Solidarität mit den Streiks im ÖPNV!

Stefan Katzer, Infomail 1244, 2. Februar 2024

Am heutigen Freitag, den 2. Februar 2024, ruft die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di die Beschäftigten im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu einem eintägigen Streik auf. In allen Bundesländern bis auf Bayern streiken Zehntausende Beschäftigte und auch einige Klimaaktivist:innen von Fridays for Future (FFF) gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV.

Nachdem die bisherigen Verhandlungen mit den kommunalen Arbeit„geber“:innen nicht die erhofften Fortschritte brachten, soll der Druck auf die Gegenseite nun durch einen eintägigen Streik erhöht werden, so die stellvertretende Vorsitzende von ver.di, Christine Behle. Auch wenn der Ausstand in manchen Ländern wie in Berlin nur einige Stunden dauert, so zeigt die Aktion, was möglich ist, wenn die Beschäftigten zusammenstehen und gemeinsam für ihre Forderungen kämpfen.

Kampf für Entlastung und mehr Personal

Die Kernforderungen, für deren Erfüllung die Beschäftigten nun kämpfen, zielen vor allem auf die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Das ist mehr als berechtigt, denn die Belastungen für die Beschäftigten im ÖPNV sind groß. Ebenso hoch sind die Krankenstände, die nach Angaben von ver.di zum Teil 20 % betragen. Fahrer:innen müssen daher häufig für kranke Kolleg:innen einspringen, wodurch Ruhezeiten unterbrochen werden und die gesundheitliche Belastung zusätzlich steigt. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die relativ niedrigen Gehälter führen zudem dazu, dass viele Beschäftigte der Branche den Rücken kehren, wodurch sich der Druck auf die übrigen ständig weiter erhöht.

Zwar hat sich die Regierung das Ziel gesetzt, den ÖPNV bis 2030 massiv auszubauen und dadurch den Klimaschutz im Verkehrssektor voranzutreiben. Doch die notwendigen Voraussetzungen hierfür sind nicht gegeben. Nicht nur der Ausbau der Strecken kommt kaum voran, auch beim Personal herrscht großer Mangel. Zudem müsste die Regierung jährlich ca. 16 Milliarden Euro mehr für den Ausbau des ÖPNV ausgeben, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Aufgrund dieser desaströsen Lage im öffentlichen Nahverkehr fallen Verbindungen ständig aus. Zusätzlich werden die Fahrpläne an vielen Stellen selbst ausgedünnt und das Angebot verringert.

Dieses Problem sieht auch ver.di. Aus diesem Grund fordert die Gewerkschaft vor allem eine Entlastung für die rund 90.000 Beschäftigten. Durch bessere Arbeitsbedingungen soll bereits tätiges Personal gehalten und neues angelockt werden. Nur so könne man die Verkehrswende meistern. Neben einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert die Gewerkschaft auch die Erhöhung des Urlaubsanspruchs sowie zusätzliche Entlastungstage für Schicht- und Nachtarbeit. Außerdem soll es eine Begrenzung geteilter Dienste und unbezahlter Zeiten im Fahrdienst geben. Dadurch sollen die Beschäftigten entlastet und die Arbeit in diesem Bereich wieder attraktiver werden.

#WirFahrenZusammen! Aber wohin geht die Reise?

Unterstützt werden die Beschäftigten dabei von 60 lokalen Gruppen von FFF. Sie rufen zur Solidarität mit den Beschäftigten auf und verbinden deren Forderungen mit der nach einer klimagerechten Verkehrswende. In diesem Zusammenhang kommt dem bereits 2020 gegründeten Bündnis #WirFahrenZusammen eine wichtige Bedeutung zu. Dieses zielt darauf ab, das Interesse der Klimaschutzbewegung an einem Ausbau des ÖPNV mit dem der Beschäftigten an besseren Arbeitsbedingungen zu verbinden und die geteilten Forderungen durch gemeinsame Aktionen durchzusetzen.

In der Vergangenheit kam es bereits zu gemeinsamen Protesten von FFF und ver.di. Nun beteiligen sich die Aktivist:innen von FFF umgekehrt an den Streiks der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr und zeigen sich mit diesen solidarisch. FFF verbindet damit die Hoffnung, die Beschäftigten für ihre eigenen Forderungen zu gewinnen und so dem Klimaschutz und der Klimaschutzbewegung in Deutschland neues Leben einzuhauchen.

Das Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV ist dabei schon ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist gut und notwendig, dass die Klimabewegung die Verbindung zur organisierten Arbeiter:innenklasse sucht und aktiv auf diese zugeht. Das Bündnis kann allerdings nur ein Anfang sein. Denn nicht nur die Beschäftigten im ÖPNV müssen für radikalen Klimaschutz gewonnen werden, sondern auch die aus der Automobilindustrie, dem Energie-, Agrarsektor usw. – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn die Lohnabhängigen können durch Streiks nicht nur Druck auf die Regierung ausüben – sie können (und müssen!) aufgrund ihrer Lage im Produktionsprozess den notwendigen Umbau der Wirtschaft in ihre eigenen Hände nehmen. Es geht dabei letztlich nicht nur um die Erneuerung der technischen Basis, sondern um die Veränderung der Produktionsverhältnisse selbst. Das wird jedoch nur möglich sein, wenn die privaten Konzerne im gesamten Verkehrs- und Transportsektor – ob Spediteur:innen, Bahn, Luft- oder Schifffahrt sowie die Autoindustrie – entschädigungslos verstaatlicht werden und unter Arbeiter:innenkontrolle gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit produzieren. Dies ist selbst untrennbar mit der Enteignung und dem planmäßigen Umbau der gesamten Energiewirtschaft verbunden.

Um dies zu erreichen, muss sich die Klimabewegung programmatisch aber selbst grundlegend neu ausrichten. Sie muss dabei vor allem den von ihr popularisierten Slogan „System Change not Climate Change!“ endlich ernst nehmen und eine politische Perspektive entwickeln, die über den zerstörerischen Kapitalismus hinausweist.

Und wie kommen wir ans Ziel?

Die Strategie von FFF und ver.di, durch gemeinsame Proteste, Petitionen und die nun anstehenden Streiks den Druck auf „die Politik“ zu erhöhen und diese zum Handeln zu zwingen, läuft absehbar ins Leere. Wie schnell sich klimapolitisch der Wind drehen kann und mit ihm die bürgerlichen Fähnchen, haben die letzten Jahre eindrucksvoll gezeigt. Von den vollmundigen Versprechen der bürgerlichen Politiker:innen, das Problem des Klimawandels ernst zu nehmen und Maßnahmen zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu ergreifen, ist nicht viel übrig geblieben. Es war auch nicht anders zu erwarten.

Angesichts der sich zuspitzenden Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, bei der auch der deutsche Imperialismus ganz vorne mitmischen möchte, treibt die Ampelregierung vor allem ein Projekt voran – die Aufrüstung der Bundeswehr. Hier werden die Milliarden verfeuert, die im sozialen Bereich, beim Ausbau der Infrastruktur und damit auch im Bereich des Klimaschutzes fehlen. Unter dem Banner der Klimapolitik verfolgt die Bundesregierung dabei vor allem das Ziel, die deutsche Industrie durch eine subventionierte Erneuerung ihres Kapitalstocks global konkurrenzfähig zu machen. Als Vertreterin der Interessen des nationalen Gesamtkapitals möchte sie dafür sorgen, dass dieses in der Konkurrenz mit China und den USA nicht zurückfällt. Das 1,5-Grad-Ziel spielt bei diesen Überlegungen kaum noch eine Rolle.

Aber auch die Interessen der Gewerkschaftsbürokratie sowie die politisch-ideologische Ausrichtung von FFF stehen einem radikalen Kampf für Klimaschutz und Interessen der Lohnabhängigen letztlich im Weg und sind Hindernisse, die überwunden werden müssen. So hat die Gewerkschaftsbürokratie in den vergangenen Tarifkämpfen immer wieder gezeigt, dass ihr die Sozialpartnerschaft und mit ihr das Wohl des deutschen Imperialismus letztlich näherstehen als die Interessen der Beschäftigten. So wurden trotz hoher Kampfbereitschaft in den letzten großen Tarifrunden Abschlüsse erzielt, die für Millionen Beschäftigte Reallohnverluste bedeuteten. Über die „Konzertierte Aktion“ haben sich die Gewerkschaften bereitwillig in die Politik der Bundesregierung einbinden lassen und dafür zentrale Forderungen der Beschäftigten geopfert.

Um dies in Zukunft zu verhindern, müssen die organisierten Beschäftigten selbst die Kontrolle über ihren Kampf ausüben, indem sie Streikkomitees bilden und Vertreter:innen aus ihren eigenen Reihen wählen, die ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Statt Geheimverhandlungen zwischen den sog. Arbeit„geber“:innen und den Gewerkschaftsfunktionär:innen braucht es Diskussionen über Forderungen und Angebote, an denen alle Gewerkschaftsmitglieder sich beteiligen können. Sie müssen bei allen Entscheidungen das erste und letzte Wort haben, denn sie sind es, die davon betroffen sind.

  • Arbeitszeitverkürzung für alle auf 35 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Einstellung von Tausenden Beschäftigten und Auszubildenden! Massive Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und kostenloser ÖPNV für alle, finanziert aus den Gewinnen privater Konzerne!

  • Vom Warnstreik zum Vollstreik! Keine Geheimverhandlungen, keine langen Verhandlungsrituale! Streik ist die einzige Sprache, die die sog. Arbeitgeber:innen verstehen! Schnellstmögliche Einleitung der Urabstimmung, um die Forderungen durch einen unbefristeten Streik zu erzwingen!

  • Für einen Streik in den Händen der Beschäftigten! Organisiert Euch selbst im Betrieb, wählt ein Streik- und Aktionskomitee, fordert öffentliche Verhandlungen sowie eine direkte Wähl- und Abwählbarkeit der Tarifkommission!



Degrowth: Grüne Alternative zum Kapitalismus?

Alex Zora, Infomail 1229, 1. August 2023

Wer sich in den letzten Jahren mit den Themen Klima, Umweltschutz und Nachhaltigkeit auseinandergesetzt hat, wird wahrscheinlich auch irgendwann über das Thema Degrowth (Direktübersetzung: Wachstumsrücknahme bzw. Entwachstum) gestoßen sein. Oft wird auch das Wort Postwachstum für dasselbe Konzept verwendet. Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung üben Kritik am Kapitalismus und seinem Wachstumszwang. Sie treten stattdessen für eine Gesellschaft ein, die sozial und ökologisch sein soll. Hört sich erstmal alles ganz vernünftig an, doch kann Degrowth wirklich eine Strategie zu Überwindung von Umweltzerstörung und Kapitalismus sein?

