Frankreich: Solidarität mit den Opfern des „Wasserkriegs im Département Deux-Sèvres“!

Redaktion, Infomail 1218, 31. März 2023

Am 25. März demonstrierten 30.000 Gewerkschafter:innen, Linke, Grüne und Umweltaktivist:innen gegen den Bau eines weiteren „Megabassins“ zur Bewässerung landwirtschaftlicher Großbetriebe in Sainte-Soline im westfranzösischen Département Deux-Sèvres.

Der Bau von sog. Megabassins, also riesigen Wasserspeichern, die aus den natürlichen Wasserreservoirs der verschiedenen Regionen gespeist werden, stellt seit rund 15 Jahren die von Behörden, Agrobusiness und Agrarindustrie bevorzugte Antwort auf zunehmende Dürren und ausbleibende Niederschläge dar. So soll die bestehende Produktion im Interesse der Konzerne sichergestellt werden – jedoch auf Kosten des Zugangs zu Trink- und Nutzwasser für die Bevölkerung der Region.

Des ökologisch desaströse Vorhaben bedient kurzfristige Profitinteressen auf Kosten weiterer Umweltzerstörung (siehe Dossier in Labournet: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/der-wasserkrieg-der-deux-sevres-in-frankreich-kommt-es-bei-protesten-gegen-ein-oeffentlich-finanziertes-bewaesserungsprojekt-zu-dutzenden-verletzten/).

Die Massenproteste verdeutlichen, dass die Regierung Macron an allen Fronten ihre Agenda im Interesse des Kapitals durchsetzt. Wie im Kampf um die Rentenreform lässt sie dafür die Polizei ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Protestierenden von der Leine. Mit Wasserwerfern, CS-Gas, Einkreisungsgranaten und Prügelbullen gingen rund 1.500 Cops brutal vor, verletzten 200 Personen, davon 40 schwer. Eine, Genosse S., befindet sich im Koma. Er kämpft um sein Leben. Im Folgenden veröffentlichen wir das Kommuniqué von Genoss:innen des Aktivisten. Wir hoffen auf seine Genesung. Wir solidarisieren uns mit allen, die im Kampf gegen das Megabassin und die Rentenreform gegen die organisierte Staatsgewalt angehen – und den Kampf weiterführen gegen ein barbarisches, menschenverachtendes kapitalistisches System.

Kommuniqué bezüglich S., unserem Genossen, der in Folge der Demonstration in Sainte-Soline in akuter Lebensgefahr schwebt.

Unser Genosse S. wurde an diesem Samstag, den 25. März, im Zuge der Demonstration gegen die »Megabassins« in Sainte-Soline von einer Granate am Kopf getroffen. Die Präfektur verhinderte zunächst wissentlich das Eingreifen von Rettungskräften und den späteren Weitertransport in eine Spezialklinik – trotz seines kritischen Zustands.

Aktuell befindet sich S. auf der neurochirurgischen Intensivstation und schwebt weiterhin in akuter Lebensgefahr.

Der massive Ausbruch der Gewalt seitens der Polizeikräfte gegenüber den Demonstrierenden führte – wie unterschiedlichen Berichten zu entnehmen ist – zu hunderten Verletzten, darunter viele Schwerverletzte.

Die 30.000 Demonstrierenden in Sainte-Soline hatten sich versammelt, um das Bauprojekt der »Megabassins« zu blockieren. Hierbei handelt es sich um ein Projekt des Wasserraubs durch eine Minderheit im Interesse der mörderischen Logik des Profits. In der ausufernden Gewalt durch die bewaffneten Diener:innen des Staates tritt diese Logik deutlich hervor.

Die Polizei verstümmelt und versucht zu morden, um im Angesicht der Mobilisierung gegen die Rentenreform den Aufstand zu verhindern und die Bourgeoisie und ihre Welt zu verteidigen. Nichts davon kann unseren Willen aufhalten, ihre Herrschaft zu beenden. Geht am Dienstag, den 28. März, und an den Folgetagen auf die Straße, unterstützt Streiks und Blockaden.

Für S. und für alle Verletzten und Eingesperrten unserer Bewegungen.

Vive la révolution!

Die Genoss*innen von S.




„Erfahrungen, die mich prägen und bleiben werden“

Interview mit Aktivist:in der Lützerath-Besetzung, Infomail 1213, 12. Februar 2023

Vor rund drei Wochen wurde Lützerath geräumt. Welche Eindrücke und Gedanken haben Aktivist:innen von dort mitgenommen? Eines unserer Mitglieder war selbst im Dorf und hat sich nach der Räumung und den Aktionen nochmal mit einem Menschen aus seiner Bezugsgruppe getroffen und unterhalten.

GAM: Es ist jetzt ein bisschen her, dass Lützerath geräumt wurde. Aber alle, die da waren, haben viele und intensive Erinnerungen mitgenommen. Du warst sowohl im Dorf, wurdest geräumt und bist am Samstag auf der Großdemo gewesen. Was bleibt da für dich persönlich von Lützerath?

S: Also im Großen und Ganzen habe ich eine positive Erinnerung an die Zeit in Lützerath selber. Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt und hatte sehr gute Gespräche dort. Auch den Kampf habe ich als empowernd wahrgenommen. Wir haben gemeinsam an Barrikaden gebaut und uns zusammen in einem Haus verschanzt, um die Räumung zu verzögern. Mir gibt das generell Energie, dort diese Gemeinschaft gespürt zu haben und in ihr etwas zu erreichen. Wir sind in der ganzen Welt in die Medien gekommen, haben es geschafft, auf Lützerath und das Thema aufmerksam zu machen. Das war auch von Anfang an das Ziel. Ich denke, den meisten Aktivistis war klar, dass es nicht möglich sein wird, die Räumung zu verhindern. Aber wir haben es versucht und alle, die da waren, hatten das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch für mich, den Widerstand zu spüren, in dem Haus gewesen zu sein, zusammen zu kochen, zu essen, zu singen, sich auf die Räumung vorzubereiten, sich um einander zu kümmern und dann auch die Räumung gemeinsam durchzustehen. Das sind auf jeden Fall Erfahrungen, die mich weiter prägen und bleiben werden.

GAM: Ja, so ein Gefühl ein bisschen jenseits des Kapitalismus. Auf der anderen Seite der Barrikade passierte das Gegenteil, die Polizei hat RWEs Interessen mit krasser Gewalt durchgesetzt. Wie hast du das wahrgenommen?

S: Ich musste leider auch selbst Polizeigewalt erleben. Am Anfang der Räumung stand ich mit anderen in einer Menschenkette, wo dann ein Polizist auf mich zugerannt ist und mir seine Faust ins Gesicht gehauen hat, wovon ich dann eine blutige Lippe davongetragen habe. Das war unangenehm und im Endeffekt hätte er mich auch einfach zurückdrängen können. Das hätte genau die gleiche Wirkung gehabt. Ich hatte aber den Eindruck, dass er das so machen wollte. Und auch generell hatte ich den Eindruck, dass die Polizei in Lützerath Gewalt angewendet hat, wo es eigentlich nicht nötig gewesen wäre, es überstürzt um Einschüchterung ging und scheinbar auch einfach darum, Gewalt auszuleben. Für die Räumung selbst war das nicht notwendig.

Auch nach meiner Räumung wurde ich zwei Stunden im kalten Regen festgehalten, was sich auch als Gewalt bezeichnen lässt.

Im späteren Verlauf der Großdemo, nach der Räumung, wurde ich dann mit einem Schlagstock am Kopf getroffen, wovon ich eine sechs Zentimeter lange Platzwunde davongetragen habe, was für mich dann im Krankenhaus endete. Im Großen und Ganzen empfand ich das Auftreten der Polizei also sehr unangenehm und gewaltvoll.

GAM: Mhm. Wirklich vielen Aktivist:innen geht es ja so, eine wahrscheinlich dreistellige Zahl an Verletzten und Herbert Reul sagt dann noch „Zeigt euch doch!“, nur um dann noch eine Strafverfolgung hinterherzuschicken. Im Endeffekt sind dann alle mit Verletzungen dem Staat gegenüber alleine und haben nichts gegen die Polizei in der Hand.

Jetzt ist der Kampf ja auch noch nicht vorbei. Die Kohle ist noch im Boden, auch wenn Lützerath zerstört ist. Was denkst du, braucht der Protest noch, damit er erfolgreich werden kann?

S: Also ich verbuche Lützerath schon als Erfolg, einfach weil es medial weltweit und in Deutschland so stark präsent war. Nichtsdestotrotz ist es natürlich so, dass die Räumung durch RWE und Polizei innerhalb kürzester Zeit durchgezogen wurde und auch ohne größere Schwierigkeiten, abgesehen vom Tunnel. Und da kann man sich natürlich die Frage stellen, was hätte helfen können, damit die Räumung hätte verhindert werden können. Einerseits ist da natürlich die Vorstellung, was wäre, wenn Hunderttausende nach Lützerath gekommen wären. Das hätte sicherlich einen Unterschied ausgemacht. Zum andern denke ich aber, dass es einen großen Unterschied machen würde, die Arbeiter:innen von RWE auf unsere Seite zu ziehen und dann gemeinsam mit ihnen diesen Kampf zu führen. Denn sie sind letztlich diejenigen, die im Konzern RWE wirklich was erreichen können. Das  wäre natürlich ein Ziel für die Zukunft, mithilfe von Streiks und der Solidarisierung unter Aktivistis und Mitarbeitenden gegen RWE zu kämpfen.

GAM: Ja, das ist sicher eine wichtige – und große – Aufgabe für die Klimabewegung, auch weil dafür im Betrieb der Einfluss der IG-BCE-Führung gebrochen werden muss, um eine Auseinandersetzung rund um wirklichen Klimaschutz zu erreichen. Zum Schluss nochmal die Frage: Was war der positivste Moment für dich in Lützi?

S: Die Nacht vor der Räumung, sich zusammen vorzubereiten und nochmal eine gute Zeit zu haben. Das war natürlich eine aufregende Zeit, eine Achterbahn der Gefühle. Aber es war auch schön und diese Gemeinschaft wünsche ich mir natürlich manchmal zurück.

GAM: Das wünschen sich sicher viele zurück. Danke schön für das Interview und gute Besserung wegen der Kopfverletzung!

S: Danke schön!




Erdbeben in Türkei und Syrien: Eine humanitäre Katastrophe – vor allem für die Minderheiten

Dilara Lorin, Infomail 1213, 7. Februar 2023

4.440 Tote forderte das Erdbeben in der Türkei und Syrien bis zum Morgen des 7. Februar. Und die Zahlen steigen stetig weiter. Hinzu kommen weit über zehntausend, teilweise schwer, verletzte Menschen.

Die humanitäre Katastrophe trifft die Masse der Bevölkerung in beiden Ländern, die ohnedies unter Krieg, brutaler Repression durch die Regime von Assad und Erdogan, unter der Inflation, Wirtschaftskrise und Korruption leiden. Die humanitäre Krise und die hohe Zahl der Toten sind daher nicht nur das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern auch Folge brutaler Ausbeutung und Unterdrückung – eine Tatsache, die in der offiziellen Berichterstattung viel zu wenig oder gar nicht vorkommt.

Unterdrückte Minderheiten

Die Hauptbetroffenen der humanitären Katastrophe sind oft Angehörige unterdrückter Minderheiten  wie Kurd:innen, Alevit:innen, Araber:innen und Geflüchtete.

Seit den Morgenstunden am 6. Februar haben mehr als 100 Erdbeben die mehrheitlich kurdischen Regionen Maras über Antep, Nordost Syrien/Rojava bis nach Mersin erschüttert. Es wurden Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 gemessen, welches somit seit 1939 das schlimmste Erdbeben in der Türkei ist. Die Situation ist katastrophal. Die aktuellen Todeszahlen stiegen allein für die Türkei auf 3600 und mehr als 15.000 Menschen sind verletzt, weitere Abertausende sind vermisst. Die Zahl der Vermissten, Verletzten und Toten steigt stündlich an und wird noch in den nächsten Tagen das Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar machen.

Vor allem betroffen sind die unterdrückten Minderheiten in der Türkei und Geflüchtete vor Ort. Dass in dieser Region mehrheitlich Kurd:innen und Alevit:innen leben ist einer der Gründe, warum das türkische Regime Jahrzehnte lang diese Region unterentwickelt ließ und kaum bis wenig in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheitswesen investierte. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft bilden, wie gesagt, mehrheitlich Kurd:innen und andere unterdrückte Minderheiten, es sind die Teile der Gesellschaft, welche aufgrund ihrer Armut oftmals gezwungen sind, in Häuser einzuziehen, die nicht nur mit billigen Materialien errichtet wurden, sondern in deren Konstruktion und Statik kaum investiert wurde, da sie ohnedies für die unteren Teile der Gesellschaft gedacht waren.

Dass also bei diesem Erdbeben so viele Häuser wie Spielkarten zusammenfallen, wäre in vieler Hinsicht vermeidbar gewesen. Aber es lag und liegt im Interesse staatlicher Institutionen, die Investitionskosten gering zu halten, und es lag und liegt im Interesse der Bauunternehmen, die Profite möglichst hoch zu halten.

Bis heute gibt es etliche alevitische und kurdische Dörfer, in welchen kein Leitungswasser fließt, in denen Stromnetze nur spärlich ausgebaut sind oder in denen keine asphaltierte Straße errichtet wird, aber in dem türkischen Nachbardorf konnte es ermöglicht werden. Diese bewusste Nicht-Entwicklung ist ein politisches Machtinstrument, um unerwünschte Minderheiten aus der türkischen Bevölkerung hinauszudrängen, aber sie eben zugleich als billige Arbeitskräfte auszubeuten.

Kurdische Regionen

Auch ist es mehreren Wissenschaftler:innen zufolge Tage vorher bekannt gewesen, dass ein Erdbeben dieser Stärke die Region erschüttern wird, aber Vorkehrungen, wie z.B. Evakuierungen, wurden nicht ansatzweise eingeleitet, die Bevölkerung wurde einfach nicht informiert.

Mehr noch. Der Wissenschafter Prof. Naci Görür wies im Live TV bei Fox darauf hin, dass nicht nur Jahr lang bekannt war, dass es früher oder später in der Region Erdbeben geben wird. Sie hat außerdem als Wissenschaftlerin Bürgermeister und Gouverneure mehrmals angesprochen und sogar eine Art Rettungs- und Aktionsprogramme für den Katastrophenfall vorgelegt. Die Verantwortlichen abwinkten aber nur ab.

