Stoppt den Krieg in der Ukraine!

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1179, 24. Februar 2022

Die Liga für die Fünfte Internationale verurteilt den Angriff russischer Luft- und Landstreitkräfte auf die Ukraine sowie die Leugnung ihres Rechts auf Unabhängigkeit als souveräner Staat durch Wladimir Putin.

Seine Behauptung, er verteidige die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine und die Sicherheit Russlands gegenüber der NATO, ist ein gigantischer Betrug. Nicht weniger betrügerisch sind jedoch die Behauptungen der NATO-Verbündeten, sie würden ausschließlich zur Verteidigung der Demokratie und der nationalen Souveränität handeln. Wie Putin verfolgen auch sie ihre eigenen imperialistischen Interessen. Kurz gesagt, die Invasion in der Ukraine ist in erster Linie ein zwischenimperialistischer Konflikt.

Putins brutales Vorgehen steht im Einklang mit dem Vorgehen der russischen Streitkräfte in Syrien zur Stabilisierung des mörderischen Assad-Regimes sowie der Ermordung von Oppositionellen und der Unterdrückung von Massenprotesten im eigenen Land und seiner Förderung rechtsextremer Parteien und autoritärer Regierungen in der EU. Kurz gesagt, es sind die Aktionen einer imperialistischen Macht, die im Konflikt mit den imperialistischen Mächten USA und EU steht.

Wir verurteilen auch die Rolle der NATO bei der Förderung dieser Krise, deren Wurzeln in der Erhaltung und Ausweitung dieses Bündnisses des Kalten Krieges nach dem Zusammenbruch der UdSSR und ihrem Vordringen bis an die Grenzen der Russischen Föderation unter Verletzung wiederholter mündlicher Zusicherungen an die aufeinanderfolgenden russischen Präsidenten liegen.

Darüber hinaus griff sie in die ursprünglich legitimen demokratischen Volksbewegungen gegen die korrupten Oligarchenregime in den verbleibenden Staaten des „nahen Auslands“ der Russischen Föderation ein. Ziel war es, die prorussischen durch antirussische Regime zu ersetzen, indem man sie in die sogenannten farbigen Revolutionen verwandelte. Dies musste früher oder später zu einem Rückschlag des russischen Imperialismus führen, sobald er sich stark genug fühlte.

Dies war die Strategie aller mit den USA verbündeten imperialistischen Großmächte. Washingtons Politik der Ablehnung der russischen Forderungen nach einer Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, zielte jedoch auch auf die Bestrebungen Frankreichs und Deutschlands ab, eine größere wirtschaftliche und militärische Autonomie von der transatlantischen Supermacht zu erlangen. Sie sind nun die großen Verlierer:innen, da ihre diplomatische Lösung zunichtegemacht wurde und Deutschland gezwungen ist, die Inbetriebnahme der Nordstream-2-Gaspipeline auszusetzen.

Das Ziel bestand darin, sie innerhalb der NATO, die selbst ein als Schutz verherrlichtes amerikanisches Spektakel ist, unterzuordnen und zu zwingen, den von Washington diktierten und durchgesetzten Sanktionen zuzustimmen, wie ruinös dies auch für ihre eigenen Volkswirtschaften wäre.

Dass der NATO-Imperialismus dies unter der Flagge der Demokratie, der Menschenrechte und der Selbstbestimmung der Völker tut, war und ist eine grausame Täuschung. Eine solche stellt auch die Behauptung der Ukraine dar, sie verteidige lediglich ihr Recht auf Selbstbestimmung, denn seit 2014 kämpft sie dafür, den östlichen Regionen des Landes (und der Krim) das gleiche Recht zu verweigern, einschließlich des Rechts, ihre eigene Sprache zu verwenden und frei zu entscheiden, ob sie innerhalb der Grenzen eines Staates leben wollen oder nicht, der durch die Akzeptanz einer ethnisch westukrainischen nationalen Identität definiert ist.

Putins chauvinistisches Abenteuer hat US-Präsident Joe Biden und seinen NATO-Verbündeten den perfekten Vorwand geliefert, um die Hysterie des Kalten Krieges zu verstärken und die unverfrorenen sozialimperialistischen Kräfte innerhalb der weltweiten Arbeiter:innenbewegung zu ermutigen, sei es in den sozialdemokratischen und Labourparteien oder Gewerkschaftsbewegungen.

Ebenso sind alle Kräfte aus der stalinistischen Tradition, die Putins Handlungen entschuldigen und seine Forderungen nach einer „Einflusssphäre“ oder einer „Sicherheitszone“ rechtfertigen, weit davon entfernt, eine Politik zu verfolgen, die auf Internationalismus und Opposition gegen jeglichen Imperialismus beruht. Zu glauben, dass der Feind unseres Feindes unser Freund sein muss, ist der Gipfel der Torheit. In Wirklichkeit sind unsere einzigen Verbündeten die Arbeiter:innen in allen Ländern, die ihre eigenen Herrscher:innen bekämpfen und die Hand der Solidarität über die Frontlinien des Konflikts hinweg ausstrecken.

Der chinesische Imperialismus steht als globaler wirtschaftlicher und damit letztlich auch militärischer Rivale der USA wirtschaftlich mehrere Kategorien über Russland. Obamas, Trumps und Bidens Schwenk nach Asien und ihr „Putin ist der neue Hitler“-Narrativ in Europa haben China unweigerlich näher an Russland herangeführt. Dies ist jedoch nicht auf Xi Jinpings und Putins Herausforderungen für „unsere Werte“ zurückzuführen, sondern auf ihre wirtschaftliche und geostrategische Rivalität mit den USA. Pekings brutale und rassistische Verfolgung der Uigur:innen in Xinjiang und der Demokratieaktivist:innen in Hongkong ist eine Warnung, dass China es nicht zulassen wird, von den USA isoliert oder auf Sparflamme gehalten zu werden.

Aus all diesen Gründen müssen die Arbeiter:innenklasse und die fortschrittliche Bewegung in der ganzen Welt davon abgehalten werden, in diesem zwischenimperialistischen Konflikt Partei für eine Seite zu ergreifen. In den alten imperialistischen Kernländern ist die Behauptung, die Demokratie zu verteidigen, lediglich ein zynischer Trick, um das „Recht“ dieser Staaten zu verteidigen, die Welt auszuplündern. In Russland und China ist es ein Schritt zur Ablösung der alten Imperialist:innen und zur Unterwerfung der großen Mehrheit der Menschheit unter neue Machthaber:innen, die es neuen Milliardär:innen ermöglichen, auf Kosten ihrer eigenen Arbeiter:innen und der verarmten Mehrheit der Menschheit zu gedeihen.

Wesentlich für eine korrekte Haltung in dieser Frage ist Karl Liebknechts Losung aus dem Ersten Imperialistischen Krieg: Der Hauptfeind steht im eigenen Land, was für die USA, ihre NATO-Verbündeten sowie für Russland und China gleichermaßen gilt.

  • Sofortiger Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine! Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit und Staatlichkeit durch Moskau!
  • Keine Unterstützung für westliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland! Für Arbeiter:innenaktionen, um die Lieferungen von Waffen und Munition an alle Kriegstreiber:innen zu stoppen, solange die Aggression andauert!
  • Abzug aller NATO-Berater:innen aus der Ukraine und der Seestreitkräfte der Westmächte aus dem Schwarzen Meer!
  • Für das Recht der Regionen Donezk, Luhansk und Krim auf demokratische Selbstbestimmung, einschließlich der Optionen der Autonomie innerhalb der Ukraine, der Unabhängigkeit oder des Beitritts zu Russland!
  • Auflösung von NATO und Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit!
  • Stoppt den den Marsch über einen neuen Kalten Krieg in Richtung eines globalen zwischenimperialistischen Krieges!
  • Für eine neue globale Bewegung gegen imperialistische Kriege und Aufrüstung und für die Umleitung der enormen technischen und wissenschaftlichen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, um die brennenden Probleme der Klimakatastrophe, der Armut, des Hungers und der Krankheiten zu lösen!
  • Für einen internationalen Zusammenschluss von Parteien der Arbeiter:innenklasse, die gegen Kapitalismus und Imperialismus und für den Sozialismus kämpfen – eine Fünfte Internationale, die die fortschrittliche Arbeit der ersten vier Internationalen fortsetzt.



USA: Trotz der Pandemie – die ArbeiterInnenklasse erwacht

Marcus Otono, Infomail 1176, 20. Januar 2022

In der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse geschieht etwas trotz des massiven Anstiegs der Infektionen mit der Omikron-Welle. Sie erwacht zur Militanz. Und obwohl es stimmt, dass sich diese neu gefundene Zielstrebigkeit seit dem großen Aufstand in Wisconsin 2011 und den Occupy-Wall-Street- und Black-Lives-Matter-Protesten in den darauffolgenden Jahren entwickelt hat, hat es ein Jahrzehnt gedauert, bis sie die organisierte ArbeiterInnenklasse auf breiter Basis erreicht hat.

Auch wenn die Gewerkschaften im letzten Jahr immer mehr Aktionen am Arbeitsplatz durchgeführt haben, folgen sie doch dem Massenexodus von ArbeiterInnen, die ihre schlechten Jobs in Scharen kündigen. Im August kündigten 4,3 Millionen Lohnabhängige ihren Arbeitsplatz, was einen Rekord für diese Art von Einzelmaßnahmen darstellt und als „Große Kündigung“ bezeichnet wird. Angesichts des geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrads in den USA ist diese Art des individuellen „Streiks“ der ArbeiterInnenschaft letztlich das Ergebnis von vier Jahrzehnten stagnierender oder sinkender Reallöhne und schwindender Sozialleistungen. Jetzt wird er durch steigende Preise für die meisten Güter, die die ArbeiterInnen tatsächlich zum Überleben brauchen, wie Miete, Hypothekenzahlungen, Lebensmittel und Versorgungsgüterpreise angeheizt.

Für viele gab es keine andere Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit zu zeigen, als ihren miesen Job zu schmeißen und zu versuchen, etwas anderes zu finden, das zumindest geringfügig besser ist. Die meisten scheinen eine Art von Selbständigkeit anzustreben, da sie der Meinung sind, dass sie besser dran sind, wenn sie sich als ihr/e eigene/r ChefIn durchschlagen, als wenn sie sich abmühen, um den Gewinn eines/r anderen zu steigern.

Der Fluch der „Unternehmensgewerkschaft“ wird von den Gewerkschaftsführungen mindestens seit den Tagen von Ronald Reagan propagiert. Dieser US-Präsident brach dem gewerkschaftlichen Widerstand das Genick, als er zu Beginn seiner Amtszeit den Streik der FluglotsInnengewerkschaft PATCO niederschlug und anschließend „Gewerkschaft“ in ein Schimpfwort verwandelte. Nachdem die ArbeiterInnenschaft jahrzehntelang niedergehalten wurde, sollte es niemanden überraschen, dass es so lange gedauert hat, bis die Basis begriffen hat, was Kapitalismus für die ArbeiterInnen tatsächlich bedeutet.

Streikoktober und Erntedankstreik führen zu Streikweihnachten

Jahrzehntelang wurden den Gewerkschaftsmitgliedern Verträge von räuberischen KapitalistInnen aufgezwungen, die mit einer Gewerkschaftsbürokratie unter einer Decke stecken, die schwört, dass die einzige Möglichkeit für die Beschäftigten, ihre Arbeitsplätze zu behalten, darin besteht, hart erkämpfte Verbesserungen bei Löhnen und vor allem bei Sozialleistungen zurückzugeben. Durch die Androhung und die tatsächliche Verlagerung von Arbeitsplätzen an Orte mit noch schlechteren Bedingungen und billigeren Arbeitskosten wurden die Belegschaften dazu verleitet, viel mehr aufzugeben, als sie in jahrzehntelangen Verhandlungen erreicht hatten. Es waren immer die ArbeiterInnen, denen gesagt wurde, dass sie diejenigen sind, die für das Wohl des Unternehmens Opfer bringen müssen. GeschäftsführerInnen, Vorstände, Hedgefonds-BanditInnen und Wall-Street-ProfiteurInnen fühlen sich frei, alle Produktionsgewinne zu erbeuten und zu plündern, die durch die Zugeständnisse erzielt wurden, während die Lohnabhängigen leiden.

In jedem Vertrag und insbesondere in denen, die seit der großen Rezession 2008/09 ausgehandelt wurden, wurde den Beschäftigten versprochen, dass diese Zugeständnisse nur vorübergehend sein und nur so lange gelten würden, bis das Unternehmen wieder profitabel ist und ihre Opfer in vollem Umfang zurückzahlen würde. Aber die Gier eines Systems, das nur auf die nächste vierteljährliche Gewinnbilanz schaut, sowie die allgemeine Instabilität des Kapitalismus selbst lassen diese Rückzahlung nicht zu. Man kann die Menschen nur so lange mit Irreführung und Illusionen täuschen, bis sie die Versprechen als glatte Lügen erkennen. Nach der Pandemie scheinen wir an diesem Punkt angelangt zu sein, an dem die Illusionen für einen großen Teil der ArbeiterInnenklasse diskreditiert sind.

Sogar der behäbige und konservative Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO hat sich, zumindest vorübergehend, von der Militanz einer ganzen Reihe von ArbeiterInnen anstecken lassen. Mehr als 100.000 gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte haben zu Streiks aufgerufen, von denen die meisten auch tatsächlich stattfanden, und diesen Aufschwung als „Streikoktober“ und „Streikerntedank“ bezeichnet. Ein paar der Kampfmaßnahmen seien hier genannt:

Von Portland (Oregon) bis Buffalo (New York) streiken Tausende von Krankenschwestern und -pflegern gegen die „gewinnorientierte“ Gesundheitsindustrie, die von ihnen verlangt, unter körperlicher und psychischer Gefährdung und bei Burnout zu arbeiten, um die von COVID-19 betroffenen AmerikanerInnen zu pflegen. Zweistufige Verträge sind ebenfalls ein Faktor bei diesem Streik.

In Brookwood (Alabama) streiken tausend Mitglieder der United Mine Workers (Vereinigte BergarbeiterInnen) seit April 2021 gegen weitere vom Unternehmen geforderte Einbußen. Dabei handelt es sich um die Beschäftigten, die bereits Zugeständnisse gemacht hatten, um das Unternehmen 2016 vor dem Konkurs zu „retten“. Die Firma Warrior Met Coal ist zwar wieder rentabel, aber nur die GeschäftsführerInnen und das obere Management haben mit Gehaltserhöhungen davon profitiert. Und sie verlangen immer noch weitere Einschränkungen von der Belegschaft.

Die Werke des Landmaschinenherstellers John Deere wurden geschlossen, weil Tausende von United Auto Workers-(UAW)-Gewerkschaftsmitgliedern die Arbeit niedergelegt haben, um gegen ein Unternehmen zu protestieren, das in diesem Jahr bisher über 6 Milliarden US-Dollar Gewinn gemacht hat und von seinen Beschäftigten immer noch Zugeständnisse verlangt, einschließlich „zweistufiger“ Vertragsbestimmungen, die Neueingestellte benachteiligen. Obwohl der Streik inzwischen beigelegt ist, wurde mindestens ein Angebot des Unternehmens von den Mitgliedern abgelehnt.

Die Beschäftigten des Lebensmittelkonzerns Kellogg’s traten in den Streik, nachdem sie während der Pandemie Tausende von Überstunden geleistet hatten, um die AmerikanerInnen, die während der letzten 18 Monate der Isolation zu Hause festsaßen, mit Lebensmitteln zu versorgen. Der Cornflakesriese versuchte außerdem, den Beschäftigten einen „zweistufigen“ Vertrag aufzuzwingen, der zu einem massiven Einkommensgefälle zwischen neu eingestellten und altgedienten Beschäftigten führen wird – ein weiterer Streik, der mit einem zweifelhaften Ergebnis beigelegt wurde.

Nicht mitgezählt sind dabei Streiks, die zuvor zum Abschluss kamen, wie bei der Zimmerleute-Gewerkschaft Pacific Northwest Carpenters Union (NWCU) und bei den Nahrungsmittelherstellern Nabisco und Frito Lay. Auch die Streikgenehmigungen, die dazu geführt haben, dass die Bosse eingeknickt sind, wie die der IATSE (The International Alliance of Theatrical Stage Employees) für die Beschäftigten in der Film- und Fernsehindustrie, sind nicht berücksichtigt.

Dies ist nur eine repräsentative Auswahl der derzeit stattfindenden Arbeitskampfmaßnahmen. Laut Statistik zur Erfassung von Arbeitsniederlegungen an der Cornell University gab es im Oktober und November des vergangenen Jahres 103 Streiks und insgesamt 332 seit dem 1. Januar 2021. Viele wurden beigelegt, viele aber auch nicht. Es ist klar, dass die ChefInnen in absehbarer Zukunft die Bedürfnisse ihrer ArbeiterInnen berücksichtigen müssen, anstatt sie einfach als gegeben hinzunehmen.

Mit der Führung, wo möglich, ohne sie, wenn nötig

In Anlehnung an die LehrerInnenstreiks im Jahr 2018, die über soziale Medien von den Mitgliedern organisiert wurden, die ihre Führung ignorierten, als diese versuchte, sie vom Streik abzuhalten, wurden die meisten dieser Streiks von den Mitgliedern und nicht von oben angeordnet. So wurden beispielsweise die meisten der anfänglich zwischen den VerhandlungsführerInnen der Gewerkschaften und den FirmenbesitzerInnen erzielten vorläufigen Vereinbarungen von den Mitgliedern in einer Ratifizierungsabstimmung abgelehnt. Obwohl die Zahlen schwer zu berechnen sind, kommt es in der Regel nicht zu Streiks, ohne dass mindestens eine ausgehandelte Vereinbarung abgelehnt wird. Wir wissen, dass die ArbeiterInnen von Deere, die Zimmerleute im Nordwesten, die Bergleute, die Beschäftigen bei Kellogg’s und einige andere die Versuche ihrer FührerInnen, ihre Streiks zu entschärfen, zurückgewiesen haben, indem sie die von diesen ausgehandelten Abmachungen und dann auch Vergleichsangebote ablehnten, nachdem sie in Streikpostenkette angetreten waren. Dies scheint ein weit verbreitetes Phänomen zu sein, bei dem die Mitglieder in Bezug auf Militanz und Forderungen nach Aktionen schneller sind als ihre Führung.