Eine kurze Geschichte

Die Ursprünge der Degrowth-Bewegung liegen Mitte der 1970er Jahre. 1972 publizierte der „Club of Rome“ (im Wesentlichen ein bürgerlicher Think-Tank aus einer Zeit bevor der Begriff Think-Tank populär wurde) „Die Grenzen des Wachstums“. In dieser Systemanalyse, basierend auf Computersimulationen, wurde festgestellt, dass aufgrund begrenzter Ressourcen kein unbegrenztes Wirtschaftswachstum möglich ist: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“

Der Bericht löste zwar große Debatten aus und ist mit 30 Millionen verkauften Exemplaren weltweit das meistverkaufte ökologische Buch, die Degrowth-Bewegung ist aber eigentlich erst ein Produkt des 21. Jahrhunderts. Wichtigen Input dafür lieferte das 2002 in Lyon gegründete „Institut zur Wirtschafts- und Sozialforschung für nachhaltigen Degrowth“[1], später breitete sich die Bewegung – vor allem im akademischen Bereich – weiter aus. Seit 2008 gibt es internationale Degrowth-Konferenzen, die alle 2 Jahre stattfinden. Heute ist Degrowth bzw. Wachstumskritik wichtiger Bestandteil der meisten Organisationen der Klimabewegung.

Was ist Degrowth?

Innerhalb der Degrowth-Bewegung gibt es sowohl radikale wie gemäßigte Teile. Teile der Grünen in Österreich und Deutschland sind Anhänger:innen des Konzepts, ehemalige Umwelt-Aktivist:innen wie Kathrin Henneberger sind als Degrowth-Anhänger:innen mittlerweile sogar im deutschen Bundestag vertreten, die deutsche Parteistiftung der Grünen war auch Unterstützer:in der Degrowth Konferenz 2014 in Leipzig. Aber auch in Österreich ist Degrowth z.B. in der Grünen Parteiakademie ein wichtiges Thema[2].

Gleichzeitig gibt es auch radikalere Teile, insbesondere die, die auch in der realen Klima(-gerechtigkeits-)bewegung aktiv sind. Teile der Degrowth Bewegung beziehen sich sogar positiv auf den Sozialismus (wie zum Beispiel der griechische Ökonom Giorgis Kallis) bzw. Teile des Ökoszialismus beziehen sich positiv auf Degrowth (wie zum Beispiel Michael Löwy). Eine gesonderte Auseinandersetzung mit den linken Auslegern der Postwachstum-Bewegung wäre mit Sicherheit auch fruchtbar, doch wir werden uns an dieser Stelle vor allem mit dem Mainstream der Degrowth-Bewegung auseinandersetzen.

Das Webportal degrowth.info beschreibt Postwachstum folgendermaßen: „Unter Degrowth oder Postwachstum verstehen wir eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält. Dafür ist eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt und ein umfassender kultureller Wandel notwendig. Das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitprinzip lautet „höher, schneller, weiter“ – es bedingt und befördert eine Konkurrenz zwischen allen Menschen. Dies führt zum einen zu Beschleunigung, Überforderung und Ausgrenzung. Zum anderen zerstört die Wirtschaftsweise unsere natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Lebensräume von Pflanzen und Tieren. Wir sind der Überzeugung, dass die gemeinsamen Werte einer Postwachstumsgesellschaft Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sein sollten. Die Menschheit muss sich als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen. Nur so kann ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle ermöglicht werden. Praktisch gesehen heißt das:

  • Eine Orientierung am guten Leben für alle. […]

  • Eine Verringerung von Produktion und Konsum im globalen Norden, eine Befreiung vom einseitigen westlichen Entwicklungsparadigma und damit die Ermöglichung einer selbstbestimmten Gestaltung von Gesellschaft im globalen Süden.

  • Ein Ausbau demokratischer Entscheidungsformen, um echte politische Teilhabe zu ermöglichen.

  • Soziale Veränderungen und Orientierung an Suffizienz, statt bloßen technologischen Neuerungen und Effizienzsteigerung, um ökologische Probleme zu lösen. Wir betrachten die These von der Möglichkeit der absoluten Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch als historisch widerlegt.

  • Regional verankerte, aber miteinander vernetzte und offene Wirtschaftskreisläufe.  […]“

Ein zentrales Konzept der Degrowth-Bewegung ist die Ablehnung des Bruttoinlandsprodukts (der Summe aller in einem Jahr erzeugten Dienstleistungen und Waren minus aller Vorleistungen) als zentrales Maß gesellschaftlicher Entwicklung. Statt eines fortschreitenden Wirtschaftswachstums soll die Wirtschaft gezielt geschrumpft werden. Ergänzt wird das oft damit, dass insbesondere der Throughput (also die Rate, mit der sich Waren (und Dienstleistungen) durch den Wirtschaftskreislauf bewegen) reduziert werden soll. Damit solle die Kopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Treibhausgasausstoß (und Umweltzerstörung) bekämpft werden. Im Kapitalismus ist dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis in den Daten recht klar ersichtlich. Die einzigen Zeitpunkte seit dem Ende des Nachkriegsbooms, zu denen der Ausstoß von Treibhausgasemissionen gegenüber dem jeweiligen Vorjahr relevant gesunken ist, waren 1974 (1. Ölpreiskrise), Anfang der 1980er Jahre (2. Ölpreiskrise), 1992 (Zusammenbruch der UdSSR), 2009 (globale Finanzkrise) und 2020 (Corona-Krise). Die Verknüpfung von wachsender Wirtschaft und wachsender Belastung für die Umwelt sind deshalb – zumindest im heutigen Wirtschaftssystem – sehr eindeutig.

Es gibt durchaus Beispiele einzelner Länder oder Kontinente (z.B. der EU), die es zwar schaffen Wirtschaftswachstum mit sinkenden Treibhausgasemissionen zu verbinden. Hierbei werden aber Auslagerungseffekte (z.B. wird CO2-intensive Produktion aus Europa nach China oder Indien verlagert, die dort hergestellten Produkte aber weiterhin in Europa konsumiert) berücksichtigt. Der zentrale Punkt ist jedoch, ob die Summe (also Einsparung in Land A + Erhöhung in Land B) der Emissionen steigt oder sinkt, was zumindest auf globaler Ebene außerhalb der oben erwähnten Wirtschaftskrisen bisher nicht passiert ist. Das Argument, im Kapitalismus wäre Wirtschaftswachstum mit sinkenden Emissionen vereinbar, ist deshalb zumindest mehr als fraglich. Abseits davon umfasst ökologische Nachhaltigkeit noch um einiges mehr als das Thema Treibhausgase.

Degrowth als Lösung?

Wir können also einige wesentliche Argumente der Degrowth-Bewegung nachvollziehen. Die Feststellung von Teilen der Bewegung, dass Nachhaltigkeit und Kapitalismus unvereinbar sind, teilen wir – auch wenn die Auffassung über das, was den Kapitalismus genau ausmacht, bei der Degrowth-Bewegung mehr als fraglich ist. Aber auch, wenn es einige Übereinstimmungen gibt, bestehen gleichzeitig wesentliche Unterschiede sowohl in der Analyse wie in den vorgeschlagenen Lösungen.

Analytisch ist das Problem bei den meisten Teilen der Degrowth-Bewegung, dass der Kapitalismus als Produktionsweise nicht verstanden wird. Denn sehr oft wird der Fokus der Kritik am Kapitalismus auf dessen Ideologie bezogen. Wachstumsideologie, Konzern-Gier oder kapitalistische Denkweise werden hier zum zentralen Ziel der Kritik. Kultureller Wandel, gesellschaftliches Umdenken und neue Werte stehen als Lösungen im Zentrum. Insbesondere bei den gemäßigten Teilen der Bewegung geht es deshalb in erster Linie darum, das „Wachstumsparadigma“ des Kapitalismus zu überwinden, nicht notwendigerweise um die Überwindung des Kapitalismus selbst. Die radikaleren Teile der Bewegung hingegen sehen die Lösung der Umweltprobleme und eine weitere Existenz des Kapitalismus als unvereinbar an. Doch wie und durch wen so eine Überwindung geschehen soll oder kann, ist dann auch wieder wenig ausformuliert. Meistens hängt man sich am neuen Modewort des linken Reformismus – Transformation – an. Ob damit auch zentrale Konzepte wie gramscianische Hegemonietheorie oder Poulantzas Staatstheorie [3] übernommen werden, bleibt meistens unklar, die Vermutung liegt aber nahe.

Für uns ist an dieser Stelle zentral festzuhalten, dass es zwar durchaus so etwas wie eine Wachstumsideologie im Kapitalismus gibt, aber dass diese ein Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse und Zwänge des Kapitalismus selbst ist. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft basierend auf Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz auf einem mehr oder weniger freien Markt und der Produktion für eben diesen Markt in Form von Waren. Unternehmenswachstum (was nichts anderes ist als Anhäufung bzw. Akkumulation von Kapital) ist ein essentieller Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie. Wenn ein Unternehmen aufhört zu wachsen und seine Konkurrenz am Markt aber weiterhin gute Wachstumsraten zu verzeichnen hat, dann wird es im Wettbewerb verlieren. Wachstum ist deshalb ein essentieller Bestandteil des Kapitalismus, es erwächst aus dessen ökonomischen Prinzipien und nicht aus irgendwelchen falschen Denkweisen oder Paradigmen.

Postwachstumsgesellschaft

Erklärtes Ziel der Degrowth-Bewegung ist der Aufbau einer Postwachstumsgesellschaft als Alternative zu unserem aktuellen Wirtschaftssystem. Über die Frage, wie weitreichend diese Transformation sein muss – also ob es reicht, lenkend in die Marktwirtschaft einzugreifen und das Denken der Menschen zu ändern, oder ob das ganze kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf dem Misthaufen der Geschichte landen soll – besteht auch in der Degrowth-Bewegung keine Einigkeit.

Auch die zentrale Frage, was die Grundpfeiler einer Postwachstumsgesellschaft sein sollen, bleiben zumeist sehr vage beantwortet. Echte Demokratie, Nachhaltigkeit, gesundes Schrumpfen und viele andere werden als zentrale Werte einer Postwachstumsgesellschaft proklamiert, doch WIE eine Gesellschaft organisiert sein kann, die solche Werte umsetzen kann, wird nicht beantwortet. Solange keine Brücke geschlagen wird zwischen den materiellen Grundlagen sowie der gesellschaftlichen Organisation von Politik und Ökonomie auf der einen Seite und den angestrebten Werten auf der anderen Seite, bleibt Degrowth utopistisches Wunschdenken. Wie bei den utopischen Sozialist:innen des 19. Jahrhunderts fehlt die Verbindung zwischen Ideen für eine neue Gesellschaft, den materiellen Verhältnissen der heutigen Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten dafür, wie eine neue Gesellschaft organisiert sein kann. Die Fragen, wie produziert wird und wer darüber bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse und welche Organisation von Produktion und Verteilung es braucht, wird außerhalb eines kleines Teils der Degrowth-Bewegung mit explizit sozialistischem Anspruch nicht beantwortet.