In den türkischen Medien ist von all dem kaum die Rede. Schaltet man die Kanäle ein, welche von der AKP koordiniert und kontrolliert werden, will keiner davon etwas wissen. Bilder werden lediglich aus einigen wenigen Gebieten gestreamt. Regionen wie Pazarcık, Elibstan, Gölbaşı oder Hatay, welche durch die Erdbeben erschüttert wurden und die zu 90 % kurdisch geprägt sind, werden nicht gezeigt. Dabei sind es diese Gebiete, in welchen viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dies spiegelt auch die reale und aktuelle Lage der Menschen vor Ort wieder. Unterstützung und Hilfe erreichten kaum jemand in den genannten Regionen. Die Menschen versuchen, mit ihren eigenen Händen die Betonplatten der Häuser zu entfernen, denn sie hören immer wieder noch Hilferufen und Schreie der Überlebenden unter den Trümmern, können aber in den meisten Fällen nichts unternehmen. Die Social-Media-Kanäle sind voller Hilferufe, voll mit Adressen von zusammengefallenen Häusern, in welchen Menschen um ihr Leben ringen. Diese werden eben gepostet, weil es sonst kaum Möglichkeiten gibt, denen eine Stimme zu verleihen, und aus verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch eines der wenigen Rettungsteams, die schon vor Ort sind, dies liest.

Eine schnelle Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die meisten Menschen, befinden sich außerhalb der Häuser, um sich richtigerweise vor weiteren Erdbeben zu schützen. Aber bei den Temperaturen, welche  zwischen 3 und -7 Grad in der Nacht liegen, drohen viele Menschen im Freien zu erfrieren. Trotz dieser Bedrohungen sind die Rettungskräfte der türkischen Regierung – nach Zeugenberichten aus den Gebieten – kaum anzutreffen bzw. nicht sichtbar, und wenn, dann sind es viel zu wenige an den Katastrophenorten.

In den Grenzregionen verschärft sich die Lage außerdem für die vielen Geflüchteten, die auch bislang nur in heruntergekommenen Gebäuden Unterschlupf finden konnten. Es ist außerdem der Rassismus gegenüber Geflüchteten, der vielen Menschen Angst macht, denn dieser wird in den kommenden Tagen nicht nachlassen. Das altbekannte Spiel, dass man lieber nach unten tritt als nach oben, droht hier ein Ausmaß anzunehmen, das uns nur grausen lässt.

Syrien

Auch wenn wir uns im Artikel vor allem mit der Türkei beschäftigt haben, so darf die Katastrophe in Syrien nicht übersehen werden. In dem Land sind bisher rund 1500 Menschen dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Die nordöstlichen Regionen und Teile von Rojava sind vom Erdbeben massiv betroffen. Es sind dies Gebiete, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelt und ausgeblutet sind und nicht zur Ruhe kommen. Sie verfügen über wenig bis gar keine Infrastruktur, um Bergungsarbeiten durchzuführen. Assads Stellungnahme dagegen sind blanker Zynismus. Kaum staatliche Unterstützung wurde in diese Region entsendet, denn es sind zum Teil Gebiete, die nicht mehr unter Assads Kontrolle stehen. Die Türkei wiederum setzte die Angriffe auf Rojava auch während des Erdbebens fort!

Wer hilft?

In der aktuellen Situation sind Sach- und Geldspenden dringend erforderlich, welche die Menschen vor Ort direkt erreichen. Für alle, die Geld überweisen wollen, verweisen wir auf die Webseite und das Konto von Heyva Sor (Kurdischer Roter Halbmond; https://www.heyvasor.com/de/alikari/) Dabei ist recht sicher, dass die Spenden auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Denn nicht jeder Spendenaufruf ist einer, der die Teile der Bevölkerung erreicht, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Spenden, die an den türkischen oder an den syrischen Staat gehen, sind oftmals welche, die in den Taschen des Regimes oder deren Mittelsmänner landen und nicht die Menschen vor Ort erreichen. In vielen Städten Deutschlands werden aktuell auch Sachspenden gesammelt, womit dann Menschen oftmals mit dem Auto in die Gebiete fahren und die Sachspenden dann an den Stellen weitergeben, in welchen sich gerade (notgedrungen) die meisten Menschen aufhalten. Dabei fehlt es fast an allem, denn die meisten Menschen mussten ihre Wohnungen innerhalb von Sekunden verlassen.

Es ist aber klar, dass die humanitäre Hilfe, egal welcher Art, nur die Auswirkungen der Katastrophe lindern kann. Was sind aber politische Forderungen, die Revolutionär:innen in diesen Momenten aufwerfen müssten?

Es muss die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass gerade die Regionen, in welchen die kurdischen, arabischen, alevitischen Minderheiten leben, dies sind, die am schlechtesten auf Naturkatastrophen vorbereitet sind, obwohl es bekannt ist, dass in dieser Region die anatolische Platte auf die arabische trifft. Rassismus und Unterdrückung führen direkt zur Armut, zu einer Lage, die von Immobilienhaien und kapitalistischen Unternehmen bewusst ausgenutzt wird. Die Frage, die hier also hauptsächlich gestellt werden muss, ist auch die Frage der Verbindung des Befreiungskampfes der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten in der Türkei und in Syrien mit dem der Arbeiter:innenklasse. Wir fordern:

  • Massive Hilfsgüter und Personal für alle betroffenen Regionen! Private Spenden sind gut, aber eigentlich müssen die Reichen, die Profiteure, der Staat und die imperialistischen Länder gezwungen werden, für die Katastrophenbekämpfung aufzukommen!

  • Damit die Hilfsgelder nicht im Korruptionssumpf versinken, muss ihre Verteilung und Verwendung von Ausschüssen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und von Beschäftigten bei den Hilfsorganisationen kontrolliert werden. Auch Beschäftigte bei den Banken und Finanzinstitutionen können hier eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen.

  • Um den Zugang für Hilfsgüter, Helfer:innen, Katastrophenschutz zu allen Regionen, frei von Repression und Angst vor Unterdrückung, zu ermöglichen, ist der Rückzug der Armee und der Polizei notwendig. Schluss mit der Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und anderer oppositioneller Organisationen! Rückzug von Assads Schlächter-Truppen! Bleiberechte für alle Geflüchteten!

  • Rettungs- und Wiederaufbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung der Profite und großen Privatvermögen unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen in den betroffenen Regionen!



Lützerath ist zerstört – wir sind es nicht

Leo Drais, Infomail 1211, 19. Januar 2023

Mir brutaler Gewalt haben Staat und RWE Fakten geschaffen, Lützerath innerhalb einer Woche gestürmt, geräumt und abgerissen. Hunderte Aktivist:innen wurden aus Baum- und besetzten Häusern vertrieben – Orte, die sie als Zuhause empfanden. 35.000 Klimaschützer:innen kamen am Wochenende und riefen laut: „Lützi bleibt!“ Viele rangen in Schlamm und Sturm mit der Polizei, einige mussten wegen hemmungslos prügelnder Cops ins Krankenhaus. Die Proteste gingen bis zum 18. Januar weiter, einige hundert beteiligten sich an einem dezentralen Aktionstag von Ende Gelände.

Trotzdem, und es tut weh, das zu schreiben – haben wir trotz eines großen Mobilisierungserfolgs und eines riesigen Rückhalts im ganzen Land und weltweit Lützerath an RWE verloren.

Wer noch da ist, sind wir. Wir werden Lützi nicht vergessen, und daraus lernen:

1. Besetzungen sind richtig, aber das Mittel hat Grenzen

Hambi, Danni, Lützi: drei Orte, die wie keine anderen in Deutschland für Kämpfe gegen den fossilen Kapitalismus stehen, gegen Braunkohleabbau und ein aberwitziges Verkehrssystem.

Weitgehend unbemerkt von einer breiten Öffentlichkeit gab und gibt es daneben eine Reihe weiterer, kleinerer Waldbesetzungen. Am 19. Januar räumte die schwarz-grüne Landesregierung Hessens den Fechenheimer Wald in Frankfurt für den Ausbau der A66. Man bleibt sich eben treu.

In Lützerath dauerte der Einsatz anstatt erwarteter bis zu vier Wochen dann doch nur einige Tage. Im Vergleich zum Danni und Hambi eine kurze Zeit (dort knapp 70 bzw. 35 Tage), obwohl die Anzahl der Besetzer:innen ähnlich hoch war. Klarer Weise liegt dieser Unterschied darin, dass ein kleines Dorf leichter zu räumen ist und die Polizei den Ort mit RWE abgesperrt hatte, während im nicht absperrbaren Dannenröder Wald viele Aktivist:innen, die heute geräumt wurden, morgen wieder vor Ort waren.

Dass die Polizei in Lützerath von einer Räumungsdauer von bis zu vier Wochen ausging, liegt sicher auch daran, dass sie mehr militante Gegenwehr erwartet hatte. Doch die Gewalt blieb auf Seiten der Aktivist:innen fast komplett aus, ging wesentlich nur von den Bullen aus, die dabei wiederholt Menschenleben gefährdeten.

Auch wenn es nur wenige Tage dauerte – Lützerath zu besetzen und zu verteidigen, war richtig. Jeder Kampf braucht wirkmächtige Symbole, und Lützi ist so eins. Viele Menschen wurden um diesen Kampf mobilisiert, entwickelten sich politisch weiter, brachen mit den Grünen und hinterfragen einen Staat, der ihnen auf die Fresse gab. Für viele, die durch FFF politisiert wurden, war das die erste größere Konfrontation mit organisierter Polizeigewalt.

Auch wenn die Räumung gelang, so ging das Ziel, die Bewegung zu spalten, nicht auf. Im Gegenteil: Die Repression führte zu einer massiven Solidarisierung mit der Besetzung, einem Gefühl der Gemeinsamkeit aller Demonstrant:innen, ob nun radikaler Linker, entschlossener Aktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Mitgliedern von Umweltverbänden, der Linkspartei oder enttäuschten Basismitgliedern von Grünen und SPD. Aus Sicht antikapitalistischer Klimapolitik bedeutet Lützerath einen moralischen, inhaltlichen Sieg, weil eine breite, sich radikalisierende Massenbewegung sichtbar wurde, die nach der Räumung sicher nicht verschwinden wird.

Zudem war Lützi viel mehr als nur die Besetzung. Es gab und gibt eine breite Verankerung in der Region. Über die Grenzen Deutschlands hinweg wurden Menschen mobilisiert – weil es einen Ort, ein Symbol gab, um das sie sich sammeln konnten. Selten hat der Staat auf so einfach verständliche Weise Kapitalinteressen verteidigt, und immer mehr gerade jungen Aktivist:innen wird klar, dass es keine andere Wahl gibt, als sich dem zu widersetzen.

Lützi bedeutet aber auch die Erkenntnis, dass eine Besetzung alleine, selbst mit der Unterstützung von 35.000 Demonstrierenden, die fossile Profitimaschine nicht ausschalten kann.

2. Es knirscht in den Grünen

Lützerath bedeutet auch eine gewisse Zerreißprobe der Grünen. Die Wirkung dessen, dass schon wieder sie daran beteiligt sind, den Braunkohleabbau durchzusetzen, sollte nicht überschätzt werden. Gerade ihre Wähler:innenschaft zeichnet sich durch hohe opportune Elastizität aus, zumal es keine wirklich taugliche Wahlalternative für sie gibt. Sie sollte aber auch nicht unterschätzt werden.

Die Grüne Jugend alleine mobilisierte wahrscheinlich weit über tausend Menschen zur Großdemo und allen ist klar, dass dieser riesige Lochfraß wegen der Grünen passiert, auch wenn ihre Führer:innen noch so oft sagen, dass sie darüber nicht glücklich seien.

So was muss Spuren im Bewusstsein hinterlassen haben. Vor vier Jahren wuchsen die Grünen und besonders die Grüne Jugend auf der Welle von FFF an, auch ohne offen aufzutreten (im Hintergrund dafür umso mehr). Jetzt kommen Zweifel auf und das ist aus antikapitalistischer Sicht gut so. Denn letztlich sind die Grünen dem Kapitalismus verpflichtet, die Welt ist mit ihnen nicht zu retten. Der Bruch mit ihnen ist für alle, die ihnen Lützerath übelnehmen, notwendig und richtig.

Ob es jetzt zu größeren Brüchen mit den Grünen kommt, wird sich zeigen. Es hängt davon ab, ob die Linke eine Alternative formulieren kann und liegt auch an Figuren wie Luisa Neubauer, die dadurch, dass sie sich einerseits als Aktivist:innen verkaufen können, andererseits aber den Bruch mit den Grünen nicht vollziehen, diese Partei von links decken.

Nicht nur die Partei, auch die Ideologie vom grünen Kapitalismus, die Hoffnungen in den „Green New Deal“ der Bundesregierung wurden in Lützerath erschüttert.

So oder so. Wir bieten allen, die nach einer Alternative suchen, die offene Diskussion darüber an, wie wir gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlage kämpfen und gewinnen können.

3. Gewalt, die so nicht heißen darf

Alle, die in und um Lützerath unterwegs waren, nehmen auch eine gewaltvolle Erfahrung mit, die in der bürgerlichen Presse entweder sehr stark relativiert oder uns gleich ganz in die Schuhe geschoben wird.

Dabei belegen unzählige Videos, wie brutal die Polizei gegen uns vorgegangen ist. Viele tragen Platzwunden, Prellungen oder Knochenbrüche davon.

Es ist zynisch, dass wir in der Schule lernen mussten, der Staat verfüge über das Gewaltmonopol, aber wenn er es in aller Schärfe anwendet, soll die Gewalt nur von den anderen ausgegangen sein. Die Gewalt der Bullen wird nicht beim Namen genannt.

Zudem wird unser Protest auf die Frage der Rechtmäßigkeit gelenkt – und damit weg von unseren eigentlichen Forderungen und Zielen, einem effektiven Klimaschutz. Es heißt, die Bullen haben das Recht, Gewalt anzuwenden, RWE habe das Recht, die Kohle abzubaggern, wir hätten kein Recht, uns dem entgegenzustellen. Aber alles, was damit gesagt wird, ist, dass das bürgerliche Recht eben eines ist, das die Zerstörung von Dörfern und Wäldern für Profite zulässt. Es ist das Recht der Kapitalist:innen, ihre Macht zu behalten.

