitig war die Aufrüstung aber auch in den imperialistischen Ländern kostspielig, was diese durch Überausbeutung der Halbkolonien nicht immer ausgleichen konnten. Außerdem beförderte sie den Aufbau der Friedensbewegung und damit politischer Opposition in den imperialistischen Zentren – ein riskanter Widerspruch für ein System, das die Kontrolle über die Peripherie mit Privilegien für die heimischen ArbeiterInnen absichert. Die Unterdrückung des US-Proletariats in diesen Jahrzehnten war vor allem durch die rassistische Spaltung und weitgehende demokratische Entrechtung, aber auch das Fehlen einer ArbeiterInnenpartei und weitgehende Bindung der Gewerkschaften an die bürgerliche Ddemokratische Partei, abgesichert.

In der voranschreitenden Krise der sowjetischen Wirtschaft und damit der Herrschaft der Parteibürokratie waren vor allem die niedrige Arbeitsproduktivität und die Überproduktion nicht nachgefragter oder qualitativ minderwertiger Waren (in anderen Worten ein Versagen in der Gebrauchswertproduktion) bestimmend. Als Antwort fand die Fraktion unter Gorbatschow die Wiedereinführung kapitalistischer Marktmechanismen in der Perestroika-Politik (russisch: „Umstrukturierung“), während der zunehmenden Opposition aus der ArbeiterInnenklasse (zum Beispiel in Polen) mit einer Lockerung der politischen Repression im Rahmen der Glasnost (russisch: „Öffnung“) geantwortet wurde.

Dadurch kam es zum rapiden Aufstieg von neuen KapitalistInnen, die sich im Außenhandel eng an InvestorInnen aus den imperialistischen Ländern banden. Die planwirtschaftliche Bürokratie in ihrer Stagnation war nicht in der Lage, dieser explosiven Kraft zu widerstehen, und binnen weniger Jahre wurde die kapitalistische Wiederaneignung in der gesamten sowjetischen „Einflusssphäre“ zum großen Nachteil der ArbeiterInnen durchgesetzt.

Zu Beginn des Kalten Kriegs hatten sich die USA als unbestrittene Führungsmacht in der imperialistischen Welt durchgesetzt, wozu der gemeinsame Außenfeind aller KapitalistInnen mindestens ebenso bedeutend war wie der Kriegsgewinn. Dafür hatte sich eine andere „Supermacht“ als direkte Konkurrentin zum US-Imperialismus aufgestellt. Mit deren Untergang schien die Vorherrschaft des US-Kapitals besiegelt, einbetoniert, was sich im berühmten Buchtitel von Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ als Sieg der neoliberal-militaristischen Politik ausdrückte. Nur 30 Jahre später steht diese Vorherrschaft aber wieder auf dem Spiel. Es scheint fast, als würde die Geschichte der Klassengesellschaften kein kapitalistisches Ende kennen.

6 Freihandelsabkommen und regelbasierte Weltordnung, Krieg gegen die „islamische Welt“

Der Rückzug der Trump-Regierung aus zahlreichen multilateralen (also zwischen mehr als zwei Ländern abgeschlossenen) Verträgen von Pariser Klimaabkommen bis NAFTA wurde als potentielles Ende der „regelbasierten Weltordnung“ diskutiert. Diese wird auch als Gegenentwurf zum Chaos der imperialistischen Konkurrenz zwischen Handelskrieg und StellvertreterInnenkonflikten verhandelt. So schreibt zum Beispiel das deutsche Außenministerium in seiner Bewerbung um einen Platz im UN-Sicherheitsrat: „Als global vernetztes Land setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.xxiv

Die Ideologie von der regelbasierten, multinationalen und kapitalistischen Weltordnung findet ihren ersten Ausdruck in internationalen Organisationen wie dem Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen (UNO). Die liberal-demokratische Kritik an deren politischer Zahnlosigkeit wird vor allem deutlich, als im Gegensatz dazu weltweite Wirtschaftsabkommen ihre Durchsetzungsfähigkeit beweisen. Das Währungsabkommen von Bretton Woods und der Aufbau der Weltbank und des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg sind erste Beispiele für diese vertragliche Institutionalisierung.

Für die US-Vorherrschaft besonders bedeutend sind aber die Verhandlungsrunden um das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT 1947 (die 1995 in der Welthandelsorganisation WTO aufging) und die Gründung der G7 (Gruppe der sieben „wichtigsten“ kapitalistischen Nationen) nach der Ölpreiskrise 1973. Die Zahl der Freihandels- und Präferenzabkommen liegt mittlerweile in den Hunderten.xxv

Vorgeblich dienen diese Abkommen dem Zweck, gleichberechtigte oder sogar für unterentwickelte Länder vorteilhafte Bedingungen im Kapital- und Warenexport zu schaffen. Das baut auch auf den neoricardianischen oder neoklassischen Ideologien auf, dass ungehinderter (also zoll- und quotierungsfreier) Handel immer und für alle Beteiligten vorteilhafter ist.

Tatsächlich zeigt aber genau der wirtschaftliche Aufstieg der USA, wie „freier“ Handel die globalen Ungleichheiten und Abhängigkeiten noch verstärkt. Im kapitalistischen Wettbewerb setzen sich in der Regel die stärkeren Kapitale durch, und wo es Ungleichheiten im Warenfluss gibt werden diese nicht durch Gegengeschäfte, sondern durch Schuldenfallen ausgeglichen. Die Illusion von einer globalen Arbeitsteilung zum gegenseitigen Vorteil präsentiert sich in der Realität als Dystopie der imperialistischen Überausbeutung, organisiert von exportiertem Kapital.

7 Bruchpunkte: Wo machen die Trump-Maßnahmen einen Unterschied?

Rückzug aus multilateralen Abkommen

Die öffentlichkeitswirksamste Veränderung der US-Außenpolitik unter Trump war der Rückzug aus mehreren internationalen Abkommen, die zur Handschrift der Obama-Regierung gehört hatten. Neben dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zog sich Trump aus der „Transpazifischen Partnerschaft“ TPP der transatlantischen Handels- und Investmentpartnerschaft TTIP und dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zurück.

NAFTA war ein Modellbeispiel für den ausbeuterischen Charakter von Freihandelsabkommen, ein Symbol, gegen das linke AntiimperialistInnen und GlobalisierungskritikerInnen seit Jahrzehnten Sturm liefen. Während sich Ängste der Gewerkschaften nach einem Lohnverfall bei amerikanischen ArbeiterInnen durch vereinfachte Abwanderung nicht belegbar bewahrheitetenxxvi, zementierte NAFTA mit seinen Verkaufsquoten und Zollverboten die Abhängigkeit Mexikos von den USA. Die berüchtigten „InvestorInnenschutz“paragraphen, die es Unternehmen erlaubten, Staaten für unliebsame und profitgefährdende Gesetze zu verklagen, sowie Eingriffsrechte der USA in den Außenhandel Mexikos (zum Beispiel mit Kuba, Bolivien oder Venezuela) unterstrichen den offenen Herrschaftscharakter von scheinbar gleichberechtigten Freihandelsabkommen. Selbst konservative (neoklassische) ÖkonomInnen schätzen, dass die direkten wirtschaftlichen Vorteile, die NAFTA den US-KapitalistInnen brachte, nicht auf „ungehinderten“ Handel zurückzuführen sind, sondern auf Kosten der halbkolonialen VertragspartnerInnen gingen.xxvii NAFTA wurde 2018 von Trump aufgekündigt und durch das USMCA-Abkommen ersetzt, das außer einer schrittweisen Verbesserung der US-Position (Zugang zum kanadischen Markt für Landwirtschaftsprodukte, vorteilhafter Protektionismus in der Autoproduktion) keinen Bruch mit NAFTA darstellt. (USMCA = United States-Mexico-Canada-Agreement)

Auch TTIP war in Europa Gegenstand linker und linksliberaler Kritik, ebenfalls wegen des InvestorInnenschutzes und der Angleichung (also in Europa überwiegend der Verschlechterung) von Umweltschutz- und KonsumentInnenschutzregeln. Auch der offene Versuch, einen westlichen Wirtschaftsblock mit militärischer Hintergrundmusik gegen imperialistische Rivalinnen in China und Russland aufzubauen, drückte zwar nur die zunehmenden imperialistischen Zuspitzungen aus, weckte aber durchaus Widerstand. Die Verhandlungen um TTIP wurden 2016 von Trump abgebrochen. Nach dem vorläufigen Abschluss des Handelskriegs gegen die EU wurden 2019 Verhandlungen um ein neues Abkommen wieder aufgenommen.

Die transpazifische Partnerschaft TPP wurde als Bündnis von Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam unter Führung der USA 2016 unterschrieben. Es war das Kernstück von Obamas Asienstrategie zur Eindämmung des chinesischen Einflusses und wäre mit einer Abdeckung von 40 % der globalen Wirtschaft das größte Freihandelsabkommen der Welt gewesen. Die gegenseitige Bevorteilung in Handel, Zoll und vor allem Wertschöpfungsketten wäre nicht bloß auf den amerikanischen Kapitalexport, sondern auch auf die geopolitische Eindämmung Chinas ausgelegt gewesen. Die Trump-Regierung zog sich nur wenige Monate nach der Regierungsübernahme aus TPP zurück, das damit eigentlich hinfällig ist.

Ihr Rückzug ist generell nicht als Absage an den Freihandel und erst recht nicht als ideologische Ablehnung von Globalisierung oder weltweiten Produktions- und Ausbeutungsketten zu verstehen. Die von Trump als Feindbild bemühten „GlobalistInnen“ sind Elemente einer antisemitische Verschwörungstheorie und haben mit Globalisierung nichts zu tun. Vor allem die rasche Neuverhandlung nach dem Säbelrasseln von Handelskrieg und Embargodrohungen (die vor allem 2017 und 2018 das Verhältnis von USA, China und EU prägten) zeigt, dass kein Ende des „freien“ Handels ansteht. Vielmehr geht es darum, die implizite ökonomische Wahrheit, dass freierer Wettbewerb zugunsten der stärkeren Kapitale geht, noch einmal mit der militärischen, diplomatischen und geheimdienstlichen Stärke des US-„Gesamtkapitalisten“ zu unterstreichen.

Das amerikanische Kapital zeichnete sich zu Beginn seines ökonomischen Aufstiegs durch Wettbewerbsvorteile sowohl in der Industrieproduktivität als auch der Finanzinstitutionen aus. Nach der umfassenden Kapitalzerstörung in Europa und Ostasien durch den Zweiten Weltkrieg waren freierer Handel und Investititionsfluss die Schlüsselstrategie zur weltweiten amerikanischen Machtausübung.

Der Vorteil in der Produktivität ist dank partiellem Technologieexport, niedrigeren auwärtigen Lohnkosten und der teilweise maroden US-Infrastruktur ein abnehmender für den US-Imperialismus. Die zunehmende Bedeutung von „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ (TRIPS), die konservativen ÖkonomInnen ein theoretischer Graus sindxxviii waren ein Versuch, diesen Prozess zu verlangsamen. Gleichzeitig konnten Ende des 20. Jahrhunderts solche Positionsverluste durch die unangefochtene MarktführerInnenschaft in den Bereichen Hochtechnologie und Finanzwirtschaft ausgeglichen werden. Folgerichtig waren es diese Kapitalfraktionen, die den Freihandelskurs und besonders die steigende Bedeutung der Klauseln zum geistigen Eigentum und seine VertreterInnen stützten.

Auch der systematische Aufbau einer US-amerikanischen Energieunabhängigkeit war ein zentrales Ziel der Regierungen Bush und Obama, die spätestens 2019 die USA zu Nettoölexporteurinnen machten. Diese Unabhängigkeit wird mit vergleichsweise hohen Ölpreisen (zu denen sich nur die sehr schmutzige und teure Schieferöl- und Teersandausbeutung lohnt) erkauft, die andere Seite der Medaille der Kriege um Öl, die die US-Außenpolitik seit den 1990er Jahren prägt.

Die US-Vorherrschaft im Bereich der Hochtechnologie ist nicht mehr unangefochten. Vor allem im ostasiatischen Raum werden heute ähnlich leistungsfähige Halbleiterprodukte hergestellt und die entsprechende Software entwickelt wie um das Silicon Valley. Die Bedeutung der US-Finanzwirtschaft ist deutlich weniger bedroht, auch wenn die Abwicklung von Teilen des Welthandels mit chinesischen Renmibi und teilweise sogar Euros die Bedeutung anderer Börsen steigert. In der Folge der Finanzkrise 2008 sank jedoch die Bedeutung der Finanzindustrie im Vergleich zu anderen Kapitalfraktionen, die vom „regelbasierten“ Freihandel weniger hielten.

Der Kurs der Trump-Regierung widerspiegelt in erster Linie das Bedürfnis, diese stärksten Kapitalfraktionen im internationalen Wettbewerb zu stärken. Die gezielten Angriffe auf chinesische Technologieunternehmen (Huawei, TikTok) sprechen hier ebenso dafür wie die offene Forderung, mehr amerikanische Landwirtschafts- und Industrieprodukte zu kaufen.

Kriegspolitik

Die Präsidentschaften von Bush und Obama waren außenpolitisch vor allem von den Überfällen auf Afghanistan und Irak geprägt. Wie schon die ersten Golfkriege waren diese ökonomisch von einem Bedarf nach günstigem und preisstabilem Erdöl getrieben. Unter dem ideologischen Deckmantel des Kriegs gegen den Terror (und als institutionalisierter Hintergrund des modernen antimuslimischen Rassismus) stationierten die US-Truppen Hunderttausende SoldatInnen in und rund um die ölfördernden Länder Westasiens und im kleineren Ausmaß auch Afrikas.

In den letzten Jahren der Obama-Regierung wurde der direkte Konflikt mit Russland als potentiellem imperialistischen Konkurrenten wichtiger Treiber der Kriegspolitik. Die Unterstützung der rechtsextrem-neoliberalen Koalition in der Ukraine durch US-Truppen sowie die Interventionen in Libyen und Syrien hatten mehr mit diesem geopolitischen Konflikt als der Sicherung von Öl- und Gasversorgung zu tun. Tatsächlich bewegten sich die USA schon seit 2014 auf einen Energie-Nettoexport (bei ausreichend hohen Weltmarktpreisen, die die Förderungsmethoden profitabel machten) zu.

Das führte zu einer Verschiebung der Interventionen, weg vom Ziel, einen niedrigen Weltmarktpreis für Öl und Gas sicherzustellen. Es schuf aber neue Konflikte, die die Abnahme von amerikanischen Energieprodukten sicherstellen sollten. So muss man auch die zeitweise US-Forderung verstehen, keine neue Pipeline für russisches Gas zu bauen (Nordstream-2-Konflikt). Dasselbe gilt dafür, dass die EU sich im Auslaufen des Handelskrieges verpflichtet, ihre Einfuhr an amerikanischem LNG-Flüssiggas zu verdoppeln.