Neben den in der jüngsten Vergangenheit zugestandenen Löhnen und Leistungen ist ein Hauptstreitpunkt bei vielen Verhandlungen die Forderung der Arbeit„geber“Innen nach einem „zweistufigen“ Vertrag für neu eingestellte im Vergleich zu altgedienten Arbeitskräften. Dies war ein wichtiges Thema bei vielen der aktuellen Streiks, einschließlich des UAW-Streiks gegen John Deere, des Streiks bei Kellogg’s und des Pflegepersonals gegen Kaiser Permanente, ein Pflegemanagement-Konsortium.

Zweistufige Pläne verstoßen gegen einen zentralen Grundsatz der Gewerkschaftsbewegung: „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Obwohl dies jahrelang für einige Leistungen wie Urlaubsdauer erlaubt war, ist es ein Verrat an der Idee einer demokratischen Gewerkschaft, neue MitarbeiterInnen zu zwingen, weniger Geld zu verdienen und weniger oder gar keine Renten- und/oder Krankenversicherungsleistungen zu erhalten. Es handelt sich auch um einen indirekten Angriff auf die Idee des Gewerkschaftswesens selbst. Denn warum sollte ein/e neue/r Mitarbeiter/in einer Gewerkschaft beitreten, die nicht für seine/ihre Gleichstellung am Arbeitsplatz kämpft?

Für das Unternehmen läuft natürlich alles auf den Gewinn hinaus. Je weniger es seinen ArbeiterInnen an Löhnen und Sozialleistungen zahlen kann, desto mehr Gewinn erzielt es. Für die Bosse ist das eine einfache Sache. Sie können noch so viel Getöse um ihre Beschäftigten machen, aber der/die „Held/in“ der Pandemie im Jahr 2020 wird schnell zum „Gewerkschaftsrowdy“ im Jahr 2021. Trotz des Geschreis, das die Demokratische Partei verbreitet, ist der Klassenkampf in der Tat ein Nullsummenspiel. Wenn sich sonst nichts ändert, gewinnen die ArbeiterInnen, verlieren die Bosse und umgekehrt. Die UnternehmenseigentümerInnen verstehen das sehr gut, weshalb sie, wenn sie gezwungen sind, bessere Löhne zu zahlen, versuchen, ihre Gewinne durch Produktivitätssteigerungen oder den Abbau von Sozialleistungen wieder hereinzuholen. Allzu oft unterstützen die GewerkschaftsbürokratInnen einen solchen „Kompromiss“, aber die Lohnabhängigen sollten ihn als das erkennen, was er ist.

Gegenwärtig scheint es, dass sogar die Gewerkschaftsbürokratie beschlossen hat, dem jüngsten Aufschwung der Militanz aus dem Weg zu gehen, aber niemand sollte erwarten, dass dies von Dauer ist. Die Gewerkschaftsbürokratie hat im kapitalistischen System nur ein Ziel, nämlich die Wut der Belegschaften in einen Vertrag zu lenken, der für das Unternehmen so vorteilhaft ist, wie es die aktuellen Bedingungen erlauben. Als Beweis dafür sei daran erinnert, dass selbst die Verträge, die angenommen wurden, entweder nicht oder nur knapp mit der aktuellen Inflationsrate Schritt gehalten haben, die im letzten Monat des Jahres 2021 auf 7 Prozent gestiegen ist.

Auch die Abschaffung der von den Bossen geforderten Zwei-Klassen-Pläne wurde nicht dauerhaft durchgesetzt. In einigen Fällen wurden diese undemokratischen Forderungen der Konzerne vorübergehend ausgesetzt, aber keineswegs  aus künftigen potenziellen Verträgen ausgeschlossen. Die einzige Möglichkeit, diesen unvermeidlichen Verrat zu vermeiden, besteht darin, die Bürokratie wie ein Falke zu beobachten, jeden angebotenen Vertrag sorgfältig zu prüfen und unabhängige ArbeitInnenausschüsse einzurichten, die den Streik, die Vertragsverhandlungen und die Ratifizierungsabstimmung überwachen. Wenn die Geschäftsführung schreit: „Wir stehen vor dem Bankrott“, dann müssen die ArbeiterInnen Einsicht in die Bilanzen verlangen. Wenn die Unternehmen sich wirklich in einer schwierigen finanziellen Lage befinden, sollte es kein Problem sein, dies zu beweisen.

Demokratisierung der Gewerkschaften

In Verbindung mit dieser verstärkten Militanz gibt es einen ständigen Drang zur „Demokratisierung“ der bestehenden Gewerkschaften mit Basisgruppen, die die Belange der wirklichen ArbeiterInnen stärker zum Ausdruck bringen. Dies ist nicht unbedingt eine neue Entwicklung, auch wenn es in einigen Gewerkschaften so sein mag. In vielen Fällen gibt es bereits seit langem laufende Kampagnen, so z. B. bei den Teamsters for a Democratic Union (TDU), die vor kurzem die Mitgliederkontrolle errungen haben, und bei der UAW die Unite All Workers for Democracy (UAWD) (Vereinigung aller ArbeiterInnen für Demokratie). Der Caucus of Rank-and-file Educators (CORE),  die Basisvereinigung im ErzieherInnenwesen, agierte als treibende Kraft bei den LehrerInnenstreiks im Jahr 2018.

Solche Initiativen sollten unterstützt werden, da sie eine wertvolle Kontrolle über die etablierten, überbezahlten hauptamtlichen FunktionärInnen darstellen, die die meisten großen Gewerkschaften von heute leiten, aber sie können nicht die einzige Lösung sein. Selbst „demokratisierte“ Grundeinheiten laufen Gefahr, von OpportunistInnen übernommen und von der Machtstruktur kooptiert zu werden. Deshalb muss jede/r, der/die in einem demokratischen Gremium wie einer Gewerkschaft  in leitende Positionen kommt, sorgfältig überwacht und von den Mitgliedern zur Rechenschaft gezogen werden.

Es stellt sich auch die Frage nach der Ausrichtung des Basisgremiums (Caucus). Wurde es gebildet, um die derzeitige Führungsstruktur zu ersetzen wegen Ideen, Strategien und Taktiken und/oder Korruption? Oder ist er dazu da, eine völlig andere Sicht auf den Zweck der Gewerkschaft zu vermitteln? Die Ersetzung einer kollaborierenden Klassenführung durch eine anfänglich „demokratischere“ Version derselben Strategie wird früher oder später zu denselben Verträgen mit Zugeständnissen an die Bosse führen, die die alte Führung unterstützt hat. Nur demokratische Ortsgruppen, die die Realität des tatsächlichen Klassenkampfes verstehen, werden in der Lage sein, die Attacken des Kapitalismus in seinem Spätstadium zu bekämpfen.

Von allen Fraktionen, die diese Strategie zur Demokratisierung der Gewerkschaften verfolgt haben, ist die von Peter J. McGuire in der Zimmerergewerkschaft vielleicht diejenige, die bei der jüngsten Streikwelle am erfolgreichsten war. Dieses Basiskomitee organisierte nicht nur den Streik gegen den Willen der Gewerkschaftsführung, sondern bekämpfte diese auch, als sie versuchte, die Strategie und Taktik des Streiks zu kontrollieren, das „Wann, Wo und an welcher Baustelle“ Streiks und Postenketten aufgestellt werden sollten . Sie organisierten den Widerstand gegen den immensen Druck der Führung, noch mehr konzessionäre Vertragsangebote zu akzeptieren, und beeinflussten die Mitglieder, nicht weniger als vier Angebote abzulehnen, bevor der Streik schließlich beigelegt wurde. Kurz gesagt, die McGuire-Fraktion verstand, dass es mit der „Demokratisierung“ der Gewerkschaft allein nicht getan ist. Organisierte ArbeiterInnen in jeder Gewerkschaft müssen alle Aspekte von Arbeitskampfmaßnahmen selbstbewusst kontrollieren und den Kampf an allen Fronten führen, auch innerhalb der Gewerkschaft und notfalls gegen die Führung.

Sie haben sich auch an die Spitze des Kampfes gegen die Trennung der Gewerkschaften voneinander und von der Klasse im Allgemeinen gestellt. Mit anderen Worten, sie haben Verbündete im Kampf willkommen geheißen, darunter das Mitglied des Stadtrats von Seattle und der Sozialistischen Alternative (SALT), Kshama Sawant, und gegen die Hetze gegen „Rote“ der Gewerkschaftsführung gekämpft, die versucht hat, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen.

Verbündete

In den letzten zehn Jahren haben die Gewerkschaften auf lokaler Ebene die Notwendigkeit erkannt, nicht organisierte ArbeiterInnen, unterdrückte Gemeinschaften und sympathisierende externe Gruppen wie die Demokratischen SozialistInnen (DSA) zu erreichen, um Verbündete und UnterstützerInnen zu gewinnen, wenn sie streiken müssen. Es scheint, dass diese Zeit jetzt gekommen ist. Zu dieser Kontaktaufnahme gehört auch eine Lockerung der – oft unausgesprochenen – Beschränkungen der Zusammenarbeit mit „KommunistInnen und SozialistInnen“ in Fragen des Klassenkampfes und der Gewerkschaftspolitik.

Obwohl dieser Einsatz schon seit einiger Zeit andauert, ist er immer noch eher im Bereich der „Öffentlichkeitsarbeit“ angesiedelt als in dem der Aktion. Von einigen Ausnahmen abgesehen, geht die Unterstützung für die Eindämmung von KillerInnen in Polizeiuniform nicht so weit, dass man streikt, bis sie gestoppt werden, sondern beschränkt sich auf die Teilnahme an Demonstrationen und die Abgabe von Unterstützungserklärungen für ermordete Opfer. Natürlich ist das alles besser als gar nichts, aber wie die LehrerInnenstreiks 2018 gezeigt haben, kann man selbst im feindlichsten politischen Klima mit Streiks tatsächlich Forderungen durchsetzen.

Angesichts der gesetzlichen Beschränkungen für Streiks und gewerkschaftliche Aktivitäten und, ja, der Angst der Gewerkschaftsführungen davor, obliegt es den Verbündeten, in Abstimmung mit den Gewerkschaftsmitgliedern, auf weitere Schritte zu drängen, wenn diese notwendig sind, um Streiks erfolgreich zu machen. Es ist schön und gut, die GewerkschaftsführerInnen zu unterstützen, wenn sie einen Streik gegen die Bosse führen, aber ein/e gute/r Verbündete/r muss auch Fehler und Irreführung anprangern, wenn Streiks im Gange sind. Die DSA sollte in einer guten Position sein, um die Forderungen der Gewerkschaften mit sekundären Streikposten und Demonstrationen voranzutreiben, die weiter gehen, als die Gewerkschaften in der Lage oder willens sind zu gehen. Aber dafür müssen DSA wie auch Gewerkschaften von ihrer vollständigen Konzentration auf Wahlpolitik und lokale „gegenseitige Hilfe“ wegkommen. In Zeiten des verschärften Klassenkampfes, der durch einen Streik verkörpert wird, wird es nicht ausreichen, für die DemokratInnen zu stimmen. Und natürlich müssen wir uns im Falle eines von der Führung durchgesetzten, aber von den Mitgliedern abgelehnten Zugeständnisses immer auf die Seite der Mitglieder stellen.

Mit anderen Worten: Ein/e gute/r Verbündete/r muss immer bereit sein, die Wahrheit so zu sagen, wie er/sie sie sieht, ungeachtet des Drucks, sich um jeden Preis „zu einigen“. Dieser Druck ist real, vor allem dort, wo das gewerkschaftliche Bewusstsein den Kampf auf den „besten verfügbaren Deal“ beschränkt, anstatt die Frage zu stellen, wer wirklich die Macht am Arbeitsplatz hat, die ArbeiterInnen oder die EigentümerInnen. Ironischer Weise – oder vielleicht auch nicht so ironisch – ist der schnellste Weg zum „besten Angebot“ immer der, die Macht der Lohnabhängigen am Arbeitsplatz zu demonstrieren. Je mehr Macht die ArbeiterInnen zeigen, desto schneller werden die Bosse einlenken.

Mehr Militanz im Jahr 2022

So aufregend der Anstieg der Militanz im Jahr 2021 auch war, so groß ist das Potenzial für mehr im Jahr 2022. Einem Bericht des datenanalytischen Dienstes von Bloomberg Law zufolge, der von der Zeitschrift Labor Notes nachgedruckt wurde, werden zwischen November 2021 und Ende 2022 etwa 200 Verträge für 1,3 Millionen Beschäftigte zur Verhandlung und zu möglichen Aktionen anstehen. Und dabei handelt es sich nur um Verträge, die mitgliederstarke Gewerkschaften in Großunternehmen abschließen, ohne die vielen Verträge in kleineren Firmen und neu organisierten Betrieben zu berücksichtigen, die ganz neue Verträge aushandeln werden. Da der Arbeitskräftemangel des vergangenen Jahres im neuen Jahr voraussichtlich nicht wesentlich nachlassen wird, sollten wir davon ausgehen, dass sich die kämpferische Haltung von Streikoktober bis Streikweihnachten fortsetzen und hoffentlich bei immer mehr ArbeiterInnen noch weiter verbreitet wird.

Die großen Verträge, die zur Verhandlung anstehen, decken die ganze Bandbreite der Branchen ab, von den Hafen- und LagerarbeiterInnen der ILWU über die Beschäftigten in Lebensmittelgeschäften, die der UFCW (Gewerkschaft der Lebensmittel- und HandelsarbeiterInnen) angehören, bis hin zu den Beschäftigten in Ölraffinerien, die der Steelworkers Union angehören. Darüber hinaus gibt es im ganzen Land LehrerInnen, Krankenhausangestellte, Beschäftigte im Hochschulbereich und TelekommunikationsarbeiterInnen. Es wird erwartet, dass sich die Teamster-AktivistInnen voll an den Verhandlungen über den Vertrag für das Abschleppen von Autos von Abstellplätzen zu Autohöfen beteiligen werden, was die jüngsten Engpässe beim Autoverkauf möglicherweise noch verschärfen könnte.

Die UFCW-Vertragsverhandlungen in der Nahrungsmittelbranche sind insofern besonders interessant, als die Gewerkschaft versucht, Aktionen in mehreren Bundesstaaten gegen zwei große Lebensmittelketten im Westen der USA zu koordinieren. Man hofft, dass sie sich auch mit den UFCW-Ortsverbänden in den Stop-and-Shop-Filialen im Osten der USA, deren Vertrag im Februar ausläuft, abstimmen wird, um aus dieser Aktion eine umfassendere zu gestalten, die sich einem sektorweiten Streik nähert.

Die IWLU repräsentiert die HafenarbeiterInnen der Westküste. Ihr muss immer Aufmerksamkeit geschenkt werden wegen ihrer strategischen Bedeutung und der möglichen Wirkung von Kampfmaßnahmen auf die Weltwirtschaft sowie ihrer kämpferischen Geschichte. Der Vertrag läuft am 1. Juli 2022 aus. Eine relativ kleine Anzahl von HafenarbeiterInnen kann äußerst wirksam einen riesigen Teil des Weltkapitalismus lahmlegen, besonders wenn sie sich mit Verbündeten vor Ort und den LastwagenfahrerInnen zusammentun, wie das schon mehrfach in der Vergangenheit geschah, um zu verhindern, dass Schiffsladungen gelöscht und vom Hafen abtransportiert werden.

Einige der großen Schlüssel, die 2022 in ein Jahr der Wasserscheide zum Umbruch für Arbeitsrechte und ArbeiterInnenmacht verwandeln könnten, liegen in diesen beiden Kämpfen. Die Koordination der LebensmittelarbeiterInnen muss zu einer Vorlage für jede Gewerkschaft und jeden Streik, aber ausgeweitet werden und den gesamten organisierten Teil der ArbeiterInnenklasse einbeziehen. Streiks sollten möglichst zusammen mit anderen Arbeitsniederlegungen anberaumt werden, besonders in zusammenhängenden Industrien. Streikende LKW-FahrerInnen im Verein mit HafenarbeiterInnen bringen die Logistik zu einem kreischenden Halt. LehrerInnen in gemeinsamem Streik mit Cafeteria-ArbeiterInnen und sympathisierenden StudentInnen können mit Aktionen im höheren Bildungssektor zusammengespannt werden. Nichtmedizinische Bedienstete im Krankenhaus könnten zusammen mit dem Pflegepersonal streiken. Der Mut zur Arbeitsniederlegung kann andere ArbeiterInnen anstecken, selbst wenn sie noch nicht gewerkschaftlich organisiert sein sollten.

40 und mehr Jahre schlechter Abschlüsse, Betrügereien und Rückschläge für die ArbeiterInnenklasse scheinen nun zu Ende zu gehen im Verlauf der weltweiten Pandemie, die uns genau gezeigt hat, wie wenig wir für die Bosse zählen. Ein Jahr, nachdem wir als „wichtig“ beweihräuchert wurden, versuchen sie nunmehr, uns wieder Verträge aufzunötigen, die uns Zugeständnisse abpressen wollen. Sie dienen nur dazu,  uns um selbst das bisschen zu betrügen, was wir für unsere Arbeit verdient haben.  Die Zeit ist reif zu beweisen, wie viel unsere Arbeit wert ist, indem wir sie den EigentümerInnen dieses verfaulten Systems vorenthalten.