Unserer Ansicht nach liegt der Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus in den widersprüchlichen Interessen der Klassengesellschaft. Um Waren zu produzieren und Gewinne zu realisieren, benötigt der Kapitalismus eine globale Klasse von Arbeiter:innen. Diese Arbeiter:innenklasse (darunter fallen überausgebeutete Näher:innen in Bangladesch genauso wie IT-Programmierer:innen mit Studienabschluss in Japan) hat die ökonomische Macht und das grundsätzliche Interesse, dieses System zu überwinden und die Grundlage für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung (sowohl von Mensch als auch Natur) und Unterdrückung zu legen.

Wachstumskritik und Kapitalismus

Wie weiter oben schon erwähnt, ist unserer Meinung nach ein grüner Kapitalismus nicht möglich. Solange das Motiv der Wirtschaft die Maximierung von Profit ist und die Entscheidungsmacht bei einzelnen Unternehmer:innen, Aufsichtsräten und CEOs liegt, wird der Kapitalismus weiterhin Mensch und Natur ausbeuten. Sie tun das nicht aus Böswilligkeit, Gier oder Unwissenheit, sondern wegen der Gesetze des Marktes, der Konkurrenz und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zur Profitmaximierung. Doch die Kritik der Degrowth-Bewegung richtet sich ja nicht gegen kapitalistisches Wachstum, sondern gegen jegliches Wirtschaftswachstum an sich.

Grundsätzlich sehen wir auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, wesentliche Teile der kapitalistischen Ökonomie zu schrumpfen bzw. gänzlich abzuschaffen. In einer globalen, nachkapitalistischen Gesellschaft gäbe es keine Notwendigkeit mehr für eine Rüstungsindustrie und die Produktion von Luxusgütern; nahezu die gesamte Finanzbranche könnte ersatzlos gestrichen werden; weite Teile der Wirtschaft, die heute auf Werbung und Marketing ausgerichtet sind, würden entfallen; gesellschaftliche Ausgaben für Repression, Justiz und Strafvollzug würden massiv abnehmen; schnell verschleißende Billigproduktion könnte durch qualitativ hochwertige und langlebige Erzeugnisse ersetzt werden. Darüber hinaus gibt es bestimmt noch viele andere Branchen, in denen aktuell unnötig Ressourcen und Güter verschwendet werden.

Gleichzeitig gibt es Branchen, die massiv ausgebaut werden müssten. Große Teile der Welt brauchen einen massiven Ausbau der Infrastruktur; Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme werden massiv ausgeweitet werden müssen. Und viele Probleme, die der Kapitalismus verursacht hat, erfordern auch nach Überwindung des Kapitalismus massive gesellschaftliche Ressourcen (z.B. wird die globale Verschmutzung insbesondere durch Mikroplastik nicht verschwinden, nur weil der Kapitalismus aufhört zu existieren).

Insgesamt ist es deshalb allein aus dieser Perspektive unklar, ob die vielfältigen Probleme des Kapitalismus eine schrumpfende oder eine wachsende Wirtschaft erfordern. Von Degrowth-Seite wird der kapitalistische Zwang zum Wachstum mit dem Zwang zum Schrumpfen beantwortet, der Fokus liegt damit nicht direkt, sondern nur indirekt auf Nachhaltigkeit und Ökologie. Statt sich anzusehen, wie die Wirtschaft demokratisch gestaltet und geplant werden kann, um die sozialen und ökologischen Probleme des Kapitalismus zu lösen, wird ein negatives Vorzeichen vor die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus gesetzt. Nicht gesehen wird, dass mit einer Überwindung des Kapitalismus auch die blinden Kräfte des Marktes überwunden werden können.

Gleichzeitig ist dabei auch eine grundlegende Betrachtung dessen wesentlich, wie menschliche Arbeit und Produktion funktionieren. Alles, was heute an Infrastruktur, Wissen, Produktionsstätten, etc. existiert, ist das angehäufte Produkt von Jahrtausenden menschlicher Arbeit. Weil Menschen nicht ausschließlich alles, was produziert wurde, auch wieder unmittelbar konsumierten, konnte eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, die es erlaubte, die Produktivkräfte massiv auszubauen. Es muss nicht mehr wie früher der Großteil der Gesellschaft an der unmittelbaren Produktion von Lebensmitteln beschäftigt sein. Die Gesellschaft, in der wir heute leben, lässt zwar hunderte Millionen Menschen in Armut, Hunger und ohne sauberes Trinkwasser leben, doch die materiellen Möglichkeiten sind geschaffen worden für ein gutes Leben für mittlerweile 8 Milliarden Menschen (wenn es nicht so etwas wie das Privateigentum an Produktionsmitteln gäbe).

Wenn wir deshalb zukünftigen Generationen ein fortschreitendes Maß an individueller und kollektiver Freiheit geben wollen, die Arbeitszeit nicht bei X Stunden pro Tag einfrieren, sondern nach und nach weiter reduzieren möchten und der Menschheit als Ganzes insgesamt mehr kollektive und individuelle Möglichkeiten geben wollen, dann braucht es eine Anhäufung von menschlicher Arbeit. Das ist natürlich nicht beschränkt auf unmittelbar materielle Güter (z.B. automatisierte Produktionsstätten und Supercomputer), sondern hat genauso eine wissenschaftlich-technisch-strategische Komponente. Beispielsweise hat die Frage, wie eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem so aufbauen kann, sodass Vorsorge und Prävention in einem optimalen Verhältnis zu Behandlung und Therapie stehen, einen bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeit, die Produktivkräfte massiv zu steigern, ohne gleichzeitig unmittelbar auf abzubauende oder zu verheizende Ressourcen angewiesen zu sein. Eine sozialistische Akkumulation[4] müsste keineswegs nur eine quantitative Anhäufung von immer mehr und mehr materiellen Gütern, Maschinen und Co. bedeuteten, sondern kann auch eine qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte bedeuten (wie zum Beispiel die Ersetzung von Glühbirnen durch LEDs; den massiven Ausbau des globalen Bildungssystems oder die alleine durch Abschaffung von Patenten ausgehenden Möglichkeiten von kollektiver Arbeit).

Unbegrenztes Wachstum und begrenzte Ressourcen?

Von Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung wird gerne eines der ursprünglichen Probleme angeführt, das den Club of Rome dazu brachte „Die Grenzen des Wachstums“ herauszugeben. Wie funktioniert exponentielles Wirtschaftswachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Und in der kapitalistischen Produktionsweise ist das eine mehr als berechtigte Frage, sind hier doch die Möglichkeiten rational in die Wirtschaft einzugreifen stark limitiert. Selbst dort, wo eingegriffen wird (z.B. durch eine CO2-Steuer, Subventionen für PV-Anlagen oder Förderungen für den öffentlichen Verkehr), passiert das in den meisten Fällen vermittelt über Marktanreize. Die Entscheidungen, was und wie produziert wird, werden von einer kleinen Klasse an Kapitalist:innen mit Hinblick auf Wettbewerb und Profitlogik getroffen.

Dabei muss eine Steigerung von Effizienz und Produktivität nicht unbedingt aus einem immer größeren Verbrauch von materiellen Ressourcen erwachsen. Zum Beispiel die hat die Einführung von Schrift vor vielen tausend Jahren unmittelbar sehr wenig materielle Ressourcen erfordert (abgesehen von Tontafeln und Papyrusrollen), doch die dadurch ermöglichten Fortschritte in Produktivität und Wissen(saustausch) waren enorm. Gleichzeitig gibt es rein technisch gesehen schon recht viele Möglichkeiten zum Recyceln im großen Stil. Doch solange die Entscheidung, ob die Förderung von Kobalt durch Kinderarbeit im Kongo oder durch das Recyceln von alten Batterien passiert, vom Preis der Produktion abhängt, wird sich an der Ausbeutung von Mensch und Natur wenig ändern. Wenn diese Entscheidung aber demokratisch von der Gesellschaft und nicht von der Klasse der Besitzenden getroffen wird, kann diese sich auch dafür entscheiden nachhaltig zu handeln, auch wenn das unmittelbaren Profitbetrachtungen im Weg stehen würde.

Demokratische Planwirtschaft

Die heutigen massiven Probleme, vor denen die menschliche Zivilisation steht, sind vielfältig. Nicht nur der in den Medien extrem präsente Klimawandel ist ein Problem für unsere Gesellschaft. In den letzten Jahrzehnten ist auch der globale Stoffwechsel massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Stickstoff- und Phosphorkreislauf sind hoch gefährdet, die Übernutzung von Boden und die Vernichtung von Biodiversität erreichen mittlerweile gefährliche Ausmaße. Insgesamt bedroht der Kapitalismus unmittelbar die Zukunft unseres Planeten.

Die Lösung dafür besteht, wie auch schon weiter oben erwähnt, nicht in einer Ökologisierung des Kapitalismus (nach Bild eines Green New Deal), in mehr Marktanreizen für grünere Produktion (etwa CO2-Steuer oder Emissionszertifikatshandel), sondern letztlich müssen wir als Gesellschaft direkt darin eingreifen können, was wie produziert wird. In einem System, in dem diese Entscheidungen privatisiert sind und das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln demokratische Entscheidungen darüber verhindert, gewinnt Profitorientierung immer über Nachhaltigkeit.

Stattdessen braucht es eine Organisation der Wirtschaft, in der demokratisch und rational entschieden werden kann was wie produziert wird – auch wenn das nicht unmittelbare Profite produziert. Es braucht außerdem eine globale Abstimmung und Arbeitsteilung über Produktion und Verteilung. Damit kann auch gewährleistet werden, dass die aufgrund imperialistischer Interessen gezielt unterentwickelt gehaltenen Länder des globalen Südens auf dasselbe Level von Produktivität und kollektiven Wohlstand kommen können. Für all das ist es sekundär, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft. Das zentrale Element ist die schnellstmögliche Reduktion von Treibhausgasemissionen, die Umstellung auf eine nachhaltige Landwirtschaft und so gut wie möglich die Lösung der ökologischen Probleme des Kapitalismus. Entscheidungen können nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen rational von der Mehrheit der Gesellschaft getroffen werden. All das bedeutet nicht, dass das auch automatisch alles von allein passieren wird, aber eine demokratische Planwirtschaft ist die Voraussetzung dafür, dass solche Entscheidungen überhaupt erst getroffen werden können.