In diesem Lichte müssen auch der von Trump versprochene Truppenabzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzfristig angekündigte Entspannung mit Iran und Nordkorea gesehen werden. Hinter seinem Versprechen steht die Kosten-Nutzen-Rechnung der Kapitalfraktionen, die den Präsidenten offen gefördert haben. Vor allem für die Energieindustrie ist der Nutzen gering, der den enormen finanziellen und moralischen Kosten des Dauerkrieges gegenübersteht. Auch die versuchte Entspannung mit Russland hatte sich deutlich von Obamas Politik abgehoben, der in der Ukraine und in Syrien eigentlich StellvertreterInnenkriege eskaliert hatte.

In diesen Fällen überwiegt aber die Kontinuität und die Durchsetzungsfähigkeit des für die Außenpolitik relevanten industriell-militärischen Komplexes, also die Rüstungsindustrie und Teile von Armee und BeamtInnenapparat. Tatsächlich konnte sich Trump hier aber auch nicht gegen die „Falken“, die dortigen kriegsbegeisterten IrangegnerInnen durchsetzen. Folgerichtig deshalb wurde der Abzug nicht organisiert, und die USA intervenieren auch rund um die Ölvorkommen in Nordsyrien, zwischen Rojava und Südkurdistan (Nordirak). Es ist dennoch wichtig zu verstehen, dass es politökonomische Hintergründe für diese Wahlversprechen gibt.

In anderen Bereichen ist diese außenpolitische Verschiebung aber durchgesetzt worden. Die Bündnispolitik im arabischen Raum zielt auf Einzelabkommen, ideologische und militärische Zugeständnisse (Botschaftsverlegung in Israel, möglicher Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen an Saudi-Arabien) ab. Unter Obama orientierte die Strategie noch klarer darauf, die lokalen Mächte gegeneinander auszubalancieren, und war auch weniger auf direkte Loyalität zu den USA zugeschnitten. Der offene Unilateralismus, also das US-Diktat der Bedingungen, hat aber auch nicht nur zum Ziel, Einzelstaaten unter Druck zu setzen, sondern auch die Beziehungen zu anderen Verbündeten der USA zu verändern.

Auch an den reaktionären Entwicklungen in Lateinamerika waren die USA führend beteiligt. Das bedeuten zum Beispiel das Zurückdrängen von progressiven und linken Regierungen in Brasilien, Chile, Bolivien, der Abbruch der Entspannung mit Kuba und die Putschversuche in Venezuela. Diese Entwicklungen haben aber unter den Regierungen Bush und Obama begonnen und wurden unter Trump recht konsequent weiter vorangetrieben. Dahinter steht aber nicht nur die chauvinistische „Hinterhof“ideologie der 1970er Jahre, sondern der Versuch, chinesischen Einfluss in der Region zu beschränken. Das bezieht sich zum Beispiel darauf, dass sich Brasiliens Bergbau (vor allem die Kupferproduktion) als Zulieferer für Chinas Industrie zum weltwirtschaftlichen Motor in der Krise ab 2008 entwickelte, oder auch auf den chinesisch-nicaraguanischen Vertrag zum Bau eines Atlantik-Pazifik-Kanals (als direkte Konkurrenz zum amerikanisch kontrollierten Panama-Kanal).

Zusammengefasst scheint die Trump-Regierung in der Durchsetzung ihres außenpolitischen Programms schwach, hat aber in entscheidenden Punkten eine andere Stoßrichtung als die vorhergegangenen Regierungen. Die außenpolitischen Interessen des US-Kapitals verschieben sich, hin- und hergerissen zwischen einem zunehmenden Bedürfnis nach militärischer Schützenhilfe auf dem Weltmarkt und geostrategischer Bündnispolitik gegen den aufstrebenden Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht ohne weiteres auflösbar und wird zuerst in den USA eskalieren, um sich dann weltweit in offenen militärischen Konflikten zu entladen.

8 Ausblick: Die Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist, sich zuspitzende Widersprüche nach der Krise und die Konfrontation mit China

Der US-Imperialismus steht vor einer grundlegenden Neuordnung. Weil die USA die weltweit führende imperialistische Macht sind, gilt dasselbe für die globale Ordnung, und umgekehrt sind die Veränderungen in den USA auch Produkt der globalen Machtverschiebungen. Für die Analyse der US-Rolle sind drei Punkte entscheidend (1) die Machtverschiebung zwischen den Kapitalfraktionen im Inland, (2) der Aufstieg von China und Russland sowie die Formierung der EU zu imperialistischen Blöcken und (3) die widersprüchlichen Interessen, die sich in der amerikanischen Außenpolitik niederschlagen.

Der grundlegende Widerspruch zieht sich zwischen den Gründen für den und den Auswirkungen des Aufstieg/s von China zur imperialistischen Macht und direkten Konkurrenten der USA. Die direkten Gründe sind, dass US-amerikanische Kapitale schon im 20. Jahrhunderts den Kostenvorteil in der Industrieproduktion an andere aufstrebende Staaten abgeben mussten. Das ist eine direkte Folge der Tatsache, dass Wert nur aus menschlicher Arbeit entsteht und der zeitweise Kostenvorteil durch Produktivitätssteigerungen langfristig zu einer niedrigeren Profitrate tendiert.

Diese Entwicklung führte in den USA zu starkem Druck auf Lohnsenkungen. Ein Erhalt des Lebensstandards vieler ArbeiterInnen wurde durch den Import günstiger chinesischer Konsumprodukte ermöglicht. Das löste wiederum für China das Nachfrageproblem, wo KapitalistInnen ihre ArbeiterInnen sehr schlecht bezahlen konnten, ohne sich gesamtkapitalistisch Sorge um die Konsumnachfrage machen zu müssen. Diese Rolle übernahmen die amerikanischen ArbeiterInnen.

Durch die Dominanz der Finanzindustrie und des Hochtechnologiesektors der USA bedeutete der zunehmende Verlust der globalen „Wettbewerbsfähigkeit“ noch nicht, dass deren Stellung als imperialistische Führungsmacht gefährdet war. Der Aufbau von globalen Produktionsketten, die von amerikanischen Kapitalen dominiert wurden, erlaubte gleichzeitig den Kapitalexport über die Finanzindustrie und das Abschöpfen der Profite am Ende der „Wertschöpfungskette“ durch amerikanische IndustriekapitalistInnen. Der Aufbau von profitableren Hochtechnologiefirmen in Japan, Korea und China, der relative Bedeutungsverlust der US-Finanzindustrie im Laufe der Krise ab 2008 und der erfolgreiche Aufbau von Produktionsketten ohne amerikanische Beteiligung setzt aber dieser Periode ein Ende.

Das bedeutet eine Verschiebung der Interessen innerhalb des US-Kapitals. Weniger KapitalistInnen können erwarten, auf dem Weltmarkt der Freihandelsabkommen zukünftig bestehen zu können, und die das bewältigen, sind im inneramerikanischen Vergleich schwächer geworden. Dafür fordern mehr Kapitalfraktionen die direkte Unterstützung ihrer Wettbewerbsteilnahme auf dem Weltmarkt durch die militärische, diplomatische und geheimdienstliche Überlegenheit ein. Typische Beispiele sind vertragliche Abnahmequoten zum Beispiel für Agraprodukte oder Flüssiggas, Sanktionen gegen KonkurrentInnen, und Schutzzölle gegen ausländische Konsumgüter.

Gleichzeitig erfordert die Eindämmung Chinas aber breite geopolitische Bündnisse mit kleineren imperialistischen Staaten ebenso wie mit Halbkolonien. Denen muss dafür aber ein ökonomisch besseres Angebot gemacht werden als die klassischen chinesischen Infrastrukturinvestitionen im Billionenbereich. Neben direkten Kapitalanlagen zählt dazu auch das Angebot, gemeinsame Märkte zu konsolidieren, die im TPP-Abkommen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Beides ist aber teuer und läuft den Einzelinteressen bedeutender US-KapitalistInnen ziemlich direkt zuwider.

Diesen Widerspruch zu lösen, wäre die Aufgabe des Staates als imperialistischem Gesamtkapitalisten. Das geht sich nur aus, wenn die eigene Führungsrolle weiter abgesichert wird, eine weitgehend unrealistische Aussicht. Wir stehen am Ende der Periode der klaren US-Dominanz über die globale imperialistische Ordnung, die mittelfristig durch eine multipolare Herrschaft abgelöst werden wird.

Das spitzt aber auch die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten zu. Die vergangenen zwei Krisen ab 2008 und ab 2019 haben schon gezeigt, dass die Kapitalakkumulation in den imperialistischen Zentren an ihre Grenzen stößt. Es ist kein Zufall, dass diese Grenzen in den USA und der EU schneller erreicht sind als zum Beispiel in China oder Russland. Aber auch diese Länder haben definitiv krisenhafte Entwicklungen durchgemacht.

Die einzige Perspektive der kapitalistischen Krisenlösung ist für die imperialistischen Blöcke die Ausweitung der eigenen Absatz-, Rohstoff- und Arbeitsmärkte. Der Imperialismus ergibt sich aus den Krisentendenzen des Kapitalismus und ein Verständnis der imperialistischen Dynamiken macht eine tiefgehende Kenntnis der Krisendynamiken notwendig.

Weil die Halbkolonien und Einflusssphären weitgehend aufgeteilt sind, läuft das auf einen Konflikt um die Neuaufteilung der Welt hinaus. In kleinerem Ausmaß sehen wir das bereits am internationalen Auftreten Chinas, das geschickt die Spielräume aus der Freihandelslogik und in von den USA aufgegebenen Gebiete nutzt, um sich eine bessere Ausgangsbasis zu verschaffen. Ein anderes Beispiel ist der Zusammenprall russischer und amerikanischer Interessen in Bezug auf die EU. Dieser Widerspruch ist in der Ukraine eskaliert. Die daraus entstehende Kriegsgefahr ist nicht unmittelbar, aber unausweichlich.

Endnoten

i Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus. Zur Geschichte der US-Kapitalausfuhr. Sammlung Luchterhand 161. Neuwied und Darmstadt: 1974, S. 24

ii Engels, Friedrich: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke (MEW) Band 19, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 222

iii Wood, Ellen Meiksins. The Origin of Capitalism: A Longer View. New ed. London: Verso, 2002. Deutsche Ausgabe: Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche. Ausgewählte Werke Band I, LAIKA Verlag, LAIKAtheorie Band 55, Hamburg 2015

iv https://www.dw.com/de/eu-strebt-massive-steigerung-der-fl%C3%BCssiggas-importe-aus-usa-an/a-48572023

v Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW Band 23 (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 792

vi Ebenda, S. 794

vii Galenson, David W.: „The Rise and Fall of Indentured Servitude in the Americas: An Economic Analysis,“ 2020, S. 27

viii https://jacobinmag.com/2017/10/anti-rent-war-movement-feudalism-new-york

ix Moore, Jason W.: „Nature and the Transition from Feudalism to Capitalism,“ 2020, S. 77

x Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Das Manifest der Kommunistischen Partei“, in: MEW Band 4, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost 1959, S. 467

xi Kilson, Marion D. de B.: „Towards Freedom: An Analysis of Slave Revolts in the United States“, Phylon (1960-) Vol. 25, no. 2 (2nd Otr.. 1964), S. 175 – 187, https://doi.org/10.2307/273653

xii Aptheker, Herbert: „The American Revolution, 1763-1783: A History of the American People: An Interpretation“ Vol. 2, International Publishers Co, New York 1960

xiii Chang, 2007, 79f., in: Aptheker, Herbert, a. a. O.

xiv Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus …, a. a. O., S. 53

xv Ebenda, S. 83

xvi Ebenda, S. 90

xvii Ebenda, S. 148

xviii Ebenda, S. 132

xix Bodenheimer, Susanne: „Dependency and Imperialism: The Roots of Latin American Underdevelopment.“ Politics & Society 1, no. 3 (1971), https://doi.org/10.1177/003232927100100303

xx Dos Santos, 1968, 2. 28

xxi Taylor, Alan M.: „Foreign Capital in Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, March 2003, S. 13, https://doi.org/10.3386/w9580

xxii Ebenda, S. 29

xxiii Schmidt, Timothy J.: „The Rise of U.S. Exports to East Asia and Latin America“, 1994, S. 68, <https://duckduckgo.com/?q=Schmidt%2C+Timothy+J.%3A+%E2%80%9EThe+Rise+of+U.S.+Exports+to+East+Asia+and+Latin+America%E2%80%9C%2C+1994&t=ffab&atb=v1-1&ia=web>

xxiv https://verfassungsblog.de/voelkerrecht-klar-benennen-deutschland-im-sicherheitsrat-und-der-einsatz-fuer-die-regelbasierte-internationale-ordnung/

xxv Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System: How Preferential Agreements Undermine Free Trade“, Oxford University Press, Oxford/New York 2008, S. 12

xxvi Caliendo, Lorenzo/Parro, Fernando: „Estimates of the Trade and Welfare Effects of NAFTA“, The Review of Economic Studies 82, no. 1 (January 1, 2015), S. 1 – 44, https://doi.org/10.1093/restud/rdu035.

xxvii Rodrik, Dani: „What Do Trade Agreements Really Do?“, Journal of Economic Perspectives 23, no. 2 (May 1, 2018, S. 73 – 90), S. 74, https://doi.org/10.1257/jep.32.2.73, https://j.mp/2EsEOPk

xxviii Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System … “, a. a. O.




USA: Was können wir von „Bidenomics“ erwarten?

Marcus Otono, Infomail 1129, 8. Dezember 2020

Es ist verlockend, einen Blick auf die 50-jährige Karriere des designierten Präsidenten der USA, Joseph Robinette Biden, Jr., in der Politik zu werfen. 48 Jahre agierte er bisher auf nationaler Ebene im Senat und als Vizepräsident. Diese langjährige Bilanz kann uns bei einer aktuellen Einschätzung seiner Wirtschaftspolitik helfen. Und es wäre richtig, wenn man versuchen würde zu beurteilen, wo seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung liegt. Wenn uns das Jahr 2020 jedoch irgendetwas gezeigt hat, dann, dass eine rein historische Bewertung, sei es von Parteien oder PolitikerInnen, unter den erdrückenden Bedingungen der anhaltenden und mehrfachen Krisen der Nation nicht ausreicht.