Es versteht sich von selbst, dass alle SozialistInnen unter den Vorzeichen einer Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung alles Erdenkliche tun müssen, um solidarische Maßnahmen auf Orts- und Landesebene für gegenwärtige und geplante Streiks zu organisieren. Solche Solidarität kann den Kampf auch in Bereiche hineintragen, die noch nicht ins Streikgeschehen eingegriffen haben. Eine Massenstreikwelle wird alle TeilnehmerInnen stärken. Politische Parteien wie die Demokratischen SozialistInnen und ihre Jugendorganisation können zur historischen Wiederbelebung  der ArbeiterInnenbewegung in den USA beitragen, auf politischer  und auf gewerkschaftlicher Ebene. Eine solche Wiederauferstehung ist längst überfällig und die richtige Antwort an Präsident Biden und den Fehlschlag der Demokratischen Partei, ihre Versprechen an die ArbeiterInnen durch den Kongress zu bringen, nicht zuletzt wegen der Sabotage aus den eigenen Reihen.

Die Labor-Notes-Konferenz in Chicago vom 17.  –  19. Juni  2022 wird eine große Gelegenheit bieten, die Kräfte der gegenwärtigen Streikwelle zusammenzubringen und Fragen von gewerkschaftlicher Demokratie, Antikapitalismus und der politischen Vertretung der ArbeiterInnenbewegung mit einer eigenen Partei zu erörtern. 2022 ist das Jahr, groß zu denken.




USA: Eine Geschichte von zwei Erschießungen

Andy Yorke, Infomail 1172, 5. Dezember

Nach dem Freispruch des rechtsgerichteten Selbstjustizlers Kyle Rittenhouse am 19. November in den USA ist es zu massiven Kontroversen gekommen. Videos zeigen, wie Rittenhouse in Kenosha, Wisconsin, während eines Protests gegen die Polizei am 25. August 2020 zwei Demonstranten erschießt und mindestens einen weiteren verwundet, indem er dem unbewaffneten Schwarzen Jacob Blake sieben Mal in den Rücken schießt und ihn dadurch lähmt. Nach dem angekündigten Freispruch twitterte der ehemalige National-Football-League-Spieler Colin Kaepernik: „Wir haben soeben erlebt, wie ein System, das auf weißer Vorherrschaft aufgebaut ist, die terroristischen Handlungen eines weißen Verteidigers dieser Vorherrschaft bestätigt hat“. Vorhersehbarerweise haben rechtsgerichtete Gruppen und sogar Donald Trump selbst Rittenhouse als Helden bezeichnet.

Erstaunlich und erschreckend ist jedoch, dass einige Linke argumentieren, er sei kein Rassist oder Faschist, sondern habe sich einfach nur verteidigt, und diejenigen, die das Gegenteil behaupten, seien nur in einen angeblichen linksliberalen „Kulturkampf“ verwickelt. Wenn wir den Fall isoliert, sondern im Kontext des Rassismus in den USA, der Polizeigewalt und des Wachstums der extremen Rechten betrachten wird deutlich, dass die Morde und der Freispruch Teil eines rassistischen, rechtsgerichteten Systems sind.

Rittenhouse und die Realität

Nach den Schüssen auf Jacob Blake kam es in Kenosha zu Protesten – eine Fall in einer langen Reihe von Protesten seit Trayvon Martin, die eine breitere und wütendere Bewegung ausgelöst haben, die Gerechtigkeit fordert, die jedoch nur selten kommt. Der 17-jährige Rittenhouse nahm ein ArmaLite-AR-15-Gewehr und stand vor einer Tankstelle neben rechtsextremen Milizen Wache. Die Polizei gab ihnen sogar Wasser und dankte ihnen für ihr Kommen. Sie griff ihrerseits die DemonstrantInnen mit Tränengas und Gummigeschossen an, was zu einer wütenden Reaktion führte, bei der einige Gebäude verwüstet und in Brand gesetzt wurden. Ein völlig unbewaffneter, möglicherweise psychisch kranker Mann, Joseph Rosenbaum, sah Rittenhouse und „griff“ ihn an, möglicherweise um ihn zu entwaffnen. Er wurde von Rittnehouse in den Kopf geschossen, obwohl er wusste, dass Rosenbaum unbewaffnet war.

Andere, die den Mord sahen, identifizierten Rittenhouse als einen rechtsextremen „aktiven Schützen“ und versuchten, ihn zu entwaffnen. Anthony Huber wurde dabei erschossen, nachdem er Rittenhouse mit seinem Skateboard getroffen hatte – kaum eine tödliche Waffe. Gaige Grosskreutz, ein Sanitäter und Rechtsbeobachter der American Civil Liberties Union (Amerikanische Bürgerrechtsunion) auf der Demonstration, trug eine Handfeuerwaffe bei sich und sagte, er habe sich nicht dazu durchringen können, auf Rittenhouse zu schießen, und wurde seinerseits am Arm verwundet. Umstehende wiesen die Polizei auf Rittenhouse als den Schützen hin, der immer noch die Waffe trug, aber die Hände zum Aufgeben erhoben hatte, doch die Polizei fuhr vorbei, ohne ihn zu festzunehmen.

Manche sagen, es gehe nicht um Rassismus, weil er weiße AktivistInnen erschossen habe, die für „Black Lives“ protestierten – „Rassenverräter“ im Sprachgebrauch der extremen Rechten – oder sich nur verteidigt habe. Aber was gab Rittenhouse das Recht, sich zu „verteidigen“? Ist es nicht genauso vernünftig zu sagen, dass die DemonstrantInnen versuchten, sich und ihren Protest vor ihm zu verteidigen? Einige haben versucht, Rosenbaum für seinen eigenen Tod verantwortlich zu machen. Er hatte psychische Probleme und war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, verhielt sich aggressiv und es wurde in Frage gestellt, ob er überhaupt ein Demonstrant war, aber Tatsache ist, dass er niemanden bei der Demonstration angegriffen hat. Wenn Rittenhouse nicht nach Kenosha gefahren wäre, wäre niemand gestorben.

Der Prozess, der von einem rechtsgerichteten Richter geleitet wurde, zeigte, dass die gleiche Voreingenommenheit auch im amerikanischen „Justiz“-System herrscht. Der Richter verbot den StaatsanwältInnen, die drei erschossenen Männer als „Opfer“ zu bezeichnen und irgendetwas aus Rittenhouses Texten in sozialen Medien vor dem Mord zu erwähnen, was gezeigt hätte, dass er ein eifriger Pro-Trump- und Pro-Polizei-online-Aktivist war (er hatte eine Spendenaktion organisiert), der „Blue Lives Matter“ propagierte, die rechte, rassistische Unterstützung für die Polizei gegen „Black Lives Matter“. Ebenso wenig durften die AnwältInnen der Opfer ein Video anführen, an dem sie geltend machten, Rittenhouse habe vor einer CVS-Drogerie (CVS: Einzelhandelsunternehmen der Pharmaziebranche; Anm. d. Red.) zu schwarzen Menschen gesagt: „Junge, ich wünschte, ich hätte mein verdammtes Jagdgewehr und würde euch alle über den Haufen schießen.“ Seine Verteidigung hingegen durfte die Protestierenden als PlündererInnen und RandaliererInnen bezeichnen und damit im erweiterten Sinne auch die Opfer von Rittenhouse diffamieren, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie irgendetwas in dieser Richtung getan haben.

Dass Rittenhouse freigesprochen wurde, lag zum Teil an der Voreingenommenheit des Richters, zum Teil an den fast ausschließlich weißen Geschworenen und zum Teil an einem hochkarätigen Verteidigungsteam, das von der Rechten und von Polizeigruppen mit 2 Millionen US-Dollar ausgestattet wurde. Während des Prozesses zeigte er keine Reue gegenüber seinen Opfern. Als er im noch laufenden Verfahren gegen Kaution auf freiem Fuß war, wurde er in einer Kneipe mit Mitgliedern der faschistischen Proud Boys fotografiert, wobei er das auf dem Kopf stehende OK-Zeichen der weißen RassistInnen zeigte (er sagte, er wisse nicht, was es bedeute). Der Richter verbot auch dies, vor Gericht zu erwähnen. Ex-Präsident Trump beglückwünschte ihn und der Fox-Nachrichtensprecher Tucker Carlson verteidigte Rittenhouse und seine Taten und implizit auch jede/n, der/die seinem Beispiel folgt: „Wie schockiert sind wir darüber, dass 17-Jährige mit Gewehren beschlossen haben, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn es sonst niemand tut?“

Fakten oder sozialer Kontext

„Fakten“ haben immer eine soziale Bedeutung, wie die Umkehrung dieser Rollen zeigt. Wenn ein/e junge/r Schwarze/r mit einem automatischen Gewehr auf die Straße und in einen rechten Aufmarsch gegangen wäre und drei TeilnehmerInnen erschossen hätte, wäre er/sie wahrscheinlich von der Polizei getötet worden, noch bevor sich die „DemonstrantInnen“ um ihn/sie kümmern konnten. Wäre diese Person verhaftet worden, hätte sie mit ziemlicher Sicherheit eine sehr lange Gefängnisstrafe oder in einem anderen Staat sogar die Todesstrafe erhalten. Wenn ein/e weiße/r Linke/r das Gleiche getan hätte, wäre er/sie mit Sicherheit viel schlechter behandelt worden als Rittenhouse. Es ist also nicht nur eine Frage des weißen Privilegs, sondern auch der inhärenten arbeiterInnenfeindlichen und gegen Linke voreingenommenen Haltung der „dünnen blauen“ Frontlinie des Staates, der Polizei und des dahinter stehenden Justiz- und Gefängnissystems im Kapitalismus.

Tragischerweise haben wir den Beweis dafür. Am 28. August 2020, drei Tage nach den vielbeachteten Morden in Kenosha, erschoss der antifaschistische Aktivist Michael Reinoehl in Portland, Oregon, den rechtsextremen Gegendemonstranten Aaron Danielson. Danielson war zu diesem Zeitpunkt mit gefährlichem Pfefferspray, einem ausziehbaren Polizeischlagstock und einem Gewehr bewaffnet. Nachdem er tagsüber an einem provokativen Pro-Trump-Konvoi teilgenommen und getrunken hatte, waren Danielson und ein weiterer, ebenfalls bewaffneter Angehöriger der rechtsextremen Gruppe Patriot Prayer absichtlich in eine Antipolizeidemonstration gelaufen. Reinoehl hatte das gleiche „Recht“, sich zu verteidigen wie Rittenhouse, und er erklärte vor und nach der Schießerei, er habe versucht, die DemonstrantInnen vor rechtsextremen Anschlägen zu schützen.

Aber das Ergebnis hätte nicht unterschiedlicher sein können. Bei der polizeilichen Fahndung nach Reinoehl wurde dieser einige Tage später von BundespolizistInnen erschossen, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, ihn festzunehmen, wie Zeugen berichten, die auch sagen, dass er seine Waffe nicht gezogen hatte. Trump, der Reinoehl zuvor als „kaltblütigen Mörder“ bezeichnet hatte, sagte unter dem Jubel seiner Fans: „Wir haben ihn erwischt“: „Dieser Mann war ein gewalttätiger Krimineller, und die US-Marschalls haben ihn getötet. Und ich sage euch etwas, so muss es sein. Es muss Vergeltung geben.“

Trump hat wiederholt auf das Schreckgespenst des „linksradikalen Faschismus“ und der Antifagewalt eingehämmert, während er sich weigerte, die tatsächliche organisierte Gewalt der Rechten und der Polizei zu verurteilen, ja Kommentare wie der obige schüren sie sogar noch. Doch Danielsons Tod war die erste aufgezeichnete Tötung durch einen Antifaschisten, verglichen mit 329 Morden durch weiße RassistInnen und andere RechtsextremistInnen, wie aus einem 25 Jahre zurückreichenden Bericht des Zentrums für strategische und internationale Studien (CSIS) hervorgeht. Außerdem wurde festgestellt, dass die Rechte im Jahr 2020 für 67 Prozent der inländischen Terroranschläge und -komplotte verantwortlich war, wobei die Hälfte dieser Gewalt gegen DemonstrantInnen gerichtet war. Darüber hinaus ist die Polizei von weiß-suprematistischen Gruppierungen durchsetzt.

Trump, Fox News und die Rechten stellen die Realität auf den Kopf, indem sie eine ideologische Blase aus Bedrohung und linker Verschwörung aufpeitschen, um die Unterdrückung antirassistischer Proteste durch Polizei und Milizen zu entschuldigen und zu ermöglichen. Letztlich sind sie mitverantwortlich für die Morde Rittenhouses.

„Wir dürfen nicht voreingenommen sein“?

Einige haben behauptet, dass die Linke, wenn die Situation umgekehrt wäre, die Angeklagten verteidigen und ihren Freispruch unterstützen würde. Deshalb müssten wir Rittenhouse anders behandeln.

Die Wahrheit ist, dass Linke nicht auf rechtsextreme Demos schlendern, weil sie gelyncht würden. RechtsextremistInnen tun dies so selbstbewusst, um die DemonstrantInnen einzuschüchtern oder zu provozieren, weil sie wissen, was der Fall Rittenhouse bewiesen hat: Die Polizei, die Gerichte, republikanische PolitikerInnen und ein Großteil der Medien werden sie verteidigen. Trotz der Anwesenheit einzelner DemonstrantInnen mit Handfeuerwaffen ist die Linke im Allgemeinen unbewaffnet. Die kleinen, organisierten bewaffneten Reaktionen, die sich entwickelt haben, sind defensiv, eine schützende Antwort auf rechtsextreme Gewalt, aber auch unzureichend. Die Polizei wird sie angreifen, statt ihnen zu danken. In der Zwischenzeit bilden bewaffnete Mobilisierungen zur Einschüchterung oder zum Angriff auf die Linke und Minderheiten den einzigen Grund für die Existenz faschistischer Milizen.

Beide Ergebnisse, der Freispruch von Rittenhouse und der Polizistenmord an Reinoehl, wurden von der extremen Rechten gefeiert, allen voran von Trump. Ein Proud Boy erklärte, die Gewalt werde erst aufhören, wenn die Leichen der Linken „wie Klafter Holz aufgestapelt sind“. Die Lehre aus dem Fall Rittenhouse lautet, dass die Rechten unsere Demos ungestraft kontrollieren, einschüchtern und unterdrücken können, die aus dem Fall Reinoehl, dass das System sie verteidigen wird, wenn wir uns wehren. Die Urteile werden die Rechten nur ermutigen, die darin einen Freibrief sehen werden, ihre bewaffnete „Sicherheit“ auf unseren Protesten zu verstärken. Die einzige Antwort besteht in organisierter Selbstverteidigung.

SozialistInnen unterstützen das Recht der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sich selbst zu verteidigen, von der Streikpostenkette bis zu den „Black Panthers“. Wir stellen uns nicht auf die Seite der Polizei und der Gerichte, wenn sie die Armen verurteilen und kriminalisieren, weil sie nach Polizistenmorden aufbegehren, Polizeistationen niederbrennen, auf denen sie festgesetzt, geschlagen und eingesperrt wurden, oder Geschäfte für die Dinge plündern, die der Kapitalismus anpreist, die sie sich aber nicht leisten können.

Ausschreitungen sind jedoch keine Lösung. Nur eine Massenbewegung, die sich auf Organisationen mit gewählten Delegierten aus Nachbarschaftskomitees, Gewerkschaftsgruppen und Betrieben, Hochschulen und Schulen sowie linken und antirassistischen Organisationen stützt, kann einen anhaltenden Massenkampf für Gleichheit und Gerechtigkeit führen. Dieser Kampf wäre zwar überwiegend politisch, um die Polizei zu entwaffnen und ihnen die Geldmittel zu entziehen und den Gefängnisstaat abzubauen, doch müsste eine solche Bewegung die Verteidigung ihrer Proteste und Gemeinden gegen rechtsextreme oder polizeiliche Gewalt „mit allen notwendigen Mitteln“ organisieren. Als Bewegung der Armen und der ArbeiterInnenklasse könnte sie zwangsläufig dazu beitragen, die Kräfte für die Beseitigung des Kapitalismus selbst aufzubauen, da dies der einzige Weg ist, die Welt von Rassismus und Polizei zu befreien.




Abtreibungsgesetz in Texas: Republikanischer Angriff auf Frauenrechte

Veronika Schulz, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Texas hat Anfang September das geltende Abtreibungsrecht massiv verschärft. Die republikanische Mehrheit um Gouverneur Greg Abbott peitschte ein Gesetz durch, das Schwangerschaftsabbrüche fast unmöglich macht.

Das sogenannte „Heartbeat Law“ („Herzschlag-Gesetz“) verbietet Abtreibungen bereits ab der sechsten Woche, also dann, wenn ein Herzschlag des Fötus zu hören ist. Da viele Frauen bis zu diesem Zeitpunkt schlichtweg nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind, egal ob geplant oder ungewollt, kommt es faktisch einem Verbot gleich. Selbst bei Schwangerschaften infolge von Vergewaltigung oder auch Inzest gibt es keine Ausnahmen mehr.

Ein weiterer perfider Bestandteil des Gesetzes besteht darin, dass es auf Denunzierung und in gewisser Weise Selbstjustiz setzt. Nicht etwa der Staat und seine Behörden sollen für die Einhaltung sorgen, sondern alle BürgerInnen. Jede/r ist aufgefordert, ÄrztInnen, Klinikpersonal und selbst diejenigen, die Schwangere zu einer Abtreibungsklinik fahren, wegen Beihilfe anzuzeigen. Damit nicht genug, winkt den DenunziantInnen sogar noch eine Belohnung von mindestens (!) 10.000 US-Dollar. KritikerInnen sprechen bereits von „AbtreibungskopfgeldjägerInnen“, die auf diese Weise ihre Chance wittern.