Um zu einer demokratischen Planwirtschaft zu gelangen, die sich bewusst und deutlich von den bürokratischen Planwirtschaften des Stalinismus abgrenzen muss, braucht es die Vergesellschaftung von Produktion und Verteilung. Die Arbeiter:innenklasse muss die Macht in den Betrieben übernehmen und sie in gesellschaftliches Eigentum überführen. Auf verallgemeinerter Ebene (und nicht nur in isolierten Hochburgen inmitten des kapitalistischen Marktes) kann das nur durch die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse gelingen. Der bürgerliche Staat kann aber nicht übernommen oder transformiert werden, er muss zerschlagen und durch eigene Organe der proletarischen Gegenmacht (Räte) ersetzt werden. So ein Programm mag sich sehr entfernt anhören, doch eine langsame Transformation des Kapitalismus in einer sozial-ökologischen Wende ist nicht nur noch viel weiter weg, sondern letztlich auch eine gefährliche Illusion.

Endnoten

[1] Institut d’Etudes. Economiques et Sociales pour la Décroissance Soutenable, http://www.decroissance.org/

[2] https://wien.gbw.at/artikelansicht/beitrag/gruenes-wachstum-im-wandel/

[3] Für eine ausführliche Kritik am Konzept der Transformationstheorie siehe „Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“ in Revolutionärer Marxismus Nr. 49

[4] Sie hierzu auch Die Neue Ökonomik von Jewgeni Preobraschenski




Ampel auf Rot: Nachsitzen fürs Heizungsgesetz

Jürgen Roth, Infomail 1228, 23. Juli 2023

Am späten Mittwochabend des 5. Juli 2023 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dem Eilantrag des CDU-MdB Thomas Heilmann stattgegeben. So kann der Bundestag erst nach der Sommerpause mit der 2. und 3. Lesung beginnen. In der 1. Sitzungswoche ab 4. September, in der auch über den Bundeshaushalt beraten werden soll, ist die Gebäudeenergienovelle angesetzt. Die Schlussberatung im Bundesrat könnte am 29. September stattfinden.

Kritik am Hauruckverfahren

Heilmann erklärte, er wolle der Ampel einen „Gefallen“ erweisen. Wenn das Gesetzgebungsverfahren nicht ordentlich ablaufe, entstehe die Gefahr, ein formal verfassungswidriges Gesetz zu beschließen. Die Koalition wollte das umstrittene Gebäudeenergiegesetz (GEG) unbedingt vor der Sommerpause durch den Bundestag bringen. Trotz Zustimmung im Kabinett Mitte Mai war man sich über wichtige Gesetzesteile nicht einig, worauf es zu wochenlangen Verzögerungen kam. Nicht nur die parlamentarische Rechte begrüßte die einstweilige Anordnung des BVerfG. Für den Co-Vorsitzenden der Linksfraktion, Dietmar Bartsch, stellt der Karlsruher Richterspruch einen „Schuss vor den Bug“ der Regierung dar, ohne zu vergessen, darauf hinzuweisen, dass auch die Große Koalition regelmäßig im Hauruckverfahren Gesetze durch den Bundestag zu peitschen.

Auch der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Sebastian Bartels, kritisierte, dass im Vorfeld trotz geplanter Mietrechtsänderung nicht einmal der Rechtsausschuss angehört wurde. Die Ampel hatte sich verzockt und steht nun einstweilen auf Rot.

Kommunale Wärmeplanung

Von den rund 41 Mio. Haushalten heizt jeder 2. mit Erdgas und ein weiteres Viertel mit Heizöl. Das Gesetz besagt im Kern, dass künftig nur noch Heizungen eingebaut werden dürfen, die auf Dauer zu mindestens 65 % mit erneuerbaren Energien (EE) betrieben werden können. Doch das soll ab 2024 unmittelbar erst einmal nur für Neubaugebiete gelten.

Für Bestandsbauten soll eine verpflichtende kommunale Wärmeplanung den Dreh- und Angelpunkt bilden: Für Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohner:innen soll diese ab 2026 und für die restlichen mit mehr als 10.000 Einwohner:innen ab 2028 vorliegen. Kommunen unter 10.000 Einwohner:innen brauchen das nicht zu tun. Ab August 2024 soll das GEG Anwendung finden. Diese Regelung soll also die Frage beantworten: Wo macht eine Wärmepumpe Sinn, wo der Anschluss an ein Nah- bzw. Fernwärmenetz, wo an ein Gas- oder Wasserstoffnetz?

Was kommt auf die Hausbesitzer:innen zu?

Wie lange dürfen sie ihre alte Gas- oder Ölheizung noch nutzen? Funktionierende müssen nicht ausgetauscht werden, auch wenn noch keine kommunale Wärmeplanung vorliegt. Unter bestimmten Bedingungen und mit zahlreichen Ausnahmen müssen nur Anlagen ausgetauscht werden, die älter als 30 Jahre sind.

Darf künftig überhaupt noch eine Gas- oder Ölheizung eingebaut werden? Grundsätzlich ja, aber wieder mit Ausnahmen. Wer seine nach dem 1. Januar 2024 auswechseln will, soll eine verpflichtende Beratung bekommen, um angesichts steigender CO2-Bepreisung auf eine mögliche Kostenfalle bei Nutzung fossiler Energieträger hinzuweisen. Bis zur Vorlage einer Wärmeplanung können auf Wasserstoff umrüstbare Gasheizungen eingebaut werden. Ist aber dann in der Kommune kein Wasserstoffnetz vorgesehen, gelten schrittweise Vorgaben zur Beimischung klimaneutraler Gase wie Biomethan (ab 2029 mind. 15 %, ab 2035 30 %, ab 2040 60 %. Biomasseheizungen (z. B. mit Holzpellets) sollen uneingeschränkt in Alt- wie Neubauten betrieben werden dürfen. In Neubaugebieten müssen unabhängig von der Wärmeplanung auf Wasserstoff umrüstbare und mit EE-Pflichtanteil betreibbare Gasheizungen installiert werden.

Ist die Heizung irreparabel kaputt, gibt es Übergangsfristen von 5 Jahren für neue Heizungen, die nicht die Anforderungen von 65 %-EE-Anteil erfüllen. Nach Fristablauf soll man sich auf Basis kommunaler Wärmeplanung für eine passende klimafreundliche Heizung entscheiden.

Entfallen ist aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sonderregel für Eigentümer:innen von Gebäuden mit bis zu 6 Mietwohnungen, die älter als 80 Jahre sind, im Fall einer nicht mehr reparierbaren Heizung nicht eine solche mit 65 % Ökoanteil einbauen zu müssen. Härtefälle müssen gesondert geltend gemacht werden. Zinsverbilligte Darlehen soll es über ein KfW-Programm geben.

Einkommensunabhängig soll es einen einheitlichen Fördersatz von 30 % geben, für solche mit einem zu versteuernden Einkommen von unter 40.000 Euro zusätzlich 30 %. Zudem ist ein „Geschwindigkeitsbonus“ von 20 % geplant, der ab 2028 alle 2 Jahre um 3 Prozentpunkte sinken wird. Der Fördersatz wird aber bei 70 % gedeckelt. Unklar bleibt bisher noch, wo die Fördermittel beantragt werden können und ob sie auch für moderne Gas- und Ölheizungen fließen.

Was kommt auf die Mieter:innen zu?

Auf die Mieter:innen in solchen Gebäuden kommt also eine Modernisierungsumlage zu. Sie sollen vor stark steigenden Mieten geschützt werden, aber gleichzeitig die Vermieter:innen Anreize bekommen, in klimafreundliche Heizungen zu investieren. Die Modernisierungsumlage beträgt 8 %/Jahr und fällt „natürlich“ auch nach Amortisation der Anlage weiter an. Sie kann auf 10 %/Jahr steigen, wenn die Vermieter:innen staatliche Förderung in Anspruch nehmen und diese Summe von den umlegbaren Kosten abziehen.

Die maximale Mieterhöhung pro Quadratmeter und Monat soll bei 50 Cent gekappt werden. Doch gilt diese Deckelung nur für 6 Jahre, unabhängig von der Inanspruchnahme staatlicher Fördermittel. Steigt die Miete dadurch auf mehr als 30 % des verfügbaren Haushaltseinkommens, soll nur eine beschränkte Umlagefähigkeit gelten. Mieterhöhungen wegen Heizungsaustausches sollen bei Indexmieten ausgeschlossen sein.

Sebastian Bartels bemängelt, dass im Gegensatz zur früheren Vorlage Energiekosten auf die Mieter:innen abgewälzt werden, die einen bestimmten Durchschnittswert übersteigen, z. B. bei Heizungen mit Biogas oder Wasserstoff. Berechtigt ist ferner sein Ärger darüber, dass Vermieter:innen Fördermittel, die sie nicht beantragt haben, nicht von der Modernisierungsumlage abziehen müssen.

Viele werden die Gelegenheit des Heizungsaustauschs auch nutzen, um zusätzliche Modernisierungsmaßnahmen durchzuführen, was dann wieder zu Kostenbelastungen von bis zu 3 Euro pro qm und Monat führe, so Bartels – um nach 6 Jahren weiter zuzunehmen. Manch ein/e Vermieter:in würde die Heizung angesichts der unklaren Planungslage innerhalb weniger Jahre auch zweimal austauschen, wenn er/sie sich verkalkuliert hat. Die wenigsten Mieter:innen wissen darüber hinaus, dass ein Härtegrund spätestens einen Monat nach Erhalt einer Modernisierungsankündigung geltend gemacht werden muss, z. B. wenn dadurch bedingt die Miete auf mehr als 30 % des Monatseinkommens steigt.

Ampelkoalition schönt eigene Klimabilanz

Kein Wunder also, dass es bei derart intransparenten und komplizierten Regelungen und gleichzeitigem Mangel an kollektiven Umbauplänen (siehe dazu auch: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/07/10/gebaeudeenergiegesetz-zieht-euch-warm-an/) die rechte Opposition Wasser auf ihre Mühlen bekommt. Zudem stockt das, was hierzulande als Energiewende schöngeredet wird. Sie endet in der Steckdose und auch hier fließt v. a. Schwachstrom. Zur Halbzeit der Bundesregierungsperiode kommt die Stromwende zwar etwas schneller voran, der Ausbau von Wind- und Solarenergie genießt jetzt den rechtlichen Vorrang eines öffentlichen Interesses. In diesem Jahr werden 10.000 MW Photovoltaik ans Netz gebracht, doppelt so viel wie 2021. 4.000 MW Windkraft kommen hinzu, zwei Drittel mehr als im letzten Jahr. Doch die hier nötigen 10.000 MW liegen in weiter Ferne.