Wie jemand unter den Bedingungen kapitalistischer Stabilität regieren und reagieren wird, im Vergleich z. B. mit der Zeit vor der Großen Rezession von 2008, gilt vielleicht nicht unter dem dreifachen Schlag von COVID-19, einem schweren wirtschaftlichen Abschwung im Zusammenhang mit der Pandemie und einer scharfen Krise der sozialen Gerechtigkeit, die durch den Polizeiterror gegen Minderheiten, insbesondere Schwarze, ausgelöst wurde.

Es ist auch nützlich, sich daran zu erinnern, dass vor der Reihe tiefer wirtschaftlicher Krisen in den 1970er Jahren, die den langen Boom beendeten, als der Neokeynesianismus die vorherrschende Wirtschaftsideologie war, die Vorväter des Neoliberalismus, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, als ideologische Außenseiter, wenn nicht gar als Sonderlinge angesehen wurden. Nach der „neoliberalen Revolution“ von Reagan-Thatcher waren es die KeynesianerInnen, die wie die Dinosaurier behandelt wurden. Dies sollte uns daran erinnern, dass tiefe kapitalistische Krisen, in denen alte Methoden einfach nicht funktionieren, zu einem umfassenden Umdenken der IdeologInnen führen, und nicht umgekehrt.

Neoliberalismus

Unter den DemokratInnen war Biden ein früher bekehrter Anhänger des Neoliberalismus. Er wurde ein starker Befürworter ausgeglichener Haushalte und unterstützte Steuersenkungen, die die Sozialausgaben einschränkten. Diese endeten in der Ära, die von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Großer Gesellschaft dauerte. Biden stimmte zusammen mit 36 DemokratInnen für den ersten Haushalt von Ronald Reagan. Wie ein kürzlich erschienenes Buch über Biden zeigt, hatte dies schlimme Folgen für die Menschen, die die Demokratische Partei wählten.

„Die Kürzungen haben unzählige Menschenleben ins Chaos gestürzt: 270.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst verloren ihren Arbeitsplatz, mehr als 400.000 Familien wurden von der Sozialhilfeliste gestrichen und mehr als 1 Million Beschäftigte hatten keinen Anspruch auf erweiterte Arbeitslosenunterstützung.“ (Baranko Marcetik, Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden, Verso, New York 2020, S. 49)

Es ist also keine Übertreibung zu behaupten, dass Biden ein entschiedener Anhänger des kapitalistischen Systems und der MilliardärInnenelite ist, die dieses System kontrolliert. Es ist auch nicht falsch zu behaupten, dass Biden kein Problem damit hat, die Ziele des US-Imperialismus in der Welt mit offener und verdeckter militärischer Macht zu unterstützen, was ihn, politisch gesehen, in den USA zu einem Neokonservativen machen würde.

„Ich habe dafür gestimmt, in den Irak zu gehen, und ich würde dafür stimmen, es wieder zu tun“, sagte Biden im August 2003. Er unterstützte auch den Krieg gegen Afghanistan und trat auch für die Invasion Großbritanniens auf den Malvinas ein. (In: Baranko Marcetik, Joe Biden the hawk, Jacobin Magazine, 08.02.2018)

Alle diese Beobachtungen über Joe Biden sind wahr, aber daraus zu schließen, dass sie die Wirtschaftspolitik unter einer Biden-Präsidentschaft kurz- bis mittelfristig, d. h. bei der Bekämpfung des COVID-19-Virus, der Rezession und während des Aufschwungs, bestimmen werden, wäre eine zu voreilige Schlussfolgerung.

Der Grund dafür, dass die politischen Instinkte von Präsident Biden in seinen ersten Jahren abgestumpft oder relativiert werden könnten, lässt sich auf eine Sache reduzieren. Wenn ein Land vor einer größeren Krise steht, ist die erste Pflicht des bürgerlichen Staates – unabhängig von der aktuellen Doktrin – die Rettung des Systems. Die USA taumeln durch eine von einer Pandemie angeheizte Rezession, die schlimmer ist als die, die uns 2008 getroffen hat. Das bedeutet, dass Biden wie ein Getriebener Ausgaben tätigen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, das System zu retten, das am Rande des Abgrunds eines möglichen Zusammenbruchs steht.

Bidens politische Karriere hat indessen trotz aller Ideologien, denen er zeitweise anhängt, eines gezeigt: dass er ein politischer Pragmatiker ist. Pragmatisch gesprochen: Wenn Biden Erfolg haben will, darf er nicht an eine Agenda von Sparmaßnahmen und niedrigen Steuern gebunden sein, in der Hoffnung, dass sie fruchtbar wird, denn das war nie der Fall und wird es auch nicht sein.

Natürlich wird der Erfolg von Konjunkturprogrammen nicht allein von Biden und der Demokratischen Partei abhängen. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass die RepublikanerInnen in keiner Weise aus dem Regierungsrahmen herausfallen. Sie scheinen tatsächlich Sitze im Repräsentantenhaus gewonnen zu haben, obwohl die DemokratInnen dort immer noch über eine knappe Mehrheit verfügen. Und Biden hat die Präsidentschaft gewonnen, obwohl der Wahlverlierer Trump noch nicht formell nachgegeben hat und mit unseriösen Klagen und regelrechten Raubaktionen versucht, die Ergebnisse zu kippen, und mit Verzögerungstaktiken kämpft. Trump wird wahrscheinlich keinen Erfolg haben, aber da er und die Republikanische Partei die Bundesgerichte mit ihrem Gefolge vollgepackt haben, können sie nicht völlig ausgezählt werden, bis das Wahlkollegium zusammenkommt und den Biden-Sieg offiziell macht.

Dann gibt es da noch den Senat, die antidemokratische Institution, die während ihrer gesamten Existenz ein Fluch für progressive Initiativen war. Seit mindestens 2010, als der republikanische Senator Mitch McConnell Mehrheitsführer dieser Kammer wurde, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, jegliche Gesetzgebung oder Initiativen der Demokratischen Partei in der Exekutive oder Legislative zu behindern, selbst solche, die als „mitte-rechts“ gelten würden. McConnells Obstruktionspolitik diente nur dazu, „Siege“ der Legislative unter den DemokratInnen zu verhindern, und in dieser Eigenschaft kann von ihm erwartet werden, dass er alles einschränkt, was Biden vorbringt, nur weil Biden ein „D“ (Demokrat) hinter seinem Namen trägt.

Dann stellt sich also die Frage, ob die Republikanische Partei den Senat behalten wird. Diesem Ziel ist sie nach den Wahlen nahe. Sollten sie auch nur eine der Stichwahlen zum Senat in Georgia gewinnen, wird McConnell ein Vetorecht über Bidens Wirtschaftsinitiativen und sogar über die Auswahl seines Kabinetts haben. Mit einer Wende zu Gunsten der Demokratischen Partei bei den Wahlen in Georgia wird Biden jedoch eine effektive Mehrheit haben, eine Stimmengleichheit im Senat mit Vizepräsidentin Kamala Harris als ausschlaggebender Stimme.

Damit die Rechnung von McConnell aufgeht, darf freilich kein/e RepublikanerIn, die Disziplin zu brechen und mit der Demokratischen Partei abzustimmen. McConnell hat während seiner Jahre als Mehrheitsführer die republikanische Disziplin bemerkenswert gut eingehalten, aber es gab gelegentlich Ausreißer, vor allem Mitt Romney, Lisa Murkowski und Susan Collins. Mit republikanischen Siegen in Georgia wird McConnell zumindest die Gelegenheit haben, alles, was Biden zu tun versucht, zu bremsen und möglicherweise zu blockieren.

Besserer Neuaufbau

Was wird Präsident Biden zu tun versuchen, und wie stehen die Chancen, dass es ihm gelingen wird, das als Gesetz in Kraft zu setzen? Nun, es heißt „Build Back Better“ (Besserer Neuaufbau; BBB). Das Konzept basiert, grob gesagt, auf der Katastrophenhilfsstrategie der Vereinten Nationen, die 2015 in Sendai, Japan, für die Planung des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen entworfen wurde. Diese Strategie ist gewissermaßen das Gegenteil dessen, was von Naomi Klein als „Katastrophenkapitalismus“ betitelt wurde. Während der Katastrophenkapitalismus natürliche, politische und wirtschaftliche Schocks nutzte, um ein reines und unregulierte „Überleben des Stärkeren“ des Kapitalismus zu durchzusetzen, was als Neoliberalismus bekannt wurde, nutzt das BBB-Konzept die Wiederaufbaubemühungen nach Katastrophen, um auf eine zentralere Planung zu drängen, mit staatlicher Finanzierung, die eine Wirtschaft auf grünere, gerechtere und allgemein eher „linkspopulistische“ Weise wiederaufbaut. Kurz gesagt, bedeutet dies eher eine Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftspolitik, wie sie von den New-Deal-DemokratInnen in den USA und den sozialdemokratischen und Labour-Regierungen in Europa verfolgt wird. Hinzu kommen Elemente der Modern Money Theory (Moderne Geldtheorie; MMT). In Bidens ursprünglichen Vorschlägen ist die Rede davon, über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 7 Billionen US-Dollar für die Modernisierung der Infrastruktur, „grüne“ Verkehrsinitiativen und andere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auszugeben, aber mit zusätzlichen Maßnahmen, um auch die interne Gewerbebasis des US-Kapitalismus wieder aufzubauen. Dies würde im Idealfall für gut bezahlte Arbeitsplätze innerhalb der USA sorgen.

Ironischerweise greift dieser Wiederaufbau der US-Produktionsbasis auch auf unheimliche Weise Donald Trumps Ideen über die Notwendigkeit deren Wiederaufbaus auf, auch wenn sich das „Wie“ dessen, der Protektionismus bis hin zu Handelskriegen, von Trump unterscheidet. Die Bezahlung für diese ehrgeizigen Programme würde durch eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Wohlhabenden erfolgen, zusammen mit einer gewissen geldpolitischen Lockerung im MMT-Stil durch die US-Notenbank und natürlich durch „Wachstum“. Das ist immer der Rückgriff auf einen buchhalterischen Trick im Kapitalismus, um Haushaltsdefizite zu verniedlichen. „Wachstum“ soll immer Defizite abdecken, auch wenn niemand weiß, ob es eintritt oder das auch tut.

Die Inspiration mag der Sendai-Plan sein, aber er leiht sich auch viel von Roosevelts ursprünglichem New Deal in seinem Bestreben, die wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern und die Infrastruktur wieder aufzubauen, was mit Roosevelts Kriegsanstrengungen in den 1940er Jahren und mit Trumans Kaltem Krieg erst richtig in Gang kam. Diese Fakten sollten uns daran erinnern, dass die nationale Einheit zwischen den Parteien und mit der organisierten ArbeiterInnenklasse nur unter Kriegs- und Halbkriegsbedingungen möglich war. Und sie wurde durch den massiven Anstieg der Profitrate unterstützt, der durch die Zerstörung, Abnutzung und Erneuerung veralteten US-Kapitals verursacht wurde. Ohne dies hätten die Staatsausgaben allein nicht den langen Boom erzeugt. Als sie Ende der sechziger Jahre zurückging, vervielfachten sich die Krisen mit Stagnation und Inflation, und die Ära des New Deal und der Großen Gesellschaft endete. Der junge New Dealer Biden „reifte“ zu einem Fiskalkonservativen heran. Wird er sich nun wieder zu einem New Dealer zurückentwickeln?

Biden gab den Startschuss für diese Lobbyarbeit zum Wiederaufbau der US-Infrastruktur am Montag, den 16. November, durch ein Treffen mit UnternehmenschefInnen, darunter die Vorstandsvorsitzenden von GM, Microsoft, Target, Gap Inc. und den GewerkschaftsführerInnen, allen voran Richard Trumka von der AFL-CIO, aber auch mit den Vorsitzenden von AutomobilarbeiterInnen-, Dienstleistungs-, Nahrungsmittel- und HandelsarbeiterInnen sowie Staats- und Kommunalbedienstetengewerkschaften. Nach diesem Online-Treffen war er von den Aussichten auf eine Zusammenarbeit zwischen diesen beiden grundsätzlich konkurrierenden Interessengruppen positiv überrascht.

Die obersten GewerkschaftsbürokrateInnn werden sich freuen, im Weißen Haus willkommen geheißen und von Biden als LeiterInnen gewichtiger Institutionen anerkannt zu werden, aber die Ergebnisse für ihre Mitglieder dürften dürftig ausfallen. Die Gegenleistung wird darin bestehen, dass diese FührerInnen ihre Macht nutzen werden, um Biden das Regieren zu erleichtern und jeden wirklichen Kampf zurückzuhalten, wenn er darum geht, die Kosten der COVID-Pandemie und der Rezession auf die Massen abzuwälzen, die für ihn gestimmt haben.

COVID besiegen

Die Katastrophe, die den Versuch, das BBB in Kraft zu setzen, ausgelöst hat, ist die Coronavirus-Pandemie und die daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schocks, die sie hinterlassen hat. Die Bewältigung eines Winters mit zunehmenden COVID-19-Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen wird die erste Aufgabe von Joe Biden sein, wenn er im Januar 2021 sein Amt antritt.

Die wahlberechtigte Öffentlichkeit erwartet dies und insbesondere diejenigen, die die Demokratische Partei gewählt haben. Eine jüngste Umfrage von Morning Consult/Politico ergab, dass 69 % der Befragten forderten, die Kontrolle der Ausbreitung des COVID müsse die oberste Priorität der Biden-Regierung darstellen, wobei 66 % die wirtschaftliche Entlastung von der Pandemie und ihren Folgen und 64 % einen allgemeineren wirtschaftlichen Impuls forderten. Hier wird sich die Kontrolle durch den Senat als entscheidend für jeden neuen Wirtschaftsstimulus erweisen.

Aber sie werden auf Widerstand und Sabotage seitens der Mehrheit der RepublikanerInnen im Kongress und in den von ihnen regierten Staaten stoßen. Mitch McConnell hat bereits angedeutet, dass die Republikanische Partei ein weiteres Coronavirus-Konjunkturprogramm nicht für notwendig hält, da sie der Meinung ist, dass sich die Wirtschaft auf dem Weg zurück zur Gesundung befindet. Dies zeigt die Tatsache, dass das 2,2 Billionen Dollar schwere HEROES-Gesetz (Gesetz zu Erholung von Gesundheitswesen und Wirtschaft), das eine Folgemaßnahme zum CARES-Gesetz (Coronahilfs- und Wirtschaftssicherheitsgesetz) darstellt, vor sechs Monaten vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde, aber noch nicht einmal eine Anhörung im Senat erlebte, geschweige denn eine Abstimmung. Dies sagt uns, dass jedes neue Konjunkturpaket, das von einem republikanisch dominierten Senat gebilligt werden soll, wahrscheinlich weniger umfangreich sein wird als das bereits bestehende Paket des Kongresses.