Vor diesem Hintergrund haben AbtreibungsgegnerInnen bereits Internetseiten eingerichtet, über die anonyme Hinweise eingereicht werden können. Dieses Vorgehen ist nicht nur moralisch und ethisch verabscheuungswürdig, sondern erschwert durch unklare Zuständigkeiten auch den Beklagten, sich zu wehren. Zusätzlich wird eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung erzeugt, zumal Kliniken und ÄrztInnen, die Abtreibungen vornehmen, bereits in der Vergangenheit Ziel von Einschüchterungen und gewaltsamen Attacken durch AbtreibungsgegnerInnen waren. US-Justizminister Merrick B. Garland sah sich sogar gezwungen, den Schutz von Einrichtungen zu garantieren. Ein Gesetz von 1994 verbiete es, Menschen, die eine Abtreibung anbieten oder in Anspruch nehmen, an dem Eingriff zu hindern. Mit diesem ultrareaktionären texanischen Gesetz sind somit mehrere Angriffe auf die Rechte von Frauen und auch elementare demokratische Errungenschaften zu verzeichnen.

Bruch mit einer 50 Jahre alten Grundsatzentscheidung

Die bisherige Rechtslage beruht auf einem fast 50 Jahre alten Urteil. Im Jahr 1973 entschied der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA, dass Schwangerschaftsabbrüche landesweit unter das Recht auf Privatsphäre gestellt und legalisiert werden. Staatliche Gesetze, die Abtreibungen verbieten, verstoßen demnach gegen die US-Verfassung. Anlass war eine Sammelklage im Namen schwangerer Frauen gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen – des Bundesstaates Texas. Der Supreme Court urteilte, dass die damaligen Gesetze nach dem 14. Zusatzartikel der Verfassung das Recht der Frauen, über die Fortführung oder Beendigung einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, verletzen.

Durch die Entscheidung des Supreme Court wurde verfügt, dass eine Schwangere ohne unterschiedliche Gewichtung von Gründen die Schwangerschaft abbrechen darf. Dies gilt bis zu jenem Zeitpunkt, an dem ein Fötus lebensfähig wird. Vom Moment der Lebensfähigkeit an, die ursprünglich mit der 28., heute mit der 24. Schwangerschaftswoche angesetzt wird, darf ein Bundesstaat Schwangerschaftsabbrüche verbieten. Letzteres gilt mit der Einschränkung, dass Schwangerschaftsabbrüche zu einem späteren Zeitpunkt aus medizinischer Notwendigkeit (Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit der Frau) ebenfalls möglich bleiben müssen. Zusammengefasst sind gesetzliche Verbote und Gebote des Schwangerschaftsabbruches also im ersten Trimester der Schwangerschaft gar nicht und im zweiten Trimester nur eingeschränkt möglich, im dritten Trimester jedoch nur dann zulässig, solange nicht Leben oder Gesundheit der Schwangeren bedroht sind.

Diese Entscheidung steht nun auf der Kippe, sollte die texanische Gesetzesinitiative als rechtmäßig eingestuft werden. Dabei spielt die Zusammensetzung des Supreme Court eine wichtige Rolle. Ex-Präsident Trump hatte während seiner Amtszeit drei Posten neu besetzt, wodurch sich eine bedeutende Verschiebung ergeben hat. Von insgesamt neun RichterInnen sind sechs dem konservativen bzw. republikanischen Lager und nur noch drei dem demokratischen zuzuordnen. Insbesondere die Ernennung Amy Coney Barretts, einer erzkonservativen Katholikin, als Nachfolgerin der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg, hatte seinerzeit für erhebliches Aufsehen gesorgt. Einige der konservativen RichterInnen haben bereits erklärt, dass sie das alte Grundsatzurteil kippen wollen. Daran zeigt sich exemplarisch, dass es keine objektive oder neutrale Justiz innerhalb des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen gibt, erst recht keine Rechtsprechung im Sinne der ArbeiterInnenklasse.

Aktuell gibt es auch einen Rechtsstreit im Bundesstaat Mississippi, wo Abtreibungen nach der 15. Woche bis auf wenige Ausnahmen verboten werden sollen. Eine Entscheidung wird für diesen Herbst erwartet. Falls dies vom Supreme Court für rechtens erklärt wird, könnten weitere Staaten, vor allem konservativ geprägte unter republikanischer Führung, folgen.

Zwar ist eine Mehrheit der US-AmerikanerInnen Umfragen zufolge für sichere und legale Abtreibungen, auch wenn hierzulande medial häufig eine größere Rückständigkeit suggeriert wird. Dennoch versucht die Republikanische Partei besonders in Bundesstaaten mit traditionell konservativ-christlichem Bevölkerungsanteil, ihre religiöse Basis auf diese Weise für sich zu mobilisieren und sich von den durch die DemokratInnen dominierten, liberaleren Küsten abzugrenzen.

Fortschritt und Rückschritt

Rückschritte im Kampf um reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen gab es auch jüngst in Polen. Anfang 2021 trat ein fast vollständiges Abtreibungsverbot in Kraft. Damit wurde eines der ohnehin restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. Schon seit Jahrzehnten werden in Polen kaum legale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Jährlich sind zehntausende Polinnen gezwungen, im Untergrund oder mit Abtreibungspillen zu Hause abzutreiben bzw. nach Deutschland oder Tschechien zu fahren. Nun dürfen nur noch Frauen, deren Gesundheit oder Leben gefährdet ist oder die infolge einer kriminellen Handlung schwanger wurden, legal Abtreibungen vornehmen lassen. Alle anderen, Frauen mit finanziellen, sozialen Hindernissen oder jene, die einfach kein Kind wollen, haben nicht das Recht, sich zu weigern, eines auf die Welt zu bringen. Die regierende rechtskonservative PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość; deutsch: Recht und Gerechtigkeit) rühmt sich dabei als Lebensschützerin und verherrlicht diese Entscheidung mit dem Begriff „Pro Life“. Dieses faktische Totalverbot von Abtreibungen bindet die reaktionäre, kleinbürgerliche Massenbasis der PiS und bedient sich dabei des tief verwurzelten Katholizismus.

Ermutigend sind jedoch die massiven und lang anhaltenden Proteste, über die auch international berichtet wurde. Nachdem das polnische Verfassungstribunal bereits im Oktober 2020 die Rechtmäßigkeit des neuen Gesetzes bestätigt hatte, kam es durch kämpferische Demonstrationen und Aktionen zu einer mehrmonatigen Verzögerung bis zum Inkrafttreten.

Außerdem wurden sowohl in Mexiko, Argentinien als auch Irland, beides ebenfalls sehr religiös bzw. katholisch geprägte Länder, Fortschritte erzielt. Die bisherige irische Gesetzgebung, die der neuen in Polen nicht unähnlich war, wurde im Jahr 2019 durch ein Referendum zur Verfassungsänderung gekippt und durch eine neue ersetzt. Dieser Entscheidung war ein jahrzehntelanger Kampf vorausgegangen, an dessen vorläufigem Ende zumindest eine Fristenregelung steht. Der Einfluss der (katholischen) Kirche nimmt ab, ebenso zeigte sich ein Gefälle zwischen den Generationen. Lediglich die Altersgruppe der über 65-Jährigen war gegen eine Liberalisierung.

Veränderung ist möglich und nötig, wie diese Beispiele zeigen. Doch nur eine massenhafte Bewegung, die vor allem von den lohnabhängigen Frauen getragen wird, kann sich gegen Verschlechterungen erfolgreich zur Wehr setzen und die bisherigen Errungenschaften verteidigen – in Fragen der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung wie auch in anderen sozialen Auseinandersetzungen. Deshalb fordern wir:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung!
  • Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht! Kostenlose und frei zugängliche Abtreibung auf Wunsch, ohne Fristen und Einschränkungen!
  • Flächendeckender Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!
  • Verteidigung von Frauen, ÄrztInnen und Beschäftigten gegen Angriffe von AbtreibungsgegnerInnen durch organisierten Selbstschutz der Frauen- und ArbeiterInnenbewegung!
  • Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!
  • Für eine proletarische Frauenbewegung zum Kampf gegen Sexismus und Ausbeutung!



Der „AUKUS-Pakt“ erhöht die Kriegsgefahr

Dave Brody, Workers Power (Britannien), Infomail 1164, 27. September 2021

Der „AUKUS“-Sicherheitspakt zwischen Australien, Großbritannien und den USA (benannt nach den Initialen der drei teilnehmenden Länder) ist einer der dramatischsten Schritte, den die Vereinigten Staaten bisher unternommen haben, um der Bedrohung ihrer Interessen durch ihren größten imperialistischen Rivalen, China, zu begegnen. Er stellt auch eine brutale Brüskierung Frankreichs und im weiteren Sinne der Europäischen Union und ihrer Nato-Verbündeten dar, von denen keine/r konsultiert worden war. Der Brexit unterstreicht auch die Abkehr Großbritanniens von seinen früheren EU-PartnerInnen und die Hinwendung zu einer Geostrategie mit Nordamerika.

Der Pakt ist einer der bisher deutlichsten Beweise für die Schwächung der US-amerikanischen Hegemonie, die am Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet wurde, und für die wachsenden Spannungen nicht nur zwischen konkurrierenden imperialistischen Blöcken, sondern auch innerhalb dieser. Es zeigt auch – wie schon der überstürzte Abzug aus Kabul –, dass Joe Bidens Multilateralismus und seine Versöhnung mit den Verbündeten mehr eine Sache der Worte als der Taten ist.

Den größte Schock verspürte nicht die chinesische, sondern die französische Regierung,  eine der ältesten Verbündeten der USA. Ein Abkommen zwischen Frankreich und Australien über den Bau der nächsten Generation von U-Booten der Angriffsklasse war ohne Vorwarnung gekündigt worden. Frankreich zog wutentbrannt seine BotschafterInnen aus Washington und Canberra ab, um „Konsultationen“ abzuhalten. Großbritannien wurde nur deshalb ausgeschlossen, weil die französische Regierung vom „perfiden Albion“ (Löwe: englisches Wappentier) nichts Besseres erwarteten. Aber im Beisein der USA gestand der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian Gefühle von „Wut und Bitterkeit“ ein und erklärte.  „Diese brutale, einseitige und unvorhersehbare Entscheidung erinnert mich sehr an das, was Herr Trump zu tun pflegte“, und fügte hinzu: „So etwas tut man nicht unter Verbündeten.“

Inhalt des Paktes

AUKUS ist ein Sicherheitspakt zwischen den drei Ländern, der zunächst auf die Entwicklung und Stationierung einer Flotte australischer Atom-U-Boote im Indopazifik abzielt. Diese U-Boote sind weitaus schwerer zu entdecken und viel schneller als konventionell angetriebene Schiffe. Die Stationierung einer solchen Flotte in Australien wird die Bemühungen der USA unterstützen, der wachsenden Dominanz Chinas in der Region und seiner militärischen und maritimen Aufrüstung entgegenzuwirken. Die Vereinbarung geht jedoch weit darüber hinaus und sieht eine Zusammenarbeit in einem breiten Spektrum militärischer Fragen vor, darunter Cybersicherheit und künstliche Intelligenz.

Die UnterzeichnerInnen des Pakts hoffen, der wachsenden maritimen Herausforderung durch China begegnen zu können. Die Modernisierung der chinesischen Marine hat inzwischen diejenige Japans, Indiens und Australiens überholt, und China konkurriert nun direkt mit Amerika um die Vorherrschaft auf dem Seeweg in der Region. Die USA und Großbritannien sind zunehmend besorgt über Chinas wachsende Fähigkeit, ihre imperialistischen Interessen im Pazifik zu beeinträchtigen.

Obwohl Australien ein wichtiger Handelspartner Chinas ist, macht es sich zunehmend Sorgen über die wachsende Dominanz der chinesischen Flotte und das zunehmend bedrohliche Verhalten des Landes, einschließlich der Errichtung von Marinestützpunkten auf künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer. Obwohl AUKUS Australiens Marinekapazitäten massiv erhöhen wird, ist das Abkommen an Bedingungen geknüpft: Australien hat sich in einem künftigen Konflikt mit China fest auf die Seite der USA gestellt. Ein hochrangiger US-Beamter bezeichnete das Abkommen als „eine grundlegende Entscheidung, die Australien für Generationen fest an die Vereinigten Staaten und Großbritannien bindet“.

Wie vorauszusehen, betrachtet China den AUKUS-Pakt als direkten Gegenschlag zu seinen Versuchen, die potenzielle Blockade durch US-Basen, -Verbündete und -Flotten im indopazifischen Raum zu lockern. Der Pakt kommt auch zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten in demütigender Weise aus Afghanistan abziehen und China mit seiner „Neuen Seidenstraßen“-Initiative vorankommt, die ihrerseits eindeutig darauf abzielt, den potenziellen maritimen Würgegriff der USA zu überwinden.

Die chinesische Regierung hat das Abkommen als „extrem unverantwortlich“ verurteilt und erklärt, dass es „das Wettrüsten verschärft“, was es in der Tat tut. Die Global Times, eine vom chinesischen Staat unterstützte Publikation, ging noch weiter und erklärte, Australien habe sich mit diesem Schritt „zum Gegner Chinas gemacht“, und sagte noch offener, dass „die australischen Truppen höchstwahrscheinlich die erste Gruppe westlicher SoldatInnen sein werden, die ihr Leben im Südchinesischen Meer vergeuden“.

Es waren jedoch der demokratische Präsident Barack Obama und seine  Außenministerin Hillary Clinton, von der Falkenfraktion, die „pivot to Asia“ (Schwenk nach Asien) einleiteten und unter anderem die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ins Leben riefen, einen Handelspakt zwischen elf Ländern, der als Mittel zur Eindämmung des wirtschaftlichen Einflusses Chinas im Pazifikraum angesehen wurde, den Trump jedoch später aufgab. Am Tag nach der Ankündigung des AUKUS-Pakts beantragte China den Beitritt zur seltsam umbenannten „umfassenden und progressiven“ TPP, offensichtlich mit dem Ziel, die USA zu überflügeln oder zumindest in Verlegenheit zu bringen.

Weitere Eskalation

Im Grunde ist der AUKUS-Pakt eine weitere Eskalation der zwischenimperialistischen Rivalität und des zunehmenden Wettrüstens zwischen den Großmächten – in erster Linie China und den USA. Aber der Streit mit Frankreich und die Rede zur „Lage der Union“ der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in der sie Europa aufforderte, seine eigenen Verteidigungskapazitäten zu entwickeln, um Expeditionsstreitkräfte zur Verteidigung seiner Interessen ohne die Erlaubnis der USA zu entsenden, werden ein Thema für den neuen deutschen Bundeskanzler sein. Bisher hat sich Deutschland geweigert, sich Macron und früheren französischen Präsidenten anzuschließen und sich für eine von der amerikanischen Führung innerhalb der NATO unabhängige europäische Verteidigungstruppe einzusetzen. Dieser Weg kann nur zur Bildung eines neuen Lagers als Rivalin zu den USA führen – keine leichte Angelegenheit.

Der zunehmende Unilateralismus der USA – sowohl unter Biden als auch unter Trump – ist jedoch ein Faktor, der auf eine künftige transatlantische Konkurrenz hindeutet, eine Rivalität, die das „weltumspannende Großbritannien“ vor harte Entscheidungen stellen wird.

Die Macht der Vereinigten Staaten nimmt sicherlich ab, aber sie sind immer noch die bei weitem höchstentwickelte imperialistische Macht mit enormen militärischen und finanziellen Fähigkeiten. In dem Maße, wie China an Stärke gewinnt und die absolute globale Hegemonie der USA nach 1991 schwindet, wächst die Gefahr eines offenen Konflikts zwischen den beiden Mächten und ihren Verbündeten.

Ein solcher Konflikt wäre verheerend für die ArbeiterInnenklasse und für die gesamte Menschheit und könnte bis zur völligen nuklearen Vernichtung eskalieren. Daher ist es für revolutionäre KommunistInnen in den imperialistischen Zentren, sei es in den USA, Großbritannien, der EU oder China, von entscheidender Bedeutung, eine Bewegung gegen eine Eskalation des Wettrüstens der rivalisierenden imperialistischen Lager zu organisieren, die auf einen Krieg zusteuert.




Afghanistan: Der Sieg der Taliban und seine internationale Bedeutung

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 18.8.2021, Infomail 1159, 20. August 2021

Der Sieg der Taliban und der Sturz der Regierung Ghani sind eine demütigende Niederlage von globaler Bedeutung für die USA und ihre westlichen Verbündeten. Das Bild der Hubschrauber, die fliehende DiplomatInnen vom Dach der US-Botschaft heben, erinnert stark an den Fall von Saigon im Jahr 1975. Aber der Unterschied ist noch wichtiger. Damals war die einzige globale Rivalin der USA, die Sowjetunion, selbst schon eine schwindende Macht. Heute ist China ein kräftiger Imperialismus, der durch sein eigenes Wachstum veranlasst ist, seine Macht und seinen Einflussbereich auf Kosten der USA auszuweiten.

Trumps Entscheidung, den Rückzug der USA mit den Taliban in Doha zu vereinbaren, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, die Regierung in Kabul zu konsultieren, war nicht nur eine persönliche Laune eines exzentrischen Präsidenten. Sie war Ausdruck der zunehmenden Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen und es besser ist, sich zurückzuziehen und zu verschwinden. Diese Schlussfolgerung wurde nicht nur von vielen Mitgliedern der Republikanischen Partei geteilt, sondern auch von Joe Biden, der sich als Vizepräsident gegen Obamas „Eingriff“ ausgesprochen hatte.

In Doha stimmte eine neue Generation von Taliban-Führern, die von jenen Teilen des pakistanischen Staates, die sie im Exil unterstützt hatten, beraten, wenn nicht gar gelenkt wurden, taktisch einem Abkommen zu, das eine Art Machtteilung in einer künftigen Regierung vorsah. Während dies für die USA gesichtswahrend war, wussten die Taliban, dass sich die sozialen Verhältnisse im größten Teil ihres Heimatlandes nicht geändert hatten und das gesamte Regime vollständig von der US-Präsenz abhängig war. Eine fortschrittliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung hätte den Sturz der landbesitzenden Klasse erfordert, was unter den USA oder ihren HandlangerInnen in Kabul niemals geschehen würde.