Noch schlimmer steht es um die Reform des Klimaschutzgesetzes. Die Koalition gibt de facto die Emissionsminderungsziele für die Sektoren Verkehr und Gebäude auf. Sehr zum berechtigten Verdruss von Fridays for Future und Umweltverbänden weigerten sich Verkehrs- und Bauressort, ein Programm vorzulegen, nachdem der von der Bundesregierung einberufene Klimaexpert:innenrat bereits im April moniert hatte, dass die Emissionsvorgaben dort für 2022 verfehlt wurden. Eigentlich sieht das geltende Klimaschutzgesetz vor, dass ein Plan zwecks Lückenschluss vorgelegt werden muss. Diese Frist lief am Montag, den 17. Juli 2023, ab. Mit der vom Bundeskabinett im Juni beschlossenen Novelle des Klimaschutzgesetzes und den Maßnahmen im Entwurf zum „Klimaschutzprogramm 2023“ sei diese Pflicht wegen Überschreitung in den Vorjahren entfallen, so die Minister:innen Geywitz und Wissing unisono.

Nicht einmal 70 % der Emissionsvorgaben sind durch beschlossene Maßnahmen einigermaßen gesichert. Im letzten Monat wurde das GEG fast neu geschrieben. So wurde die Lebensdauer fossiler Heizungen um Jahre verlängert. Ferner sind zu erwähnen: der LNG-Boom – klimatisch bedenklicher als Braunkohle –, Tausende MW geplanter Backupkraftwerke für das zukünftige Stromsystem (ohne vernünftige Netzstruktur und Speicherkapazitäten), der Trick mit den wasserstofffähigen Heizungen, die auf Jahre ebenso wie die Elektrizitätswerke mit Erdgas statt grünem Wasserstoff laufen dürften. Diese Marktanarchie wird von Rot-Grün-Gelb gefördert, nicht die ökologisch sinnvolle Überbrückbarkeit der Zeit, in der die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Der Unsinn des Handels mit Strom an der Leipziger Warenterminbörse wird darüber hinaus den enormen Zuwachs beim Solarstrom konterkarieren, wenn sonnige Tage den Strompreis auf null drücken.

Versagen fördert rechten Diskurs: Bundesregierung und DIE LINKE

Die Debatte ums sogenannte Heizungsgesetz bildet ein Muster dafür, wie ökologisch unzureichendes Tun auf rechts gedreht wird. Im dieses Frühjahr durchgesickerten Referent:innenentwurf war nicht geklärt, wie die Förderung der Eigenheimbesitzer:innen aussehen sollte, noch weniger die Entlastung der Mieter:innen. Es wurde der Eindruck erweckt, Heizen mit Öl und Gas werde ab 2024 verboten. Selbst führende Mitglieder der Linkspartei fielen in den Tenor der AfD, Union und Springerpresse vom „Heizungsdiktat“ ein. Diesen ging es im Grunde darum, eine Klimapolitik anzugreifen, die auf Verbote und Ordnungspolitik setzt. Mit Erfolg! Klima- und sozialpolitisch wurde das GEG entkernt bzw. bleibt weit hinter den Notwendigkeiten zurück.

Habecks Gesetz sah klimafreundlichere Heizungen vor, hätte aber via Modernisierungsumlagen die Mieten hochgetrieben. Eigentümer:innen sollten begrenzt bezuschusst werden. Neoliberaler Alltag mit grün-roter Sozialtünche. Den Klassenkampf von oben verschärfte die Rechte inkl. FDP. Ihre Empörungskampagne stand ganz im Zeichen der lukrativen Gasindustrie. Die Grünen geraten hier zur Zielscheibe, nicht weil sie eine offen bürgerliche Partei sind, sondern als Symbol für alles Progressive. Sämtliche Talkshows, in denen erhitzte Gemüter mehr oder weniger künstlichen Dampf ablassen konnten, laberten an Kernkonflikten wie Kostenverteilung und Industrieprofiten vorbei. Auch Mitglieder der LINKEN entblödeten sich nicht, sich unterm Deckmantel des Mieter:innenschutzes mit den fossilen Kräften gegen die Grünen zu verbünden.

DIE LINKE stand in dieser wichtigen Debatte mal wieder am Spielfeldrand. Dabei wäre, Sozial- und Klimapolitik miteinander zu verknüpfen, ein Leichtes gewesen.

Während das Motto der selbsternannten Fortschrittskoalition bestenfalls „Unser Kapitalismus muss grüner werden“ lautet, beschränkte sich die Linkspartei auf Kritteleien in puncto soziale Flankierung des Heizungsaustauschs und Mieter:innenschutz. Kollektive und erschwingliche Lösungen wie massiver Ausbau und Verstaatlichung der (Wärme-)Netze; Verbot, mit Wärme Profit zu machen, das sucht man bei ihr vergebens mit Ausnahme einiger Einzelpersonen. Demgegenüber treten wir ein:

Für eine sozialistische Wärmewende!

Statt über Marktanreize einen Übergang ungeplant und unkoordiniert vor sich hinlaufen zu lassen und die Verantwortung fast vollständig auf die Immobilienbesitzer:innen zu übertragen, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Plan für eine echte Wärmeverbrauchsreduktion als Teil einer integrierten Energiewende aller Sektoren. Statt Ausschüttung von Direktinvestitionen mit ihren Ungerechtigkeiten und ihrem bürokratischen Aufwand braucht es eine Finanzierung durch progressive Besteuerung aller Einkünfte.

In einem dichtbesiedelten Land wie Deutschland drängt sich an erster Stelle der verpflichtende Ausbau von kommunalen Fernwärmenetzen auf. Wo dies sich gesamtgesellschaftlich nicht rechnet, bieten sich individuelle Lösungen an wie Wärmepumpen, aber auch Solarthermie (Erzeugung von Wärme im Unterschied zur Photovoltaik, die Strom aus Sonnenenergie erzeugt). Ausbau von Fernwärme im Verbund mit kommunalen Wasserspeichern (Brauch- und Trinkwasser getrennt!) genießt darüber hinaus den Vorteil, dass die Abwärme aller Sektoren genutzt werden (Anschlusszwang, Wärmetauschanlagen) sowie Wasserheizung mit überschüssigem erneuerbaren Strom erfolgen kann – jedenfalls vorrangig vor seinen anderen möglichen Speicherarten (chemisch, Druckluft).

Natürlich muss dieser Plan Hand in Hand gehen mit Ausbau der Stromnetze und -speicher, Kollektivierung des Verkehrs (ÖPNV, kommunale Taxis) und seiner Umstellung auf erneuerbare Energien (Stromleitung, Biomethan). Schließlich gelingt die Wärme- ebenso wie die Energiewende nur, wenn die Netzbetreiber:innen und Stromproduzent:innen sowie fossilen Großkonzerne entschädigungslos enteignet werden und auch wie jene Immobilienbesitzer:innen, die sich Anschlusszwang und Erneuerung widersetzen. Das gilt auch für Firmen der Bau- und Ausrüstungsindustrie, die die Umsetzung dieses Plans, aus nicht technisch bedingten Gründen, unnötig verzögern.




Klimawandel: Der nächste Waldbrandsommer?

Leo Drais, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Verschwunden sind die Rauchfahnen südlich von Berlin. Nach zwei langen Wochen konnte das Feuer im Waldgebiet bei Jüterbog Mitte Juni gelöscht werden. 733 Hektar Wald gingen verloren, mehr als doppelt so viel wie das Berliner Tempelhofer Feld. Was bleibt ist ein Bild der Verwüstung. Erschwert wurden die Löscharbeiten durch das Vermächtnis der imperialistischen Armeen deutscher Vergangenheit des Kaiser- und Dritten Reichs, nach 1945 aufgestockt v. a. durch die Hinterlassenschaft der sowjetischen Besatzungsarmee: tonnenweise Munitionsrückstände, die über die Waldgebiete verstreut sind. Ein ähnliches Problem gab es bereits in den vergangenen Jahren bei Bränden im Berliner Grunewald oder bei Treuenbrietzen.

Immer häufiger werden auch in Deutschland Waldgebiete durch verheerende, nicht zu kontrollierende Brände vernichtet. Und mit ihnen – wie etwa in Jüterbog, das sich seit Jahrzehnten in  Renaturierung befand – der Rückzugsraum für teils bedrohte Tierarten und ein Erholungsgebiet für die Bevölkerung. Insbesondere Nordost-, Ost- und Südwestdeutschland sind von Waldbränden zunehmend bedroht. In Bayern werden inzwischen Flugzeuge eingesetzt, um nach Brandherden Ausschau zu halten. Keine Region scheint wirklich mehr sicher vor Waldbränden. Die menschengemachte Klimaerwärmung mit ihren Dürresommern macht es möglich.

Plantagen, keine Wälder

Dabei wird bei fast allen in der jüngeren Vergangenheit eines klar: Die kapitalistische Forstwirtschaft ist mitverantwortlich. Ihr Profitinteresse steht einer ökologischen Waldnutzung entgegen – und erhöht stattdessen stetig die Gefahr, die jetzt, mit den trockenen Sommern, ausbricht.

Egal ob staatlich oder privat, die profitgelenkte Forstwirtschaft kennt nur eine Maxime: So viel verkäufliches Holz wie nur möglich aus einem Waldgebiet herauszuholen, dass es gerade eben erhalten bleibt. Der Weg dorthin führt unweigerlich über die Monokultur: Die exklusive Bepflanzung mit Fichten und Kiefern versprach den größten Gewinn in Gestalt schnellwachsender Bäume, wobei sich die Fichte auch noch hervorragend als Bauholz eignet. Die eigentlich heimischen Bäume wie Buchen oder Eichen wachsen deutlich langsamer. Buche ist zudem als Bauholz ungeeignet. Hinzu kommt ein steigender Brennholzbedarf, wo wiederum vor allem Buchen verbrannt werden.

Kaum noch ein Wald in Deutschland setzt sich annähernd naturnah aus Mischhölzern zusammen. Ihr Anteil ist seit langem rückläufig. Selbst in Nationalparks wie dem Harz oder der Sächsischen Schweiz wurden Fichtenplantagen angelegt, die nun großteils abgestorben oder verbrannt sind. Die Hauptprobleme bei diesen sind, dass Nadelhölzer randvoll mit gut brennbaren ätherischen Ölen und vor allem Fichten durch anhaltende Trockenheit nicht mehr in der Lage sind, sich gegen den Borkenkäfer zu wehren, und absterben, was zusätzlich trockenes, brennbares Gehölz bedeutet. Zudem sind Fichten- und Kiefernplantagen nicht in der Lage, viel Wasser zu speichern, und heizen sich somit stärker auf. Es fehlt der Kühleffekt durch Verdunstung. Gerade für Brandburg wird immer wieder das Argument vorgetragen, dass es die sandigen Böden sind, die das Wasser nicht speichern. Jedoch provoziert die Monokulturbepflanzung mit Kiefern genau diese Versandung. Es gibt Mischwälder, die, ebenfalls auf sandigen Böden stehend, ihren eigenen Wasserspeicher bilden. Hinzu kommt, dass durch die maschinisierte Forstwirtschaft die Böden in den Rückegassen und Harvesterschneisen verdichtet sind, Wasser hier also auch nicht versickert, sondern stehenbleibt und nach wenigen trockenen Tagen verdunstet ist.