Dagegen zu protestieren, ist legitim, genauso wie, dagegen organisiert Widerstand zu leisten, solange wir untereinander Rücksicht nehmen und Gewalt kein Selbstzweck ist. Dann kann dieser auch der Arbeiter:innenklasse vermittelt, von dieser mitgetragen werden.

4. Antikapitalismus rocks, aber er braucht Klimaklassenkampf!

Womit wir wieder bei der Frage sind: Was sind eigentlich die Mittel, die uns das nächste Lützerath erfolgreich verteidigen lassen?

Eine Besetzung alleine ist es nicht, auch wenn, wie oben beschrieben, es verkürzt wäre, Lützi nur auf die Besetzung zu reduzieren. Wie auch im Danni hätte es sie nie ohne die breite Unterstützung insbesondere vor Ort gegeben.

Es gibt eine gewisse Geschichte von Protesten gegen Umweltzerstörung, die sogar als Massenbewegung auftraten, die – teilweise auch dank roher Polizeigewalt – sogar eine breite moralische Unterstützung genossen und die Umweltschäden trotzdem nicht verhindern konnten. Dazu zählen die Proteste gegen die Startbahn West Frankfurt, Stuttgart 21, die A49 (Danni) oder eben Lützerath. Gorleben und Wackersdorf waren demgegenüber zumindest halb erfolgreich, wobei keineswegs ein schnellstmöglicher Ausstieg aus Atomstrom erreicht wurde und auch nicht, dass die Energiekonzerne die Kosten für Endlagerung und Rückbau der Meiler zahlten.

Alle diese Proteste hatten zumindest zeitweise tausende, teilweise sogar über 100.000e Menschen mobilisiert. Aber warum wurden sie nicht von Erfolg gekrönt trotz aller Entschlossenheit, die Aktivist:innen vor Ort an den Tag legten? Der Kampfgeist vieler anarchistischer Klimaaktivist:innen oder Ende-Gelände-Teilnehmer:innen ist etwas, wovon sich große Teile der sozialistischen Linken eine Scheibe abschneiden könnten.

Aber auch das allein reicht noch nicht. Wir müssen uns klarmachen, dass ohne die Beschäftigten von RWE und anderen Energieunternehmen sowie generell aus der Großindustrie der Kampf gegen diese Kapitale kaum gewonnen werden kann. Auch wenn diese oft jene Schichten der Arbeiter:innenklasse verkörpern, die nicht als erste gegen die Umweltzerstörung aktiv werden, auch wenn sich etliche aus Angst um ihren Arbeitsplatz und ihre Existenz an die Seite „ihres“ Unternehmens stellen, so ist dies kein Naturgesetz. Im Gegenteil: Viele Arbeiter:innen fragen sich selbst, was in Zukunft überhaupt für wen produziert werden soll. Vielen dämmert es längst, dass die ökokapitalistische Transformation der Ampelregierung und EU ein Schwindel ist, der auf ihrem Rücken ausgetragen wird.

Hinzu kommt, dass diese Beschäftigten eine Schlüsselrolle nicht nur bei der Enteignung dieser Konzerne spielen müssen, sondern vor allem bei der Reorganisation der gesamten Energieproduktion unerlässlich sind. Schließlich reicht es nicht, wenn nach einer etwaigen Verstaatlichung von RWE und Co. Staatsbeamt:innen anstelle kapitalistischer Manager:innen den Laden kontrollieren.

Entscheidend ist vielmehr, welche Klasse die Energieproduktion lenkt. Eine Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse – die Beschäftigten wie Vertreter:innen aller Lohnabhängigen, also im Grunde die gesamte Gesellschaft – lässt sich nur mit den Arbeiter:innen von RWE, Vattenfall, LEAG, eon usw. ausüben. Sie sind es, die wir gewinnen, davon überzeugen müssen, dass nicht sie die Energiewende durch Jobverlust bezahlen sollen, sondern sie diese selbst gestalten und vollziehen können.

Die Hürden dafür sind hoch, insbesondere weil mit den Führer:innen der größten Gewerkschaft des Sektors, der IG BCE, große Verfechter:innen fossiler Energien in die Arbeiter:innenklasse wirken. Aber vielleicht müssen wir auch gar nicht dort anfangen, die Verbindung zur Arbeiter:innenklasse zu suchen. Der Bereich des öffentlichen Nahverkehrs, der eine große Interessenüberschneidung mit der Klimabewegung aufweist, bietet sich vielleicht eher als Anknüpfung.

Nächstes Jahr steht dort eine Tarifrunde an. Wir sollten nicht einfach nur eine arbeitsteilige Unterstützung anbieten, sondern mit den Kolleg:innen diskutieren – zum Beispiel darüber, wie ein kostenloser Nahverkehr erreicht werden kann. Hier liegt vielleicht ein Ansatz für Klimaklassenkampf: Arbeitskämpfe nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für Streckenausbau und kostenlosen Nahverkehr.

Aber – das wäre ja ein politischer Streik?! Stimmt! Denn Lützi lehrt uns, dass es nicht darauf ankommt, was erlaubt ist und was nicht, sondern auf das, was richtig und wirksam ist.




Tag X! Lützerath verteidigen!

Aufruf der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1209, 4. Januar 2023

Lützerath hat den Tag X ausgerufen. Dies kommt als Reaktion auf Maßnahmen von RWE und der Polizei. Diese haben damit begonnen, Strukturen anzugreifen, die von den Bewohner:innen des Dorfes aufgebaut wurden, um es zu erhalten. Ebenfalls wurden eine Zufahrtsstraße für schweres Gerät und Wälle aufgeschüttet als auch Zäune zur Abschirmung des Dorfes aufgestellt.

Das heißt: Die Räumung des besetzten Weilers hat begonnen. Unsere Anstrengungen, diese zu verhindern, müssen nun ebenfalls verstärkt werden. Wir als Arbeiter:innenmacht möchten hierfür einen Beitrag leisten.

Wir möchten betonen: Wir stehen nicht vor einer selbstverständlichen Niederlage nach einem langen Kampf. Es gibt gute Grundlagen für eine Verteidigung. Die Aktivist:innen vor Ort haben diese zwei Jahre lang mit ehrlicher, harter politischer Arbeit vorbereitet. Hierfür muss ihnen von allen Spektren der Linken und der Klimabewegung Respekt gezollt werden.

Diese neuen Einwohner:innen Lützeraths sind bereit, den Ort, den sie mittlerweile ihr Heim nennen, und mit diesem die 1,5-Grad-Grenze zu verteidigen. Es gibt eine breite Verankerung und Unterstützung in der Region, im Kreis Heinsberg, unter den Dörfern an der Kante. Hunderte weitere Aktivist:innen sind bereits vor Ort. Tausende sollten sich in den nächsten Tagen anschließen. Voraussichtlich bis zum 09.01. wird es möglich sein, legal zur Mahnwache und damit in das Dorf zu gelangen. Es sollte unser Ziel sein, dass Zehntausende an der Großdemonstration in der Region am 14. Januar teilnehmen.

Vor einer Entscheidung

Aber die Situation drängt auf eine Entscheidung. Die Gegenseite weiß dies und so wird die Schlinge zugezogen: von der schwarz-grünen Landesregierung, von RWE und der willfährigen Polizei.

Es bahnt sich hier eine Entscheidung an, welche für die künftige Klimabewegung konstitutiv und für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zentral sein dürfte. Dennoch, Lützerath ist für uns keine Offenbarung, auch wenn dies für viele so sein mag, die große Hoffnungen auf einen Richtungswechsel unter einer grünen Bundesregierung legten. Es handelt sich auch nicht um einen Fehler der Grünen, wie Luisa Neubauer sagt.

Die Räumung des Weilers und die Ausdehnung des Kohletagebaus Garzweiler II nennt sich in der Welt dieser Partei schlicht Realpolitik. Ein integraler Teil davon sind zwangsläufig auch die regelmäßigen Beteuerungen, dass man diese eigentlich nicht betreiben wolle. Sie wollten auch die A49 nicht und lassen sie bauen. Sie wollten auch Stuttgart 21 nicht und lassen es bauen. Ach, sie wollten so vieles nicht. Aber noch viel mehr wollen sie Teil dieses Systems sein. Die Grünen haben eine grundlegende Transformation vollzogen, in der sie nicht mehr in erster Linie als grüne, sondern als bürgerliche Partei glaubwürdig sein wollen. Ihr vorderstes Ziel ist es, Teil der bürgerlichen Regierung zu sein.

Das aber bedeutet, dass sie für eine Klimabewegung keine – gar keine! – Glaubwürdigkeit, kein Vertrauen mehr besitzen darf, die ihren eigenen Slogan ernst nimmt, System Change statt Climate Change zu erwirken! Lützerath fällt nicht, weil die Grünen einen Fehler machen, sondern weil sie aktiv die Räumung Lützeraths vorantreiben. Eine Partei, die den Kapitalismus verteidigt, muss auch RWEs Interessen durchsetzen.

Aber was muss passieren, damit Lützerath nicht zur Realdystopie wie der Danni und Hambi wird? Reicht unsere jetzige Verteidigung? Wir werden es sehen. Aber selbst wenn bis zum Ende der Räumungs- und Rodungssaison durchgehalten wird, selbst wenn der Einsatz noch so teuer wird – was passiert dann? RWE wird nicht nachlassen, hat Lützerath sowieso fast schon zur Hälfte umbaggert, koste es was wolle. Im Hambi nahm man auch den Tod in Kauf. Individuelle Militanz, verklebte Fingerkuppen und Entschlossenheit alleine, so sehr sie moralisch gerechtfertigt sind, sind auf Dauer nicht genug. Was also hilft da?

Klimaklassenkampf!

Was uns bisher fehlt, ist: Klimaklassenkampf, eine Stilllegung von RWEs Tagebau durch die, die dort arbeiten, ein wirklicher Klimastreik: Autobänder, Bahnen, Rüstungsfabriken anhalten, damit Lützerath bleibt, damit wir das 1,5-Grad-Ziel einhalten. Weil es das nicht gibt, ist die Besetzung natürlich das aus der Not geborene Mittel der Wahl, bewundernswert, definitiv unterstützenswert, aber gegen die Macht von Staat und Konzernen strategisch unterlegen.

Über die unmittelbaren praktischen Aufgaben einer Besetzung hinaus brauchen wir die Debatte, wie wir jene gewinnen können, die den Profit der Klimakiller erarbeiten. Etliche von ihnen wollen in ihrer Rolle als Lohnabhängige dieser Konzerne nichts von der der Klimabewegung wissen. So erscheint es zumindest. Das ist definitiv auch Schuld von Gewerkschaftsführungen, die selbst am fossilen Tropf hängen, allen voran die IG BCE und die IG Metall.

Vielen ist aber vollkommen klar, dass das, was sie jeden Tag bauen, produzieren oder konstruieren, nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Allerdings gibt es keine alternative Strategie, die Arbeitsplätze erhält oder neue schafft und das mit sozialer Sicherheit verbindet, die nicht von den Beschäftigten, sondern den Kapitalist:innen bezahlt wird. Immerhin, es gibt erste Sektoren unter Beschäftigten bei Bus und Bahn oder bei regenerativen Energiebetreibern, aber auch in der Metallindustrie, die beginnen, die Verhältnisse in Frage zu stellen.

Das bisher größte Problem in unserem Kampf bleibt aber, dass es eine weitgehende Trennung zwischen der Klimabewegung und denen gibt, die täglich im fossilen Kapitalismus arbeiten müssen. Wie viele fuhren zu Ende Gelände nach Hamburg und wollten von den Hafenstreiks nichts wissen? Wie viele kämpferische Gewerkschafter:innen kommen nicht darauf, selbst mal eine Besetzung in Augenschein zu nehmen, den Austausch mit Aktivist:innen auf Klimacamps zu suchen. Wir sollten deswegen nicht glauben, dass viele Klimaaktivist:innen nicht selbst Lohnabhängige sein mögen oder umgekehrt. Es gibt aber bisher keine organischen und organisatorischen Verbindungen, die über die Bekenntnis zum gemeinsamen Kampf hinausgehen.

Wir als Arbeiter:innenmacht sehen uns als Organisation, die diese Verbindungen schaffen und dies gemeinsam mit allen tun möchte, die dieses Ziel teilen. Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass dies ein Unterfangen ist, dass letztlich nur gegen den Widerstand der konservativsten Elemente sowohl in der Gewerkschafts- als auch der Umweltbewegung durchgesetzt werden kann.

Es braucht aber auch Sofortmaßnahmen.

  • Wir rufen euch auf: Bringt euch und eure Organisationen jetzt in die Verteidigung Lützeraths ein!

  • Beteiligt euch massenhaft an der Besetzung vor Ort! Unterstützt sie finanziell, logistisch oder medial, insbesondere, wenn ihr nicht selbst in Lützerath sein könnt!

  • Beteiligt euch an der Demonstration nach Lützerath am 14. Januar! Beteiligt euch auch an Solidaritätsaktionen, Demonstrationen und Kundgebungen im Bundesgebiet! Wo möglich plädieren wir insbesondere für das Mittel politischer Betriebsversammlungen, die sich gegen die Räumung aussprechen.

Aktuelle Infos unter: https://luetzerathlebt.info

Vor allem muss die Verteidigung Lützeraths einen kollektiven Charakter annehmen. Bringt Erklärungen in Gewerkschaftsgliederungen, Mietervereinen, sozialen Verbänden, Parteien und Vereinen ein, die den Erhalt Lützeraths fordern, die Rodungen verurteilen und Maßnahmen eurer Organisation ankündigen! Sendet diese Erklärungen auch an die Landesregierung in NRW! In ihnen sollten eure Organisationen oder Gliederungen sich aber auch dazu verpflichten, dem Kampf gegen die Rodung finanziell, logistisch, medial, rechtlich und/oder durch die Mobilisierung von Protesten zu helfen.

Die Beteiligung an der Besetzung und an der Demonstration am 14. Januar ist eine wichtige Sache. Aber wir werden Rodung und Räumung nicht allein vor Ort stoppen können. Wir müssen den politischen Preis für die schwarz-grüne Landes-, für die Bundesregierung und für RWE durch große und vor allem koordinierte bundesweite Proteste in die Höhe treiben. Gegen die Räumungsversuche sollten in Düsseldorf, in Berlin und weiteren Städten möglichst große Aktionen auf die Beine gestellt werden. Hierfür sollten wir nicht nur den linken Flügel der Klimabewegung und der linken Bewegungen gewinnen. Wir sollten auch die Grünen, die SPD und die Gewerkschaftsführungen auffordern, für Lützerath zu mobilisieren – gerade um die inneren Widersprüche in diesen Organisationen voranzutreiben und durch Aktion und gemeinsame Erfahrung jene an der Basis für eine alternative Politik zu gewinnen, die sich zunehmend von der Politik der regierenden Parteien verraten fühlen.