Die Taliban haben vielleicht nicht mit der außergewöhnlichen Geschwindigkeit gerechnet, mit der sie das ganze Land erobert haben, aber sie waren immer zuversichtlich, dass das Regime und seine Truppen zusammenbrechen würden, sobald die imperialistischen Besatzungstruppen abgezogen sind, was die harte Wahrheit ans Licht bringt, dass die Regierung keine wirklichen sozialen Wurzeln in der afghanischen Gesellschaft hatte.

Nach 20 Jahren Besatzung, Hunderttausenden von Toten und 7 Millionen Flüchtlingen, die der lange asymmetrischen Krieg hervorgebracht hat, wurde das Land von seinen BesatzerInnen in einem Zustand der Verwüstung zurückgelassen. Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, und 60 Prozent der Kinder leiden an Hunger und Unterernährung.

Die Kombination aus Armut und Krieg trieb nicht nur Millionen von Menschen aus dem Land, die oft von den Taliban rekrutiert wurden, sondern auch in die Städte. Hier haben sich die sozialen Beziehungen verändert, vor allem für die Frauen, aber auch in Bezug auf Arbeitsplätze und ein gewisses Maß an politischer Demokratie. Wie das Regime selbst sind jedoch auch diese stark von den Ressourcen abhängig, die von den USA und ihren Verbündeten bereitgestellt werden.

Pakistan

Die Tatsache, dass die Taliban in der Lage waren, nicht nur gegen den mächtigsten Staat der Welt zu überleben, sondern auch so weit zu wachsen und sich zu entwickeln, dass sie innerhalb weniger Wochen das ganze Land übernehmen konnten, hing offensichtlich nicht nur von der Rekrutierung verarmter Flüchtlinge ab. Der Schlüssel dazu war die Unterstützung Pakistans, insbesondere des Geheimdienstes ISI, der Afghanistan seit langem als potenziellen Faktor in seiner Fehde mit Indien ansieht.

Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan, als das halbkoloniale Pakistan ein williger Verbündeter der USA war, spielte der ISI eine wichtige Rolle beim Aufbau der reaktionären Mudschahidin-Guerilla und sammelte wertvolle Erfahrungen und Fachkenntnisse bei der Kanalisierung der US-Hilfe für ihre GuerillakämpferInnen. Doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Loyalitäten. Die zwanzig Jahre der US-Besatzung Afghanistans waren auch die Jahre des Aufstiegs Chinas, das heute die wichtigste Quelle wirtschaftlicher Hilfe für Pakistan verkörpert und für das letzteres im Rahmen von Pekings Neuer Seidenstraße eine strategische Bedeutung einnimmt. Zweifellos gibt es im pakistanischen Staatsapparat immer noch prowestliche Elemente, aber die Geschwindigkeit, mit der Premierminister Imran Khan den Sieg der Taliban begrüßt hat, deutet darauf hin, dass die prochinesische Fraktion jetzt die Oberhand gewonnen hat.

Die globale, vielleicht historische Bedeutung des Sieges der Taliban liegt darin, dass die US-Invasion, wie auch die anschließende im Irak, nicht nur der Demonstration der US-Macht diente, sondern auch der Konsolidierung dieser Macht, indem sie den gesamten Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle brachte. Damit sollte der Boden für das neue amerikanische Jahrhundert bereitet werden, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Globalisierung eingeläutet wurde.

Der barbarische und reaktionäre Angriff auf die Zwillingstürme in New York diente als Vorwand, als Rechtfertigung für den „Krieg gegen den Terror“, in dem Washington das Recht beanspruchte, überall dort militärisch zu intervenieren, wo es seine Interessen bedroht sah. Heute, nach den militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan und der Wirtschaftskrise von 2008/9, steht diese ganze Weltsicht in Frage. Die USA stellen zweifelsohne immer noch einen sehr mächtigen Staat dar, aber sie sind kein unangefochtener Hegemon mehr.

Das veränderte Kräftegleichgewicht wird nicht nur die rivalisierenden Imperialismen China und Russland, sondern auch regionale Mächte wie Pakistan, Iran, die Türkei und Indien dazu ermutigen, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Auch Länder, die die Unterstützung der USA als selbstverständlich angesehen haben, wie Taiwan, müssen sich fragen, was die Zukunft bringt. Selbst EU-Imperialismen wie Deutschland und Frankreich werden abwägen, wie weit sie von den Prioritäten der USA abweichen sollen.

In Afghanistan selbst wird die Wiedereinsetzung einer Taliban-Regierung eindeutig nicht den Weg zu Frieden und Wohlstand eröffnen. Zwanzig Jahre Exil in Pakistan und den Golfstaaten, die Entwicklung neuer Führungspersönlichkeiten, die Herausforderung, ein Regierungssystem in einem stark veränderten Land zu bilden, und die Möglichkeit von Spannungen zwischen den zurückkehrenden ExilantInnen und denjenigen, die die Organisation im Land unter der Besatzung aufrechterhalten haben, werden wahrscheinlich zu internen Spannungen führen, denn der Sieg trennt immer die SiegerInnen.

Taliban-Regime

Auf seiner ersten Pressekonferenz verkündete der Vertreter des neuen Regimes eine Generalamnestie für alle, die für die vorherige Regierung gearbeitet hatten, und versicherte den Frauen, dass ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben garantiert würden, sofern die islamischen Normen eingehalten würden. Es wurde betont, dass die Taliban keine Rache wollen und sich bemühen werden, andere in die Verwaltung des geplanten theokratischen Emirats einzubeziehen. Es erging eine Aufforderung, wieder normal an die Arbeit zurückzukehren.

Zweifellos ist ein solch pragmatischer Ansatz für eine Bewegung, die über keinen eigenen zivilen Verwaltungsapparat verfügt, praktisch sinnvoll und war der Ratschlag ihrer potenziellen internationalen UnterstützerInnen. Die Zeit wird zeigen, ob dies von Dauer sein wird oder die reaktionärsten Strömungen im Lande bereit sind, solche Zugeständnisse zu tolerieren, nachdem sie zwanzig Jahre lang für die Rückkehr zu den von ihnen bevorzugten Normen gekämpft haben. Klar ist, dass es derzeit keine Kräfte wie politische Parteien oder Gewerkschaften gibt, die mobilisieren könnten, um einen Rückschritt zu verhindern.

Auf internationaler Ebene sollten die VerfechterInnen der demokratischen Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Afghanistan alles in ihrer Macht Stehende tun, um Racheakte der besiegten ImperialistInnen zu verhindern. Alle Versuche, Sanktionen zu verhängen oder der jetzigen De-facto-Regierung des Landes die Anerkennung zu verweigern, müssen abgelehnt werden, da sie das bereits erlittene Elend und die Armut nur noch vergrößern können.

Für die Massen in Afghanistan brechen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird alle demokratischen, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräfte in die Illegalität treiben. Gleichzeitig werden aber, wie in allen theokratischen Regimen zu beobachten, die sozialen Widersprüche keineswegs verschwinden. Klassengegensätze und andere soziale Konflikte sind früher oder später unvermeidlich. Die Jugendproteste in Dschalalabad sind ein erstes Anzeichen dafür. Darauf müssen sich die RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter den Bedingungen der Illegalität, der konspirativen Arbeit vorbereiten.

Partei

Zwei Lehren werden von zentraler Bedeutung sein: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben. Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet, die mit der Zeit zu TrägerInnen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung geraten können, mit anderen Worten: die Strategie der permanenten Revolution.

Der Aufbau einer solchen Organisation ist zweifelsohne eine langfristige Angelegenheit. Unmittelbar sind Millionen Menschen von brutaler politischer Unterdrückung bedroht. Andere versuchen, in Nachbarländer oder nach Europa zu fliehen. Die Linke und die internationale ArbeiterInnenbewegung müssen einen gemeinsamen Kampf für die bedingungslose Öffnung der Grenzen führen und sich für die Beschaffung materieller Mittel für die Flüchtlinge einsetzen, die in den Nachbarländern Afghanistans bleiben.

Die dramatischen Ereignisse in Afghanistan bestätigen, dass wir in einer Zeit zunehmender zwischenimperialistischer Rivalität leben, einer Zeit, in der ökonomische Konkurrenz zu Handelskriegen führen kann, Sanktionen zu Blockaden werden und regionale Konflikte zu größeren Kriegen führen können. Die für das zwanzigste Jahrhundert typischen wirtschaftlichen und territorialen Reibungen entfalten sich nun im Kontext der sich entwickelnden Klimakatastrophe, die naturgemäß die Notwendigkeit einer internationalen Lösung bestätigt. Voraussetzung dafür ist eine internationale Organisation, eine internationale Partei – das ist die Hauptaufgabe der RevolutionärInnen in aller Welt, der Aufbau einer Fünften Internationale!




Der Sieg der Taliban – die Frucht von 20 Jahren imperialistischer Besatzung

Martin Suchanek, Infomail 1158, 17. August 2021

Nach 20 Jahren Besatzung durch die USA und ihre Verbündeten haben die Taliban Kabul und das Land wieder eingenommen. 20 Jahre Besatzung und Krieg – wofür? Die westlichen imperialistischen Mächte haben keines ihrer Kriegsziele erreicht, weder die vorgeschobenen noch die realen ökonomischen und geostrategischen. Nach zwei Jahrzehnten hinterlassen sie ein verwüstetes Land.

Verwüstetes Land

Während der Besatzung starben rund 250.000 AfghanInnen – rund 70.000 Angehörige der Sicherheitskräfte, etwa 100.000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70.000 ZivilistInnen. Sieben von rund 38 Millionen AfghanInnen wurden zu Flüchtlingen, davon rund 4 Millionen im eigenen Land. Die anderen 3 Millionen entflohen nach Pakistan, Iran oder in den Westen.

Auch wenn unter US-Besatzung einige demokratische Reformen auf dem Gebiet der Frauenrechte für die Intelligenz eingeführt wurden, so waren diese beschränkt und erstreckten sich im Wesentlichen auf städtische Zentren und Mittelschichten.

Für die Masse der AfghanInnen bedeutete die Besatzung weiter Willkür – nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch Warlords, GrundbesitzerInnen und traditionelle Eliten in den von Regierung und westlichen Mächten kontrollierten Gebieten. Vor allem auf dem Land war und ist die wirtschaftliche Lage katastrophal, die Agrarproduktion am Boden. Die Ausbeutungsbedingungen sind extrem, sofern die Menschen überhaupt als Bauern/Bäuerinnen ihre Produkte verkaufen oder als LandarbeiterInnen Arbeit finden. Während Millionen auf der Flucht und Suche nach Beschäftigung in die Städte flohen, so fanden sie auch dort keine Einkommen und keine oder nur prekäre und befristete Arbeit. 80 % aller AfghanInnen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. 60 % der Kinder leiden unter Unterernährung. Ein großer Teil der Arbeitssuchenden wie überhaupt der urbanen Bevölkerung lebt in städtischen Slums.

All dies verdeutlicht, warum die Demokratie in Afghanistan unter imperialistischer Besatzung eine Farce war und sein musste. So schrecklich und bedrohlich die Rückkehr des Taliban-Regimes auch für viele – vor allem Frauen, demokratische Kräfte, SozialistInnen und die schwache ArbeiterInnenbewegung – sein wird, sind Millionen und Abermillionen AfghanInnen schon während der 20 Jahre Besatzung und Pseudodemokratie verarmt, verelendet, marginalisiert, entrechtet und demoralisiert. Die traditionellen Arbeitsbeziehungen sind nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges, angefangen mit dem reaktionären Krieg der mit dem Westen verbundenen Mudschahidin, weitgehend zerstört, ohne dass neue soziale Beziehungen an ihre Stelle getreten wären. Imperialistische Besatzung und Bürgerkriege haben zur Deklassierung weiter Teile der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft und selbst des KleinbürgerInnentums geführt.

20 Jahre Besatzung haben diese Verhältnisse ständig reproduziert und verschlechtert. Allein das bezeugt den reaktionären Charakter der imperialistischen Besatzung, die auch nicht nachträglich besser wird angesichts der drohenden theokratischen Diktatur der Taliban, des Verdrängens der Frauen aus dem öffentlichen Raum, der Einführung des islamischen Rechts durch die Taliban.

Dass all dies droht, wenn die Dschihadisten gewinnen sollten, war bekannt. Doch warum konnten diese das Land in den letzten Wochen so rasch einnehmen, obwohl allein die USA 2,2 Billionen US-Dollar in die Besatzung und Kriegsführung gesteckt haben? Mehrere Großoffensiven unter Bush und Obama kosteten zwar zehntausenden ZivilistInnen das Leben, das Land befrieden konnten sie jedoch nicht. Faktisch war spätestens 2016, nach der letzten gescheiteren Großoffensive mit über 130.000 US-Soldaten klar, dass eine militärische Lösung unmöglich war. Sicherlich spielte dabei auch die Tatsache eine wichtige Rolle, dass Pakistan, obwohl langjähriger US-Verbündeter, auch eine Schutzmacht der Taliban darstellte und nie aufhörte, als solche mehr oder weniger offen zu agieren.

Kein Problem gelöst

Vor allem aber war das imperialistische Besatzungsregime selbst dafür verantwortlich. Keines der fundamentalen sozialen und demokratischen Probleme des Landes wurde wirklich angepackt. Die Landfrage, eine Kernfrage jeder grundlegenden Veränderung, war faktisch tabu, sollten doch die besitzenden Eliten auf dem Land wichtige Verbündete gegen die Taliban darstellen. Allein die Tatsache, dass etliche von diesen einmal mehr überliefen und, im Gegenzug für ihren Loyalitätswechsel, nun unter den Taliban ihre führende Stellung behalten sollen, verdeutlicht die Logik jeder reaktionären, imperialistischen Besatzungspolitik. Sie setzt auf die Reichen und Besitzenden. Die Lage der Bauern/Bäuerinnen verschlechterte sich so, dass sie keinen Unterschied zwischen der „Demokratie“ unter imperialistischer Herrschaft und dem Emirat der Taliban zu erkennen vermögen. Hunger, Entrechtung und Überausbeutung ändern sich nicht – und die Taliban versprechen wenigstens islamische Wohlfahrt, Almosen für die Armen, während die US-Besatzung dem Land mehrere Strukturanpassungsprogramme des IWF und die Öffnung der Agrarmärkte gegenüber westlicher Konkurrenz aufzwang (was auch zu einem Ruin zahlreicher afghanischer AgrarproduzentInnen führte).

Dasselbe gilt bezüglich der Rechte nationaler Minderheiten, der LohnarbeiterInnen in den Städten. Nicht zuletzt war die afghanische Demokratie wenig mehr als als ein Kampf der mit den USA verbündeten Eliten um die Beute, um die Kontrolle über den Staatsapparat und die Pfründe, die er zu bieten hatte. Milliarden verschwanden in diesen Kanälen – und noch viel mehr in den Taschen der Rüstungs- und Sicherheitskonzerne in den USA und anderen westlichen Ländern. Eine soziale Basis in der Gesellschaft vermochte sich die afghanische Regierung nie aufzubauen. Ihre Stütze war im Grunde über zwei Jahrzehnte die Besatzungsmacht, die ihrerseits keinen Spielraum für ein anderes Regime bot. Ohne US- und NATO-Truppen brach die Regierung innerhalb weniger Wochen zusammen.

Scheitern der imperialistischen Ziele

Doch die USA und ihre Verbündeten vermochten nicht nur ihr vorgeschobenen Versprechen nicht einzulösen. Indem sie sich als unwillig und unfähig erwiesen, das Land selbst ökonomisch und sozial zu stabilisieren und ihm eine gewisse Perspektive zu erlauben, scheiterte auch die Verwirklichung ihrer realen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele.

Der Einmarsch und die rasche Eroberung des Landes durch die US-geführte Allianz, der sich 2001 fast alle Staaten der Welt offiziell anschlossen, wurden von den USA als Akt der Selbstverteidigung

nach dem reaktionären Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 präsentiert. In Wirklichkeit sollten die Eroberung Afghanistans ebenso wie der Krieg gegen den Irak und andere Interventionen die nahezu unangefochtene Hegemonie der USA nach dem Kalten Krieg und während des ersten Jahrzehnts der kapitalistischen Globalisierung verewigen. Von dieser „neuen Weltordnung“, für deren Errichtung die Kontrolle Eurasiens und die Verhinderung des Aufstiegs neuer imperialistischer Rivalen als zentral angesehen wurde, ist der US-Imperialismus heute weiter denn je entfernt. Auch wenn er noch immer die größte Ökonomie und die stärkste politische und militärische Macht darstellt, so offenbart der Rückzug der US- und NATO-Truppen vor allem den Niedergang der Hegemonialmacht. Am Ende konnten sie nicht einmal eine Machtteilung zwischen dem Vasallenregime Ghani und den Taliban durchsetzen.

Auch der „Krieg gegen den Terror“, diese ideologische Allzweckwaffe, die über zwei Jahrzehnte als Vorwand für so ziemlich jede Intervention herhalten sollte, hat sich abgenutzt. Geblieben sind nackte Interessenpolitik, die mehr oder weniger offene Verfolgung der eigenen imperialistischen Ziele im globalen Konkurrenzkampf, Islamophobie und antimuslimischer Rassismus in den imperialistischen Zentren als Ideologien zur Rechtfertigung der Unterdrückung im Inneren und zur Intervention nach außen.

Der Zusammenbruch des Vasallenregimes in Kabul bezeugt daher vor allem den Niedergang des US-Imperialismus. Er belegt, wie sehr sich die Weltlage in den beiden letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Auch wenn es schwer absehbar ist, ob und wie andere Mächte das Vakuum füllen können, das die USA in Afghanistan hinterlassen, so stehen die VerliererInnen fest. Die USA und ihre westlichen Verbündeten erlitten eine Niederlage von enormer internationaler Bedeutung. Sie erwiesen sich als unfähig, die Welt nach ihren Vorstellungen zu „ordnen“. Nach 20 Jahren endete der asymmetrische Krieg in einer Niederlage, deren globale Bedeutung der in Vietnam nicht nachsteht. Selbst einen „geregelten“ Übergang, eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban vermochten sie nicht mehr auszuhandeln. Die größte Weltmacht wie der gesamte Westen wurden weltpolitisch vorgeführt.