Kapitalistische Misstöne

Der kapitalistische Dreiklang des Waldbrands lautet also: Waldvernichtung, Artendegradierung und Klimawandel. Das ist übrigens nicht erst seit den vergangenen Dürresommern bekannt. Der Holzhunger der Forstwirtschaft wurde z. B. auch 1970 beim Brand in der Lüneburger Heide bitter bezahlt: Mehr als 13.000 Hektar Wald, Moor- und Heideland verbrannten, sieben Menschen starben. Auch beim größten Waldbrand in der Geschichte Deutschlands spielten Kiefernmonokulturen – also die profitorientierte Nutzung der Waldgebiete – eine erhebliche Rolle. Große Teile der verbrannten Gebiete wurden erneut mit Kiefern aufgeforstet, wider besseres Wissen.

Und schließlich ist die größte Auslöserin von Waldbränden menschliche Fahrlässigkeit oder Mutwilligkeit.

Klimawandelfolgenbewältigung

Der Großteil der modernen Forstwirtschaft kennt keine adäquaten Antworten auf das Problem. Abgebrannte oder abgestorbene Gebiete werden beräumt und wieder plantagenartig aufgeforstet, mit ordentlich staatlicher Förderung. Kahle, sich leicht aufheizende Flächen entstehen, die im Sommer schnell vertrocknen.

Hinzu kommt die unzureichende Ausrüstung von Katastrophenschutz und Feuerwehren. Beide werden zu über 90 Prozent im Ehrenamt betrieben. Mit Satelliten ließen sich Waldbrände binnen kurzer Zeit erkennen, aber weil die Überwachung durch sie teuer ist, wird bisher wenig davon Gebrauch gemacht. Daneben bleibt vielerorts das spezifische Problem von militärischen Altlasten.

Für Regionen wie Deutschland, aber auch generell spielt Wald eine sehr wichtige Rolle dabei, wie sehr Gebiete von Trockenheit und Hitze betroffen sind. Die Dürre in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hängt auch damit zusammen, dass große Teile der Landfläche dort land- und forstwirtschaftlich genutzt werden und der Wald als „Regenmacher“ fehlt. Im Kontinentalklima bildet er einen der wichtigsten Faktoren für die Wolkenbildung. Wälder reichen das Wasser über die Landmasse weiter . Es gilt als erwiesen, dass der Regen in Nordchina sein Wasser eigentlich aus dem Atlantik bezieht.

Es wäre also wichtig, wieder mehr Wald – und zwar naturnahen – zu haben. Es zeigt sich bereits, dass wenn der Wald mehr sich selbst überlassen wird, er sowohl sturmfester als auch brandresistenter wächst. In Deutschland würden sich langfristig standortheimische Bäume durchsetzen. Pionier:innen wie Birken und Pappeln zeigen in Untersuchungen, dass diese als erste verbrannte Flächen erobern und effektiver Wasser speichern als neu angepflanzte Douglasien oder Stieleichen. Erstere wachsen schneller und bieten die Wachstumsvoraussetzungen für z. B. für Buchen.

Hinzu kommt der Aspekt, dass Wälder gigantische Kohlenstoffspeicher sind, im Kampf gegen die Klimaerwärmung also einen der wichtigsten Verbündeten darstellen.

Kapitalismus, Natur und Sozialismus

Wie im Generellen offenbart sich auch im Umgang, in der Nutzung und Ausbeutung der Wälder, deren Brandanfälligkeit zu großen Teilen eine Folge davon ist, wenigstens in gemäßigten Klimazonen  – ein Mensch-Natur-Verhältnis, in dem der Kapitalismus über natürliche Grenzen hinauszutreiben versucht und damit Ökosysteme ins Wanken bringt.

Am offensichtlichsten ist das beim Vergleich Holznutzungsdauer zu Baumwachstum. Bspw. wird kaum ein Möbelstück von IKEA solange genutzt, wie die Bäume, aus denen ihr Holz stammt, zum Wachsen gebraucht haben. Bei Papier oder Energie-/Wärmeerzeugung fällt dies noch mehr auf. Eine ökologische Kreislaufwirtschaft müsste bedeuten, dass im Schnitt so viel Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann, jedoch müsste zuvor deutlich mehr Fläche wieder bewaldet werden – Stichwort: Wald und Lokalklima, siehe oben.

Erst dann wäre hier ein ausgeglichenes Mensch-Natur-Verhältnis im Kohlenstoffkreislauf erreicht. Hier wird bereits deutlich, dass das Problem nicht isoliert gelöst werden kann. Der Holzhunger der Industrie steht ökologischen Erfordernissen entgegen. Die Enteignung und Verstaatlichung der Holzindustrie als auch der Forste selbst, die Etablierung eines demokratischen Wirtschaftsplans, kontrolliert von Forstarbeiter:innen, Wissenschaftler:innen und Holzverarbeiter:innen, ist daher die Voraussetzung für eine wirkliche Nachhaltigkeit. Dieser könnte zum Beispiel eine Holznutzungskette etablieren, sprich Holz mehrfach nutzen lassen (etwa: Bauholz und dann erst Brennholz), was heute selten passiert.

Der Wald ist dabei ein Beispiel dafür, wie lange, selbst wenn sie in den nächsten einhundert Jahren erreicht würde, eine sozialistische Gesellschaft an den Folgen des Kapitalismus zu knabbern hätte, auch wenn Tätigkeiten wie Katastrophenschutz und Feuerwehr dann nicht ins Ehrenamt gedrängt würden und eine bessere Waldbrandüberwachung gewährleistet werden könnte. Zudem würde in einer sozialistischen Gesellschaft durchschnittlich das Bewusstsein für Natur und Mensch steigen, würden Waldbrände aus Unachtsamkeit und Böswilligkeit also wahrscheinlich zurückgehen.

Vor allem aber – und das kann wenigstens Hoffnung machen – zeigen Orte, die, zum Beispiel auch nach Waldbränden, der Natur selbst überlassen wurden, dass hier eine relativ schnelle Wiederbewaldung erfolgt. Das bedeutet, dass eine der wichtigsten Lebensgrundlage der Menschen sich auch schon ohne ihr Zutun mitunter am besten regeneriert. Wenn es ein Gesellschaftssystem gibt, das in der Lage ist, sich auf die Langsamkeit der Bäume einzustellen, kann das von Menschenhand erstmals gesamtgesellschaftlich rational überwacht, gesteuert und im Sinne der Wiederherstellung eines ausgeglichenen Mensch-Natur-Verhältnisses, einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, gefördert werden.




Mahle Neustadt/Donau: Geht der Kahlschlag bei den Autozulieferern weiter?

Mattis Molde, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Der Personalabbau in der Autoindustrie ist voll im Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind noch 760.000 im Jahr 2022 übrig gewesen, also fast 100.000 weniger. Diese Entwicklung spielt sich vor allem in der Zulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen wie GKN, Dura und BCS wurden verkauft oder schlossen Standorte, größere Unternehmen wie Opel, Ford, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Größenordnungen von tausenden abgebaut und Standorte geschlossen.

Das ist keine Überraschung. Der Verband der Automobilindustrie, VDA, hatte dies schon im Juni 2021 angekündigt: „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze.“

Auf die Presseerklärung des VDA erfolgte damals keine Reaktion der IG Metall. Jetzt titelt die Juli-Ausgabe der Gewerkschaftszeitung METALL: „Volle Kraft für die Transformation“. Die volle Kraft besteht unter anderem in „Zukunftstarifverträgen“, die die IG Metall für Bosch und Mahle fordert und bei ZF schon abgeschlossen hat: „An allen Standorten sollen Zielbilder entstehen, mit neuen Produkten, Geschäftsmodellen und der nötigen Qualifizierung. Die Beschäftigten sollen die Zielbilder mitgestalten.“

Der Artikel – und der entspricht völlig dem, was auch auf Konferenzen und Versammlungen derzeit von der Führungsebene der IG Metall verbreitet wird – tut so, als ob der Verlust von tausenden Arbeitsplätzen an fehlenden Zielbildern und nicht vorhandenen Zukunftstarifverträgen (ZTV) gelegen habe.

Die gab es jedoch, sie hießen nur anders. Erst nannte man sie Standortsicherungsvereinbarungen, dann wurden die Namen vielfältiger, oft z. B. Zukunftsvereinbarung. Übereinkünfte wurden erzielt bei Restgrößen von Belegschaften, Lohnverzicht oder unbezahlter Arbeitszeitverlängerung, gerne im Namen von Qualifizierung. Zunehmend wurden in diesen Betriebsvereinbarungen auch betriebliche Gesprächskreise für neue Produkte vereinbart. Unterschrieben wurden sie von den (Gesamt)-Betriebsräten und – wenn sie in Tarifverträge eingriffen – auch von der IG Metall. Jetzt sollen die ZTV von der Gewerkschaft verhandelt werden und von dazu gebildeten Tarifkommissionen, in denen wieder die Betriebsratsspitzen sitzen.

Der einzige formale Unterschied wäre: Für Tarifverträge dürfte gestreikt werden – falls die Gerichte das als tariffähig anerkennen. Aber bislang ist in der IG Metall von Streik keine Rede, ja laut METALL sind „Zukunftstarifverträge nicht erzwingbar“. Auch die letzten Tarifrunden wurden nirgends genutzt, um mit Streiks Druck auf für den Erhalt von Arbeitsplätzen aufzubauen.

Aus den neuen Produkten, die unter der Leitung von Werksleitungen und Betriebsräten gesucht wurden, ist selten was geworden. Die Konzerne behielten sich immer die Entscheidung vor, was und wo produziert wird. Es kam vor, dass die gefundenen Produktideen einfach anderswo platziert wurden und das Werk, wo sie entwickelt worden waren, haben sie dichtgemacht.

Die METALL-Zeitung führt zum x-ten Male das Beispiel Bosch in Homburg/Saar an. Dort wurde eine Wasserstoff-Brennstoffzellen-Produktion aufgebaut. „200 Beschäftigte arbeiten bereits daran.“ Als Ersatz für abgebaute 1.000 Arbeitsplätze.

Mahle Neustadt

Betriebsräte und Belegschaft  treffen dort eine etwas realistischere Einschätzung als die Artikel in der METALL. Sie haben erkannt, dass mit schönen Worten nichts von einer Geschäftsführung zu holen ist, die es noch nicht mal für nötig hält, mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Zweimal innerhalb weniger Wochen ging die Belegschaft vors Tor, was der METALL, die auch über Mahle berichtet, keine Erwähnung wert ist.