Die UnterstützerInnen des Kapitals, sowohl bei der Demokratischen wie bei der Republikanischen Partei, haben immer die Entwicklung der Wohlhabenden in der Gesellschaft als Indikator für den Zustand der allgemeinen Wirtschaft betrachtet, und in Zeiten kapitalistischer Stabilität kann dies für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ein Zeichen der wirtschaftlichen Erholung sein. In Zeiten extremer wirtschaftlicher Krise, wenn der Populismus rechts und links aufsteigt, ist die Bourgeoisie jedoch auch gespalten. Die Sektion der besitzenden Klasse, die Biden vertritt, sieht die Notwendigkeit einer Ablenkung, die die steigende antikapitalistische Stimmung eindämmt, eine Stimmung, die mit Sicherheit wachsen wird, wenn nichts dagegen unternommen wird, dass während der Pandemie bereits die 11 Millionen Dauerarbeitsplätze verloren gegangen sind, und gegen die Möglichkeit einer massiven Räumungswelle, nachdem der Schutz der MieterInnen durch das CARES-Gesetz am Ende des Jahres ausläuft. Nichts entlarvt den Kapitalismus so sehr wie eine massive Zahl von arbeitslosen Lohnabhängigen und ihren Familien, die ohne Wohnung auf der Straße leben.

Da ist auch die Frage der Zulassung und Verteilung eines Impfstoffs gegen Coronavirus und COVID, wo nach dem klassischen Szenario „gute und schlechte Nachrichten“ verfahren wird. Die gute Nachricht ist natürlich, dass es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Impfstoffe gibt, die in Vorversuchen das Versprechen eines Schutzes gegen das Coronavirus mit einer 95 %igen Effizienzrate gezeigt haben. Die Vorstellung, dass das Ende dieses langen Albtraums von Todesfällen, Krankheiten und wirtschaftlichen Verwerfungen in Sicht ist, ist für die Gesellschaft als Ganzes ungeheuer ermutigend, aber der Prozess und die Infrastruktur für die Verteilung dieses Impfstoffs an die breite Öffentlichkeit ist entmutigend und erfordert eine monatelange Vorlaufzeit. Es ist auch eine Vorlaufzeit, die mit jedem Tag dringlicher, verkürzt wird, an dem Trump und seine UnterstützerInnen, zu denen die gesamte gewählte Republikanische Partei und die Mehrheit ihrer WählerInnen gehören, den Übergang zu einer Biden-Regierung hartnäckig hinausschieben.

Die Entscheidung, welcher Impfstoff verwendet werden soll, die Massenproduktion des gewählten Impfstoffs, die Festlegung der Prioritäten, wer die frühesten Impfungen erhält, die Nachverfolgung der Impfungen, falls mehr als eine erforderlich ist, die Kosten und, wer diese trägt, sowie eine Unzahl anderer Entscheidungen – all dies muss von demjenigen entschieden werden, der 2021 den Amtseid als Präsident ablegt. Angesichts der Tatsache, dass in den USA jeden Tag Tausende von Menschen am SARS-CoV-2-Virus sterben und jede Minute eine neue Infektion auftritt, dass die Krankenhäuser überfordert sind oder kurz davor stehen, überfordert zu werden, tötet jeder Tag der Verzögerung durch politische Spielerei Menschen.

„Bidenomics“ – die fortschrittlichste Wirtschaftspolitik seit dem New Deal?

Einige Medien, insbesondere Newsweek und Fox News, haben behauptet, dass eine Biden-Administration mit Build Back Better die fortschrittlichste Agenda seit Franklin Roosevelts New Deal während der Großen Depression aufgetischt hätte. Kein geringerer reformistischer Schlagzeilenlieferant als Bernie Sanders selbst schloss sich dieser Ansicht über die Politik Bidens an, nachdem die Empfehlungen der Arbeitsgruppe zur Einheit der Demokratischen Partei im Juli veröffentlicht worden waren.

Je nach verwendetem Taktmaß könnte es die erste Verbesserung nach den 40 Jahren Wirtschaftspolitik markieren, die unter Reagan eingeführt und unter Bill Clinton als „Washingtoner Konsens“ gefestigt wurde. Sie reicht jedoch bei weitem nicht an das heran, worauf die „demokratischen SozialistInnen“ wie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez gedrängt haben. Es gibt keine Betragszahlung für alle für Medicare for All (Gesundheitsversorgung für alle), aber es gibt einen Einstiegsplan, der als „öffentliche Option“ bezeichnet wird, eine Entscheidung, die im Affordable Care Act (erschwingliche Versorgung) von 2010 bewusst nicht getroffen wurde. Es gibt keinen einheitlichen Green New Deal, aber viele der Elemente, die den GND ausmachen, sind in Bidens BBB enthalten. Und es ist eine beträchtliche Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde geplant, obwohl dies in Etappen und nicht in einem Rutsch geschehen soll.

Wenn Biden diese linkspopulistische Wunschliste umsetzen könnte, würde er sicherlich den Anspruch erheben, eine transformative Figur in der kapitalistischen Politik zu sein, wie Roosevelt auf der linken oder Reagan auf der rechten Seite. Wie wir oben sagten, ist der BBB das Gegenteil des Katastrophenkapitalismus und wird von der Rechten zweifellos jederzeit als „Katastrophensozialismus“ bezeichnet werden. Doch auch wenn es sich nicht um Sozialismus handelt, wäre die Umsetzung dieser Programme immer noch beinahe ein Wunder unter den gegenwärtigen Bedingungen des kapitalistischen Verfalls und der sinkenden Profitrate eine reine Spekulation. Vor allem die Steuererhöhungen sind schon bei ihrem Beginn tot, wenn die RepublikanerInnen in der Senatsmehrheit bleiben, und das könnte auch dann der Fall sein, wenn die DemokratInnen das ausschlaggebende Mandat gewinnen. Da sie eine kapitalistische politische Partei sind, sind viele demokratische SenatorInnen sehr abgeneigt, Steuern zu erhöhen, selbst bei denen, die sich höhere Steuern am meisten leisten können, den Reichen und den multinationalen Konzernen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft immer noch versucht, sich von der CoVid-Krise zu erholen, und die Aussichten selbst einer bescheidenen Steuererhöhung für Unternehmen bestenfalls zweifelhaft sind.

Nach anfänglichen Versuchen, einige dieser Vorschläge einzubringen, können wir in Anbetracht von Bidens Geschichte berechnen, wo diese „fortschrittlichste Agenda seit dem New Deal“ enden wird. Trägheit ist eine handfeste Angelegenheit, nicht nur physisch, sondern auch in der Politik. Die Trägheit ist auf der Seite der 40 Jahre „Reaganomics“. Wir können einige Maßnahmen gegen die Pandemiekrise erwarten, selbst von McConnell und der Republikanischen Partei. Aber diese würde nicht annähernd das ausgleichen, was die ArbeiterInnenklasse infolge von den wirtschaftlichen Schocks durch das Virus bereits durchlitten hat und was ihr noch in Kürze bevorstehen würde. Die Arbeit an dem Verteilungsprozess des/der Impfstoffe/s wird vorangehen, zumal damit eine Menge Geld zu verdienen ist, und je schneller er verfügbar ist, desto eher werden alle Entschuldigungen für das Herunterfahren der Wirtschaft beseitigt und die Geschäfte können wie vordem weitergehen. Aber was kommt dann?

Wenn es ernsthafte Reformen mit wirklichen Verbesserungen im Gesundheitswesen, im Lohnniveau, gesellschaftlich aufgewerteter Arbeit für die Arbeitslosen und für jene in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen geben soll, kann dies nicht durch das Warten auf Bidens Instinkte, „die Hand zur anderen Seite auszustrecken“, geschehen. Wie Rosa Luxemburg sagt, sind selbst ernsthafte Reformen nur ein Nebenprodukt der Revolution oder der Furcht vor ebendieser. In den 1930er und 1960er Jahren haben Revolutionen außerhalb der USA und massenhafte Gewerkschafts- und Bürgerrechtskämpfe unsere HerrscherInnen davon „überzeugt“, die Bedrohung durch Sozialausgaben und Arbeitsrechte und -beschaffungsmaßnahmen abzuwenden. Wenn der Druck jedoch nachlässt, versucht die herrschende Klasse, alles zurückzuholen.

Die einzige Hoffnung, einen Kongress und einen Präsidenten mit konservativen Instinkten zu überwinden, liegt darin, ihnen Furcht vor massenhaften und militanten Straßen- und Betriebsaktionen einzuflößen. Eine weitere Waffe stellt das Vorantreiben zum Aufbau einer sozialistischen und ArbeiterInnenpartei, die unabhängig von den DemokratInnen auftritt, dar. Ihre erste Aufgabe wäre die Führung und Organisierung von Kämpfen in den Kommunen und Betrieben. Diese sollten nicht nur gegen wirtschaftliche Entbehrungen, sondern auch gegen Rassismus, Polizeigewalt, Rechte von Frauen, LBGTIAQ-Meschen und der indigenen Bevölkerung geführt werden und die Beendigung der Verfolgung von „illegalen“ MigrantInnen einschließen. Außerdem hat sich in den Wahlen 2020 durch Trump der Welt der undemokratische Charakter des Verfassungs- und Wahlsystems offenbart. All diese Punkte müssen sich in einem Aktionsprogramm für eine neue ArbeiterInnenpartei niederschlagen. Wahlen sind wichtig, um die Ideen des echten Sozialismus zu verbreiten und unseren Fortschritt zu dokumentieren. Aber die Orientierung auf Wahlen darf nicht Sinn und Zweck einer solchen Partei sein.

Selbstredend werden die PolitikerInnen der Demokratischen Partei und die falschen FührerInnen in der ArbeiterInnenbewegung darum betteln aufzuhören und wollen uns belehren, dass wir der Sache schaden würden, wenn wir eine solche Offensive ins Leben rufen. Aber dies muss geschehen, wenn wir irgendetwas Substantielles erreichen wollen. So muss Politik für die Linke gemacht werden. Legislaturperioden und Gesetze erfolgen nur auf den Druck der Straße und bestätigen Errungenschaften. Sie gehen ihnen nicht voraus.

Wenn wir selbst Zugeständnisse gegen alle Widrigkeiten und dank eigener Kraft durchfechten, dann kann ein echter Sozialismus für Millionen wieder erstrebenswert sein, wie dies schon einmal in der Zeit den Industrial Workers of the World (IndustriearbeiterInnen der Welt; IWW) mit dem Präsidentschaftskandidaten Eugene V. Debs und den ursprünglichen sozialistischen und frühen kommunistischen Parteien der Fall war.




Politische Krise in den USA: ArbeiterInnenklasse braucht eigene Partei

Susanne Kühn, Neue Internationale 251, November 2020

Der Sieger steht noch nicht fest, eine veritable politische Krise schon. Zum Zeitpunkt der Drucklegung (am Morgen des 5. November) sieht es zwar nach einem knappen Wahlsieg Bidens aus, doch die Auszählung der Stimmen läuft noch in entscheidenden Bundesstaaten. Trump und sein Wahlkampfteam verlangen eine Nachzählung der Stimmen in zahlreichen „Swing States“, in anderen versuchen sie, die Auszählung der Stimmen zu stoppen und sich zum Wahlsieger erklären zu lassen.

Die endgültige Auszählung kann sich also noch über Tage ziehen, das juristische und politische Tauziehen wird wohl über Wochen gehen. Einen Wahlsieg Bidens wird Trump sicher nicht einfach anerkennen. Die Vereinigten Staaten treten also in eine veritable politische Krise ein.

Wie weit rechtsradikale AnhängerInnen Trumps dabei gehen werden, um mit reaktionären Mobilisierungen ihren Präsidenten durchsetzen zu wollen, ob Trump die Gerichte auf seine Seite ziehen kann, bleibt abzuwarten. Die ersten rechten Demonstrationen formierten sich bereits für den angeblichen Wahlsieger.

US-„Demokratie“

Wahrscheinlich ist es jedenfalls nicht, dass sich Trump durchsetzt. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass Biden schließlich als Präsident angelobt wird. Erstens ist die WählerInnenschaft Trumps insgesamt keine Straßenkampfbewegung, auch wenn solche deren rechten Rand bevölkern. Zweitens ist es unwahrscheinlich, dass selbst republikanisch dominierte Gerichte Trumps Ruf nach Verzicht auf Auszählung aller Stimmen und faktischem Ignorieren eines Stimmenergebnisses folgen würden.

Das liegt freilich nicht an den tollen Institutionen der amerikanischen Demokratie, in die westliche PolitikerInnen so viel Vertrauen setzen, sondern daran, dass die herrschende Klasse keine lange, die Handlungsfähigkeit des Präsidenten und damit auch des US-Imperialismus beeinträchtigende andauernde Verfassungskrise zusätzlich zur Wirtschaftskrise und zur Pandemie brauchen kann.

Im Gegenteil, die ganze Scharade zeigt, dass die US-Demokratie und deren Verfassung in vieler Hinsicht einen Hohn auf die Demokratie darstellen. Ginge es nur um die Stimmen der WählerInnen, stünde der Wahlsieg Bidens, der mehrere Millionen Stimmen mehr erringt als Trump, außer Frage. Hinzu zeigt Trumps Vorgehen auch, welche bonapartistischen Sonderbefugnisse das Amt mit sich bringt. Millionen Menschen, vor allem Schwarze und People of Color, sind ohnedies vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die US-Demokratie ist vor allem die Demokratie einer kapitalistischen Oligarchie, von reinen Kapitalparteien, eine Demokratie, deren Verfassung bis heute ihr Ursprung in einer Gesellschaft eingeschrieben ist, in der die weißen SklavenhalterInnen den Kern des Kapitals bildeten.

Der normale Ablauf dieser Demokratie wurde von Trump und seiner rechtspopulistischen Bewegung dadurch gestört, dass innerhalb des Kapitals ein Konflikt über die weitere Strategie zur Verteidigung der US-Hegemonie entbrannt ist. Nicht „America First“ steht zur Diskussion, sondern wie es durchgesetzt werden soll. Trump gibt sich dabei als Vorkämpfer gegen die Elite, um „das Volk“ vor seinen Karren zu spannen und eine andere Ausrichtung eben der Elite zu erzwingen. Biden und seine Partei stehen hingegen für die Verfolgung der US-Kapitalinteressen mit „traditionelleren“ Mitteln.

Wenn Biden im Januar inauguriert werden sollte, so wird er als Präsident der vereinigten Elite fungieren, ja fungieren müssen. Die Republikanische Partei sicherte sich schließlich bei den Wahlen weiter eine Mehrheit im Senat, also im Oberhaus, und konnte auch bei den Wahlen zum Kongress etwas zulegen, auch wenn dort die DemokratInnen die Mehrheit behalten.

Keine Illusionen in Biden!