Lützerath ist eine der vielen Chancen, die Trennung zwischen Klimaaktivist:innen und Arbeiter:innenklasse zumindest im Ansatz zu überwinden, Militante für Klimaklassenkampf zu gewinnen. Besser, wir nehmen sie wahr. Noch drei Jahre, bis die 1,5 Grad gerissen werden könnten, eine Grenze, die zwischen den Baggern und Lützi verläuft.

  • Solidarität mit Lützerath! Alle Dörfer bleiben! Klima schützen ist kein Verbrechen!



Erklärung des Kongresses der Liga für die 5. Internationale 2022

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1207, 17. Dezember 2022

Die Welt steht vor einer Krise, die noch schwerwiegender ist als die Große Rezession von 2008 – 2010. Der Ukrainekrieg hat eine neue Phase eingeleitet, in der Wirtschaftskriege, zahlreiche durch den Klimawandel verursachte Katastrophen, ein sich beschleunigendes Wettrüsten und die Auswirkungen der Pandemie die Weltwirtschaft massiv erschüttern. Hunger, Arbeitslosigkeit und massenhafte Flüchtlingsströme, die vor Krieg und Armut fliehen, bringen die Ressourcen der Staaten, der Vereinten Nationen und der Nichtregierungsorganisationen an ihre Grenzen.

Krise, Krieg, Ursachen

Von Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen sind bereits die Stimmen für Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen zu hören. Die Inflation senkt die Löhne und Gehälter, aber auch die notwendigen Ausgaben für das Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, ganz zu schweigen von den Zusagen der Weltgipfel zur Bekämpfung des Klimawandels.

Der Krieg, den der russische Imperialismus im Februar 2022 gegen die Ukraine begonnen hat, die Reaktion der NATO und der G7-Imperialist:innen, Waffenlieferungen in noch nie dagewesenem Umfang und weitreichende Wirtschaftssanktionen haben zusammen die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln und Treibstoffen destabilisiert und bedrohen Millionen Menschen mit dem Zusammenbruch ihres ohnehin schon geringen Lebensstandards.

Die Ukraine, die im Jahr 2020 das niedrigste Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Europa aufwies, wird nach Angaben der Weltbank voraussichtlich einen Rückgang ihrer Wirtschaft um 35 Prozent erleben. 14 Millionen Menschen sind aus ihren Häusern vertrieben worden, 7,6 Millionen aus dem Land geflohen.

Es wird Jahre dauern, bis die zerstörten Wohngebäude, Fabriken, Krankenhäuser, Verkehrsverbindungen, Kraftwerke und das Stromnetz wieder aufgebaut sind. Obwohl der Krieg unmittelbar vom russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem diktatorischen Regime zu verantworten ist, um ihren Großmachtstatus zu behaupten, versuchen die NATO-Mächte seit langem, die Ukraine in ihre Einflusssphäre zu ziehen, indem sie sie mit einem EU- und NATO-Beitritt locken. Die Ukraine ist das Opfer dieser zwischenimperialistischen Rivalität.

Da die Ukraine einen Großteil der weltweiten Weizen-, Mais- und Gersteproduktion und einen noch größeren Teil der weltweiten Düngemittelversorgung abdeckt, haben der Krieg und die Unterbrechung der Lieferungen aus Russland sowie der Öl- und Gasversorgung der weltweiten Inflation einen enormen Auftrieb verliehen. Die Ukraine ist auch eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern mit Nahrungsmitteln versorgt, wodurch in Teilen Afrikas, die bereits von der durch den Klimawandel bedingten Dürre betroffen sind, eine Hungersnot verursacht zu werden droht.

Hunger war schon oft der Auslöser für Revolten und Revolutionen. Lebensmittelunruhen haben zu Streikwellen und dem Zusammenbruch von Regierungen geführt, wie in Sri Lanka und Haiti.

Der Krieg und die weltweiten Sanktionen lenken auch Ressourcen ab, die für die Bewältigung der wachsenden Klimakrise benötigt werden, die sich am deutlichsten in den katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan, in Dürren und Hungersnöten in ganz Afrika und in zunehmend störenden Wetterereignissen in Europa, Asien, Australien und Nordamerika äußert. Hinzu kommt der enorme Druck, den die immer noch nicht erloschene Covid-Pandemie auf die Gesundheitsdienste und die Volkswirtschaften ausübt, einschließlich China, dessen jährliches Bruttoinlandsproduktwachstum Prognosen zufolge 2022 auf 3,2 Prozent fallen wird.

Die tiefen Wurzeln der heutigen, miteinander verknüpften Krisen sind in den Grundgesetzen der kapitalistischen Wirtschaft zu finden. Die Fabriken, ihre qualifizierten Arbeitskräfte, die neuen und alten Produktions-, Logistik- und Kommunikationsmittel sind in Hülle und Fülle vorhanden, ebenso wie die wissenschaftlichen und technologischen Mittel zur Bekämpfung von Pandemien und Klimawandel. Die Instrumente für die globale Planung, die zu ihrer Bekämpfung erforderlich sind, stünden ebenfalls zur Verfügung, und zwar in den multinationalen Konzernen und den riesigen Banken, aber sie sind durch Privateigentum und eine erbitterte Konkurrenz voneinander getrennt. Dieser Widerspruch hat sich während der Pandemie gezeigt: einerseits die rasche Entwicklung von Impfstoffen, andererseits deren ungleiche Verteilung an die Bevölkerungen unseres Planeten. Im Herbst 2022 haben 31 Prozent der Bevölkerung noch keine einzige Impfung erhalten.

Die grundlegende Ursache für die Krise des Systems liegt in der massiven Überakkumulation von Kapital und sinkenden Profitraten in allen imperialistischen Zentren der Weltwirtschaft. Da der Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Profite aus der Produktion in gleichem oder höherem Maße zu realisieren als in der Boomphase der Globalisierung, könnte er seine Krise nur durch eine massive Vernichtung dieses überschüssigen Kapitals lösen. Alle großen imperialistischen Akteur:innen, die USA, China, die europäischen Mächte und Japan, haben jedoch eine solche Vernichtung vermieden, indem sie ihr Kapital und dessen Position auf dem Weltmarkt verteidigt haben. Dies führt nicht nur zu Protektionismus und einer Zersplitterung des Weltmarktes, sondern wirft auch die Frage auf, wessen Kapital vernichtet werden soll, welche untrennbar mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist.

Der Kapitalismus hat sich zu einem globalen System des Umweltimperialismus entwickelt. Die Ausbeutung der halbkolonialen Länder wird systematisch und ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen verschärft, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu steigern.

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur eingedämmt und umgekehrt werden, wenn die Kontrolle über die Produktion aus den Händen der großen Kapitalformationen genommen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Die vielen „Umweltbewegungen“, die entstanden sind, müssen über den Protest hinausgehen, über den Versuch, kapitalistische Regierungen zu überzeugen oder gar zu zwingen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Regierungen werden niemals das Kapital in dem Umfang enteignen, der notwendig wäre, um die rasante Entwicklung hin zur Klimakatastrophe umzukehren. Das ist eine Aufgabe, die das Handeln der Arbeiter:innenklasse aller Länder erfordert, die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiter:innenmassen.

Zwischenimperialistische Rivalität

Die Liga für die Fünfte Internationale hat davor gewarnt, dass eine neue Periode der Rivalität zwischen den alten imperialistischen Mächten und den Neuankömmlingen auf der Bühne, die nun ihren Platz an der Sonne beanspruchen, in einen offenen Konflikt münden könnte. Die Ära der wohlwollenden Synergie zwischen den USA und China, die die 1990er und frühen 2000er Jahre kennzeichnete und den Anspruch Washingtons untermauerte, eine neue Weltordnung geschaffen zu haben, ist längst vorbei. Jetzt erleben wir nicht nur einen Verdrängungswettbewerb, sondern auch Handelskriege, einen kalten Krieg und stellvertretende „heiße“ Kriege.

Darüber hinaus droht jedoch ein Krieg zwischen den Großmächten, wobei die „Pulverfässer“ in Osteuropa, im Nahen und Fernen Osten liegen. Neue Bündnisse werden ins Leben gerufen (AUKUS) und alte aufgewertet (NATO, die Quad; Quadrilateraler Sicherheitsdialog zwischen den USA, Australien, Indien und Japan). Riesige Waffenlieferungen an die Ukraine haben das offene Ziel, Putin zu demütigen und stürzen, während die Demonstration der Seemacht in den Meeren um China dessen Staatschef Xi Jinping davor warnt, sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben.

Die Machthaber:innen in Washington, Berlin, Paris und London, aber auch in Peking und Moskau, spielen mit dem Feuer. Die Rolle der USA als Polizistin einer „Weltordnung“ verkehrt sich in ihr Gegenteil, in die einer Brandstifterin.

Der US- und der russische Präsident, Biden und Putin, die beide beweisen wollen, dass ihre Staaten wieder „Großmächte“ sind, haben kein Recht, sich zu beschweren, wenn sie von „starken Männern“ in Delhi, Ankara, Brasilia, Jerusalem oder Riad nachgeahmt werden. Der Nahe Osten ist seit langem ein Pulverfass, im Irak, in Syrien, im Jemen. Kriege haben sich bis zum Horn von Afrika ausgebreitet, wo 2022 in Tigray (Nordäthiopien) ein brutaler Krieg wütet. Saudi-Arabien führt einen mörderischen Krieg im Jemen, Israel einen Dauerkrieg gegen die Palästinenser:innen und die Türkei hat freie Hand, die kurdische Region Rojava zu bombardieren oder gar eine Invasion und Besetzung vorzubereiten. In Russlands vermeintlicher Einflusssphäre sind im Kaukasus Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und in Zentralasien zwischen Kirgisistan und Tadschikistan ausgebrochen.

Die despotischen Herrscher:innen dieser Gebiete versuchen, den inneren Druck durch Kriege und ethnische Säuberungen zu lösen, wie sie Jugoslawien in den 1990er Jahren zerrissen haben. Potenzielle „Friedensstörer:innen“ tauchen auch in Europa auf, mit rechtsgerichteten Parteien an der Macht in Ungarn, Polen und möglicherweise in Schweden, Italien oder Spanien. Auch weltweit wird die Liste immer länger.

Ein großer Erfolg der extremen Rechten ist die Eroberung der Republikanischen Partei durch Donald Trump und ihre Umwandlung in eine rechtspopulistische Partei. Schon jetzt setzt sein Oberster Gerichtshof eine reaktionäre Agenda gegen Frauen um (Aufhebung des Urteils Roe gegen Wade) und wird über kurz oder lang Farbige ihrer hart erkämpften Bürger:innenrechte berauben.

Hinter diesen autoritären Führer:innen wuchsen im letzten Jahrzehnt reaktionäre, oft rassistische Massenbewegungen, die sich gegen Minderheiten richten und sich unter den Bedingungen einer tiefen und lang anhaltenden sozialen Krise zu ausgewachsenen faschistischen Bewegungen entwickeln können.

Amerikas strategischer Rivale ist, trotz des Konflikts mit Russland über die Ukraine, China. Sein wirtschaftlicher Aufstieg und sein Auftauchen als neue imperialistische Macht im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends führten unweigerlich dazu, dass es die „einseitige“ globale Hegemonie der Vereinigten Staaten in Frage stellte und unter Xi Jinping offen Anspruch auf seine eigene Einflusssphäre erhob. Dies brachte ihm die Sympathie von Staaten ein, die unter der Hegmonie der USA durch den Internationalen Währungsfonds und andere Instrumente ihrer finanziellen Vorherrschaft gelitten hatten, ganz zu schweigen von Sanktionen und Blockaden.

Um die Errichtung einer chinesischen Vorherrschaft über die pazifischen Staaten zu verhindern, die an die Stelle der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Hegemonie tritt, versuchen die USA und ihre britischen, kanadischen, australischen und neuseeländischen Verbündeten, eine NATO für den Pazifik zu schaffen, indem sie unter den südostasiatischen Staaten Verbündete suchen, die sie ihren japanischen, südkoreanischen und taiwanesischen „geschützten“ Verbündeten hinzufügen. Der „Ozean des Friedens“ könnte in den nächsten zehn Jahren durchaus zu einem Kriegsschauplatz ausarten.

Im Inland ist Xis raue Behandlung von Teilen der Bourgeoisie (wie Jack Ma, dem Gründer des Technologieriesen Alibaba) ein Zeichen dafür, dass Teile der Großbourgeoisie gegen seine restriktive Innenpolitik resistent werden. Auf globaler Ebene hat seine aggressivere Haltung eine Gegenreaktion aus den USA und Europa hervorgerufen, die deren Ambitionen ebenfalls bremst. So tut sich ein großer Widerspruch auf zwischen der durch die KP China gestellten Staatsbürokratie, die im staatskapitalistischen Sektor sowie in der Volksbefreiungsarmee noch immer über große wirtschaftliche Macht verfügt, und der von Milliardär:innen geführten Klasse des Privatkapitals. Dieser Widerspruch kann sich zu einem offenen Konflikt ausweiten, der eine Komponente einer revolutionären Situation darstellt – eine herrschende Klasse, die nicht mehr auf die alte Art und Weise regieren kann. Auch im Bankensystem gibt es Anzeichen für Unzufriedenheit.

Wenn die arbeitenden Massen nicht bereit sind, in der alten Weise weiterzumachen, wenn das System nicht in der Lage ist, den verbesserten Lebensstandard der 1980er bis in die 2010er Jahre hinein weiter zu gewährleisten, könnte dies dazu führen, dass Chinas „großer Führer“ mit seinem eigenen „perfekten Sturm“ innerhalb des riesigen Landes konfrontiert wird. Das kapitalistische Wachstum der letzten Jahrzehnte bringt zwangsläufig kapitalistische Krisen hervor. Der Rückgang der Durchschnittsprofitrate und die Überakkumulation von Kapital treiben China auf eine Explosion zu. Hinzu kommen die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Null-Covid-Politik, die weite Teile des Landes geschwächt hat, sowie die Krise des Finanzsektors und eine Spekulationsblase in dem so wichtigen Bausektor.