Kampfloser Fall

Der kampflose Fall Kabuls besiegelte die Niederlage des afghanischen Regimes unter Präsident Aschraf Ghani. Nachdem die USA-Besatzungstruppen und ihre NATO-Verbündeten überhastet und frühzeitig abgezogen waren, entpuppte sich die afghanische Regierung samt ihrer nach offiziellen Angaben 300.000 Mann starken Verteidigungskräfte als Papiertigerin.

Innerhalb von nur wenigen Wochen konnten die Milizen der Taliban das Land erobern, obwohl sie zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch als unterlegen galten. Nachdem Anfang Mai, am Beginn des Abzugs der US/NATO-Truppen, noch der größere Teil des Landes von der Regierung kontrolliert wurde, veränderte sich die Lage bis Anfang Juli dramatisch. Rund die Hälfe des Territoriums hatten die Taliban eingenommen, oft ohne auf großen militärischen Widerstand zu stoßen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen sie jedoch vor allem ländliche, oft relativ dünn besiedelte Regionen und kleinere Städte ein. Doch bald begannen sie auch, erste größere Provinzhauptstädte zu umzingeln und einzunehmen, mitunter nach längeren Gefechten mit den Regierungstruppen oder mit ihnen verbündeten Milizen von Landlords, also lokaler, oft auf Clanstrukturen basierenden Kriegsherren.

Mit jeder Niederlage der Regierungstruppen, die sich ihrerseits von ihren ehemaligen Schutzmächten, den USA und schwächeren imperialistischen Mächten wie Deutschland im Stich gelassen fühlten, schwanden die Hoffnungen, den Talibanvormarsch aufhalten zu können.

Mehr und mehr Großstädte wurden kampflos übernommen. Teile der lokalen Sicherheitskräfte liefen über, andere verkauften ihre Waffen an die Taliban, flohen mit ihrem Gerät in andere Regionen oder ins Ausland oder desertierten, um unterzutauchen.

Die Kampfmoral war offenkundig schon weitgehend gebrochen, als der Vormarsch der Taliban begann. Überraschend war sicher nicht der Umstand selbst, wohl aber das Ausmaß der Demoralisierung, die die Regierung und ihre westlichen Schutzmächte überraschte, wahrscheinlich aber auch die Taliban.

Mit dem US- und NATO-Abzug, ja im Grunde mit Donald Trumps Ankündigung aus dem letzten Jahr war schließlich längst klar, dass das afghanische Regime nicht einfach weiterregieren können würde. Die westlichen imperialistischen Mächte, aber auch Russland und China sowie regionale Player wie Pakistan, Iran und die Türkei strebten eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban an, die vor allem am Verhandlungstisch errungen werden sollte.

Doch die Unterredungen stockten, auch weil die Regierung Ghani ihre Karten überreizte und hoffte, dass im schlimmsten Fall die USA und ihre Verbündeten doch mehr Truppen und Personal im Land lassen würden. Dabei verkalkulierte sie sich offenkundig.

Die USA, die NATO und sämtliche westlichen Besatzungsmächte rechneten damit, dass die Regierung wenigstens die größten städtischen Zentren und deren Umland halten würde können. Umgekehrt gingen im Mai und Juni wahrscheinlich auch die Taliban nicht davon aus, dass sie bis Mitte August ganz Afghanistan weitgehend kampflos erobern könnten. Länder wie Pakistan, während des gesamten Kriegs nicht nur Verbündeter der USA, sondern auch eine Art Schutzmacht der Taliban, sowie China und Russland setzten aus geostrategischen und ökonomischen Interessen auf eine Verhandlungslösung, die ihnen am Verhandlungstisch größeren Einfluss auf Kosten der USA gebracht hätte.

Doch die Kampfmoral der Verteidigungskräfte und deren innerer Zusammenhalt waren offenbar so gering, dass sie sich nach anfänglichen verlorenen Gefechten im Juli nur noch auf dem Rückzug befanden. Nicht nur Desertion und Kapitulation waren verantwortlich. Die Armeeführung war offenbar nicht in der Lage, Nachschub und Ersatzkräfte zu sichern. Warum also sollten die SoldatInnen ihr Leben angesichts der Taliban-Erfolge riskieren, wenn sich ihre Regierung als vollkommen unfähig erwies, sie zu unterstützen, und nachdem sie ihre imperialistischen Verbündeten faktisch aufgegeben hatten? Während die USA und NATO ihre Truppen überhastet abgezogen hatten, ohne die lokalen Einheiten der afghanischen Armee über die Modalitäten des Rückzugs zu informierten, sollten diese weiter für die Marionettenregierung in Kabul als Kanonenfutter agieren.

Das hindert US-Militärs und PolitikerInnen bis hin zum Präsidenten Biden natürlich nicht daran, die Verantwortung für die schmähliche militärische Niederlage den afghanischen Vasallen in die Schuhe zu schieben. Feige und inkompetent, käuflich und unzuverlässig wären diese gewesen. Dabei haben die NATO-Staaten die afghanischen Sicherheitskräfte selbst zwei Jahrzehnte lang ausgebildet und immer wieder von enormen Fortschritten berichtet. Bei den Kampfhandlungen ließen 70.000 dieser ihr Leben, während nur rund 3.500 NATO-SoldatInnen fielen (davon rund 2.500 aus den USA).

Doch in typisch imperialer Herrenmanier erklären nun westlichen Militärs und PolitikerInnen, dass die edle Mission nicht an ihnen, sondern an rückständigen, unzuverlässigen und schwachen afghanischen Verbündeten gescheitert wäre. So schiebt der Imperialismus die Niederlage auch noch seinen Marionetten zu, die nicht richtig nach seiner Pfeife getanzt hätten. Dabei schaffen es die USA, Deutschland und andere BesatzerInnen allenfalls, einen Teil der direkt als ÜbersetzerInnen, KundschafterInnen, Personal aller Art beschäftigten HelferInnen und deren Familien aus dem Land zu bringen. Auch wenn westliche PolitikerInnen ihre Sorge und Betroffenheit über deren Schicksal medienwirksam zur Schau stellen, so darf diese niemanden täuschen. Das Schicksal der ehemaligen HelferInnen und Verbündeten interessiert die imperialistischen BesatzerInnen wenig. Die Krokodilstränen für die Hunderttausende, die vor den Taliban Richtung Iran und Türkei auf der Flucht sind, erweisen sich als pure Heuchelei, sobald es darum geht, den Menschen die Flucht nach Europa zu ermöglichen und die Grenzen der EU zu öffnen.

Was droht?

Für die AfghanInnen kommt der Sturz des Regimes Ghani wie ein Wechsel von Pest zur Cholera. Während die imperialistischen BesatzerInnen das Land verlassen haben und gerade noch dabei sind, ihre letzten Truppen, Tross und Gerätschaft außer Landes zu fliegen, geht die Macht an die Taliban über.

Im Land selbst steht ihnen zur Zeit keine organisierte, kampffähige Kraft gegenüber. Die Armee ist zerfallen, nach ihr das Regime, deren Mitglieder sich jetzt gegenseitig die Hauptschuld an der Niederlage zuschieben.

Ein Übergangsregime, eine Machtteilung kommt für die Taliban nicht in Frage. Sie werden in den nächsten Tagen vielmehr ihre eigenen Regierung einsetzen, die einem Gottesstaat, einem Emirat vorstehen soll. Auch wenn die Sieger zur Zeit versprechen, die Zivilbevölkerung zu schonen, so besteht am reaktionären, unterdrückerischen Charakter des Regimes, das sie errichten wollen, kein Zweifel. Für die Frauen, für oppositionelle demokratische und sozialistische Kräfte, für die ArbeiterInnenbewegung brechen finstere, despotische Zeiten an. Auch wenn deren genaues Ausmaß nicht präzise vorherbestimmt werden kann, so werden die Taliban gerade auf dem Gebiet erzkonservativer Familien- und Moralvorstellungen und gegenüber allen Regungen des sozialen oder politischen Aufbegehrens von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen keine Gnade kennen. Das trifft auch auf die demokratische Intelligenz sowie auf unterdrückte Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften zu. Wahrscheinlich wird es auch zu Schauprozessen gegen Angehörige der gestürzten Regierung und KollaborateurInnen mit den Besatzungsmächten kommen.

Doch die Taliban können sich nicht nur auf die repressive Sicherung ihre Herrschaft und ihre Moralvorstellungen beschränken. Sie müssen auch eine marode kapitalistische Ökonomie irgendwie am Laufen halten und wiederbeleben, sie müssen ein zerfallendes Land regieren und zusammenhalten. Dazu werden sie nicht wenige ParteigängerInnen des alten Regimes, BürokratInnen, lokale Landlords, Wirtschaftstreibende, wenn auch unter „islamischen“ Vorzeichen in ihr Regime zu integrieren versuchen.

Daher auch die ständigen Versicherungen, dass die Talibankämpfer nicht plündern würden, dass das Geschäftsleben möglichst rasch weitergehen solle, dass niemand willkürlich enteignet werde. Auch die Scharia respektiert das geheiligte Privateigentum. Um ihre Herrschaft sozial zu stabilisieren, werden sie eventuell auch auf Wohlfahrtsprogramme für die Armen setzen, auch wenn unklar ist, woher diese Mittel kommen sollen.

Selbst wenn die Taliban im Inneren kurzfristig kaum eine/n politische/n oder militärische/n GegnerIn zu fürchten haben, so regieren sie ein geschundenes, desintegriertes Land, das wirtschaftlich und sozial am Boden liegt. Diese Hinterlassenschaft der alten Regierung, von Jahrzehnten Bürgerkriegen und vor allem von imperialistischer Besatzung und Plünderung lastet auch auf den Taliban.

Cui bono?

Das Schicksal des Landes wird daher auch unter den Taliban nicht selbstständig in Kabul entschieden werden. Während die westlichen BesatzerInnen fluchtartig das Land verlassen haben, brauchen die Taliban neue Verbündete und Schutzmächte, die wesentlich die Zukunft des Landes (mit)bestimmen werden.

Pakistan drängt sich hier als eine erste Macht auf. Im Unterschied zu allen anderen Ländern unterhielt es immer diplomatische Beziehungen zu den Taliban, die auch während des Krieges gegen den Terror ihre Büros in Pakistan weiter offenhalten konnten. Vor allem aber dienten die Grenzregionen als Rückzugsgebiete für Talibankämpfer und Logistik. Teile des pakistanischen Geheimdienstes und des Militärs unterhielten seit Gründung der Taliban enge Beziehungen mit diesen, bilden diese faktisch aus. Das erklärt auch, warum sie eine schlagkräftige und zentralisierte Armee aufbauen konnten.

Pakistan hat schon jetzt erklärt, dass es eine neue Regierung als erstes Land anerkennen will, und unterstützt offen deren Bildung als konstruktiver Vermittler, um die nächste Administration auf eine breite und inklusive Grundlage zu stellen. Dazu finden zur Zeit erste Konsultationen von VertreterInnen der pakistanischen Regierung und der Taliban in Islamabad statt.

Der Präsident des Landes Imran Khan kritisierte dabei offen die USA als verantwortlich für die Lage in Afghanistan, setzt auf ein gemeinsames Vorgehen von Regierung, Militär und Geheimdienst. Kurz gesagt, auch wenn Pakistan wahrscheinlich selbst eine längere Übergangsphase gewünscht hätte, so sieht es zur Zeit die Chance gekommen, sich als Regionalmacht zu stärken und einen dominierenden Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan zu nehmen.

Natürlich sind der pakistanischen Regierung die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten dieses Unterfangens klar. Daher sucht sie auch, weitere PartnerInnen mit ins Boot zu holen. Vor allem geht es dabei um China und den Iran. China wurde in den letzten Jahren die dominierende imperialistische Macht in Pakistan. Zugleich verfolgt Peking sowohl ökonomische Interessen (Abbau von Rohstoffen in Afghanistan), geostrategische (Neue Seidenstraße) wie auch innenpolitische (Abwendung von Unruhen der UigurInnen). Falls Pakistan vermitteln kann und die Taliban garantieren, dass sie sich in innere Angelegenheiten Chinas nicht einmischen werden, steht guten Beziehungen zu einer neuen Regierung in Kabul wenig im Wege. Ähnliches mag für den Iran gelten, der seinerseits schon seit Jahren regelmäßige Konsultationen mit China und Pakistan durchführt.

Zu diesen dreien gesellt sich die Türkei. Imran Kahn hat bereits die Initiative ergriffen, Erdogan in die Gespräche über die Zukunft Afghanistans einzubeziehen. Und schließlich wird auch Russland direkt und als Schutzmacht der ehemaligen Sowjetrepubliken, die an Afghanistan grenzen, mit im Boot sitzen. Während die USA und die europäischen Länder ihre Botschaften geschlossen und ihren diplomatischen Stab abgezogen haben, agiert die russische Botschaft weiter. Russland und China haben bereits angekündigt, die neue Regierung anzuerkennen. Beide wollen das politische Vakuum füllen, das der Westen hinterlassen hat.

Auch das verweist auf eine Veränderung der Verhältnisse, die nur wenig mit den Taliban, aber viel mit der Entwicklung der Weltlage seit 2001 zu tun haben.

Auch wenn die USA und die EU weiter versuchen werden, Einfluss in Afghanistan auszuüben, wenn sie mehr oder weniger heftig mit Sanktionen und Abbruch diplomatischer Beziehungen drohen, sollten die Taliban das internationale Recht nicht respektieren, so wirken diese Drohungen wenig furchteinflößend. Der Abzug der westlichen Militärs, Botschaften, von JournalistInnen und Geschäftsleuten ist der schlecht verhüllte Abzug von VerliererInnen.

Auch wenn es unklar ist, ob und wie neue Mächte die veränderte Lage in Afghanistan nutzen werden, so wird dessen Neuordnung keinesfalls nur ein innere Angelegenheit der Taliban bleiben. Ironischer Weise werden sich diese reaktionären Pseudobefreier selbst wahrscheinlich rasch als Vasallen größerer Mächte und von deren wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen erweisen.

Perspektive

Für die Massen in Afghanistan brechen hingegen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird faktisch alle Ansätze von demokratischen, von Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräften in die Illegalität treiben. Zugleich werden jedoch – wie in allen theokratischen Regimen – die gesellschaftlichen Widersprüche keineswegs verschwinden. Ausbrüche von Klassengegensätzen und anderen sozialen Konflikten – teilweise sogar eruptive – sind früher oder später unvermeidlich. Darauf müssen sich RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter Bedingungen der Illegalität und der konspirativen Arbeit vorbereiten. Das bedeutet aber auch, sich klar zu werden über die wesentlichen Schwächen und Fehler der afghanischen Linken, die zumeist aus moskau- oder maostalinistischer Tradition kommen und in den letzten Jahren stark von sozialdemokratischen und liberalen Ideen beeinflusst wurden.

Zwei Lehren werden dabei zentral sein: Erstens muss der Kampf für demokratische und soziale Forderungen immer mit dem gegen imperialistische Besatzung verbunden werden. Zweitens und damit verbunden dürfen der Kampf für demokratische und soziale Verbesserungen und der für eine sozialistische Umwälzung nicht als Gegensatz oder gar als zeitlich und strukturell getrennte Etappen verstanden werden. Vielmehr verdeutlicht die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass die afghanische Revolution eine permanente im Sinne Trotzkis sein muss. Nur durch die Errichtung einer revolutionären ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung können die bis heute unerfüllten demokratischen Aufgaben im Rahmen einer sozialistischen Umwälzung gelöst werden. Wenn es die afghanische Linke, die fortgeschrittensten Teile der ArbeiterInnen-, der Frauenbewegung und der demokratischen Intelligenz vermögen, in der Illegalität eine solche revolutionäre Partei zu schaffen, dann können sie in der Lage sein, die nächste Krise des Landes im Interesse der ArbeiterInnenklasse und Bauern/Bäuerinnenschaft zu lösen.

Solidarität mit den Geflüchteten!

Die Entwicklung einer solchen Organisation stellt zweifellos eine langfristige Perspektive dar. Unmittelbar droht Millionen brutale politische Unterdrückung. Andere versuchen, in benachbarte Länder oder nach Europa zu fliehen.

Die imperialistischen Besatzungsmächte, die fluchtartig das Land verlassen haben, lassen nicht nur die meisten ihrer HelferInnen zurück. Vor allem wollen sie keine afghanischen Geflüchteten aufnehmen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll verhindert werden. Wenn die Menschen schon vertrieben werden, sollen sie in angrenzenden Staaten wie Pakistan, Iran, Usbekistan oder der Türkei ausharren. Dabei ist die Verantwortung des Westens in kaum einem anderen Land so deutlich, sind imperialistischer Krieg und Besatzung so offenkundig Fluchtursachen. Umso zynischer ist es nun, für jene Menschen die Festung Europa dichtzumachen, deren Land von europäischen Truppen besetzt und verwüstet wurde. Doch damit nicht genug. Einige EU-Staaten wie Österreich sondieren sogar schon, wann sie die Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge wieder aufnehmen können.

Die Linke und die ArbeiterInnenbewegung müssen sich ohne Wenn und Aber für die Öffnung der EU-Grenzen für die Geflüchteten aussprechen. Wie die EU-Kommission oder die Regierung Merkel deutlich gemacht hat, wird das nur durch massive Mobilisierungen möglich sein. Die Aufnahme aller Geflüchteten, offenen Grenze und volle StaatsbürgerInnenrechte für alle sollte daher auch eine zentrale Forderung der Demonstrationen von #unteilbar am 4. September und darüber hinaus bilden.