Für die ArbeiterInnenklasse, für die rassistisch Unterdrückten, für Frauen in den USA wird sich rasch herausstellen, dass der Gegensatz von Biden/Harris und Trump/Pence so groß nicht ist. Die ohnedies zaghaften Wahlversprechen eines Joe Biden hinsichtlich Gesundheitsversorgung und Pandemie-Bekämpfung werden vom Senat kassiert oder zumindest verwässert werden. Gleichzeit droht eine Vertiefung der Wirtschaftskrise. Millionen haben bereits ihre Jobs verloren – Millionen droht dies. Gerechtigkeit für Schwarze und People of Color wird es auch unter einem rechten demokratischen Präsidenten nicht geben. Im Gegenteil, auch dieser wird rassistische Cops und die Nationalgarde gegen Protestbewegungen und Widerstand aufmarschieren lassen.

Den Grenzzaun zu Mexiko, die rassistische Selektion mag Biden zwar modifizieren, was z. B. die Lager an den Grenzen betrifft, abschaffen oder schleifen wird er diese wohl nicht. Was das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und Selbstbestimmung betrifft, wird er sich weder mit den republikanischen Bundesstaaten noch mit dem rechten Obersten Gericht anlegen.

Aktiv wird er nur sein, wenn es um die Verfolgung der Interessen seiner Klasse, des US-Kapitals, und deren Weltmachtstellung geht. Gerade bei letzterer liegen die Vorstellungen von Demokratischer und Republikanischer Partei nicht so weit auseinander. Die Wendung zum Pazifik und die Konkurrenz mit China stehen auch in deren Fokus. Die geostrategischen und ökonomischen Widersprüche der imperialistischen Weltordnung, der verschärfte Kampf um eine Neuaufteilung der Welt stellen schließlich keine Erfindung von Trump dar, sondern objektive Interessengegensätze, die sich weiter verschärfen werden. Das bringen, nebenbei bemerkt, auch die Kommentare der deutschen PolitikerInnen zum Ausdruck. Ihre Schlussfolgerungen: Deutschland und die EU müssen „selbstständiger“ werden, mehr „Verantwortung“ übernehmen – diplomatisch, ökonomisch, militärisch, um international mit den USA, China, Russland auf „Augenhöhe“ konkurrieren zu können, quasi als demokratisch verbrämter Imperialismus.

Für die ArbeiterInnenklasse, für Schwarze und People of Color, für die Frauenbewegung und die „radikale“ Linke kann die Schlussfolgerung nur darin bestehen, den Kampf auf der Straße, in den Betrieben, in den Stadtteilen aufzunehmen. Das bedeutet aber auch, nicht nur gegen die antidemokratischen Zumutungen eines Trump und seiner AnhängerInnen zu mobilisieren. Es bedeutet auch, für den finalen Bruch mit der Demokratischen Partei einzutreten. Die Kapitalpartei eines Biden, von vielen als „kleineres Übel“ gewählt, wird sich rasch als nicht allzu viel anderes Übel erweisen.

Die US-ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten dürfen sich nicht weiter an die Demokratische Partei binden lassen, sie müssen unabhängig von beiden Fraktionen des US-Kapitals agieren.

Einheitsfront und ArbeiterInnenpartei

Das bedeutet zum einen die Unterstützung der Massenaktionen der antirassistischen und der Frauenbewegung. Es bedeutet, den Kampf gegen die Krise und Entlassungen und für den Aufbau einer Basisbewegung in den US-amerikanischen Gewerkschaften gegen Klassenkollaboration und die politische Unterordnung unter die Demokratische Partei aufzunehmen.

Der Aufbau einer Massenbewegung, einer Einheitsfront im Kampf gegen die Krise, gegen Rassismus und Sexismus, einschließlich von Selbstverteidigungsorganen gegen rechte und polizeiliche Provokationen, stellt eine Schlüsselaufgabe dar.

Die andere besteht im Kampf für die Bildung einer eigenen politischen Kraft der Lohnabhängigen, für eine ArbeiterInnenpartei, die kämpferische Gewerkschaften, migrantische ArbeiterInnen, die AktivistInnen von Black Lives Matter, proletarische Frauen in ihren kämpferischen Reihen vereint. Für diese Perspektive müssen RevolutionärInnen in der Klasse, in den Bewegungen und in der DSA (Democratic Socialists of America) eintreten.

Dabei gilt es von Beginn an, für eine proletarisch-revolutionäre, kommunistische Ausrichtung zu kämpfen, für eine Partei, die für die Macht der ArbeiterInnenklasse kämpft und sich nicht mit Reformen im Rahmen des US-Kapitalismus begnügt.




Die USA in der Krise

Resolution des Internationalen Exekutivkomitees der Liga für die Fünfte Internationale, 11. Oktober 2020, Infomail 1123, 25. Oktober 2020

A: Einleitung

1. Die USA sehen sich heute mit einer kombinierten Reihe von sozialen Krisen in einem Ausmaß konfrontiert, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat: die tief miteinander verknüpften Coronavirus- und Wirtschaftskrisen, die Klimakrise und eine tiefe politische Krise der Präsidentschaft Trumps, die damit zusammenhängt, dass er die Polizei und weiße RassistInnen gegen die schwarzen BürgerInnen- und MigrantInnengemeinschaften des Landes aufstachelte, um seine Chancen auf eine zweite Amtszeit zu erhöhen. Die Wahlen im November werden jedoch keines dieser Probleme lösen und könnten das Land in der Tat in eine seit fünfzig Jahren nicht mehr erlebte Phase ziviler Unruhen stürzen.

2. Am explosivsten ist der Krieg, der von einer rassistischen Polizei und weißen RassistInnen geführt wird, die von einem Milliardär im Weißen Haus ermutigt werden, der weniger Steuern zahlt als ein/e US-ArbeiterIn. Aber dies ist kein einseitiger Krieg – außer im Hinblick auf die Waffen in den Händen der Polizei, die systemisch immun gegen Strafverfolgung ist. In Städten und Gemeinden in den USA schlägt eine antirassistische Massenbewegung zurück. Sie wurde initiiert von rassistisch Unterdrückten und weißen AntirassistInnen, die sich in großer Zahl angeschlossen haben. Diese Bewegung, die den Slogan „Black Lives Matter“ (Schwarze Leben zählen) verwendet, ist weltweit verbreitet worden und hat die rassistischen Wurzeln der „westlichen“, „demokratischen“ Politik, Wirtschaft und Kultur bloßgelegt.

3. Auf der anderen Seite der Barrikaden haben wir einen Präsidenten, der friedliche DemonstrantInnen als TerroristInnen bezeichnet, faschistische Milizen, die sie angreifen, lobt und seine AnhängerInnen dazu anstachelt, keine Niederlage für ihn bei den Wahlen hinzunehmen. Sollte dies geschehen, könnte der 3. November eine Zeit des radikalen Zusammenbruchs der US-Institutionen und gewaltiger sozialer Konflikte einleiten.

4. Die undemokratischen Bestimmungen der amerikanischen Verfassung sind jetzt für alle klar ersichtlich. PräsidentInnen, die unglaubliche Machtbefugnisse einsetzen, können mit einer Minderheit der allgemeinen Stimmen gewählt werden (und werden es auch). Ein nicht gewählter Oberster Gerichtshof kann Gesetze, die vom demokratischeren Unterhaus verabschiedet wurden, außer Kraft setzen. Der Senat, der mit einem skandalös ungleichen Wahlrecht gewählt wurde, kann den Willen der Mehrheit blockieren. Ein bedeutender Teil der WählerInnenschaft ist aufgrund der rassistischer Unterdrückung, die trotz Emanzipation und BürgerInnenrechten nie überwunden wurde, und Klassendiskriminierung entrechtet.

5. Auch Frauen sehen sich großen Angriffen auf hart erkämpfte Rechte wie Abtreibung ausgesetzt, weil eine reaktionäre Mehrheit am Obersten Gerichtshof das Grundsatzurteil Roe gegen Wade von 1973 aufheben kann, was zeigt, wie die Verfassung die Rechte der Frau nicht schützt. In vielen Bundesstaaten wird die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht durch die Gesetzgebung zum „Recht auf Arbeit“ effektiv illegalisiert. Trump hat versprochen, im Falle seiner Wiederwahl das Gesetz über Gesundheitsversorgung (Obama Care) endgültig abzuschaffen, und das mitten im schlimmsten Gesundheitsnotstand seit einem Jahrhundert.

6. Das Hauptproblem ist, dass es keine politische Massenpartei gibt, die in der Lage wäre, die einfachen AmerikanerInnen gegen diese Angriffe zu verteidigen, und die ein Programm hat, das auf die undemokratischen Institutionen abzielt und eine Strategie zu deren Sturz präsentiert. So kommt zu all diesen miteinander verknüpften Krisen, Krisen des Kapitalismus selbst, eine chronische Führungskrise hinzu. Dies spiegelt sich in der Unterordnung der offiziellen Bewegungen der rassistisch und sexuell Unterdrückten, der Gewerkschaften und sogar der DSA (Democratic Socialists of America, Demokratische Sozialisten Amerikas) unter die Demokratische Partei, die zweite Partei des imperialistischen Kapitals, wider. Die vielen kämpfenden Kräfte in den USA aus dieser Zwangsjacke zu befreien und eine antikapitalistische, revolutionäre sozialistische ArbeiterInnenpartei aufzubauen, ist in den heutigen gleichzeitigen Krisen eine lebenswichtige Notwendigkeit.

B. Die Hegemonie der USA wird in Frage gestellt

1. Die USA stehen vor einer Herausforderung ihrer globalen Hegemonie, wie es sie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Sie kommt von einem dynamischen imperialistischen Rivalen, den US-PolitikerInnen immer noch gerne als „kommunistisches China“ bezeichnen. Tatsächlich ermöglichte es dem chinesischen Kapitalismus die Synergie mit dem US-Kapital in den ersten beiden Jahrzehnten der Globalisierung, sich zu einer imperialistischen Macht zu entwickeln, wenn auch innerhalb eines staatskapitalistischen Rahmens und unter Beibehaltung einer autoritären Bürokratie, die von einer Partei geführt wird, die sich immer noch die Kommunistische Partei Chinas nennt. In der Zeit seit der Großen Rezession betrachten es VertreterInnen der Demokratischen wie auch der Republikanischen Partei zunehmend als einen gefährlichen Rivalen. Trumps „guter Freund“ Xi Jinping wurde schnell zum Bösewicht in einem umfassenden Handelskrieg, der sich auf die Hightech-Industrien der einzelnen Länder konzentrierte.

2. Hier geht es nicht um einen absoluten Niedergang der Macht der USA und eine entsprechende Zunahme derer Chinas. Vielmehr nimmt die Macht Amerikas relativ zu den neueren Zentren der Kapitalakkumulation seit Jahrzehnten ab, zunächst gegenüber Deutschland und der EU und dann in den 1980er Jahren Japan. Damals war damit jedoch keine ernsthafte geostrategische Rivalität verbunden, da es sich um weitgehend entwaffnete oder der NATO untergeordnete Mächte handelte.

3. Die USA sind mit ihrer Weltreservewährung und New York, dem Zentrum des globalen Finanzwesens und der Regulierung des Handels, immer noch weitaus mächtiger als China. Militärisch ist China auch im asiatisch-pazifischen Raum schwächer als die USA. Dennoch ist es zunehmend in der Lage, Amerika in Handelsstreitigkeiten die Stirn zu bieten und Allianzen mit anderen regionalen und globalen Mächten einzugehen. Sein Kapital dringt nun nicht nur in Länder Asiens (durch Seeverbindungen und die neue Seidenstraße) vor, sondern auch in Länder Afrikas und Lateinamerikas, die bisher den USA und ihren Verbündeten vorbehalten waren. Xis größere Durchsetzungsfähigkeit spiegelt Chinas zunehmendes Potenzial wider, die USA um die Welthegemonie herauszufordern.

4. Trumps Anerkennung Jerusalems als Israels Hauptstadt und der „Deal des Jahrhunderts“, der von Jared Kushner vorangetrieben wird, unterscheiden sich nicht so radikal von der Politik früherer US-Regierungen, die es den Israelis erlaubten, ein Veto gegen die „Zwei-Staaten-Lösung“ einzulegen. Selbst wenn Joe Biden erdrutschartig gewinnen sollte, sollten wir nicht erwarten, dass sich die globale Strategie Amerikas in der Substanz ändern wird. Ebenso würde ein/e DemokratIn im Weißen Haus weiterhin den Iran und Venezuela ins Visier nehmen.

5. Alle aufrichtigen SozialistInnen in den USA müssen AntiimperialistInnen sein und sollten diejenigen auf der ganzen Welt, die für Demokratie und Menschenrechte kämpfen, davor warnen, dass sich der „westliche“ Imperialismus als falscher Freund erweisen wird. Sie müssen sich jedem Aufruf zu US-Militärinterventionen oder Wirtschaftsblockaden widersetzen und eine defätistische Haltung gegenüber den militärischen Abenteuern ihres eigenen Landes einnehmen und deshalb die von ihm angegriffenen halbkolonialen Länder verteidigen, unabhängig von ihren Regimes.

6. Die SozialistInnen in den USA sollten den Abzug all ihrer/s Stützpunkte, Flotten und Dienstpersonals auf der ganzen Welt fordern. Das bedeutet nicht, dass es auf der Welt ein „fortschrittliches Lager“ gibt, das aus Kuba, Venezuela, Iran, China oder Russland besteht, wie sich einige US-Radikale vorzustellen scheinen. China und Russland sind zwar bei weitem schwächer als die USA, sind aber auch imperialistische Mächte, die ihre eigene brutale Unterdrückungspolitik im In- und Ausland betreiben. RevolutionärInnen müssen diejenigen unterstützen, die für Demokratie, nationale Rechte und die Freiheit der ArbeiterInnen in diesen Ländern kämpfen.

C. Eine sich vertiefende Rezession

1. An der Wurzel dieser politischen Krise liegt eine historische Krise des Wirtschaftssystems – sowohl des US- als auch des Weltkapitalismus. Ein Jahrzehnt nach der Großen Rezession werden wieder einmal Millionen Menschen arbeitslos. Noch bevor die Covid-19-Pandemie die Schließung vieler Unternehmen erzwang, drohte bereits eine zweite Große Rezession. Die Krise von 2008 und die darauffolgende Depression begannen den Prozess der Destabilisierung, indem sie die Wachstumsraten um die Hälfte reduzierten. Die Lahmlegung der Ökonomie durch das SARS-CoV2-Virus 2020 beschleunigte den Prozess bis an den heutigen Rand des Zusammenbruchs und/oder die Verabschiedung von noch drastischeren und beispielloseren Maßnahmen als die Rettungsaktionen und die quantitative Lockerung von 2008/9, um das System vor diesem Zusammenbruch zu „retten“.