Seit einigen Jahren erschüttern Konflikte und Kämpfe die Arbeitsplätze und haben immer wieder zur Bildung kleinerer Netzwerke von Arbeiteraktivist:innen geführt. Die massiven und weit verbreiteten Proteste gegen Xis harte Null-Covid-Politik haben nur etwa einen Monat nach seiner Krönung auf dem Kongress der KP Chinas einen demütigenden Rückzieher erzwungen. Das Ausmaß der Proteste in Chinas Städten und die Anti-Xi- und Anti-KP-Slogans zeigen, dass die vermeintliche Allmacht des Überwachungsregimes in den kommenden Jahren erheblichen Erschütterungen ausgesetzt sein wird.

Dies kann den Raum für die Schaffung einer neuen revolutionären Arbeiter:innenbewegung, ja einer Partei schaffen, die ihren Hauptfeind im chinesischen Imperialismus erkennt und für eine sozialistische Revolution auf der Grundlage eines Programms der permanenten Revolution kämpft.

Der Widerstand und seine Führung

Die Große Rezession von 2008 löste im Nahen Osten eine Welle „demokratischer Revolutionen“ aus, bei denen Arbeiter:innenstreiks wie in Ägypten und Tunesien eine entscheidende Rolle beim Sturz der alten Diktatoren spielten. Da diese jedoch nicht „dauerhaft“ in dem Sinne wurden, dass die politische Führung der Arbeiter:innenklasse in Arbeiter:innenregierungen mündete, scheiterten sie selbst als demokratische Revolutionen, so dass islamistische oder militärische Kräfte an die Macht kommen konnten. Die lange US-geführte Besatzung Afghanistans endete mit einer Saigon-ähnlichen „panikartigen Flucht“ durch die westlichen Streitkräfte und diejenigen, die Vergeltung durch die siegreichen Taliban befürchteten. Die wahren Opfer waren die Frauen des Landes, die ihre Bürger:innenrechte und ihren Zugang zu Bildung erneut eingeschränkt oder abgeschafft sahen.

Die Lehre für alle fortschrittlichen Kräfte im so genannten globalen Süden lautet einmal mehr, ihr Vertrauen, ihre Menschenrechte und ihr Leben nicht in die Hände der „demokratischen Imperialismen“ zu legen. Ebenso ist es eine Illusion zu glauben, dass Xi Jinping und Wladimir Putin und ihre Nachahmer:innen an der Spitze der Regionalmächte den Antiimperialismus verkörpern. Die Investitionen in die Neue Seidenstraße („Road and Belt“; „Gürtel- und Wege“) des ersteren sowie die Söldner:innen der russischen Wagnergruppe zeigen, dass sie nicht an der Entwicklung der Souveränität derjenigen interessiert sind, denen sie helfen.

Dennoch hat es im letzten halben Jahrzehnt eine Wiederbelebung der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und der rassistisch und sexuell Unterdrückten gegeben. In den USA hat die „Back Lives Matter“-Bewegung mehrere Wellen erlebt, ausgelöst durch die Gräueltaten durch Mörder:innen in Polizeiuniform, insbesondere die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020. Außerdem gab es die Bewegungen „#Me Too“ und „Ni Una Menos“ gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung.

Das inspirierendste Beispiel für den Widerstand der Frauen sind die monatelangen Massenproteste im Iran, die auf die Ermordung der 22-jährigen Jina Mahsa Amini durch die berüchtigte Sittenpolizei folgten, die die Kleiderordnung durchsetzt. Das Durchschnittsalter der Demonstrant:innen lag bei sechzehn Jahren. Als sich die Proteste ausbreiteten, rissen sich junge Frauen ihre Schleier vom Leib und riefen „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit!) und „Tod dem Diktator!“ Trotz brutaler Unterdrückung und Hunderten von Toten, wobei die Basidsch-Schläger:innen der Polizei (paramilitärische Milizen) scharfe Munition einsetzten, hielt die Bewegung im Oktober, November und Dezember an. Um die Massen zu beschwichtigen, kündigte Generalstaatsanwalt Montazeri an, die Sittenpolizei abzuschaffen und das Gesetz über das obligatorische Tragen des Hidschab zu überprüfen. Über die staatlichen Medien dementierte das Innenministerium diese Ankündigung, was auf Uneinigkeit innerhalb des Regimes hindeutet.

Wie die Demonstrationen in China gegen die Covid-Lockdownregeln, die das Regime dazu veranlasst haben, diese zu lockern, zeigt dies, dass selbst die totalitärsten Regierungen durch Massenproteste der Bevölkerung erschüttert werden können. Um diese Regime zu stürzen, bedarf es jedoch einer anhaltenden Massenaktion der Arbeiter:innen, d. h. eines Generalstreiks, des Überlaufens der Mannschaftsränge der Repressionskräfte in Verbindung mit der Bildung einer alternativen Staatsmacht, von Machtorganen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten.

In Indien traten am 2. September 2016 schätzungsweise 150 bis 180 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in einen 24-stündigen landesweiten Generalstreik. An einem weiteren Streik am 26. November 2020, der von zehn Gewerkschaften organisiert wurde, beteiligten sich 250 Millionen Arbeiter:innen.

Seit etwa einem Jahr gibt es auch in den alten imperialistischen Kernländern, in Europa und Nordamerika, wieder Anzeichen für eine Wiederbelebung des Widerstands im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Proteste gegen gewerkschafts- und streikfeindliche Gesetze, wie sie in diesem Jahr in Ontario, Kanada, drohten. Insbesondere in den Vereinigten Staaten gab es eine Welle von Streiks in Fabriken, Schulen und in der Logistik sowie gewerkschaftliche Kampagnen in den neuen Onlinedienstleistungsunternehmen wie Amazon und der so genannten Gig Economy (kurze, befristete Auftragsvergabe).

Lehrer:innenstreiks sind zu einem wichtigen Merkmal der US-Arbeitswelt geworden. 2018 und 2019 gab es Mobilisierungswellen, mit denen höhere Gehälter oder andere Verbesserungen für Lehrkräfte in Arizona, Colorado, Kentucky, North Carolina, Oklahoma und West Virginia erreicht wurden. Dann kam der berühmte Bildungspersonalstreik in Chicago im März 2022.

Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland hat der Inflationsanstieg, der im Jahr 2022 so richtig losging, zu einer Reihe von Streiks bei Bahn und Post geführt. Die Gewerkschaften des Gesundheitswesens drohen mit dem ersten landesweiten Ausstand des Krankenpflege- und Ambulanzpersonals seit den 1980er Jahren. Auch in Frankreich kündigen eine Reihe von Protesten der französischen Gewerkschaften gegen die Lebenshaltungskosten und die laufenden Aktionen der Eisenbahner:innen eine verstärkte Reaktion auf die Inflation und den Versuch der Bosse und Regierungen an, die Arbeiter:innenklasse und Armen den Preis für die zunehmende Krise des Systems zahlen zu lassen.

Im August und September desselben Jahres zwangen Massenaktionen, die von den argentinischen Gewerkschaften der CGT und linken politischen Parteien organisiert wurden, Regierung und Arbeit„geber“:innen, Löhne und Arbeitslosenunterstützung zu erhöhen, nachdem die Preise um 70 Prozent pro Jahr und allein im Juli um 7,4 Prozent gestiegen waren und ein Währungsverfall die Löhne weiter abgewertet hatte.

In all diesen Auseinandersetzungen kam es nach einem jahrzehntelangen Abschwung der Arbeitskämpfe zu einem Wiederaufleben der Militanz der Arbeiter:innenschaft. Nach den Niederlagen, Enttäuschungen und dem Verrat durch neue oder erneuerte sozialdemokratische oder linkspopulistische Parteien wie Syriza, Podemos, Jeremy Corbyns Labour und DIE LINKE stimuliert eine bevorstehende schwere Wirtschaftskrise einen gewerkschaftlichen Kampf auf der ganzen Welt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die eine wirklich klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung spielen kann.

Die Frage ist, ob sie zu einer entscheidenden Kraft werden kann, um die Masse der Arbeiter:innen zu klassenkämpferischer Politik, zu neuen Arbeiter:innenparteien zu bewegen, wie es die Power Loom Workers‘ Union in Faisalabad in Pakistan versucht. Politische Projekte, die Idee, laute und stolze Klassenparteien zu gründen, unabhängig von allen bürgerlichen Kräften, bewaffnet mit einem revolutionären Programm, können zu einer mächtigen Ergänzung der Effektivität auf der gesamten Kampffront der Arbeiter:innen und der Kämpfe der national, rassisch und geschlechtlich Unterdrückten werden.

Aus diesem Grund ist es die Aufgabe der revolutionären Avantgarde, sowohl in den Gewerkschaften als auch in den revolutionären Organisationen, die Idee der Gründung unabhängiger Arbeiter:innenparteien voranzutreiben. Dazu gehört auch die Abspaltung der Gewerkschaften von Bündnissen mit bürgerlichen Parteien, wie z. B. zwischen der Demokratischen Partei und den AFL-CIO/Change to Win-Verbänden in den USA oder in Argentinien die Notwendigkeit, die CGT und andere Gewerkschaften aus ihrer langen Unterordnung unter die peronistische Partei zu lösen.

An allen Fronten des Kampfes werden wir jedoch immer wieder durch die Unzulänglichkeiten und den Verrat der alten Führungen in den Gewerkschaften und Parteien und sogar der „spontanen“ Bewegungen gebremst. Sozialdemokratie, Labourismus, Stalinismus, aber auch die neuen Linkspopulist:innen und Anarchist:innen führen die Kämpfe weiterhin in die Niederlage. Wir müssen für eine klare revolutionäre Strategie und Organisation streiten, für Parteien und klassenkämpferische Gewerkschaften und, in Zeiten verschärfter wirtschaftlicher oder politischer Kämpfe, für in den Betrieben und Gemeinden gewählte Delegiertenräte. Auch in diesen Gremien ist eine revolutionäre Partei für den Sieg unerlässlich.

Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, kämpferische Aktion und Basisdemokratie sind in der kommenden Periode unverzichtbar. Sie können der Entwicklung von revolutionären Parteien auf internationaler Ebene und einer Fünften Internationale enorm helfen.

Nein zum imperialistischen Krieg!

Der Krieg in der Ukraine ist der dramatischste Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Revolutionär:innen verurteilen den reaktionären Angriff und die Invasion des Landes durch den russischen Imperialismus. Wir unterstützen die Verteidigung des Landes gegen eine Machtübernahme durch Putins Kräfte, das ursprüngliche Ziel, das er erklärt hat, indem er das Recht des Landes auf unabhängige Staatlichkeit und sogar seine nationale Existenz ablehnte, sowie gegen das weniger wichtige Ziel der Teilung des Landes. Aber die imperialistischen Freund:innen der Ukraine liefern keine beispiellosen Mengen an Waffen sowie Zuschüsse und Kredite für solch elementare demokratische Ziele. Während Putin die Ukraine oder einen Teil davon in eine russische Kolonie verwandeln will, versuchen Biden und die europäischen Staats- und Regierungschefs und -chefinnen, sie in eine Halbkolonie des Westens zu verwandeln, in eine Vorhut der NATO. Putin will EU und NATO schwächen und spalten, während Biden und Co. die Russische Föderation als Großmacht lahmlegen und ihre Rolle als Spielverderberin für ihre Pläne in Ländern wie Syrien oder Afrikas südlich der Sahara beenden wollen.

In der Ukraine findet nicht nur ein nationaler Verteidigungskrieg gegen den Imperialismus statt, sondern das Land steht auch im Mittelpunkt des aktuellen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Obwohl die NATO nicht offiziell in den Krieg verwickelt ist, ist der zwischenimperialistische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten ein entscheidender Faktor in diesem Krieg, wobei die westlichen Imperialist:innen Wirtschaftssanktionen von historischem Ausmaß gegen Russland verhängen und die Ukraine bewaffnen und ausbilden, damit sie als ihre Stellvertreterin agiert.

Deshalb müssen sich Revolutionär:innen gegen die Kriegsziele der NATO, ihre Sanktionen, ihre Aufrüstungsbemühungen und ihre Ausdehnung auf bisher offiziell neutrale Staaten wie Schweden und Finnland wenden. Auch wenn wir den Kampf der Ukrainer:innen gegen die russische Invasion unterstützen, bedeutet dies keineswegs, dass wir die prowestliche Selenskyj-Regierung oder ihr Bestreben, der NATO beizutreten bzw. ihre Wirtschaft der EU unterzuordnen, unterstützen, ebenso wenig wie ihren Kampf, ihr Regime auf der Krim, in Luhansk oder Donezk durchzusetzen, die nicht demokratisch den Wunsch geäußert haben, Teil der Ukraine (oder Russlands) zu sein. Die Menschen in diesen Regionen müssen das Recht auf Selbstbestimmung haben, ohne dass russische oder westukrainische Besatzer:innen sie zwingen oder die Ergebnisse von Referenden oder Wahlen verfälschen.

Ebenso müssen wir uns der Politik der Konfrontation des westlichen imperialistischen Blocks mit dem russischen und chinesischen Imperialismus widersetzen, die unter der falschen Flagge von Demokratie gegen Autokratie geführt wird. Dieser Beginn eines neuen Kalten Krieges wird die Menschheit immer näher an einen Dritten Weltkrieg heranführen, der leicht ihr letzter sein könnte. Die gleichen Prinzipien würden gelten, wenn China in Taiwan einmarschieren würde. Sowohl Xi Jinping als auch die Kräfte im US-Kongress bewegen sich in diese Richtung. Es ist von entscheidender Bedeutung zu verfechten, dass die Arbeiter:innenbewegungen und antiimperialistischen Kräfte auf der ganzen Welt sich nicht dem einen oder anderen imperialistischen Lager anschließen. Vielmehr müssen wir die Verbindung zu den Arbeiter:innen Russlands und Chinas sowie zu den Arbeiter:innen und Streiter:innen für Demokratie in den vielen Diktaturen suchen, die mit dem westlichen Lager verbündet sind.

Gegen Inflation, Hunger und Armut!