Erstmal geht es um gut 50 der 420 Arbeitsplätze. Sie sind in Gefahr, weil die Bosse Produktion verlagern. Aber zu Recht sehen die Kolleg:innen, dass das Problem größer ist. Nach dem Auslaufen der jetzigen Aufträge sind noch keine weiteren platziert worden. Es droht, dass die Produktion schlicht ausgetrocknet wird.

Auf der Kundgebung am 23.6. haben sich mehrere hundert Beschäftigte beteiligt, unterstützt von Solidaritätsdelegationen aus anderen Mahle-Werken. Auch Vertreter:innen von SPD und CSU waren anwesend. Es fielen warme Worte. Aber damit kann kein Kampf gegen eine so entschlossene Gegnerin wie die Mahle-Geschäftsführung gewonnen werden.

Die überbetriebliche Mahle-Betriebsgruppe MAHLE-SOLI verteilte einen Flyer, der reißenden Absatz fand. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Flugblatt. Der Widerstand bei Mahle Neustadt braucht die Solidarität aller Lohnabhängigen, vor allem aber von kämpferischen Gewerkschafter:innen in der IG Metall und der VKG. Denn die Erfahrung zeigt: Nur ein entschlossener Abwehrkampf, der sich auf die gesamte Belegschaft stützt, nur Streiks, Mobilisierungen und die Besetzung des Betriebes können letztlich den Druck erzeugen, der nötig ist, Personalabbau und Schließungen zu verhindern. Dazu können wir uns aber nicht auf den IG Metall-Apparat verlassen, dazu müssen die Beschäftigen selbst, ihren Kampf in die Hand nehmen, indem sie auf regelmäßigen Vollversammlungen ein Aktionskomitee zur Leitung zur Koordinierung des Widerstandes wählen, das ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

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Anhang: Auszüge aus Mahle Soli

Die IG Metall muss endlich aufhören, die Angriffe der Autokonzerne als Probleme der einzelnen Belegschaften und Betriebsräte zu behandeln!

Wenn die Tarifrunden der IG Metall, in denen Streiks möglich waren, auch genutzt worden wären, um andere Zugeständnisse zu erzwingen, wenn die IG Metall endlich alle bedrohten Belegschaften der Auto- und besonders der Zulieferindustrie zusammenbringen würde, um ein gemeinsames, verbindliches Kampfprogramm zu vereinbaren, anstatt auf Konferenzen „soziale und ökologische Transformation“ zu fordern, während die Konzerne das Gegenteil tun – dann kommen wir alle als Metaller und Metallerinnen wieder auf die Siegerstraße!

Auch Mahle ist groß darin, Arbeitsplätze dorthin zu verlagern, wo die Arbeitskraft billiger ist und der Umweltschutz weniger umgesetzt wird. „Sich seit einigen Jahren verschärfende Umweltauflagen“ hatte z. B. die GF als Gründe für die Verlagerung der Gießerei in Zell angegeben. Diese „Transformation auf Kapitalistenart“ geht auf Kosten der Arbeitenden und der Umwelt, sie ist unsozial und unökologisch.

Kämpfen statt betteln!

Die Autokonzerne haben bisher nichts dazu beigetragen, dass der Verkehr klimagerechter wird. Im Gegenteil, der CO2-Ausstoß beim Verkehr steigt. Sie haben beim Abgasmessen betrogen und ihre Werbung auf „grün“ getrimmt. Dafür haben sie noch Milliarden erhalten. Zurecht empören sich Millionen, vor allem junge Menschen, darüber. Warum kämpfen wir Metaller:innen nicht mit ihnen für eine ökologische Umstellung der Produktion auf klimagerechte Verkehrssysteme? Die Autokonzerne werden mit Milliarden subventioniert (für Forschung, Transformation, Kurzarbeit, nicht eingeforderte Strafen für Abgasbetrug, Verlagerung in andere EU-Länder …). Das Geld wäre besser aufgehoben für die Entwicklung und Produktion klimagerechter Produkte!

Verkehrswende und Arbeitsplatzwende

Die IG Metall-Spitze ist immer noch nur auf eine Antriebswende orientiert. E-Autos sollen die Weltmarktposition der großen deutschen Konzerne sichern, und damit verspricht man sich auch die Sicherung von Arbeitsplätzen in den Konzernen. Die Belegschaften der Zulieferer schauen dabei in die Röhre: E-Autos brauchen weniger Teile und die verbliebenen Teile für Verbrenner verlagern die Konzerne ins Ausland.

Eine Verkehrswende bringt andere Produkte in Spiel: mehr Straßenbahnen, Busse und Eisenbahnen. Die Verkehrswende bringt auch mögliche neue Verbündete ins Spiel. Auch wenn die Klimabewegung bisher ähnlich erfolglos bei den Regierungen war wie die IG Metall beim Durchsetzen ihrer Forderungen gegen die Konzerne, gemeinsam könnte sich eine Kraft entwickeln, die über Appelle an die eine oder andere Seite hinausgeht, die statt Kreuzungen zu blockieren, und gelegentlicher Proteste vorm Werkstor die Betriebe besetzt und die Produktion umgestaltet.




Gebäudeenergiegesetz: Zieht euch warm an!

Jürgen Roth, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Das vom Bundestag noch zu verabschiedende Gesetz bewegt die Republik wie selten ein zweites. In diesem Artikel wollen wir den Charakter dieser Debatten ebenso beleuchten wie die Konturen des Gesetzentwurfs. Schließlich skizzieren wir eine grundlegende Alternative, die sich sowohl über die Grenzen der bisherigen Diskussion als auch über den Dschungel aus Förderungen und Subventionen, Marktwirtschaft und Ordnungspolitik zu erheben versucht, der in breiten Kreisen der Bevölkerung durch seine Intransparenz Unverständnis, Ratlosigkeit, Angst und Wut auslöst.

Primärenergieverbrauch nach Sektoren

Zwischen 2010 und 2020 sanken in der BRD die Treibhausgasemissionen in Mio. t CO2-Äquivalenten von 932 auf 731, um zwischen 2020 und 2022 wieder auf 746 anzusteigen. Lt. Klimaschutzgesetz sollen sie bis 2030 auf 440 fallen.

Gliedern wir den Verbrauch und den Anteil erneuerbarer Energien im Jahr 2022 nach Sektoren auf, so ergeben sich für den Bruttostromverbrauch 550 Mrd. kWh, davon stammen 46,2 % aus erneuerbaren Energien. Der Endenergieverbrauch im Verkehrssektor beläuft sich auf 597 Mrd. kWh, der Anteil der Erneuerbaren beträgt 6,8 %, der für Wärme (und Kälte!) 1.155 Mrd. kWh, bei einem Anteil von 17,4 % aus Erneuerbaren. Somit verbraucht dieser Sektor mehr Primärenergie als die beiden anderen zusammen und ist der mit dem zweitniedrigsten Anteil an erneuerbaren Energien.

Es hört sich also gut an, dass die Bundesregierung den Anteil erneuerbarer Energien bei Gebäuden erhöhen will. Allerdings spart die Gesetzesvorlage klassenpolitisch selbstverständlich im letzten Sektor Industrie, Handel und Dienstleistungen aus und beschränkt sich auf Immobilien- und Wohnungseigentum.

Von den 41 Mio. deutschen Haushalten werden 80 % derzeit mit fossilen Energieträgern beheizt: fast die Hälfte mit Erdgas, 25 % mit Öl und 14 % mit Fernwärme. Richtig angepackte Umgestaltung vorausgesetzt, könnte das Stiefkind Wohnungssektor also durchaus einen merklichen Beitrag zur Klimaneutralität leisten. Doch dazu müsste das Gebäudeenergiegesetz vernünftig konzipiert sein.

Konturen

Ursprünglich sollte der Gebäudesektor erst 2025 gesetzlich erfasst werden. Dies wurde nun auf 2024 vorgezogen. Die „Wärmewende“ beinhaltet, dass ab diesem Jahr Heizungen, die bis 1991 installiert wurden, gegen neue ausgetauscht werden müssen, die zu mind. 65 % mit erneuerbarer Energie betrieben werden, also z. B. mit Wärmepumpen, die Zugang zur Erdwärme verschaffen (geothermisches Prinzip). Bis 2045 sollen dann alle Heizungen diese Auflagen erfüllen und ansonsten ausgetauscht werden.

Eigentlich müssten ab nächstem Jahr 4 Mio. neue Heizungen eingebaut werden, aufgrund zahlreicher Ausnahmen sind es aber „nur“ hunderttausende. Auch hybride Systeme dürfen benutzt werden wie neue Erdgasheizungen, die vielleicht irgendwann später auch mit Wasserstoff betrieben werden können. Ökologisch gesehen ist der Einsatz von Wasserstoff, selbst wenn er „grün“ erzeugt werden sollte, für Verbrennungszwecke jedoch ziemlicher Unsinn. Aber das stört ja nicht, wenn ein Teil der deutschen Energieindustrie und des Finanzkapitals Rieseninvestitionen in die „Wasserstoffstrategie“ plant und tätigt.

Heilige Kuh Privateigentum

Ende 2020 existierten in der Bundesrepublik 19 Mio. Wohngebäude, davon 2/3 Einfamilienhäuser. Nur 3 Mio. beherbergten 3 und mehr Wohnungen. In Einfamilienhäusern lebten durchschnittlich 3 Personen. Diese sind auch am weitesten von ökologischer Nachhaltigkeit entfernt. Studien zeigen, dass diese erst ab einer Wohnfläche von unter 45 m² pro Kopf erreicht werden kann. Die Zersiedelung vergrößert zudem den Gegensatz zwischen Stadt und Land, verlängert Wege und damit erhöht sie den Energieverbrauch unnötig. Gebäudesanierungen an Einfamilienhäusern drosselten zudem nicht den Energieverbrauch, sondern führten zu erhöhter Innentemperatur (durchschnittlich um 2° C). Das Eigenheim ist also die ökologisch schädlichste Form des Wohnens.

Eine zukünftige sozialistische Gesellschaft wäre aus all diesen Gründen gut beraten, seine Förderung gänzlich einzustellen, auf derartige Neubauten zu verzichten und zu einer Besiedlung nach dem Clusterprinzip überzugehen. Cluster meint hier die gleichmäßige Verteilung von Industrie, Dienstleistung, Handwerk, Gewerbe, Landwirtschaft und Forsten sowie Freizeiterholung und Wohnen etc. Dieses Prinzip verbindet genügend Fläche für rationale Betriebsweisen mit diversen, praktisch überall leicht verfügbaren Angeboten im nahen und mittleren Bereich.

Die ökologisch schädlichste Form des Wohnungsprivateigentums beizubehalten und an ihrem Energieverbrauch herumzudoktern, ist schon Klimafrevel genug, doch wenn schon heiliges Privateigentum, dann richtig. So denken jedenfalls Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck und sein Stab. Darum setzt das Gebäudeenergiegesetz ja auch auf die kleinteilige Einzellösung Heizungstausch und die ebenso individuelle „Verantwortung“ der Immobilienbesitzer:innen. Es grünt so grün, wenn Habecks Flausen blühen! Darum ist in seiner ganzen Anlage das Gesetz weder ökologisch noch sozial.