2. Die Einleitung eines Handelskrieges mit China durch Trump hat die USA nicht gestärkt, geschweige denn den Wohlstand der ArbeiterInnenschaft in den alten Industriegebieten wiederhergestellt. Die USA haben im Jahr 2020 größere Probleme im Außenhandel als je zuvor. Der Juli zeigte den größten Anstieg des US-Handelsdefizits mit der Welt seit zwölf Jahren, und der Hauptnutznießer war China. Von Juni bis Juli stieg das Defizit gegenüber China um fast 11 % auf 31,6 Milliarden US-Dollar.

3. China ist die größte Quelle für US-Konsumgüter außerhalb des nordamerikanischen Kontinents. Seine billigen Konsumgüter untermauern das stagnierende oder sinkende Lohnniveau der US-ArbeiterInnen und der Mittelschicht. Trumps Zölle auf Stahl erhöhen die Kosten der US-HerstellerInnen und Vergeltungsmaßnahmen schmälern ihre Exporte.

4. Unter Biden werden die destruktiven Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus auf die Arbeitsplätze in den USA anhalten. Unter Clinton, Bush und Obama war dies die Politik, die den Boden bereitete, auf dem Trumps rassistische Demagogie ArbeiterInnendemagogie wuchs. Sie würde der extremen Rechten weiter Auftrieb verleihen, vor allem wenn die ArbeiterInnenbewegung, die gewerkschaftliche und sozialistische Linke Biden nicht bekämpfte, weil sie ihn gerade als „das kleinere Übel“ gewählt hätten.

5. Aus dem Inhalt ihrer Wahlkampfversprechen geht klar hervor, dass keiner der beiden Kandidaten etwas von großer Bedeutung für die hart bedrängte US-ArbeiterInnenklasse tun wird, während sie die kapitalistischen BesitzerInnen der Gesellschaft mit staatlicher Großzügigkeit überhäufen. Die US-ArbeiterInnen und die Unterdrückten sollten den beiden Parteien ihrer AusbeuterInnen kein Vertrauen schenken, und es gibt keine andere Partei oder keine/n andere/n KandidatIn als ernsthafte/r HerausforderIn, der/die ihre Stimme verdient. Trump hat Amerika nur für eine dünne Schicht von SpekulantInnen und Hedgefonds-ManagerInnen wieder groß gemacht.

6. Die US-Wirtschaft jetzt schon jetzt Millionen Arbeitsplätze verloren. In Sektoren wie dem Einzelhandel, dem Hotel- und Gaststättengewerbe, der Freizeit- und Reisebranche wird allgemein anerkannt, dass es Jahre dauern wird, bis sie sich erholen.

7. Die Löhne stagnieren oder sinken weiterhin trotz einer sehr niedrigen Inflationsrate. Die realen durchschnittlichen Stunden- und Wochenverdienste sanken im Juli um 0,04 %. Trump hat nun die zweifelhafte Auszeichnung, der Präsident mit den schlechtesten Arbeitslosenzahlen seit dem Zweiten Weltkrieg zu sein. Diese Gesamtzahlen spiegeln nicht das deutliche Gefälle der Arbeitslosigkeit nach Ethnie und Hautfarbe wider. Die „weiße“ Quote liegt bei 7,3 %, während die Quote für People of Color 10 % beträgt. Und wie üblich ist die Arbeitslosenquote bei den Schwarzen mit 13 % am höchsten.

D. Die Bewegung gegen staatlichen Rassismus

1. Die Ermordung von George Floyd und die Massenproteste, die die USA im Jahr 2020 erschütterten, machten in der Welt (erneut) auf das Ausmaß des amerikanischen Rassismus aufmerksam wie die Morde an Michael Brown, Eric Garner und Tamir Rice im Jahr 2014, als sich der Slogan „Black Lives Matter“ erstmals landesweit verbreitete. Schwarze, hispanische und indigene AmerikanerInnen, die bereits mit Ungleichheiten beim Zugang zu Reichtum, Bildung und Gesundheitsversorgung, mit Diskriminierung in den Bereichen Strafjustiz, Wohnen und Beschäftigung konfrontiert sind, haben die Hauptlast der Pandemie und ihrer folgenden wirtschaftlichen Auswirkungen zu spüren bekommen. Es ist nicht nur statistisch gesehen wahrscheinlicher, dass sie sich mit dem Virus infizieren und daran sterben, sie haben auch die größten Folgen des Arbeitsplatzverlustes und des mangelnden Arbeitsschutzes zu spüren bekommen. Schwarze Frauen sind unterdessen von extrem hohen Mütter- und Kindersterblichkeitsraten betroffen, die durch das SARS-CoV-2-Virus noch verschärft werden. Als Reaktion auf die Proteste gegen die Morde an Breonna Taylor und George Floyd wurden Tausende DemonstrantInnen verhaftet und Hunderte verletzt. Jedes Mal, wenn die Bewegung begonnen hat, an Dampf zu verlieren, kommt es zu einem weiteren Todesfall oder einer Eskalation, die Tausende auf die Straßen zurückbringt.

2. Während die Proteste weitergehen, steigt die Zahl der Zusammenstöße mit Trump-AnhängerInnen und bewaffneten rechtsextremen Gruppen. Zahlreiche Verletzte und Tote wurden dadurch verursacht, dass BLM-GegnerInnen mit Fahrzeugen durch die Menschenmengen fuhren, und es gab eine Reihe von Lynchmorden im ganzen Land. Gewalttätige Hassverbrechen stiegen 2017 sprunghaft an und erreichten Ende 2018 einen 16-Jahres-Hochstand. Und auch die Zahl der antihispanischen und antijüdischen Hassverbrechen hat dramatisch zugenommen.

3. Obwohl sich die großen Gewerkschaften auf verbale Unterstützungsbekundungen beschränkten, haben die einfachen ArbeiterInnen in einer Vielzahl von Sektoren Maßnahmen ergriffen. Sowohl im Zusammenhang mit dem Coronavirus als auch mit den Protesten gegen die Ermordung von George Floyd gab es Streiks, Arbeitsniederlegungen und Krankmeldungen, darunter von Bus-, HafenarbeiterInnen, KrankenpflegerInnen, LehrerInnen, Beschäftigten im Gaststättengewerbe und bei Amazon, um nur einige zu nennen. Neben der Klassensolidarität haben sich weiße AmerikanerInnen in einem seit den 1960er Jahren nicht mehr dagewesenen Ausmaß den Protesten angeschlossen, und es wurden Black-Lives-Matter-Mahnwachen für die weißen DemonstrantInnen abgehalten, die bei den Protesten ihr Leben verloren haben.

4. Die Vielfalt dieser Unterstützung hat sie mächtig gemacht, könnte sie aber auch anfällig für diejenigen machen, die Zwietracht säen. Identitätspolitik und der Kult der Führungslosigkeit und Spontaneität erhöhen diese Gefahr. Es besteht ein dringender Bedarf an zentralen Organisationsorganen und politischer Führung, mit anderen Worten an einer Partei, die nicht nur in allen Bereichen der rassistisch und geschlechtlich Unterdrückten verwurzelt ist, sondern in der ArbeiterInnenklasse, der Mehrheit, ohne die die Produktion des Kapitals selbst aufhören würde.

E. Trumps Offensive gegen Frauenrechte

1. Wegen Trumps berüchtigtem Sexismus und seiner Abhängigkeit von rechtsextremen Evangelikalen und AbtreibungsgegnerInnen gingen Frauen in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft bei Massendemonstrationen zuerst auf die Straße. Leider wurde diese Bewegung von der Demokratischen Partei vereinnahmt und verschwand. Sie muss wieder aufgebaut werden, und zwar schnell. Für den Fall einer zweiten Amtszeit von Trump steht die Aufhebung des Grundsatzurteils Roe gegen Wade über das Recht auf Abbruch ungewollter Schwangerschaften ganz oben auf der Tagesordnung. Mit seiner Nominierung von Amy Coney Barrett als Nachfolgerin von Ruth Bader Ginsburg könnte der Oberste Gerichtshof das Instrument dazu sein. Auf Bundesebene wurde der Zugang zur Familienplanung für Millionen von AmerikanerInnen beendet, die Finanzierung unter Obamacare wurde gekürzt und zahlreiche abtreibungsfeindliche BundesrichterInnen wurden ernannt und bestätigt.

2. Dem Beispiel des Präsidenten folgend haben gegen Abtreibung eingestellte GouverneurInnen und bundesstaatliche Gesetzgebungen im ganzen Land Anstrengungen unternommen, AnbieterInnen von Familienplanung Geldmittel zu entziehen, und eklatant verfassungswidrige Gesetze verabschiedet, um einen Fall zum Sturz des Grundsatzurteils von 1973 vorzubereiten. Dennoch befürworten die meisten AmerikanerInnen nachdrücklich den Zugang zu Geburtenkontrolle und sind nicht der Meinung, dass die Entscheidung für eine Abtreibung illegal sein sollte. Fast 80 % sind der Meinung, dass Geburtenkontrolle als grundlegender Bestandteil der Gesundheitsversorgung von Frauen betrachtet werden sollte, und mehr als drei Viertel unterstützen das Grundsatzurteil und den Schutz, den es seit seiner Verabschiedung im Jahr 1973 geboten hat.

3. 2016 schloss sich ein Großteil der Frauenbewegung den DemokratInnen und der Kandidatur von Hillary Clinton an in der Hoffnung, dass sie die erste Frau sein würde, die zur Präsidentin gewählt wird. Natürlich gab es eine radikalere Frauenbewegung, aber sie war in radikale, identitätsbasierte Fragmente zersplittert oder von akademischen TheoretikerInnen dominiert, deren postmoderner „Diskurs“ trotz der guten Absichten der „IntersektionalistInnen“ diese Spaltungen nicht überwinden konnte. Momentan provozierte die schockierende Wahl eines unverblümten sexistischen und dreisten Frauenbelästigers die massiven Frauenmärsche gegen Trump, beginnend mit dem am 21. Januar 2017. Die Tatsache, dass viele der Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte unter Beschuss geraten würden, vereinte die Bewegung vorerst und zeigte, dass Frauen zurückschlagen konnten und wollten.

4. Dann kam die Explosion der #MeToo-Bewegung im Oktober 2017, die nicht nur die Frage der sexuellen Belästigung aufwarf, sondern auch den Ausschluss von Frauen von Macht- und Führungspositionen aufs Korn nahm. Ein wichtiges Ergebnis war, dass die Bestrebungen von Frauen, eine Führungsrolle in der Politik zu übernehmen, deutlich zunahmen. Bei den Zwischenwahlen 2018 gab es eine Rekordzahl von Frauen, die als demokratische Kandidatinnen kandidierten, einige von ihnen, wie die so genannte Squad (Riege), auch als „demokratische SozialistInnen“. Women of Color spielten eine wichtige, ja sogar eine führende Rolle in den Kampagnen von Elizabeth Warren und Bernie Sanders für die demokratischen Vorwahlen und in der BLM-Bewegung 2020. Wäre Trump wieder der US-Präsident mit dem Obersten Gerichtshof fest in der Hand von AbtreibungsgegnerInnen, wäre ein größerer Konflikt in dieser Frage unvermeidlich. Selbst wenn Biden gewinnt, werden die Angriffe des Obersten Gerichtshofs und anderer Bundesgerichte, die mit Rechtsextremen vollgestopft sind, die Notwendigkeit eines großen Gegenschlags deutlich machen.

5. Im Jahr 2020 verdienen US-Frauen in der Gesamtbevölkerung nur 0,81 US-Dollar pro US-Dollar, den ein Mann verdient, und der Unterschied hat sich seit 2015 nur um 0,07 US-Dollar verringert. Das geschlechtsspezifische Lohngefälle ist bei farbigen Frauen, Frauen in Führungspositionen, Frauen in bestimmten Berufen und Branchen sowie in einigen US-Bundesstaaten größer. Covid-19 verursacht für Frauen einen noch höheren finanziellen Tribut als für Männer. Da die Arbeitslosenquoten höher sind als die der Männer, arbeiten Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit im Dienstleistungs-, Gastgewerbe- und Einzelhandelssektor (76 % der Beschäftigten), der keinen bezahlten Urlaub oder keine Krankenversicherung bietet und am stärksten von Zwangsschließungen betroffen ist.

6. Obwohl der Kongress Mittel in Höhe von 3,5 Milliarden US-Dollar für die Kinder-Notfallbetreuung bereitgestellt hat, was 23 Bundesstaaten dabei geholfen hat, während der Pandemie Zuschüsse für Kinderbetreuungseinrichtungen anzubieten, bleiben in einigen Bundesstaaten mehr als 40 % der Kinderbetreuungszentren geschlossen, und die meisten berichten, dass die Mittel bereits aufgebraucht sind. Zusammen mit den verheerenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ist es zu einem Anstieg der häuslichen Gewalt gekommen. Hausarrest-Anordnungen, die für die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus unerlässlich sind, haben Überlebende häuslicher Gewalt, die weiterhin davon bedroht sind, in noch verletzlichere und gefährlichere Positionen gezwungen.

7. Hier, wie bei allen großen Kämpfen der Unterdrückten, ist eine getrennte, aus allen Klassen zusammengesetzte Bewegung nicht die Antwort. Erstens ist dies wegen des Widerspruchs zwischen den Klassen entweder eine Utopie oder eine Einladung an die Frauen der privilegierten und ausbeuterischen Klassen (wie Clinton oder Pelosi), sie zu dominieren und ihr Programm konservativ zu halten. Darüber hinaus stimmte und kandidierte eine große Zahl von Frauen (Weiße, Mittelschicht und „Christinnen“) für Trump – wahrhaft „feindliche Schwestern“ (Clara Zetkin). Zweitens, weil zur wirklichen Befreiung der Frauen der Kapitalismus und die häusliche Knechtschaft mit einem Programm zur Vergesellschaftung der Produktions- und Reproduktionssphären ins Visier genommen werden müssen. Um für diese Ziele zu kämpfen, braucht es etwas mehr als Gewerkschaften oder Kampagnen gegen spezifische Angriffe. Frauen müssen eine führende und integrale Rolle in einer neuen ArbeiterInnenklasse und sozialistischen Partei als Teil einer neuen Internationale spielen.

F. Kräfte des Widerstandes

Die Gewerkschaften

1. Von den 36 OECD-Ländern liegen die USA mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 10,3 % an fünftletzter Stelle (Zahlen von 2019). Nur 6,2 % in der Privatwirtschaft sind gewerkschaftlich organisiert. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder beträgt 14,6 Millionen, drei Millionen weniger als 1989. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad schwankt enorm zwischen 21 % in New York und 2,2 % in South Carolina. Nichtsdestotrotz gibt es Anzeichen dafür, dass die Stimmung in den Reihen der Bevölkerung zunimmt, ihre Streikoption mehr als in der Vergangenheit zu nutzen und sie nicht nur für wirtschaftliche Belange, sondern auch für politische Fragen einzusetzen.