Schon jetzt hat die globale Rezession, die durch die Pandemie synchronisiert wurde, in den Jahren 2020 und 2021 zu einer massiven Verarmung der Arbeiter:innenklasse und der Armen geführt, insbesondere in der halbkolonialen Welt. Schon vor dem Krieg in der Ukraine litten 800 Millionen Menschen an Hunger, Millionen sind vom Hungertod bedroht.

Und es wird noch mehr kommen. Die Inflation, die im globalen Süden nie „verschwunden“ war, ist in den imperialistischen Kernländern zurück. Die nächste globale Rezession steht bereits vor der Tür.

Milliarden von Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen sowie Armen auf dem Land und in der Stadt wurden auf schmale Rationen gesetzt. In den Halbkolonien genossen die meisten von ihnen während der Pandemie kaum Gesundheitsschutz oder staatliche Unterstützung und waren gezwungen, unter unsicheren und äußerst prekären Bedingungen zu arbeiten oder zu hungern. Auch in den imperialistischen Ländern mussten die Massen trotz Kurzarbeiter:innengeld oder anderer staatlicher Schutzmaßnahmen erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Gleichzeitig wurden die Großkonzerne und andere Sektoren des Kapitals während der Pandemie und jetzt des Krieges und der Sanktionen mit Milliardenbeträgen entschädigt.

Während die westlichen Regierungen Unterstützung für die Hungernden versprechen, zwingen sie den halbkolonialen Ländern, die bereits mit Hyperinflation, Währungskrisen und einer immer größeren Schuldenlast zu kämpfen haben, drastische neoliberale Bedingungen auf.

Wir brauchen eine globale Bewegung der Arbeiter:innenklasse und der Armen, um für ein Notprogramm für Millionen von Menschen zu kämpfen, um Einkommen, Lebensmittel, Wohnraum, Strom und Gesundheitsversorgung für alle zu garantieren. Wir setzen uns für die Aufhebung der vom Internationalen Währungsfonds oder von den alten und neuen imperialistischen Mächten auferlegten Schulden und Sparprogramme ein.

Wir müssen die Kämpfe für Löhne, die die Preissteigerungen ausgleichen, unterstützen und verallgemeinern. Die Durchsetzung einer gleitende Skala der Löhne, Sozialleistungen und Renten wird entscheidend sein. Dies muss mit der Forderung nach Kontrolle der Preise und Löhne durch die Arbeiter:innenklasse verbunden sein.

In Ländern, in denen der Preisanstieg die Form einer Hyperinflation annimmt, die die Lohnerhöhungen fast täglich oder wöchentlich auffrisst, und in denen das Geld selbst so schnell an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr erfüllen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Notwendig sind nicht nur Preiskontrollausschüsse, sondern direkte Eingriffe der Arbeiter:innenschaft und Verbraucher:innen in die Verteilung der lebensnotwendigen Güter für die Bevölkerung.

Angesichts der globalen Krise, der Inflation und der Angriffe auf die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, mit denen wir in der kommenden Krise konfrontiert sein werden, dürfen wir es nicht versäumen, die grundlegende Ursache der Krise anzugehen: das in den Händen der Kapitalist:innen konzentrierte Privateigentum. Wenn wir die Arbeitslosigkeit, den sozialen Rückschritt, Mangel und Hunger bekämpfen, die Gesellschaft entsprechend den menschlichen Bedürfnissen umgestalten und gesellschaftlich nützliche Arbeit für alle schaffen wollen, müssen wir die Eigentümer:innen des Großkapitals, ihre Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser entschädigungslos enteignen. Nur auf einer solchen Grundlage können wir die Mittel freisetzen, die für einen Notfallplan benötigt werden, um die Bedürfnisse der Millionen von Menschen zu befriedigen, die von Hunger und extremer Armut bedroht sind.

Kampf gegen Umweltkatastrophe und Umweltimperialismus

Die Verschlechterung und Zerstörung der Umwelt und natürlichen Ressourcen geht ungebremst weiter und wird immer bedrohlicher. Die Zunahme extremer Wetterereignisse, nie dagewesene zerstörerische und häufige Stürme, Überschwemmungen und Waldbrände, die Zunahme von Dürren, das Schmelzen der Eiskappen und Gletscher, das zu einem Anstieg des Meeresspiegels führen und viele Regionen oder ganze Länder mit Überschwemmung bedrohen wird, all dies sind Anzeichen für den fortschreitenden Klimawandel auf der Erde.

Gleichzeitig erweisen sich die herrschenden Klassen aller Länder als völlig unfähig, auch nur die brennendsten und unmittelbarsten Fragen anzugehen, wie die Weltklimakonferenz COP27 einmal mehr bewiesen hat. Dies ist nicht überraschend. Die derzeitige Verschärfung der globalen Konkurrenz und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt beschleunigen die Tendenz des Kapitalismus, die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens zu zerstören. Die Ausbeutung in den halbkolonialen Ländern wird systematisch verschärft, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu steigern. Alle Merkmale des Umweltimperialismus als globales System stellen die Menschheit als Ganzes vor unaufschiebbare Aufgaben.

Die globalen Umweltbewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, haben immer wieder den Zynismus und die Heuchelei der führenden Politiker:innen der Welt entlarvt. Millionen folgten den Aufrufen zu weltweiten Klimastreiks und -märschen, bei denen mutige Aktivist:innen durch radikale direkte Aktionen einen Wandel erzwingen wollten.

Revolutionär:innen müssen sich mit diesen Bewegungen solidarisieren, aber gleichzeitig die reformistischen, kleinbürgerlichen und anarchistischen Ideen, die sie prägen, in Frage stellen. Proteste, wie militant oder störend sie auch sein mögen, werden unsere Herrscher:innen nicht davon überzeugen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie ihre Profite oder ihre Vorherrschaft über ihre Länder bedrohen oder sie gegen wirtschaftliche oder militärische Konkurrenz schwächen. Wir müssen die Jugend für eine Antwort der Arbeiter:innenklasse auf die Umweltkrise, für Arbeiter:innenmacht und eine Planwirtschaft gewinnen. Die Jugend muss die Selbstgefälligkeit und Passivität der bürokratischen Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien sowie die Unterordnung der notwendigen Maßnahmen zur Lösung der Umweltfrage unter die Interessen des Kapitals in Frage stellen.

Klimawandel und Umweltschäden können nur eingedämmt und rückgängig gemacht werden, wenn die Kontrolle über die Produktion den großen Kapitalformationen entzogen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Es müssen demokratische Kontrollgremien aus Beschäftigten, Verbraucher:innen, Betroffenen von Großprojekten, um ihre Zukunft kämpfenden Jugendlichen usw. gebildet und ermächtigt werden, über Vorhaben, Risikostufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen usw. zu entscheiden. Das Kapital muss systematisch mit einer sozialen Kontrolle hinsichtlich der sozioökologischen Auswirkungen seines Handelns konfrontiert werden. Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und eine geplante optimale Ressourcennutzung unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen.

Zusammenfassung

Die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die Klimakatastrophe und die Gefahr eines globalen Krieges zeigen, dass der Kapitalismus ein sterbendes System ist. Die entscheidende Frage ist, ob er rechtzeitig durch eine revolutionäre Umwälzung überwunden wird oder die Menschheit den Weg in Barbarei und sozialen Rückschritt beschreitet.

Schon jetzt sind die Stimmen von Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen zu hören, die von Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen sprechen. Durch die Inflation werden nicht nur die Löhne gekürzt, sondern auch die notwendigen Ausgaben für Gesundheit, Sozialfürsorge und Bildung, ganz zu schweigen von den Zusagen der Weltgipfel zur Bekämpfung des Klimawandels.

Während Milliarden von Menschen in Armut leben, schwelgt eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus. Zwischen 2016 und 2021 ist die Zahl der Milliardär:innen von 1.810 auf 2.755 gestiegen. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Gleich unter den Milliardär:innen leben Hunderttausende von Multimillionär:innen in schamlosem Saus und Braus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und täglich mehr als 1.000 Kinder an den Folgen des Hungers sterben.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in nationalen Aufständen müssen Revolutionär:innen stets die Notwendigkeit einer neuen Internationale betonen. Dabei treten wir von Anfang an für ein revolutionäres Programm ein, ohne dies jedoch zur Vorbedingung für echte Schritte zur Vereinigung und zum Widerstand gegen Krisen und Kriege im Hier und Jetzt zu machen.

Wir rufen alle, die gegen Krise, Krieg und Unterdrückung kämpfen, dazu auf, auf die Verabschiedung eines gemeinsamen Aktionsprogramms mit dringenden Sofort- und Übergangsforderungen hinzuarbeiten, das in Richtung einer sozialistischen Weltrevolution führt. Wir rufen alle sozialistischen, kommunistischen und trotzkistischen Strömungen, die mit dieser Perspektive übereinstimmen, dazu auf, gemeinsam ein internationales Programm für eine revolutionäre Antwort auf die bevorstehenden Angriffe zu erarbeiten und sich darauf zu vereinigen.

In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Krise des Systems erschüttert wird, müssen wir uns organisieren, um den Kapitalismus in den Abgrund zu stürzen. Unsere Prinzipien sind Unabhängigkeit der Arbeiter:innenkasse, internationale Solidarität und Aktion, Antikapitalismus, Antiimperialismus, Antirassismus und Widerstand gegen alle Formen der sozialen Unterdrückung. Sie müssen in einer Weltpartei der sozialen Revolution verkörpert werden, die das gesamte Erbe der vorangegangenen vier Internationalen vereinigt.

Weltrevolution, und nichts weniger, das muss die Aufgabe einer Fünften Internationale sein!




Fahrplanwechsel: 0,1 % Verkehrswende und ein halbes Stuttgart 21

Leo Drais, Infomail 1206, 11. Dezember 2022

Alle Jahre wieder treten zum zweiten Dezembersonntag neue Netzfahrpläne für Busse und Bahnen in Kraft. Wohin geht die Reise? Etwa in Richtung Verkehrswende? Ein Eisenbahner skizziert.

Mehr und teuerere Züge

Natürlich ist hier nicht der Raum, auf jede Regionalbahn, jeden Bus einzugehen (das merkt mensch ja auch selbst bei der täglichen Fahrt). Vielmehr geht es darum, einen allgemeineren Blick zu werfen, konkret: Gibt es mehr oder weniger ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) und SPFV (Schienenpersonenfernverkehr)? Was sollen sie kosten und wo liegen deren Probleme?

Im Fernverkehr werden einzelne Verbindungen verlängert, die Vergrößerung der Flotte wird fortgesetzt. Zwischen Stuttgart und Ulm wird eine Schnellfahrstrecke in Betrieb genommen, dazu unten mehr. Die Preise werden im Schnitt um 5 Prozent erhöht – bei 10 % Inflation kann das eigentlich niemanden überraschen.

Im Nahverkehr, der Sache von Verkehrsverbünden, sprich Ländern und Kommunen einerseits sowie Verkehrsunternehmen andererseits, ändert sich lokal unterschiedlich viel. In Berlin und Brandenburg tauschen beispielsweise ODEG und DB Regio verschiedene Linien. Erfahrungsgemäß können solche Umstellungen glattgehen oder wochenlang knirschen.

Egal, wie gut es laufen wird: Die Vergabe von Strecken an unterschiedliche Eisenbahnverkehrsunternehmen im Wettbewerb ist und bleibt eine Sinnlosigkeit, die einem Gesamtsystem Bahn schadet, und damit auch Reisenden. Es spricht kaum was gegen die Anschaffung neuer Züge (außer, dass es die bisher eingesetzten Fahrzeuge auch oft noch sehr gut tun), mit denen das Ganze oft garniert wird. Wohl aber sprechen viele gesamtgesellschaftliche Argumente gegen Wettbewerb im ÖPNV. Entgegen neoliberaler Fantasien bringt er keinen günstigeren Verkehr. Als Beispiel sei hier Abellio in Baden-Württemberg erwähnt, das mit einem unterfinanzierten Angebot Ausschreibungen gewonnen hatte – und dann insolvent ging. Der Staat sprang ein und half mit Steuergeldern. Ein anderes Beispiel aus den letzten Jahren ist das der S-Bahn Hannover: Weil DB-Regio hier die lukrative Ausschreibung verlor, wurde durch alle Instanzen geklagt – auch wieder auf Kosten von Steuergeldern. Zu guter Letzt bedeuten solche Umstellungen immer auch eine Belastung für Beschäftigte – bis hin zum Jobverlust oder Arbeitsortswechsel.

Überhaupt ist der Nahverkehr in Deutschland ein Zahlungsgerangel sondergleichen.

Die eine Hälfte sollen Fahrscheine einbringen, die andere Subventionen, also auch wieder: Steuergelder! Aus wessen Tasche die vor allem kommen? Immerhin sind Mehrwert- und Lohn-/Einkommensteuer, also Massensteuern, die größten Einnahmequellen. Bei all dem ist der Nahverkehr chronisch unterfinanziert, was auch alle Kolleg:innen in Bus, Tram und Zug in der eigenen Tasche spüren genauso wie die Bewohner:innen von Kleinkleckersdorf, die mit jedem neuen Verkehrsvertrag bangen, ob Zug oder Bus demnächst noch bei ihnen halten.

Jetzt soll das 49-Euro-Ticket als schlechter Ersatz fürs 9-Euro-Ticket kommen – nicht zum Fahrplanwechsel, sondern mit Glück vielleicht im Mai, dafür aber dauerhaft.

Auch hier gab‘s das übliche Finanzierungsgerangel zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Sollten letztere auf Finanzierungslücken sitzen bleiben, wird das Ticket zum Gegenteil aller Absichtsbekundungen führen: Dann werden Linien und Leistungen abbestellt, die Kleinkleckersdörfer:innen fahren Auto oder laufen.

Trotzdem: Zunächst mal ist das 49-Euro-Ticket im Vergleich zum tariflichen Flickenteppich, der seit dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets wieder herrscht, sicher ein Fortschritt, auch wenn es für Geringverdiener:innen viel zu teuer und von einer preislichen Verkehrswende weit weg ist. Einen wirklichen Fortschritt hätte eine Fortführung des 9-Euro-Tickets darstellen können oder noch besser: ein kostenloser Nahverkehr (das hätte übrigens auch viel gespart: Fahrkartenautomaten z. B.).

Wendlingen – Ulm: im Betonrausch

Die größte Änderung im deutschen Schienennetz stellt die Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke zwischen Wendlingen und Ulm dar. Für Reisende verkürzt sich damit die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm um 15 Minuten – vorausgesetzt sie sitzen in einem Zug mit passender Zugsicherung. Weil auf der Strecke das Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System) verbaut ist, kann der TGV Paris – München hier z. B. noch nicht fahren – seine Software passt nicht zu der der Strecke.