Die zweite unmittelbar Lehre aus dem Afghanistankrieg muss lauten: Rückzug aller SoldatInnen der Bundeswehr und aller anderer imperialistischer Staaten nicht nur aus Afghanistan, sondern von allen Einsätzen – sei es unter UNO-, NATO- oder EU-Leitung! Nein zur Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent für Armee und Militarismus!




Afghanistan: USA verlassen ein verwüstetes Land

Dave Stockton, Infomail 1156, 21. Juli 2021

Kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag der Erklärung von George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus verkündete der jetzige US-Präsident Joe Biden den endgültigen Abzug der verbliebenen 2.500 US-Truppen aus Afghanistan. Die US-Streitkräfte verließen Bagram, den riesigen, befestigten Luftwaffenstützpunkt, ohne die afghanischen Regierungstruppen auch nur zu benachrichtigen, woraufhin die PlünderInnen anrückten. Biden hat sich bei seinem Rückzug als überstürzter und bedingungsloser erwiesen als Obama oder Trump, die beide darauf erpicht waren, aus dem afghanischen Sumpf herauszukommen.

Zynismus

Wenn irgendetwas mit der Zerstörungskraft der „humanitären“ Invasionen und Besetzungen der USA konkurriert, dann sind es die Nachwirkungen ihres Rückzugs. Die Taliban, das Ziel von Bushs und Blairs vermeintlichem Befreiungskrieg, versuchen nun die Kräfte des korrupten und inkompetenten Regimes aufzurollen.

Biden, mit atemberaubendem Zynismus, lieferte das endgültige Urteil über Amerikas längsten Krieg: „Wir machen kein Nation Building“. In der Tat! Nach den Ergebnissen der Invasion in Afghanistan und im Irak und der Bombardierung Libyens und Syriens können Sie das wieder sagen, Herr Präsident.

Zu Beginn des Krieges gegen den Terror prahlte der gerade verstorbene ehemalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach der erfolgreichen Invasion des Iraks: „Ich lege keine Sümpfe an“. Aber er tat es!

Heute, auch wenn „Stiefel“, also Truppen auf dem Boden zu teuer und kontraproduktiv geworden sind, wird Biden wohl kaum die Bomben- und Drohnenangriffe stoppen, die von den großen US-Basen auf der arabischen Halbinsel oder der 5. Flotte im Golf gestartet werden, sofern es seiner Meinung nach eine „reale und akute Gefahr“ für die strategischen und wirtschaftlichen Interessen der Klasse gibt, die er vertritt. In der Tat macht der neue Kalte Krieg mit China und Russland, der bereits im Anfangsstadium ist, dies zu einer Gewissheit.

Für den Moment ist jedoch klar, dass die US-AmerikanerInnen ihren Krieg gegen die Taliban verlorengegeben haben. Obwohl in Doha gerade ein weiteres Waffenstillstandsabkommen vereinbart wurde, wird es, selbst wenn es hält und in ein vollständiges Friedensabkommen umgewandelt wird – und das ist ein großes WENN –, zu den Bedingungen der Taliban zustande kommen. Ein Aufgebot von Welt- und Regionalmächten versucht, jede Einigung zu beeinflussen, und keine von ihnen wird sich als humanitärer oder befreiender erweisen als die scheidenden „demokratischen Imperialismen“.

Seit dem 1. Mai haben die Taliban die Zahl der von ihnen kontrollierten Bezirke verdoppelt und wichtige Zollposten wie Spin Boldak an der pakistanischen Grenze übernommen, über die Heroin im Wert von Milliarden von US-Dollar in die Hafenstadt Karatschi gelangt, was einen großen Beitrag zu ihrer Kriegskasse leistet. In der Nähe von Herat haben sie auch den Grenzübergang Islam Qala eingenommen, und im Norden Afghanistans belagern sie praktisch die sechstgrößte Stadt des Landes, Kundus.

Misserfolg

Trotz der US-NATO-Siege in Afghanistan 2001 und im Irak 2003, trotz der späteren Zerstörung des ISIS-„Kalifats“ im Nordirak und in Syrien und der Tötung von Osama Bin Laden in seinem Versteck in Abbottabad war demnach der Krieg gegen den Terrorismus ein gigantischer, wenn auch zerstörerischer Misserfolg. Er hat die Städte und die Infrastruktur dieser Länder verwüstet und Millionen von Menschen ins Ausland oder intern in elende Lager vertrieben.

Was den „internationalen Terrorismus“ betrifft, so haben sich in den letzten Jahren dschihadistische Gruppen wie Boko Haram in den Staaten des subsaharischen Afrika ausgebreitet. Lokale Ableger von al-Qaida, ISIS und anderen Gruppen führen weiterhin regelmäßig Guerillakriege und verüben Terroranschläge und inspirieren „einsame Wölfe“ zu Anschlägen in Europa.

Die Zahl der verlorenen oder zerstörten Leben ist hoch. Seit 2001 wurden mehr als 775.000 US-amerikanische SoldatInnen nach Afghanistan geschickt, viele von ihnen zu wiederholten Einsätzen. Viele sind seelisch vernarbt und brutalisiert nach Hause gekommen. 2.300 wurden im Einsatz getötet und 20.589 schwer verwundet (Zahlen des US-Verteidigungsministeriums). Dies hat das Land 2,26 Billionen US-Dollar gekostet.

Natürlich musste die afghanische Bevölkerung einen noch höheren Blutzoll zahlen. Die Zahl der Todesopfer der Regierungstruppen liegt bei über 70.000 und die der Taliban wird auf 51.000 geschätzt. Noch höher sind die Verluste an zivilen Opfern. Mehr als 71.000 sind während des Konflikts im afghanisch-pakistanischen Kriegsgebiet gestorben.

Der Höhepunkt des Engagements der USA und der NATO lag zwischen 2010 und 2012 unter Obama, der mit dem Versprechen gewählt wurde, den Krieg zu beenden, dann aber einen militärischen Vorstoß mit dem unglaublichen Namen Operation Enduring Freedom (Operation Dauerhafte Freiheit) startete, begleitet von massiven Drohnenbombardements sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan, mit hohen zivilen Opfern. Dies wie auch Bushs Bemühungen, die Taliban zu unterdrücken, scheiterten zum Teil daran, weil sie die nicht so geheime Unterstützung von Elementen der pakistanischen Sicherheitskräfte hatten.

Unter Obama, Trump und Biden haben diese fruchtlosen Kosten, menschlich und materiell, die permanente militärische und politische Elite der USA eindeutig davon überzeugt, dass das Engagement in Afghanistan sinnlos und im Vergleich zu ihrer wachsenden Konzentration auf China nicht mehr von großer geostrategischer Bedeutung ist.

Hier müssen sie vielleicht vorsichtig sein: Afghanistan könnte ein wichtiges Bindeglied in Xi Jinpings „Belt and Road“-Projekt sein, der sog. neuen Seidenstraße. Die ChinesInnen verhandeln darüber schon lange sowohl mit der afghanischen Regierung als auch mit den Taliban. Es wäre eine Erweiterung des 62 Milliarden US-Dollar schweren Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors, CPEC. Obwohl sich die fortgesetzte Unterdrückung der UigurInnen als Hindernis erweisen könnte, ist China bereits ein Akteur der neuesten Ausformunen im großen Machtspiel.

Der pakistanische Geheimdienst ISI wird weithin dafür verantwortlich gemacht, dass nicht nur die Mudschahidin, die die Sowjets in Afghanistan bekämpften, sondern auch die Taliban entstanden sind. Seitdem hat er bei kritischen Gelegenheiten hinter den Kulissen interveniert. Jetzt sieht der ISI Afghanistan als strategischen Stützpunkt gegen seinen großen Rivalen Indien.

Selbst wenn die Verhandlungen in Doha dazu führen, dass die Taliban die wichtigsten Städte nicht einnehmen (Kabul, Kandahar, Herat, Masar-e Scharif, Kundus, Jalalabad), wird die Zukunft der städtischen Bevölkerung, der Frauen und der nationalen und religiösen Minderheiten düster sein und die Zahl der Flüchtlinge wird zweifellos steigen.

Es ist offensichtlich, dass, obwohl die vom westlichen Imperialismus unterstützten Regierungen das Bildungswesen für Frauen wieder geöffnet und erweitert und sich Frauenbefreiungsbewegungen, StudentInnen- und ArbeiterInnenorganisationen entwickelt haben, all dies wieder einmal wie in früheren Perioden auf ausländischer Vorherrschaft beruhte und keine Wurzeln in der Mehrheit der Bevölkerung schlagen konnte. Ohne die Umgestaltung des ländlichen Lebens und die Einführung einer direkten Demokratie für alle, die in den Häusern, auf den Feldern und in den Fabriken arbeiten, bleiben selbst beschränkte Fortschritte anfällig für einen sozialen und politischen Rückschritt. Eine Revolution von oben ruht immer auf dem schwächsten aller Fundamente.

Lehren

Jahrhundertelang kamen die intervenierenden Mächte – das britische Raj (Britisch-Indien von 1858 – 1947), die Sowjetunion, die USA und morgen vielleicht China – aus ihren eigenen geostrategischen Gründen und nicht aus irgendeiner Art selbstloser Förderung von Modernisierung, Demokratie oder Frauenbefreiung. Nur wenn die Intelligenz, die ArbeiterInnen und die arme Dorfbevölkerung des Landes mit einer revolutionären Partei die Kontrolle über ihr Schicksal übernehmen, kann der Kreislauf aus von außen aufgezwungenen korrupten Regimen, reaktionären terroristischen Aufständen und Stammeskriegsherren durchbrochen werden.

In der Zwischenzeit können fortschrittliche Kräfte mit größerer Repression rechnen, was auch immer bei einer „Friedensregelung“ in Doha herauskommt. Afghanistan hat eine bedeutende linke Tradition, wenn auch eine, die vom Stalinismus in seiner sowjetisch-russischen oder maoistischen Version mit ihrer Etappentheorie und Perspektive des Sozialismus in einem Land dominiert wird. Ihre AnhängerInnen wurden in die sowjetische Intervention/den Rückzug im späten Kalten Krieg hineingezogen.

Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass kleine Teile der linken Tradition die Fragen des Programms neu überdenken und sich mit Trotzki und der Theorie der permanenten Revolution und der Taktik, die sie zum Ausdruck bringt, auseinandersetzen. Sie verdienen sicherlich jede mögliche ideologische, materielle und moralische Unterstützung, um die vor ihnen liegende Probezeit der Illegalität zu überstehen.

In den Ländern, die den langen Krieg gegen Afghanistan angezettelt haben, in erster Linie die imperialistischen NATO-Staaten, muss die internationale ArbeiterInnenbewegung auf die Aufnahme jeder neuen Flüchtlingswelle und ihre Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen drängen. Schon jetzt sind viele AfghanInnen dem harschen Empfang der Festung Europa im Mittelmeer und Einreiseverboten in die USA ausgesetzt. In Pakistan stehen fortschrittliche Kräfte vor ähnlichen (in bestimmten Fällen genau denselben) Problemen und werden es gut verstehen, die Solidarität auszuweiten.

Nicht zuletzt muss die Linke in den imperialistischen Staaten ein genaues Auge auf „unsere eigenen Imperialismen“ werfen, die auf einen ausgewachsenen Konflikt mit den „neuen“ Imperialismen und ihren regionalen Verbündeten beschleunigt zusteuern. Auf ihrem Höhepunkt mobilisierte die Antikriegsbewegung 2001 – 2003 weltweit Millionen auf den Straßen gegen die NATO-Invasion und die Besatzungen, aber ihre reformistischen FührerInnen hielten die ArbeiterInnenbewegung von direkten Massenaktionen zur Beendigung des Krieges ab und trugen damit eine Mitverantwortung für die Schrecken der letzten 20 Jahre. In einem direkten Zusammenstoß zwischen den Imperialismen werden diese Schrecken ans Tageslicht kommen.

Hier sollten wir uns an die Betonung des Internationalismus erinnern, mit der Marx die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864 enden lässt:

„Wenn die Emanzipation der Arbeiterklassen das Zusammenwirken verschiedener Nationen erheischt, wie jenes große Ziel erreichen mit einer auswärtigen Politik, die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel treibt und in piratischen Kriegen des Volkes Blut und Gut vergeudet? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen ihre verbrecherische Torheit bewahrte den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung und Propaganda der Sklaverei. Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen.“

In einer Zeit der sich verschärfenden Rivalität zwischen imperialistischen und regionalen Mächten mögen Zusammenstöße an „fernen Orten“ für die ArbeiterInnenbewegungen der älteren imperialistischen Mächte keine offensichtliche Sorge darstellen, außer vielleicht, wenn sich Flüchtlingsströme ihren Grenzen nähern. Tatsächlich berühren sie aber die Lebensinteressen der internationalen ArbeiterInnenklasse. Der überstürzte Rückzug der Westmächte wird von Versuchen begleitet sein, ihre Verantwortung für die neuen Gräueltaten zu tilgen, die ein BürgerInnenkrieg und die Restauration der Taliban mit sich bringen werden.

Außerdem leben in vielen imperialistischen Staaten beträchtliche Massen migrantischer  ArbeiterInnen und von Flüchtlingen, die aus Ländern stammen, in die ihre HerrscherInnen einst einmarschiert sind oder die sie besetzt haben, und die eine wichtige Rolle beim Aufbau einer internationalen ArbeiterInnenbewegung in Solidarität mit fortschrittlichen Kräften in ihren Heimatländern spielen könnten. Sie können ein wichtiger Teil einer neuen, einer fünften Internationale sein; einer, die helfen kann zu verhindern, dass auch die ArbeiterInnen der halbkolonialen und imperialistischen Länder in weitere Kriege mit unvorstellbarer Zerstörung hineingezogen werden.




USA: Camp Bliss, ein Höllenlager

Dave Stockton, Infomail 1154, 25. Juni 2021

Mehr als 4.300 Kinder im Teenageralter sind derzeit in einer „Notunterkunft“ auf der Militärbasis Fort Bliss in El Paso, Texas, untergebracht. 12 riesige Zelte sind mit Hunderten von Schlafkojen in unmittelbarer Nähe gepackt. Jüngste Berichte, die von schockierten MitarbeiterInnen verdeckt an BBC-ReporterInnen gegeben und durch Berichte in der El Paso Times bestätigt wurden, offenbaren Bedingungen, die eine absolute Schande für die reichste Demokratie der Welt darstellen und die Realität der westlichen Werte offenbaren.

Unmenschliche Zustände

Das Camp liegt in heißem Wüstengelände, das regelmäßig von Sandstürmen heimgesucht wird, gegen die Zelte nur unzureichend schützen. Ein Mitarbeiter berichtet: „Am Ende des Tages sind wir alle nur noch von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt“.

Neben der gefährlichen Überbelegung, bei der Covid und Influenza grassieren, melden die InsassInnen, dass sie schlecht gekochtes Fleisch bekommen haben, das sie krank gemacht hat. Alle klagen über einen Mangel an sauberer Unterwäsche und lange Wartezeiten auf Duschen und medizinische Versorgung. Das Lager ist von Läusen befallen, aber Entlausungskits sind Mangelware.

Kein Wunder, dass sich viele der jungen Menschen in akuter psychischer Not befinden und viele sich selbst verletzen. Die Kinder werden unter diesen Bedingungen festgehalten, manchmal für mehr als einen Monat. Das Lager wird von privaten Subunternehmen betrieben und es gibt Berichte, dass nicht nur einigen MitarbeiterInnen jegliche Ausbildung fehlt, sondern dass Kinder rassistischen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

All dies steht im scharfen Kontrast zur Prahlerei der Biden-Administration, dass sie die Kinder aus den schockierenden Lagern der Grenzpatrouillen verlegt und die Vorschriften gelockert habe, die es unbegleiteten Kindern erlauben, zu bereits in den USA lebenden Verwandten zu ziehen, sofern diese gefunden werden können.

Das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste (HHS), das Privatunternehmen beauftragt, um das Lager zu betreiben, erklärt zwar, dass es zur Transparenz verpflichtet sei, aber der BBC wurde der Zugang zum Lager verweigert. Das HHS behauptet auch, dass es „die erforderlichen Standards für die Versorgung der Kinder bereitstellt, wie saubere und komfortable Schlafräume, Mahlzeiten, Toilettenartikel, Wäsche, Bildungs- und Freizeitaktivitäten und Zugang zu medizinischer Versorgung.“ Doch nach einem vierstündigen Besuch des Lagers erklärte die US-Abgeordnete Veronica Escobar (Demokratische Partei El Paso) gegenüber der El Paso Times:

„Als ich in das Zelt der Jungen ging, waren dort buchstäblich Hunderte von Jungen in diesen sehr niedrigen Kojen. Ich denke, so viele Menschen auf einem Fleck zu haben, ist ein Risiko für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Ich glaube, es macht die Aufsicht und Kontrolle fast unmöglich.“

Und weiter: „Ein anderer Bereich, der mich sehr beunruhigt“, sagte sie, „ist die Tatsache, dass wir Kinder haben, die über einen längeren Zeitraum in dieser Einrichtung waren. Ich habe Kinder getroffen, die seit über 40 Tagen dort waren. Das ist absolut inakzeptabel, und es ist zutiefst alarmierend.“

Camp Bliss ist nur eines von mehr als 200 Unterkünften, die das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste landesweit betreibt, um Kinder vorübergehend unterzubringen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne einen Elternteil oder Erziehungsberechtigten überquert haben.

Während die Kinder in den Lagern leiden, beschuldigen Fox News und die RepublikanerInnen Biden weiterhin, weich gegenüber MigrantInnen zu sein, und verbreiten die rassistische Lüge, dass seine politischen Reformen MenschenschmugglerInnen ermutigen würden, immer mehr unbegleitete Kinder an die Grenze zu bringen.