2. Die meisten GewerkschaftsführerInnen, sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene, haben jedoch seit langem eine „kollaborierende“ Haltung gegenüber den UnternehmerInnen eingenommen, oft in direkter Opposition zu den Bedürfnissen ihrer eigenen Mitglieder. Rückerstattungen und Zugeständnisse sind seit Jahrzehnten gängige Praxis, und so sind diese BürokratInnen direkt in die schamlose Ungleichheit in den heutigen USA verwickelt, einschließlich der zwischen ihren eigenen Gehältern und denen ihrer Mitglieder. Der einzige Schutz gegen diesen Verrat ist eine aktive und konfrontative Mitgliedschaft, die trotz ihrer Führung militante Maßnahmen ergreift, wann immer dies notwendig ist.

3. Eine Zunahme der gewerkschaftlichen Militanz und Streiks ging in der Tat der Trump-Administration voraus und lässt sich bis zur Großen Rezession 2008 zurückverfolgen. Mit dem Aufstand in Wisconsin 2011 noch unter der Obama-Regierung begann diese jüngste Phase des gewerkschaftlichen Kampfes, die in diesem Jahr in einer geschätzten Zahl von mehr als 600 Aktionen gipfelte, von denen viele in bisher nicht organisierten Sektoren erfolgten oder durch Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch staatliche Gesetze zum „Recht auf Arbeit“ am Streiken gehindert wurden, weshalb sie „wild“ waren.

4. Viele der diesjährigen Aktionen stehen im Zusammenhang mit der Covid-19-Krise, die zu unsicheren Arbeitsbedingungen für NiedriglohnarbeiterInnen geführt hat, die mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommen. Das jüngste Beispiel für die Beteiligung der Gewerkschaften an politischen Fragen ist eine Erklärung, die Anfang September von Gewerkschaftsmitgliedern veröffentlicht wurde, die der AFSCME (Regierungsangestellte), der SEIU (Dienstleistungsbeschäftigte) und der NEA (LehrerInnen) angehören und in der Streikaktionen zur Unterstützung der BLM-Bewegung angedroht werden, indem sie die BundesgesetzgeberInnen zwingen sollen, Maßnahmen zur Polizeireform und zum Abbau des systemischen Rassismus zu verabschieden.

5. Die Präsenz der Polizei in lokalen, regionalen und nationalen Gewerkschaftsräten und -verbänden, insbesondere in Zeiten verschärften Klassenkampfes, bedeutet, dass erbitterte FeindInnen an unseren Sitzungen und Entscheidungen teilnehmen. Diese „Gewerkschaften“ sind in keiner Weise ein Teil der ArbeiterInnenbewegung. Vielmehr sind sie die BeschützerInnen des „Privateigentums“ der KapitalistInnen, EinschüchterInnen von Streiks und KämpferInnen an vorderster Front gegen Farbige, „illegale“ EinwanderInnen und in der Tat gegen jede/n, der/die für grundlegende menschliche und demokratische Rechte kämpft. Sie müssen aus allen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ausgeschlossen werden.

Politische Parteien

6. Die primäre, nominell sozialistische Gruppierung in den USA sind die DSA (Demokratischen SozialistInnen Amerikas), die von 20.000 auf 70.000 Mitglieder angewachsen sind, mit einem Zustrom von 10.000, seit Bernie Sanders in den Vorwahlen der Demokratischen Partei geschlagen wurde. Die DSA hatte sich von der sozialdemokratischen Ausrichtung von Michael Harrington mit ihrem uneingeschränkten Bekenntnis zur Demokratischen Partei nach links bewegt, bis zu der im Nationalkonvent von 2019 vertretenen Position, dass sie keine/n KandidatIn außer Sanders unterstützen würde.

7. Auf lokaler Ebene haben sich die DSA-Ortsgruppen nach dem Ausscheiden von Sanders aus dem Präsidentschaftswahlkampf jedoch auf die Unterstützung der KandidatInnen der Demokratischen Partei konzentriert. Es ist zwar festzustellen, dass kein starker Drang besteht, Joe Biden zu wählen, aber die Struktur der DSA lässt Einzelpersonen und einzelnen Sektionen großen Spielraum, Biden/Harris entweder offiziell zu unterstützen oder sich für ihre Wahl einzusetzen, auch wenn sie die Stimmabgabe für sie nicht offiziell befürworten.

8) Diese „lokalisierte“ Strategie war erfolgreich bei der Wahl von DSA-KandidatInnen in Stadtverwaltungen und sogar einiger nominaler und bekennender „SozialistInnen“ in Staatshäuser, (Senat oder Repräsentantenhaus), jedoch ohne klare nationale Strategie. Selbst die berühmte „Riege“, die von der 2016 gewählten Alexandra Ocasio-Cortez angeführt wurde, waren nicht wirklich bekennende „SozialistInnen“. Sie alle gewannen ihre Vorwahlen in sicheren demokratischen Bezirken und werden wahrscheinlich im November wiedergewählt. Im Allgemeinen unterstützt die DSA die DemokratInnen stillschweigend als die Wahl des „kleineren Übels gegen Trump“. Wieder einmal haben sie sich trotz aller marxistischen Artikel im Magazin„ Jacobin“ in der Praxis als „linker Flügel“ der bürgerlichen Demokratischen Partei erwiesen.

9. Die DSA ist also durch ihre Abhängigkeit vom Wahlsystem, ihre generelle Konzentration auf „Identitäts“- gegenüber Klassenfragen und durch ihr Organisationsmodell der Dezentralisierung, das zu keiner nationalen Strategie und keinem einheitlichen Aktionsprogramm führt, gelähmt. Auch tut sie sehr wenig, um die organisierte ArbeiterInnenschaft zu erreichen, obwohl der DSA-Kongress 2019 wichtige Beschlüsse dazu gefasst hat. Obwohl viele in der DSA behaupten, MarxistInnen zu sein, scheinen nur sehr wenige die Arbeit tun zu wollen, um die ArbeiterInnenklasse in eine sozialistische Richtung zu beeinflussen. Dies ist der Grund für die Weigerung, etwas Besseres als eine „Strategie des schmutzigen Bruchs“ zu erwägen, d. h. das Mitgliedsbuch und die Wahlunterstützung der Demokratischen Partei zu nutzen, um angeblich die Kräfte für einen Bruch mit ihr aufzubauen.

10. Nichtsdestotrotz ist die DSA mit ihrer florierenden, international angesehenen „Jacobin“-Webseite/Zeitschrift ein Forum für eine bekennend marxistische, aber eigentlich nicht revolutionäre Linke. Ihr „Marxismus“ wird durch eine Art Kautskyismus und Gramscianismus entstellt, dessen prominentester Verfechter Eric Blanc ist, der eine Tendenz rund um die Zeitschrift „The Call“ (Der Ruf) anführt. Dieser Ansatz bietet weder strategische noch taktische Führung im Klassenkampf oder in den Kämpfen der rassistisch und geschlechtlich Unterdrückten. Nichtsdestotrotz wurde die Forderung nach einer unabhängigen ArbeiterInnenpartei auf den DSA-Konferenzen erhoben und sie sind das größte nationale Gremium, das der Forderung irgendeine Zugkraft verleihen kann. RevolutionärInnen können sich dafür am besten in der DSA sowie in den militanteren Bereichen der Gewerkschaftsbewegung und unter antirassistischen AktivistInnen Gehör verschaffen. Die DSA hat teilweise aufgrund des Scheiterns der größten selbsternannten trotzkistischen Organisationen floriert.

11. In der Zeit seit Beginn des Jahrhunderts haben es die größten Gruppen der trotzkistischen Linken, die Internationale Sozialistische Organisation (ISO) und die Sozialistische Alternative (SA), nicht nur versäumt, eine Führungsrolle bei der Schaffung einer von der Demokratischen Partei unabhängigen Massenpartei der ArbeiterInnenklasse zu übernehmen, sie haben auch Spaltungen und Zerfall erlitten. Die ISO, lange Zeit die größte Gruppe der extremen Linken in den USA, hat sich von ihrem früheren Projekt der Basisorganisation in der ArbeiterInnenbewegung abgewandt und sich auf die StudentInnen und die „sozialen Bewegungen“ konzentriert. In den letztgenannten stritt sie nicht für eine marxistische Führung. Zu ihrer Konzentration auf sozialistische Propaganda gehörte die Führung eines regen Verlagshauses. In taktischer Hinsicht hat sie eine Nicht-ArbeiterInnenpartei, die Grünen, bei Wahlen unterstützt, anstatt sich für den Aufbau einer ArbeiterInnenpartei einzusetzen. Eine massive Krise 2019, die in der Vertuschung eines Vergewaltigungsfalles durch die ehemalige Führung im Jahr 2013 wurzelte, führte zu ihrer Selbstliquidation. Viele der ISO-Abtrünnigen identifizieren fälschlicherweise leninistische oder bolschewistische Parteimethoden als Ursache für das bürokratische Regime in der Gruppe.

12. Die SA (bis zur jüngsten Spaltung die Sektion des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, CWI/KAI, in den Vereinigten Staaten) hat sich auf die Aufstellung von KandidatInnen bei Kommunal- und Bundesstaatswahlen konzentriert, wobei ihr größter Erfolg die Wahl von Kshama Sawant in den Stadtrat von Seattle war. Das Programm, auf dessen Grundlage sie gewählt wurde, war nicht revolutionär, und dies wurde bald bekannt. Am 13. August stimmte Sawant dafür, Carmen Best als Polizeipräsidentin von Seattle zu bestätigen, weil die Gemeindemitglieder „mich mit überwältigender Mehrheit dazu gedrängt haben, mich (einer schwarzen Kandidatin) nicht in den Weg zu stellen“. Dieses prinzipienlose reformistische WahlkämpferInnentum war nicht neu. Die SA hatte lange Bernie Sanders‘ Kampagne als Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei unterstützt und ihre eigene „Movement4Bernie“ (Bewegung für Bernie) gebildet. Obwohl sie Transparente mit Sanders‘ Slogan „Wir brauchen eine politische Revolution“ trugen, versuchten sie, eine Fassade marxistischer Seriosität aufrechtzuerhalten, indem sie erklärten, dass er, sollte er die Nominierung gewinnen, dann mit der Demokratischen Partei brechen sollte.

13. Im Zuge der Spaltung der CWI begann die in Großbritannien ansässige Führung plötzlich, diese Linie als opportunistisch und die Politik der Sozialistischen Alternative als von „Identitätspolitik“ beeinträchtigt zu kritisieren, obwohl sie zuvor die Erfolge der Gruppierung unterstützt und sich damit gebrüstet hatte. Nach der Spaltung mitten durch die CWI ist die SA nun eine der größten Gruppen in der Internationalen Sozialistischen Alternative. Andere, neuere Gruppierungen links von den beiden oben genannten sind Socialist Resurgence (Sozialistische Wiederauferstehung), eine Abspaltung von Socialist Action im Jahr 2016, und Left Voice (Linke Stimme), die mit der in Argentinien ansässigen Trotzkistischen Fraktion-Vierte Internationale (FT-QI) verbunden ist. Wenn das Problem der ISO und der SA ihr grober Opportunismus war, dann besteht die Gefahr bei den beiden letzteren darin, dass sie es versäumen, Einheitsfronttaktiken anzuwenden und sich am Kampf um die Abspaltung der Gewerkschaften und der DSA von den Demokratischen Partei zu beteiligen. Ohne dies wird der Weg zu einer unabhängigen Klassenpolitik blockiert bleiben, und das in der tiefsten politischen Krise, die die USA seit den 1960er Jahren erlebt haben.

G. Die Ablenkung in Gestalt des Populismus

1. Die Grüne Partei in den USA lässt sich am besten als das „ökosozialistische“ Gewissen der Demokratischen Partei beschreiben. Sie appelliert an die AnhängerInnen von Bernie Sanders, der verärgert darüber sind, dass er wiederum Biden unterstützt, sowie an Ausgetretene aus verschiedenen trotzkistischen Gruppen. Ihr Wahlprogramm enthält keinerlei Kritik an der von der Demokratischen Partei verfolgten oder unterstützten Politik. Bei der Wahlkampfplattform von Howie Hawkins und Angela Walker ist dies jetzt noch offensichtlicher als bei Jill Stein und Ajamu Baraka im Jahr 2016. Bei der Wahl im Jahr 2020 sind die Grünen in mehr umkämpften Bundesstaaten von den Stimmzetteln verschwunden, als Stein es war, zum Beispiel in Wisconsin und Pennsylvania, um die Wahl nicht zu „verderben“.

2. Als bürgerliche Partei bestehen ihre Forderungen aus Rufen nach Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems, die sich meist auf einen „ökosozialistischen grünen New Deal“ konzentrieren. An den vorgeschlagenen Reformen ist jedoch nichts Sozialistisches. Es gibt keine Rede von Enteignung und Verstaatlichung von Industrien, keine Erwähnung eines existenzsichernden anstelle eines Mindestlohns, keine ernsthafte Forderung nach einer Umverteilung des Reichtums unter der amerikanischen Bevölkerung. Die progressive Besteuerung ist alles, was sie haben, und selbst da sind die Details spärlich.

3. So zu tun, als könnten die USA ihren Weg zu einer nachhaltigen Beziehung zwischen Mensch und Natur reformieren, ist ein Hirngespinst. Die Grünen fischen nach Wohlfühlstimmen, wenn sie ankündigen, dass sie Biden nach links drängen wollen. So dringend ein Bruch des Zweiparteiensystems nötig ist, kann man nur hoffen, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht auf diese Wölfin im grünen Schafspelz hereinfallen.