Lichthauptsignale hat man hier gespart genauso wie auf den Strecken Leipzig/Halle – Erfurt – Nürnberg vor einigen Jahren bereits. Solange ETCS funktioniert – kein Problem. Wenn es ausfällt, gibt es kein technisches Alternativsystem, es bleiben nur betriebliche Rückfallebenen.

Die Rennstrecke durch die Schwäbische Alb („durch“ im wahrsten Sinne) ist beispielhaft für die Art und Weise, wie Schienennetzausbau in Deutschland läuft. Während er ermöglicht, dass Fernzüge die enge, steile und langsame Geislinger Steige umgehen können, trifft das für Güterzüge nicht zu – die neue Strecke ist noch steiler als die alte. Das hat Tradition und ist zugegeben kein rein deutsches Phänomen. Sowohl die ICE-Neubaustrecken Köln – Frankfurt, Nürnberg – Ingolstadt wie auch Ulm – Wendlingen weisen eine zu große Längsneigung für Güterzüge auf. Zwischen Nürnberg und Leipzig wird es je nach Zuglast ziemlich früh auch eng.

Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, wie gesamtgesellschaftlich und ökologisch sinnvoll der milliardenschwere Schnellfahrstreckenbau überhaupt ist, vor allem, da er der einzige Neubau ist, den die Deutsche Bahn kennt.

Um 74 km wächst das deutsche Schienennetz in diesem Jahr – darunter die 60 km Wendlingen – Ulm. Letztes Jahr wuchs das Schienennetz gerade mal um 4,2 km, zwei kleine Nadelöhre in Frankfurt und Berlin wurden beseitigt. Im selben Jahr wuchs das Straßennetz um 10.000 km (Neu- und Ausbau).

Das Schienennetz ist seit der Bahnreform deutlich geschrumpft. Dem schleppenden Halbausbau des Kernnetzes steht der rapide Rückzug aus der Fläche gegenüber. Während die Güterverkehrsleistung seit 1994 auf der Schiene um 83 Prozent zunahm, schrumpfte das Netz um 15 %. Gleichzeitig wuchsen die Tunnelkilometer – allein seit 2015 um 70 km auf über 500 km im deutschen Netz.

Mitunter sind Tunnel natürlich unvermeidbar, besonders im Bahnbetrieb und hier besonders im Schnellverkehr. Zur Betrachtung gehören aber auch noch zwei andere Größen: Tunnelbau ist beton- und damit CO2-intensiv; und – mit jedem weiteren Kilometer steigt das statistische Risiko von Unfällen und Bränden in deren Röhren, dem Alptraum schlechthin. Bei vergangenen Unfällen war bereits viel Glück im Unglück dabei. Auch die neue Strecke ist tunnelreich.

Wem diese Art des Streckenbaus natürlich besonders viel bringt, ist der Bauindustrie. Im Ländle Baden-Württemberg sitzt mit Herrenknecht einer der Weltmarktführer im Geschäft mit Tunnelvortriebsmaschinen. Er war und ist einer der größten Fans von und Verdiener am tunnelintensiven Stuttgart 21. Das ist zwar offiziell ein eigenständiges Projekt, aber nur damit macht die Führung der neuen Strecke über Wendlingen überhaupt erst richtig Sinn. Eine Beseitigung der Geislinger Steige wäre mit deutlich weniger Tunnelstrecke und sogar für schwere Güterzüge einfacher möglich gewesen.

Blick in die Röhre: S21

Überhaupt, S21. 2025 soll es tatsächlich in Betrieb gehen. Der Bau mag ingenieurtechnisch noch so spektakulär (und pannenhaft) sein, bahnbetrieblich bleibt er problematisch bis schwachsinnig (Kapazitätsverringerung, Bahnsteigeigung, Gleisneigung in den Tunneln, ETCS ohne Lichthauptsignale als Rückfallebene, schwieriger Brandschutz, noch mehr schwer zu evakuierende Tunnel, Kappung der Gäubahn, Entfremdung des Reiseerlebnisses in der Unterwelt, kaum Ausweichmöglichkeiten im Störungsfall, so gut wie keine bahnbetriebliche Flexibilität, … ).

Von dem Projekt haben mittlerweile alle Verantwortlichen gesagt, dass sie es heute nicht mehr bauen würden. Gebaut wird‘s trotzdem! Man kann nicht anders, denn wo kämen wir hin, brächen wir laufende Verträge?

Dabei ist das Projekt weder zwangsläufig noch alternativlos. Bis heute werden von Ausbaugegner:innen sogar solche formuliert, die am Baustand ansetzen. Aber das ist alles längst gesagt im Autoland Deutschland. Geht S21 in Betrieb und wird der jetzige Bahnhof abgerissen, darf sich Stuttgart über den Status einer im Stadtbild eisenbahnfreien Großstadt freuen – insbesondere im Hause Daimler und Porsche wird das so sein.

Kleine und große Baustellen

Das allermeiste bleibt nach dem Fahrplanwechsel, wie es ist: gestört, verbaut und verspätet. Der Bahnbetrieb wie überhaupt der Nahverkehr sind unterfinanziert, und wo Geld ausgegeben wird, wird es im schwäbischen Boden vergraben.

All das ist eine politische Frage, denn das Geld ist da. Es müsste nur der Autoindustrie weggenommen werden, deren Enteignung nach wie vor eine Voraussetzung für eine echte Verkehrswende darstellt. Mit der FDP im Verkehrsministerium ist das natürlich unmöglich.

Bezeichnenderweise stellte VW (Volker Wissing) neulich die Finanzierung des zweigleisigen Ausbaus der Weddeler Schleife zwischen Braunschweig und Wolfsburg inmitten der Arbeiten daran (!) in Frage. Ist halt keine Autobahn …

Die aktuellen Probleme sind in Wirklichkeit dauerhafte, die eher noch größer werden. Bei der Bahn gehen in den nächsten 10 Jahren etwa 70 % der Betriebspersonale in Rente. Das aufzufüllen, wird der Staatskonzern DB mit seiner Vergütung und Personalpolitik nicht schaffen. Warum soll ich zur Bahn in den Schichtdienst, wenn ich bei BMW in der Fabrik das Doppelte kriege?

Gäbe es bei der Bahn nicht so extrem viele Schienennerds und Herzbluteisenbahner:innen, den Karren würde keine:r mehr aus dem Dreck ziehen.

Daneben lahmt der Netzausbau oder wird weiter nur in Projekten gedacht, die jenem unter der Alb ähneln (tunnelintensive Schnellfahrstrecke Hanau – Fulda – Gerstungen (vielleicht entsteht hier der längste Tunnel Deutschlands); Hannover – Bielefeld; Fernbahntunnel Frankfurt … ).

Dazu kommen planungsrechtliche Bremsen. Wenn z. B. das von der Bundesregierung formulierte und unzureichende Ziel einer 75 %igen Elektrifizierung im Schienennetz bis 2030 erfüllt werden soll, bedeutet das, 500 km Strecke jährlich mit Oberleitung zu versehen. Davon sind wir ewig weit entfernt. Das Problem geht hier bereits damit los, dass eine elektrische Aufrüstung rechtlich als Neubau gilt, ergo das komplette, langwierige Planfeststellungsverfahren durchlaufen werden muss. Wäre diese Regierung ernsthaft eine klimafreundliche, würde sie hier sofort ansetzen, das Planungsrecht für Elektrifizierungen entsprechend vereinfachen.

Aber sie ist keine Klimaregierung, wie der Kapitalismus auch kein klimafreundliches System ist.

System Bahn, in der Tat eine Systemfrage

Das Netz ist voll und kollabiert eigentlich täglich irgendwo. Eine Verkehrswende ist mit diesem Schienennetz nicht möglich. Zugleich ist die Vorstellung einer Verkehrswende auf Seiten der Konzernbosse und Regierung auch eine falsche.

Es muss nämlich nicht darum gehen, die heutigen Pendlerströme und Verkehrsmassen einfach auf die Schiene zu packen – zuerst bedeutet Verkehrswende Verkehrsvermeidung. Das aber kann nur eine demokratische Planwirtschaft leisten, eine Reorganisierung von Stadt, Land und Industrie. Alles andere bedeutet, dass ein Netz morgen immer zu klein ist. Das kapitalistische Wachstum lässt grüßen.

Der Verkehr, der dann noch bleibt, sollte die Schiene als Herzstück haben. Den Ausbau müssen Reisende, Pendler:innen und vor allem Beschäftigte demokratisch kontrollieren.

Das ist nicht so utopisch, wie es vielleicht scheint. Vorrangig braucht es nicht unbedingt Rennbahnen, sondern Knoten- und Flächenausbau. Für hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten und Pünktlichkeitswerte in einem europäischen Netz sind entflochtene Knoten letztlich sogar entscheidender. Weniger Tunnel braucht es ebenfalls, auch wenn hier und da eine Schnellfahrstrecke Sinn machen kann, wobei sich die Frage stellt, welche Trassierungsparameter für das Gesamtsystem am sinnvollsten sind (Anbindung von Orten, Nutzung auch für Güterzüge, Vermeidung von aufwendigen Kunstbauten so weit wie möglich … ).

Die Organisierung von öffentlichen Verkehrsträgern steht näher an der Planwirtschaft als viele andere Bereiche, immerhin heißt es – Fahrplan.

Fahrdienstleiter:innen wissen genau, wo Weichen fehlen. Sie könnten Vorschläge erarbeiten, über die demokratisch entschieden wird, wo sie hingehören müssten, und dann das Ganze dem Bahnbau übergeben. Dafür braucht es keine langjährigen Planfeststellungsverfahren.

Genauso wissen Lokführer:innen, welche Umläufe und Fahrzeugbedarfe Sinn machen.

Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Das Ganze muss keine Wunschvorstellung bleiben, aber damit aus Träumen Realität wird. heißt es für alle Beschäftigten im Nah- und Fernverkehr heute, dass sie beginnen müssen, sich selbst in Betriebskomitees zu organisieren und nicht nur diese oder jene Wünsche und Beschwerden auszusprechen. Das nächste Jahr bietet dafür möglicherweise Gelegenheit: Sowohl EVG wie GDL haben ihre Tarifrunde und zeigen sich streikbereit. Die Gewerkschaften tun gut daran, die Verkehrswende mit der Bezahlung der Beschäftigten zu verbinden, damit das Fahrplanjahr 2023 vielleicht zu einem Startpunkt einer Bewegung für die Verkehrswende wird – Beschäftigte und Klimabewegung im Schulterschluss!




Debt for Climate – keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit!

Gastbeitrag von Louise Wagner, Debt for Climate, Infomail 1206, 11. Dezember 2022

Die hiesige Klimabewegung ist geprägt von ihrer mehrheitlich mittelständischen Zusammensetzung, was darin resultiert, dass die Forderungen, die eine Bewegung mit einer derartigen Ausrichtung hervorbringt, der Ideologie der Mittelklasse entspricht: Forderungen nach individueller Konsummäßigung, Veränderungen der Lebensumstände, der Urlaubsplanung, des Ernährungsverhaltens etc. Forderungen, die in sich ihre Legitimität haben, jedoch zum einen zu kurz in ihrer Problemanalyse greifen und zum anderen die Entfremdung derjenigen Klassen zur Folge haben, für die Konsumverhalten keine Frage der Wahl, sondern der ökonomischen Notwendigkeit ist.

Es ist insbesondere diese Kluft zwischen der Arbeiter:innenklasse und der Klimagerechtigkeitsbewegung, die die Rechte für ihre eigenen Zwecke zu kapitalisieren weiß und dementsprechend nährt. Denn diese weiß genau, dass eine vereinte Bewegung in dem Augenblick nicht mehr aufzuhalten wäre, an dem die Arbeiter:innenklasse erkennt, dass sie der fehlende Funke in der Bewegung für eine soziale und wahrhaftig transformative Umwelt- und Klimagerechtigkeit ist. Sie kann dringend benötigte Veränderungen herbeiführen, indem sie sich auf ihre standhafte Tradition der Organisierung von Streiks besinnt und der Kapitalseite ihre „Mitwirkung“ entzieht. Und das wäre alles andere als im Interesse der menschenverachtenden Politik der Rechten.

Schuldenstreichung als verbindende Lösung

Die globale Graswurzelbewegung Debt for Climate bietet diese Verbindung an, nicht durch ein künstliches Herbeiwünschen von vereinten Kräften, sondern indem sich Gewerkschaften, indigene Widerstands-, feministische und Klimagerechtigkeitsbewegungen unter einem gemeinsamen Nenner vereinen können, der Kämpfe für soziale Gerechtigkeit wie für den Zugang zu guter Bildung und Gesundheitsversorgung, gesunden Arbeitsbedingungen und einer gesunden Umwelt für alle Menschen zusammenbringt. Und das ist die Streichung der Schulden des globalen Südens.

Schulden, als mächtiges Instrument der Enteignung der Armen und des ungleichen Vermögenstransfers von unten nach oben, sind eine existenzielle treibende Kraft hinter dem Abbau des öffentlichen Sektors, aber sie sind vor allem die Peitsche von Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, um Länder des globalen Südens zu zwingen, fossile Brennstoffe zu fördern, damit sie die Zinsen für Kredite zurückzahlen können, die sie nach Jahrhunderten kolonialer Plünderung und systematischer Ausbeutung aufnehmen mussten oder die teilweise sogar illegal aus der ehemaligen Kolonie vom Kolonisator transferiert wurden. Die Entschuldung ist eine Bedingung dafür, einen systemischen Wandel, wirkliche Veränderung zu ermöglichen.

Arbeiter:innen im globalen Norden werden die am ehesten und stärksten Betroffenen sein, wenn Umweltkatastrophen auch hier heftiger und häufiger vorkommen werden. Und sie sind es, die sich eine sogenannte Anpassung nicht leisten werden können. Dass wird niemanden von „oben“ kümmern, denn sie sind die „Entbehrlichen des Nordens“, obwohl auf ihren Schultern die gesamte Weltwirtschaft lastet. Der Kampf für eine vielfältige und lebenswürdige Umwelt ist auch der der Arbeiter:innen, denn sie haben letztendlich die Fähigkeiten und das Wissen, sowohl technisch als auch organisatorisch, um eine gerechte Energiewende tatsächlich umsetzen zu können. Allerdings kann eine globale gerechte Energiewende de facto nicht passieren, solange Länder im Süden dazu gezwungen werden, weiterhin ein Entwicklungs- und Wirtschaftsmodell zu verfolgen, was auf der Ausbeutung von Arbeiter:innen und fossilen Rohstoffen aufbaut und durch die systematische Verschuldung dieser Länder aufrechterhalten wird.