Ursache

Doch die eigentliche Ursache für die Flucht aus Lateinamerika, dem „Hinterhof“ der USA, sind die endemische Gewalt der militärisch-polizeilichen Regime, die sich gegen ländliche und indigene Gemeinschaften richtet, die kriminellen Banden, die in den Drogenhandel verwickelt sind, und die erdrückende Armut aufgrund jahrhundertelanger kolonialer und imperialistische Ausbeutung. In all diesen Ländern haben US-Konzerne und US-Regierungen eine wichtige Rolle bei der Ausbeutung ihrer Landwirtschaft und der Rohstoffindustrie gespielt, ihre Umwelt verwüstet und die repressiven Regime ihrer Eliten gestützt.

Wo immer Regierungen versucht haben, den miserablen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, wurden sie destabilisiert und sogar militärisch gestürzt. Dieses Tyrannei und Blockade setzte sich sowohl unter Obama als auch unter Trump fort und wird auch unter Biden weitergehen.

Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder vor den Drogenbanden oder der korrupten Polizei zu retten und sie zu Verwandten oder FreundInnen schicken, die es in das Land geschafft haben, dessen Freiheitsstatue den Müden, Armen und geknechteten Massen ein würdiges Leben verspricht, finden sich in einer Hölle namens Camp Bliss wieder.

SozialistInnen, GewerkschafterInnen, AntirassistInnen und FeministInnen müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um den grausamen Zuständen an den südlichen Grenzen des Landes ein Ende zu setzen, diese schrecklichen Lager zu schließen und ihren InsassInnen eine anständige und humane Betreuung und Unterbringung zu geben. Sie müssen auch materielle und personelle Unterstützung erhalten, um ihre Angehörigen zu finden. Wir müssen fordern, dass das Land seine Grenzen für alle Flüchtlinge öffnet und eine Politik wie den Krieg gegen Drogen und die Superausbeutung durch seine Riesenkonzerne beendet und die Handels- und Finanzblockaden gegenüber den Ländern stoppt, die versuchen, das die soziale Lage ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Sich darauf zu verlassen, dass Biden und die Demokratische Partei so etwas tun, wäre äußerst naiv. Deshalb brauchen die USA eine sozialistische, antikapitalistische Partei der ArbeiterInnenklasse, die als integralen Bestandteil ihres Programms die Rechte der ImmigrantInnen verteidigt und den Menschen in Mittel- und Südamerika die Hand reicht für einen gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus.




Kolumbien: Solidarität mit dem Massenaufstand!

Tom Burns, Workers Power USA und Carlos Magrini, Liga Socialista Brasilien, Infomail 1150, 17. Mai 2021

Kolumbiens rechtsextremer Präsident Iván Duque zündete die Lunte für einen Aufstand der kolumbianischen ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten mit einer vorgeschlagenen Steuererhöhung, die angeblich 8 Milliarden US-Dollar einbringen soll. Damit sollen die Schulden des Landes getilgt werdeb, die vom IWF mit 43 (netto) bis 49 (brutto) Prozent des BIP des Landes berechnet wurden. Der Gesetzentwurf zur Steuerreform, der am 15. April an den Kongress geschickt wurde, beinhaltete eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent auf grundlegende Dienstleistungen wie Strom, Gas, Internet, Wasser und Abwasserentsorgung, aber auch – bizarrer Weise – auf Bestattungsdienste.

Außerdem wurde eine Erhöhung des Benzinpreises angekündigt. Alle Beschäftigten, die mehr als das Doppelte des Mindestlohns verdienen, würden außerdem zur Zahlung von Einkommensteuer herangezogen. Auch die Mittelschicht wäre mit Steuererhöhungen von 300 bis 500 Prozent hart getroffen, was viele kleine Unternehmen vor den Ruin stellen würde.

Korruption, Ungleichheit, Armut, brutale staatliche Repression: alle vier bildeten die Katalysatoren hinter der Explosion einer Massenbewegung. Alle vier wurden durch die CoVid-19-Pandemie verstärkt und verschlimmert. Deren Ausbruch und der darauffolgende landesweite Lockdown entschärften den Generalstreik 2019 gegen Duques vorherige Steuer„reformen“. So erwies sich Duques zweiter Raubzug auf die hoffnungslos niedrigen Einkommen der Menschen als letzter Strohhalm. Die Arbeitslosigkeit lag bereits bei 19 Prozent; vier Millionen in einer Nation von 50 Millionen.

Reaktion der Massen

Die Reaktion der Massen erfolgte unmittelbar. Die Gewerkschaftsverbände Zentrale ArbeiterInnengewerkschaft (CUT), Konföderation der Kolumbianischen ArbeiterInnen (CTC) und Allgemeine Arbeitsföderation (CGT) riefen für Mittwoch, den 28. April, zu einem Generalstreik auf, trotz eines Gerichtsurteils, das Demonstrationen an diesem Tag und am 1. Mai verbot. Obwohl die Gewerkschaften selbst nur 4 Prozent der Lohnabhängigen vertreten, nämlich 850.000 Mitglieder, fiel die Reaktion der Bevölkerung auf den Aufruf massiv aus.

Doch Duque ließ sich nicht beirren und ging gewaltsam gegen die DemonstrantInnen vor, vor allem mit der berüchtigten mobilen Schwadron zur Bekämpfung von Unruhen, der ESMAD. Diese wurde 1999 unter Präsident Andrés Pastrana während des Krieges mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, FARC, und der Nationalen Befreiungsarmee, ELN, gegründet. Seit ihrer Gründung verging kein Jahr, in dem die ESMAD nicht in Gewalt gegen Organisationen der Massen verwickelt war. 2013 spießten ihre AgentInnen einen Bauern während eines Streiks von BäuerInnen auf. Aber dieses Mal hat die Repression nicht funktioniert.

Die Gewerkschaften beschlossen, die Proteste im ganzen Land aufrechtzuerhalten, und am 1. Mai gingen ArbeiterInnen, StudentInnen, Indigene, prekär Beschäftigte und Arbeitslose erneut in den wichtigsten Städten des Landes auf die Straße. Und wieder ging die Polizei mit Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen auf sie los, mit dem Ergebnis, dass während der gesamten fünf Tage der Konfrontation nach Angaben des Verteidigungsministeriums selbst 19 Menschen getötet, 846 verletzt und 431 Personen von der Polizei festgenommen wurden. Duque setzte auch Panzer auf den Straßen ein und verwendete sogar Black-Hawk-Hubschrauber (Sikorsky UH-60).

Zuckerbrot und Peitsche

Dann, am 2. Mai, zog Duque, unfähig, den Aufstand zu unterdrücken, das Steuerreformgesetz zurück und Alberto Carrasquilla, der Finanzminister, trat zurück. Trotzdem gingen die Proteste weiter, der nächste Höhepunkt war der 5. Mai. DemonstrantInnen füllten die Straßen von Bogotá und LKW-FahrerInnen blockierten die Hauptverkehrsstraßen zwischen den großen Städten. Bewaffnete Gruppen der extremen Rechten griffen indigene DemonstrantInnen in (Santiago de) Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, an und versuchten, die Blockaden zu durchbrechen. Am 7. Mai waren 26 Protestierende tot und 90 Menschen „verschwunden“.

Die Antwort der Regierung auf die DemonstrantIonen war sowohl Zuckerbrot als auch Peitsche, ein kleines Zuckerbrot und eine große Peitsche. Einerseits rief Duque zu einem nationalen Dialog auf, während er gleichzeitig die DemonstrantInnen als TerroristInnen bezeichnete und damit drohte, den Zustand ziviler Unruhen, eine Form des Kriegsrechts, auszurufen. Sandra Borda, eine Kolumnistin der kolumbianischen Zeitung El Tiempo, brachte es in einem Interview mit der New York Times auf den Punkt: „Die Menschen können sich nicht zu einem Dialog mit einer Regierung zusammensetzen, die in der Nacht Menschen tötet, die protestieren, und am Tag die Hand zum Gespräch ausstreckt.“

Uribe, früherer Präsident und Gottvater der Rechten, der die Steuererhöhungen kritisiert hatte, twitterte Aufrufe zu einer umfassenden militärischen Intervention, d. h. zu einem Staatsstreich. Aber niemand hat vergessen, dass es Uribe war, der zwei Amtszeiten als Präsident diente und das Oberhaupt einer korrupten, mafiösen politischen Clique ist, die massive Misshandlungen und Tötungen zu verantworten hatte, die von der ESMAD und dem Militär begangen wurden. Der jahrzehntelange Krieg mit FARC und ELN endete vor fünf Jahren, als Uribe endlich ein Waffenstillstandsabkommen aushandelte. Tatsächlich hat der Krieg der Regierungstruppen und der rechten Todesschwadronen gegen die Organisationen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und der indigenen Gemeinden nie wirklich geendet. Über tausend ihrer AnführerInnen wurden seit dem Friedensabkommen ermordet.

Uribes Unzufriedenheit mit Duque besteht darin, dass seine Sparpolitik und Repression es immer sicherer machen, dass der Kandidat des rechten Flügels die Wahlen im nächsten Jahr gegen den ehemaligen M-19-Guerillero der 1980er Jahre, Gustavo Petro, verlieren wird, der jetzt Senator und Vorsitzender von Colombia Humana ist, einer linken sozialdemokratischen Partei. Seine Unterstützung ist laut Meinungsumfragen von 25,9 Prozent im August letzten auf 38,3 Prozent im April dieses Jahres angestiegen.

Die spontane Massenbewegung auf den Straßen bezieht die Basis der Gewerkschaften, junge ArbeiterInnen in prekären Arbeitsverhältnissen, StudentInnen, Arbeitslose, indigene Volkskollektive, Bauern, Bäuerinnen und fortschrittliche Teile der Mittelschichten ein. Aber die Bewegung steht vor einer Führungskrise. Die FührerInnen der CUT und CGT im Nationalen Streikkomitee haben versucht, die Aktionen der ArbeiterInnen auf eintägige Arbeitsniederlegungen zu beschränken, in der Hoffnung, dadurch ein akzeptables Zugeständnis der Regierung zu erzwingen. Sie hoffen, dass Petro die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr gewinnt, anstatt zu riskieren, einen unbefristeten Generalstreik auszurufen, um die Regierung zu stürzen.

Es ist klar, dass Verhandlungen, die die Mafia von Duque und Uribe und die Generäle an der Macht lassen, nichts bringen werden. Die Regierung Duque steht am Rande des Zusammenbruchs, und Kolumbien befindet sich ganz klar in einer revolutionären Situation, die die Alternative stellt: Revolution oder Konterrevolution. Aber keine Bewegung kann auf unbestimmte Zeit verlängert werden und die Erschöpfung der Massen könnte einsetzen und den Weg für einen Militärputsch öffnen. Deshalb muss die Bewegung das Ziel annehmen, Duque und die gesamte herrschende Klasse zu stürzen, die die einfachen KolumbianerInnen so lange beraubt hat.

Dies würde die Bildung von Delegiertenräten aus allen ArbeiterInnen- und Massenorganisationen an der Basis erfordern. Sie müssten zu ihrer eigenen Sicherheit bewaffnet werden. Gleichzeitig bedeutet es die Schaffung einer Partei, die den Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung führen kann. In dieser Revolution muss der brutale Repressionsapparat zerbrochen werden, indem man die einfachen SoldatInnen für die Seite des Volkes gewinnt. Kurz gesagt, die ArbeiterInnen, BäuerInnen und die Jugend müssen die Kontrolle über das Land übernehmen.

Die Rolle des US-Imperialismus

Die Vereinigten Staaten sind langfristig mitverantwortlich für die wiederholten Wirtschaftskrisen und Kriege in Kolumbien. Der Plan Colombia, der 1999 von Präsident Andrés Pastrana mit US-Präsident Bill Clinton vereinbart wurde, sollte angeblich den Drogenhandel stoppen, in Wirklichkeit aber der Regierung helfen, den langen Konflikt mit der FARC zu gewinnen. Im Mittelpunkt stand daher die Stärkung des kolumbianischen Militärs. Black-Hawk-Hubschrauber und andere militärische Ausrüstung wurden an die kolumbianischen Sicherheitskräfte übergeben. Im Zuge der Drogenbekämpfungsprogramme kam es zu mörderischen Angriffen auf Bauern und Bäuerinnen und ganze Dörfer. Das Militär und die mit ihm verbundenen Todesschwadronen nutzten die US-Großzügigkeit, um im Namen der völlig korrupten Elite des Landes einen schmutzigen Krieg gegen bäuerliche Organisationen und Gewerkschaften zu führen. Der Effekt war, dass sich Ungleichheit und Armut, die im Land bereits grassierten, noch weiter verschlimmerten.

Das kolumbianische Militär ist seit langem ein Werkzeug des US-Imperialismus, der die Region beherrscht, und seine politische Elite ist ihren Herren im Norden stark verpflichtet. Dies war unter den US-Präsidenten der Demokratischen und Republikanischen Partei gleichermaßen der Fall: Clinton, Bush, Obama und Trump, die alle den Vorwand des „Krieges gegen die Drogen“ ausnutzten. Im Rahmen des „Plan Colombia“ haben amerikanische SoldatInnen zwischen 2000 und 2014 militärische Ausbildung, nachrichtendienstliche Unterstützung und taktische Hilfe bei Operationen gegen FARC und ELN geleistet. US-Spezialeinheiten nutzen kolumbianische Militärbasen, um Destabilisierungsmaßnahmen, wie in Venezuela, oder regelrechte Putsche, wie in Bolivien, durchzuführen.

Wird sich das unter dem neuen US-Präsidenten ändern? Nicht, wenn man es ihm und der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite des Landes überlässt, so viel ist sicher. Joe Biden war eine Schlüsselfigur bei der Durchsetzung des „Plan Colombia“ im US-Senat und später, als Obamas Vizepräsident, ein entschiedener Befürworter der Militarisierung der kolumbianischen Polizei. Es gibt auch wichtige US-Investitionen in der Region, in der sich Ölpipelines im Besitz von US-Unternehmen befinden.

Das Weiße Haus und der Kongress waren sich durchaus bewusst, dass die kolumbianische Regierung diese Ausrüstung benutzte, um Tausende von ZivilistInnen zu massakrieren und indigene Gemeinden ins Visier zu nehmen. Kürzlich wurde enthüllt, dass ein US-Militärbeamter beim Massaker von El Mozote in El Salvador anwesend war. Obamas Putsch in Honduras hatte auch den Tod von indigenen Mayas durch die Hände der von den USA ausgebildeten und beratenen honduranischen Polizei und SoldatInnen zur Folge. Wie immer haben die USA versucht, die Profite ihrer Banken und Konzerne in ganz Lateinamerika zu steigern, durch verstärkte Privatisierung und Präsenz von US-Unternehmen in der Region, die gegen chinesische und EU-RivalInnen kämpfen.

Die Repression während der aktuellen Protestwelle wurde von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International verurteilt. Auch im Kongress haben inzwischen einige demokratische SenatorInnen die Polizeirepression in Kolumbien kritisiert. Es scheint, dass Duque und seine KumpanInnen in Panik sind, weil sie befürchten, nicht die gewohnte rückhaltlose Unterstützung zu erhalten, die sie aus Washington erwarten. Sicherlich sollten wir uns nicht darauf verlassen, aber es zeigt, dass, wenn wir in den USA eine starke Kampagne führen, dies der Bewegung im Lande helfen wird.

Solidarität

Die Repression ist eine mit vielen Parallelen innerhalb der Vereinigten Staaten. Wir haben die Tötungen durch die Polizei aus erster Hand miterlebt, als wir für George Floyd und Breonna Taylor marschierten und für Andrew Brown, Daunte Wright und Adam Toledo auf die Straße gingen. Wir haben auch die brutale Politik der Drogenvollzugsbehörden im eigenen Land erlebt. Tausende von Farbigen bevölkern die Gefängnisse der Nation aufgrund des „Kriegs gegen Drogen“. Wir haben auch eine zunehmende Militarisierung unserer eigenen Polizeikräfte gesehen, da schwere gepanzerte Fahrzeuge und Waffen aus Afghanistan zurückgebracht und an die Polizei gegeben werden.

Die DemonstrantInnen in Kolumbien brauchen die Unterstützung ihrer Klassenbrüder und -schwestern im „Bauch der Bestie“, dem US-Imperialismus. Deshalb müssen wir vor den kolumbianischen Konsulaten und Botschaften demonstrieren, genauso wie wir gegen unsere eigene Polizeibrutalität marschieren und damit zeigen, dass unser gemeinsamer Feind der US-Imperialismus ist. Die Gewerkschaften und die Demokratischen Sozialisten Amerikas sollten für einen sofortigen Stopp aller finanziellen und logistischen Hilfen der USA an das kolumbianische Militär kämpfen. Wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, um dies durch ArbeiterInnensanktionen durchzusetzen, wo immer dies möglich ist.

Eine ähnliche Solidaritätsbekundung ist aus Ländern in ganz Süd- und Mittelamerika notwendig. Alle Länder hier haben einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts ihrer Volkswirtschaften um mindestens sieben Prozent erlebt und die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt. In Brasilien haben wir unter der autoritären Herrschaft von Jair Bolsonaro gelitten, dessen kriminelle Politik, wie die Blockade ernsthafter Maßnahmen gegen CoVid durch die Regierungen einzelner Bundesstaaten, zu einer enormen Zahl von Toten geführt hat. Die Situation hat sich im Jahr 2021 durch die Ausbreitung von P.1, der brasilianischen Variante, verschlimmert, die sich durch die Bevölkerung zieht und zu den täglich steigenden Todesraten beiträgt.

Bolsonaro hat das Militär offen ermutigt, einen Putsch zu unternehmen, um eine Niederlage bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu vermeiden. Das zeigt nicht nur, wie sehr wir internationale Klassensolidarität brauchen, sondern auch, wie schnell sich in jedem Land unserer Region revolutionäre Situationen entwickeln können, die die gleichen Fragen aufwerfen, einschließlich einer gemeinsamen Strategie für die Macht der ArbeiterInnenklasse und einer internationalen revolutionären Partei, die dafür kämpft.