4. Die jüngste Wiederholung im „progressive dritte Partei“-Gewinnspiel ist die Bewegung für eine Volkspartei. Am 30. August fand ein Online-„Kongress“ statt, an dem 400.000 Menschen teilnahmen, unter anderem mit RednerInnen wie dem Akademiker Dr. Cornel West, dem linken Journalisten Chris Hedges, dem linken Podcast-Star Jimmy Dore, der Friedensaktivistin Cindy Sheehan und dem Filmemacher Oliver Stone. Wie der Name schon sagt, handelt es sich hier nicht um eine Partei der ArbeiterInnenschaft, sondern um einen klassenübergreifenden Versuch, eine Partei links von der Demokratischen Partei zu organisieren, was sie offen als „progressive populistische Partei“ bezeichnen, die Sanders‘ verworfene Parolen aufgreift: Gesundheitsversorgung für alle, kostenlose öffentliche Hochschulbildung, das große Geld aus der Politik herausholen, ein Programm für Arbeitsplätze in der Infrastruktur, 15 US-Dollar pro Stunde Mindestlohn, den Grünen New Deal und andere Dinge, die auf der Wunschliste der reformistischen Linken stehen. Ihre derzeitigen Pläne sehen vor, den Rest dieses Jahres und bis ins Jahr 2021 zu nutzen, um einen nationalen Organisationskongress zu planen, um ein Parteiprogramm zu entwerfen und einen Namen für die Partei zu beschließen. Bis dahin, so behaupten sie, sollen Organisationsteams im ganzen Land daran arbeiten, lokale Knotenpunkte aufzubauen, eine Präsenz zu etablieren und Zugang zu Wahlen zu erhalten.

5. Das Problem dieser Initiative besteht darin, dass sie eine populistische und klassenübergreifende Formation ist, was bedeutet, dass sie zur Bourgeoisie hingezogen wird. Sie ist im Moment offensichtlich nur an Wahlen und Wahllösungen interessiert, und die aufgeführten BefürworterInnen sind alle KapitalistInnen. In der Tat gibt es nur sehr wenig organisierte Unterstützung aus der ArbeiterInnenklasse, mit nur einem Gewerkschaftsführer als Unterstützer, Al Rojas von den Vereinigten LandarbeiterInnen. Die ArbeiterInnen sind nur im Abschnitt „Koalitionen“ der Website aufgeführt, ebenso wie die angegebenen Ziele, die alle im Kapitalismus erreichbar sind. Sie sind zwar linksliberale KapitalistInnen, aber immer noch kapitalistisch. Und es hängt noch in der Schwebe, ob es ihnen gelingen wird, ihre primäre Mission zu erfüllen, in genügend Bundesstaaten an den Wahlstart zu gehen, um das politische Monopol der beiden großen Parteien der kapitalistischen herrschenden Klasse im Jahr 2020 tatsächlich zu brechen.

H. Eine einzigartige Wahl?

1. Trumps Wahlkampf ist eine groteske Satire auf seine Präsidentschaft, indem er als Kandidat für Recht und Ordnung und als Wächter über das Chaos antritt und gleichzeitig alles in seiner Macht Stehende tut, um das gesellschaftliche Chaos zu schüren. Das Land steht vor dem größten sozialen Aufstand seit Generationen und einer antirassistischen Bewegung, an der nicht nur Schwarze, sondern das ganze Spektrum der farbigen und weißen AntirassistInnen beteiligt sind. Die DemokratInnen hingegen sind zu ihrer Strategie von 2016 zurückgekehrt, die Wahlen von 2020 als Kampf gegen das „Ende der Demokratie“, wie wir sie kennen, zu gestalten. Das Votum für Biden ist mit überwältigender Mehrheit eines, um Trump zu stoppen. Die Wahlplattform der Demokratischen Partei ist stark darauf ausgerichtet, die Stimmen der ArbeiterInnenklasse und der Schwarzen zu gewinnen. Während diese beiden in fast allen Teilen des Programms erwähnt werden, lassen sich die Ziele des Programms im Grunde darauf reduzieren, die AmerikanerInnen wieder an die Arbeit und zurück zum Konsum zu bringen.

2. Es besteht kein Zweifel, dass die Verabschiedung der demokratischen Plattform Millionen von AmerikanerInnen eine unmittelbare Erleichterung bringen würde. Aber es würde noch weitere Millionen von Menschen in der Folge in immer weiter um sich greifender Armut zurücklassen, die von Wohltätigkeits- und Lebensmitteltafeln abhängig und in ihrer Wohnung und Beschäftigung unsicher sind. Vor allem aber würde sie sicherstellen, dass die KapitalistInnen weiterhin den Löwenanteil aller Produktionsfortschritte erhielten, die im arbeitenden Amerika erzielt würden. Bidens Plattform ist übersät mit zahnlosen „Razzien“ gegen das Großkapital und Missbrauch in Bundesstaatsverwaltungen, insbesondere bei seinen Reformen in den Bereichen Umwelt, Arbeit„nehmer“Innen- und Strafrecht. Er überlässt die Einlösung vieler seiner Versprechen den KapitalistInnen, deren einzige Motivation zur Einhaltung der Reformen der Verlust von ansonsten Bundeszuschüssen und -aufträgen ist, welchen Versuch wir während der Obama-Regierung spektakulär scheitern sahen. Darüber hinaus hält er als Olivenzweig für progressive und schwarze WählerInnen im Wesentlichen Schulden bereit, getarnt als Erleichterung. Seine Gesundheits- und Wohnungspolitik stützt sich in hohem Maße auf Wohlfahrt, individuelle Steuergutschriften, zinsgünstige Darlehen und hochverzinste Schuldentilgungspläne, wobei der/die amerikanische ArbeiterIn die Rechnung bezahlen muss.

3. Unterdessen hängt ein Damoklesschwert über der Wahl. Selbst wenn er die Wahl verlieren sollte, hat Trump in Bezug auf die Volksabstimmung deutlich gemacht, dass er ein „Foul“ schreien wird. Die republikanischen Bundesstaaten, die die Stimmzettel auszählen, könnten seine Ansicht, das Ergebnis sei durch Einmischung beeinträchtigt und ungültig, durchaus stützen. Wie im Jahr 2000 könnte dieser Fall an den Obersten Gerichtshof gehen, der sich nun fest in den Händen der Trump-AnhängerInnen befindet. Biden könnte jedes Sieges beraubt werden, auch eines großen, und das Land stürzt mit der Besetzung des Weißen Hauses durch Trump in ein Chaos. Doch selbst wenn das Wahlkollegium Biden bestätigen würde, könnte sich als Reaktion die „Trump-Bewegung“ mit ihren von der Verschwörungstheoriesekte QAnon getäuschten AnhängerInnen immer noch weigern, die Niederlage zu akzeptieren. All dies inmitten einer zweiten Welle der Coronavirus-Pest und von Waldbränden und Wirbelstürmen, die von der drohenden Klimakatastrophe zeugen.

4. Trump hat angedroht, Gerichte, die er mit Rechtsextremen vollgestopft hat, zu benutzen, um Ergebnisse in Bundesstaaten, die sich gegen ihn richten, für ungültig zu erklären. Es hat eine Zunahme republikanischer Aktionen in von der Republikanischen Partei dominierten Staaten gegeben, um eine große Anzahl von Stimmen farbiger Menschen für ungültig zu erklären. Trump appelliert an seine AnhängerInnen, die Wahllokale zu „überwachen“, und nicht zuletzt an die faschistischen Milizen, sich im Falle eines Sieges von Biden mit ihren Gewehren „bereitzuhalten“. Die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften, die BLM-Bewegung, die Frauen- und die LBGTIAQ+-Bewegung werden ebenfalls bereit sein müssen, falls Trump versucht, die Wahl zu stehlen. In dem Moment, in dem ein besiegter Trump versucht, seinen Verfassungsputsch zu starten, um sich an der Macht festzuhalten, müssen all diese Bewegungen in überwältigender Stärke auf die Straße gehen, bereit, seine bewaffneten FaschistInnen von der Straße zu vertreiben, und zu verhindern, dass die Polizei auf seiner Seite eingreift. Die Gewerkschaftsverbände, die neuen Gewerkschaften, aber auch die Unorganisierten müssen zu einem politischen Massenstreik aufgerufen werden, um Trump von der Macht zu vertreiben.




US-Gericht in Louisville entscheidet: Schwarze Leben spielen keine Rolle

Dave Stockton, Infomail 1119, 27. September 2020

In der vergangenen Woche brachen erneut landesweit Proteste gegen Polizei-Rassismus in den USA aus. Es geht erneut gegen das diskriminierende Unrechtsjustizsystem der Vereinigten Staaten, nachdem bekannt wurde, dass eine Grand Jury es abgelehnt hatte, drei Zivilpolizisten wegen der Erschießung und Tötung von Breonna Taylor, einer zum Zeitpunkt des Mordes sechsundzwanzigjährigen afroamerikanischen Notfallsanitäterin, in ihrem eigenen Haus anzuklagen.

Nachdem die Beamten in den frühen Morgenstunden des 13. März 2020 ohne Vorwarnung in ihre Wohnung in Louisville, Kentucky, eingedrungen waren, feuerten sie mehr als zwanzig Schüsse ab, von denen sieben Breonna Taylor trafen und von denen einer sie tödlich verletzte. Nur einer der Polizeioffiziere wurde wegen „mutwilliger Gefährdung ersten Grades“ angeklagt, weil er rücksichtslos Schüsse in das Apartment abgegeben hatte, die in benachbarte Wohnungen eingedrungen waren. Selbst diese Anklage wurde erst vier Monate nach der Tötung erhoben, schlicht und einfach nur als Tarnung, um eine Anklage wegen Mordes gegen die Beamten zu vermeiden.

Taylor lag mit ihrem Freund Kenneth Walker im Bett, als die Polizei ohne Vorwarnung die Tür zu ihrer Wohnung aufbrach. Walker eröffnete mit seiner rechtmäßig gehaltenen Schusswaffe das Feuer auf die Eindringlinge und verwundete einen der AngreiferInnen leicht. Walker, der selbst im Kugelhagel verwundet wurde, wurde sofort angeklagt und befindet sich seit dem Vorfall in Haft. Den Polizeibeamten wurden lediglich neue Aufgaben zugewiesen. In einem ekelerregenden Versuch, das Opfer zu beschmutzen, versuchte die Polizei erfolglos, Breonna mit dem Drogengebrauch eines ehemaligen Freundes in Verbindung zu bringen. In der Wohnung wurden keine Drogen gefunden.

Mord und Repression

Wieder einmal haben wir ein unverschämtes Beispiel für die völlige Straffreiheit von PolizistInnen, wenn es darum geht, Schwarze „in Ausübung ihrer Pflicht“ zu töten. Es hat den Anschein, dass kaum eine Polizeitötung aufgenommen worden ist, da findet schon eine andere statt. Kein Wunder, dass sie sich wie eine Besatzungsarmee verhalten, einer der Beteiligten hatte seinen KollegInnen sogar getwittert, dass sie „Krieger“ seien. Viele KommentatorInnen haben darauf hingewiesen, dass sich diese „KriegerInnenmentalität“ seitdem Irakkrieg noch weiter verbreitet hat. Seitdem haben viele Polizeidienststellen schwer gepanzerte Fahrzeuge und andere militärische Kriegswaffen gekauft.

Die mutwillige Ermordung von Breonna Taylor, gefolgt von der von George Floyd, die auf Video festgehalten wurde, löste eine Welle von Demonstrationen aus, die sich weltweit ausbreitete. Louisville selbst war seit der Ermordung von Breonna 119 Tage lang Zeugin von Protesten. In zunehmendem Maße hat die Polizei Tränengas und Pfefferkugeln auf diese Menschenmengen abgefeuert.

Am Tag der Weigerung der Grand Jury, Anklage zu erheben, liefen die BereitschaftspolizistInnen in die Menge der friedlichen DemonstrantInnen hinein und provozierten schließlich das, was sie dann als Aufruhr bezeichnen konnten. Über Nacht erlitten zwei PolizistInnen Schusswunden, und noch vor dem Urteil rief der Gouverneur von Kentucky, Andy Beshear, ein Demokrat, in Louisville den Ausnahmezustand aus. Am Tag selbst mobilisierte er die Nationalgarde des Staates.

Donald Trump hat die Polizei wiederholt für die Gewalt gelobt, die sie gegen friedliche DemonstrantInnen – die er als „InlandsterroristInnen“ bezeichnet hat – entfesselt hat. Er hat seine rechtsextremen AnhängerInnen gegen DemonstrantInnen aufgehetzt, und in Denver, Colorado, fuhr eine/r mit einem Auto durch eine Demonstration, die gegen die Entscheidung der Grand Jury protestierte.

Die Polizei hat während der Proteste regelmäßig schwer bewaffnete rechte Milizengruppen auf den Straßen patrouillieren lassen und sich sogar mit ihnen vergeschwistert. Als am 25. August in Kenosha, Wisconsin, zwei unbewaffnete Demonstranten von einem solchen rechten Milizionär getötet wurden, nahm Trump den Täter in Schutz und meinte, dass dieser sich nur verteidigt habe. Dies ist eindeutig Teil seiner Strategie, die Wahl am 3. November in einer Atmosphäre hoher sozialer Spannungen, einschließlich physischer Konflikte, abzuhalten, in der Hoffnung, dass seine Kampagne für „Recht und Ordnung“ die kläglichen Misserfolge seiner Präsidentschaft vertuschen wird.

Die Aktionen der DemokratInnen, selbst dort, wo sie im Amt sind, wie in Kentucky, zeigen, wie wenig diese zweite Partei der KapitalistInnen als Schutz für Schwarze und People of Color, die große Zahl von AntirassistInnen oder für die ArbeiterInnenklasse geeignet ist. Deshalb sollte man sich nicht in dem Glauben zurückhalten, dass dies Biden zum Sieg verhelfen wird.

Ganz im Gegenteil! Es sollte kein Zurückschrecken bei den Demonstrationen oder bei den Kämpfen der ArbeiterInnen für Arbeitsplätze und Gerechtigkeit in der Coronavirus-Krise geben! Keine Zurückhaltung bei den Aufrufen, die KillerpolizistInnen aus den Gemeinden zu vertreiben, die Polizeigewerkschaften aus den Gewerkschaftsverbänden herauszuschmeißen und ganz sicher keine Zurückhaltung bei der Organisierung der Selbstverteidigung. Jedes Anzeichen einer Schwächung des Massenwiderstandes wird nur Trumps ultrareaktionäre Bewegung und ihre faschistischen Ränder ermutigen, ganz zu schweigen von den Polizeiabteilungen, von denen viele bereits mit ihnen sympathisieren.

Trump hat praktisch damit gedroht, dass er das Urteil der WählerInnen nicht akzeptieren wird, wenn die Wahl im November gegen ihn ausfallen wird. Er hat seine AnhängerInnen der weißen RassistInnen dazu angestachelt, sich zu wehren, wenn er verliert. Das mag nur Trump-Geschrei sein, aber wenn die Ergebnisse von RepublikanerInnen in von ihnen kontrollierten Bundesstaaten oder im Obersten Gerichtshof angefochten oder behindert werden können, dann ist alles möglich. Die sicherste, ja die einzige Möglichkeit, dieses Szenario zu verhindern, besteht darin, die Massenbewegung zu stärken, damit sie direkt eingreifen kann, um ihm Einhalt zu gebieten bzw. ihn aus dem Amt zu jagen, sollte er versuchen an diesem festzuhalten.