Arbeiter:innen als Protagonist:innen

Diese Forderung ist nicht nur eine, die die tatsächlichen systemischen Ursachen globaler sozialer und klimatischer Ungerechtigkeiten priorisiert statt des individuellen Verhaltens derjenigen, die es sich nicht anders leisten können. Sie nimmt nichts denjenigen weg, die eh schon nicht viel haben, sondern durchschneidet einen zukünftigen Profitstrom derjenigen, die von dem Wenigen anderer profitieren. Sie ist auch eine, die von einer Bewegung getragen wird, die Arbeiter:innen als Protagonist:innen und nicht als Antagonist:innen der Klimagerechtigkeitsbewegung anerkennt und ihre Organisationen weltweit miteinander verbindet, um die Macht einer internationalen Arbeiter:innenbewegung von unten aufzubauen, um der momentan sehr viel besser organisierten herrschenden Klasse vereint und entschlossen entgegentreten zu können. Es geht dabei nicht darum, lokale Bemühungen und Forderungen aufzugeben, sondern es geht darum, die Kämpfe, die in der Sache bereits sowieso miteinander verbunden sind, auch in ihrer Organisation miteinander zu verbinden.

Am 27. Februar 2023 wird es genau 70 Jahre her sein, dass die Schulden von Nazideutschland etwa zur Hälfte gestrichen wurden. Schuldenstreichung ist also absolut möglich, wenn sie den Interessen der Herrschenden entspricht, im Falle Deutschlands ein Instrument gegen die Verlockung des Kommunismus. Wenn die Schulden von Nazideutschland gestrichen werden konnten, um die US-Hegemonie aufrechtzuerhalten, dann können sie es für globale Gerechtigkeit allemal. Dafür müssen wir uns gemeinsam organisieren, um öffentlich das Mögliche zu fordern, auch wenn es als politisch unmöglich abgestritten wird. Organisiert euch mit uns!

Kontakt

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Solidarität mit den Klimaktivist:innen!

Redaktion, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wurde gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert, obwohl nachweislich klar ist, dass dieser mit der Autobahnblockade nichts zu tun hatte. Während radikale Aktionen des zivilen Ungehorsams als Vorboten einer Klima-RAF diffamiert werden, wird dreist verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Rechte und Konservative – allen voran AfD und CSU – rufen nach Gesetzesverschärfungen. Der Bayern macht den Vorreiter. Die Freiheit des Rasers wird zum letzte Refugium des Selbstbestimmung des kleinen Mannes verklärt, der ansonsten für die Profite in den Autobuden und an sonstigen Unternehmensstandorten schuftet. So wird einer Besetzerin der A9 nicht nur „Unverhältnismäßigkeit“ und „Störung des Mobilität“ vorgeworfen, sondern auch gleich ein Angriff auf „die Freiheit“ und ihre „Grundordnung“. Dem will die CSU durch die Verhängung von Präventivhaft von bis zu 30 Tagen für mögliche Störenfriede vorgreifen. Die AfD ruft nach der Überwachung der jungen „Verfassungsfeinde“.

Da hilft es den Aktivist:innen der „Letzen Generation“ nichts, dass sie auf Demokratie und Menschenrechte pochen. Längst haben sie bürgerliche Politiker:innen als Staatsfeinde ausgemacht. Für NRW-Innenminister Reul weist die Gruppe Züge einer „kriminellen Vereinigung“ auf, weil sie organisiert vorgeht – eine Begründung, die natürlich jederzeit gegen jede andere Besetzung z. B. sei es einer Braunkohlegrube, eine Straße oder eines Betriebes herangezogen werden kann.

Bei so viel konservativer und rechter Hetze gibt sich die Ampel-Koalition vergleichsweise nüchtern. Die Letzte Generation verdammen natürlich auch diese Parteien, die angesichts von Ukraine-Krieg und Profitinteressen den Klimaschutz auf die lange Bank schieben. Aber, so diese „Verteidiger:innen des Rechtsstaats: Man brauche keine Sondergesetze, die bestehenden würden schon ausreichen, um hunderter Aktivist:innen anzuklagen, zu verurteilen und finanziell auszubluten. Kriminalisierung light, also.

Gegen diese Angriffe braucht es die Solidarität der gesamten Linken und der Arbeiter:innenbewegung. Bei den Prozessen und Gesetzesverschärfungen geht es nicht darum, ob wir mit den Aktionsformen und der politischen der „Letzten Generation“ übereinstimmen, sondern um die Kriminalisierung von Protest und Widerstand der Umweltbewegung. Maßnahmen die heute gegen Klima-Aktivist:innen angewandt werden, können morgen ebenso gut Proteste gegen das Immobilienkapital oder „unverhältnismäßig“ hart geführte Arbeitskämpfe betreffen.

  • Freiheit für alle ihre Gefangenen, Niederschlagung aller Verfahren! Nein zu allen Gesetzesverschärfungen und Präventivhaft! Keine Repression gegen Klimaschützer:innen!



Die „Letzte Generation“ – neue radikale Klimabewegung?

Jonathan Frühling, Infomail 1204, 14. November 2022

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wird gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert. Es wird dreist gelogen und verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Wir solidarisieren uns mit der „Letzten Generation“: Freiheit für alle ihre Gefangenen, keine Repression gegen Klimaschützer:innen!

Forderungen

Zugleich wollen wir die Bewegung, ihre Ziele und Kampfformen einer Kritik unterziehen. Wir halten diese für notwendig, gerade weil die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ selbst nach einem Weg suchen, wie die Bewegung effektiv werden und strategische Schwächen überwinden kann.

Die „Letzte Generation“ ist Teil des A22-Netzwerkes, welches angeblich Ableger in elf Ländern hat. Wenn man den Links von ihrer deutschen Webseite folgt, haben einige der Seiten jedoch kaum Inhalt, sind offline oder behandeln nur sehr spezifische Themen (für Brandschutz in Australien, für mehr Bahnlinien in Neuseeland). Wahrscheinlich gibt es nur in Deutschland und England größere Gruppen. Viele Aktivist:innen haben sich ihr wahrscheinlich deshalb angeschlossen, weil sie nach den erfolglosen Massenaktionen von FFF nach anderen, scheinbar radikaleren Aktionsformen gesucht haben.

Ihre Forderungen sind einfach: Es muss sich in den nächsten zwei bis vier Jahren etwas ändern, sonst sind die Folgen des Klimawandels unumkehrbar und bedrohen das Überleben unserer Spezies. Ihre Forderungen sind auf der Webseite in Form eines offenes Briefes an die Bundesregierung formuliert. Konkret wird dort nur das Tempolimit von 100 km/h sowie eine Neuauflage des 9-Euro-Tickets gefordert. Die Begründung der Aktivist:innen ist dabei, dass diese Forderungen sofort umgesetzt werden können. Wenn dies ausbleibt, dann sei die Politik der Bundesregierung entlarvt. Der darüber hinausgehende Forderungskatalog der Bewegung konnte bisher nicht aufgefunden werden.

Die Forderungen mögen richtig sein, doch ist es offensichtlich, dass sie nicht im Mindesten ausreichen, um die Vernichtung unserer Lebensgrundlage aufzuhalten. Nur die einfachsten Sofortforderungen zu stellen, wird uns zudem nicht reichen und auch nicht das Bewusstsein der Menschen entwickeln. Allgemein fällt auf, dass sie zwar auf die Probleme aufmerksam machen wollen, sich bei Lösungsvorschlägen aber sehr bedeckt halten.

Dies zeigte sich auch, als sie es 2021 im Interview mit Olaf Scholz ermöglichten, den deutschen Staat als Vorreiter der Klimapolitik und die „Letzte Generation“ als Schwarzmaler:innen ohne Lösungsansätze zu präsentieren.

Taktik und Ziel

Um ihre politische Ziele zu erreichen, greifen die Aktivist:innen auf die Taktik des zivilen Ungehorsams zurück. Sie kleben sich z. B. auf Straßen fest, um den Verkehr zu stören, oder bekleckern bekannte Gemälde mit Essen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei treten sie mit ihrem Namen auf und wollen die Gerichtsverhandlungen auch zum Politikum machen. Spannender Weise hat ein Gericht mit Verweis auf den Klimanotstand eine Aktion der „Letzten Generation“ am Brandenburger Tor als legitim bewertet. Nichtsdestotrotz krankt diese Taktik an mehreren Problemen.

Zunächst einmal sind dies alles symbolische Aktionen, die vor allem Aufmerksamkeit erzeugen. Es wird davon ausgegangen, dass die Öffentlichkeit und damit der gesellschaftliche Druck die Regierung zum Umdenken bewegen können. Ein paar Straßenblockaden und beschmierte Bilder werden einen Staat nicht zum Umdenken bewegen, der sich nicht davor fürchtet, Tausende an der Grenze der EU sterben zu lassen, Krieg zu führen und an der Vernichtung unserer Lebensgrundlage zu arbeiten.

Tatsächlich erlangen Politik und bürgerliche Presse durch die Aktionsformen sogar eine gute Möglichkeit, die „Letzte Generation“ zu diskreditieren. Anstatt die Herrschenden anzuschwärzen, richtet sich der Zorn gegen die Bewegung.

Letztlich ist die Taktik des zivilen Ungehorsams auch bei der „Letzten Generation“ Ausdruck eines Mangels. Es gibt keine wöchentliche Klimamassenbewegung mehr und selbst wenn, was vermochte diese schon zu bewegen?

Da wo Streiks wirklich wehtun – in der Produktion – gehen die sozialpartnerschaftlich den Bossen hörigen Gewerkschaften an der Klimakrise weitgehend vorbei. Einen politischen Klimastreik wird die feige Gewerkschaftsbürokratie niemals organisieren. Ihre Privilegien hängen selbst am deutschen fossilen Kapitalismus.

Die „Letzte Generation“ versucht, dies aus der Not der Klimakrise heraus durch selbstlose, subjektiv verständliche Taten auszugleichen, was natürlich nicht gelingen kann. Denn erstens verprellen sie durch Straßenblockaden zumindest einen Teil der Arbeiter:innen, die die Klimabewegung – Stichwort: Streik – eigentlich versuchen müsste zu gewinnen (wobei wir hier nicht entschuldigen wollen, dass sich welche trotz vorhandenen öffentlichen Nahverkehrs herausnehmen, täglich in ihrer klimatisierten Blechbüchse zur Arbeit zu kriechen, die Luft zu verpesten und als einzelner Mensch 12 qm Platz verbrauchen!).

Zweitens kann eine Taktik nie von den damit verfolgten Zielen getrennt werden. Da die Forderungen der „Letzten Generation“ nicht ausreichen, um national wie international etwas gegen die Klimakrise auszurichten, muss ihr Vorgehen als moralisch aufgeladener, ungenügender Radikalreformismus bezeichnet werden, der dem Kapitalismus mit seinem Staat fatalerweise die Möglichkeit unterstellt, dass er auch ökologisch nachhaltig funktionieren könnte.

Das kommt auch in dem erwähnten Brief an die Regierung zum Ausdruck. Für die „Letzte Generation“ erscheint der demokratische bürgerliche Staat als etwas über der Gesellschaft Stehendes, das mit genügend Öffentlichkeit und zivilem Ungehorsam in diese oder jene Richtung gedrängt werden könnte. So macht man es der ignoranten Regierung nur deutlich genug.

Das ist eine Illusion. Wahrscheinlicher ist, dass der Staat die Repression gegenüber der „Letzten Generation“ erhöht so wie es die Regierung NRWs mit „Ende Gelände“ gehalten hat. Der Staat ist eine Institution der herrschenden Klasse und über Parteispenden, Lobbygruppen usw. mit ihr verbunden. Der Staat weiß ganz genau, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Jedoch steht für ihn nicht die Erde, sondern das Profitinteresse des Kapitals an erster Stelle. Das hat er oft genug bewiesen, und in einer Welt, in der die Konkurrenz die erste Treibkraft von allem ist, kann er auch nicht anders.

Revolutionäre Alternative

Wir brauchen keinen „Vertrauensbeweis“ der verlogenen Regierung, wie es die „Letzte Generation“ fordert. Sie liefert täglich den Beweis, dass sie unsere Generation der Dystopie ausliefert. Was juckt sie die Zukunft in der kapitalistischen Realpolitik der Gegenwart?

Wir müssen die Herrschenden da treffen, wo es wehtut: beim Profit. Doch das können wir nur erreichen, wenn wir wirkliche Klimastreiks organisieren und diese militant gegen Polizei und rechte Schläger:innen verteidigen. Die Klimabewegung muss den Schulterschluss mit der Arbeiter:innenklasse und oppositionellen Teilen der Gewerkschaften suchen. Diese besitzen das Know-how, wie eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft aussehen könnte – und sie sind auch zentral dafür, die Gewerkschaften selbst zu Kampforganisationen zu machen. Blockaden können nur gezielt und im besten Fall als demokratische Massenaktionen z. B. gegen Waffentransporte oder Kohlekonzerne ihre volle Wirkung entfalten. Nur so können wir sicherstellen, dass es eine Akzeptanz gibt, und weitere Menschen mit einbeziehen.

Der Klassenstandpunkt und die Position gegen den Staat sind essenziell für eine erfolgreiche Klimapolitik. Unser Planet wird für die Profitinteressen des Kapitals zerstört. Nur wenn wir den Kapitalismus überwinden, kann es eine ökologisch nachhaltige Wirtschaft geben. Neben Sofortmaßnahmen (Tempolimit, kostenloser Nahverkehr, massive Klimasteuer auf fossile Profite, keine weiteren Autobahnbauten … ), die durch Streiks erzwungen werden könnten, müssen wir deshalb Forderungen diskutieren, die zur Auflösung des Kapitalismus und zu einer klassenlosen Gesellschaft führen: Verstaatlichung der Industrie unter Arbeiter:innenkontrolle, Reorganisierung der Produktion in einer demokratischen Planwirtschaft, Ersetzung des bürgerlichen Staates durch eine Rätedemokratie.