Koalitionsklima

Auch hier waren Hitzerekorde zu verzeichnen. Kurz nach Kabinettsbeschluss kritisierte die FDP, deren Verkehrsminister Wissing dafür sorgt, dass in seinem Sektor der Anteil erneuerbarer Energien am heftigsten gedeckelt ausfällt, an der Vorlage deren „planwirtschaftliche“ Regulierungswut zu Lasten der Privaten, mangelnde Technologieoffenheit und Überforderung der Haus- und Wohnungseigentümer:innen. Zudem seien Starttermine unklar.

Ende Mai beförderte die Entlassung von Wirtschaftsstaatssekretär Graichen – ein „Amigo“ Habecks – weitere Dissonanzen. In diesen kakophonen Chor fielen dann auch die Abgeordneten Göring-Eckardt (Grüne), Kruse (FDP), der Verband kommunaler Unternehmen und die Gewerkschaft IGBCE ein. Bundesbauministerin Geywitz machte am 2. Teil des Gebäudeenergiegesetzes ein neues Fass auf und kritisierte die zu hohen Auflagen bzgl. Wärmedämmung bei Neubauten (EH40). Nicht etwa, dass sie zu Recht bemängelt hätte, dass diese Regelung die besonders sanierungsbedürftigen Bestandsbauten gänzlich außer Acht ließ, nein, sie meinte, weniger Dämmung bei Neubauten täte es auch (EH 55).

Somit stand es lange Zeit auf der Kippe, ob das Gesetz überhaupt vor der Sommerpause durchs Parlament beschlossen werden konnte. Am 13.6. einigte man sich auf Leitplanken im Kabinett, so dass ab 15.6. die 1. Lesung im Bundestag beginnen konnte.

Geywitz und Habeck hatten dann zur Abwechslung mal eine gute Idee. Sie wollen das Gebäudeenergiegesetz mit kommunaler Wärmeplanung koppeln. Aber auch diese Absicht wird von der Realität konterkariert.

Die kommunale Wärmeplanung steht nämlich lt. Umfrage des Deutschen Städtetags vielerorts noch am Anfang. Lediglich 4 % von 119 befragten Kommunen befinden sich bereits in der Umsetzung. Sie soll ab 2026 für Großstädte und ab 2028 für die restlichen Gemeinden vorliegen. Allein die Planungs- und Beratungskosten pro Gemeinde werden auf bis zu 200.000 Euro geschätzt, notwendiges zusätzliches Personal nicht mit eingerechnet. Schuldenbremser Lindner wird’s nicht freuen, aber der ist ja vielleicht dann nicht mehr zuständig. Angesichts der Klimakrise erinnert das Agieren des Kabinetts Scholz an einen Komödienstadl. Andere Länder wie Dänemark sind da Jahrzehnte weiter.

Konservative Kritik

Diese Art Kritik am Gesetz spielt insofern einen Doppelpass mit der AfD, als die Überforderung mancher Kleineigentümer:innen etwas Richtiges anspricht, weil viele durchaus der Schuh drückt. Dabei geht es nicht nur um Finanzen, sondern um undurchsichtige und bürokratische Förderungsregelungen sowie Ratlosigkeit, welche Alternativen zur alten Heizung die besseren sind. Auf Wasserstoff aus Marokko oder vom Arabischen Golf warten oder doch die teurere Wärmepumpe bestellen, die möglicherweise – es hängt ja von der verfügbaren Erdwärme ab – nichts bringt? Und wann kann das Installations- und Heizungsgewerbe überhaupt liefern?

Die zweite Hauptkomponente dieses Rechtsdiskurses – mangelnde Technologieoffenheit – haben wir oben bereits widerlegt (Wasserstoffhype). Sie stimmt schlicht und einfach nicht. Außerdem verschweigt die Klimarechte, dass die Ampelkoalition ihre „Bedenken“ im Gesetz für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung aufnimmt, dem zufolge die geplante „Wärmewende“ mit anderen Sektoren „verrechnet“ werden kann. So steht die Förderung von 147 Autobahnprojekten ganz oben auf dem Zettel.

Linke Bedenken

DIE LINKE hebt sich diesmal wohltuend von diesem Diskurs ab. Sie weist darauf hin, dass zentrale Ungerechtigkeiten im Gesetz erst gar nicht vorkommen. Schließlich lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung zur Miete. Die Kosten für eine neue Heizung können Vermieter:innen jährlich in Höhe von 8 % auf die Miete im Rechnungsposten Modernisierungsumlage draufsatteln – abzüglich der staatlichen Förderung. Doch diese ist nicht degressiv, also sozial gestaffelt. Zudem ist es für die Eigner:innen günstiger, keine zu beantragen und sich den unsäglichen Papierkram, der überdies ein ganzes Heer staatlich Bediensteter beschäftigen wird, zu ersparen. Während nämlich die staatlichen Zuschüsse zeitlich begrenzt laufen, werden die bis zu 8 % Mietzuschlag auf Immobilienlebenszeit eingesackt und erhöhen so die Wohnungsrente.

DIE LINKE fordert also zu Recht die Abschaffung der Modernisierungsumlage, eine sozial gerechte Finanzierung und planvolles Vorgehen in Gestalt einer ökologisch sinnvollen „Wärmewende“ unter Berücksichtigung von Fernwärme. Doch eine grundsätzliche Kritik an der Energiepolitik der Bundesregierung mit ihrem ebenso skurrilen wie ineffektiven Mischmasch aus Regulierungen, neoliberaler Umverteilung von unten nach oben und populistischem Festhalten an fossilen Energieträgern unterm Deckmantel Technologieoffenheit formuliert sie nicht. Grundsätzlich hegt sie keine Einwände am Regelwerk aus Förderhöhen, Einkommensgrenzen und Mieter:innenschutzklauseln, akzeptiert Subventionen und Marktmechanismen.

Für eine sozialistische Wärmewende!

Statt über Marktanreize einen Übergang ungeplant und unkoordiniert vor sich hinlaufen zu lassen und die Verantwortung fast vollständig auf die Immobilienbesitzer:innen zu übertragen, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Plan für eine echte Wärmeverbrauchsreduktion als Teil einer integrierten Energiewende aller Sektoren. Statt Ausschüttung von Direktinvestitionen mit ihren Ungerechtigkeiten und ihrem bürokratischen Aufwand braucht es eine Finanzierung durch progressive Besteuerung aller Einkünfte.

In einem dichtbesiedelten Land wie Deutschland drängt sich an erster Stelle der verpflichtende Ausbau von kommunalen Fernwärmenetzen auf. Wo dies sich gesamtgesellschaftlich nicht rechnet, bieten sich individuelle Lösungen an wie Wärmepumpen, aber auch Solarthermie (Erzeugung von Wärme im Unterschied zur Photovoltaik, die Strom aus Sonnenenergie erzeugt). Ausbau von Fernwärme im Verbund mit kommunalen Wasserspeichern (Brauch- und Trinkwasser getrennt!) genießt darüber hinaus den Vorteil, dass die Abwärme aller Sektoren genutzt werden (Anschlusszwang, Wärmetauschanlagen) sowie Wasserheizung mit überschüssigem erneuerbaren Strom erfolgen kann – jedenfalls vorrangig vor seinen anderen möglichen Speicherarten (chemisch, Druckluft).

Natürlich muss dieser Plan Hand in Hand gehen mit Ausbau der Stromnetze und -speicher, Kollektivierung des Verkehrs (ÖPNV, kommunale Taxis) und seiner Umstellung auf erneuerbare Energien (Stromleitung, Biomethan). Schließlich gelingt die Wärme- ebenso wenig wie die Energiewende nur, wenn die Netzbetreiber:innen und Stromproduzent:innen sowie fossilen Großkonzerne entschädigungslos enteignet werden ebenso wie jene Immobilienbesitzer:innen, die sich Anschlusszwang und Erneuerung widersetzen. Das gilt auch für Firmen der Bau- und Ausrüstungsindustrie, die die Umsetzung dieses Plans, nicht technisch bedingt, unnötig verzögern.




Revolutionärer Marxismus 55: Eine Welt in der Krise

Redaktion, Neue Internationale 274, Juni 2023

Im Juni 2023 erscheint Nummer 55 unseres theoretischen Journals „Revolutionärer Marxismus“. Sie widmet sich schwerpunktmäßig der internationalen Lage, ihrem Verhältnis zur imperialistischen Konkurrenz, Veränderungen der Kapitalbewegung, Klassenzusammensetzung und Krieg. Mit und seit der reaktionären Invasion Russlands in der Ukraine beginnt auch eine neue Etappe des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, der Konfrontation zwischen den alten, westlichen Großmächten unter Führung der USA einer- und China und Russland andererseits.

Die aktuelle Ausgabe des revolutionären Marxismus beleuchtet Kernaspekte der veränderten Weltlage, grundlegende krisenhafte Phänomene des globalen Kapitalismus und ihre Entwicklungsdynamik. Viele Artikel entstanden ursprünglich aus der Arbeit an Hintergrundpapieren und Dokumenten für den Internationalen Kongress der Liga für die Fünfte Internationale im November 2022. Für diese Ausgabe wurden sie noch einmal umgearbeitet und aktualisiert. Entscheidend ist jedoch, dass wir in den Texten nicht nur ein Abbild der aktuellen Entwicklung liefern, sondern auch Tendenzen herausarbeiten wollen, die noch über Jahre prägend sein werden.

Am Beginn dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus steht eine Analyse der Weltwirtschaft. Im Artikel „Eine Welt in der Krise“ verweist Markus Lehner ausführlich auf die innere Dynamik der Kapitalakkumulation seit 2008, die selbst zu einer Krise der kapitalistischen Globalisierung geführt hat. Er beschäftigt sich mit der Entwicklung in allen Kernsektoren der globalen Ökonomie, darunter auch in China. Alle sind von fallenden oder stagnierenden Profitraten geprägt. Eine Basis für ein neues, expansives Akkumulationsregime ist aus der inneren ökonomischen Entwicklung nicht abzusehen. Dieses würde eine Vernichtung überschüssigen akkumulierten Kapitals im historischen Ausmaß voraussetzen, sowohl im Finanzsektor wie auch und vor allem des industriellen Kapitalstocks. Und genau hier zeigt sich die enge Verbindung dieser Krise mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt, da alle großen Mächte ihr Kapital auf Kosten der Konkurrenz retten wollen.

Die Pandemie und der Ukrainekrieg wirken als Katalysatoren dieser Entwicklung. Inflation bis hin zur Hyperinflation in den Halbkolonien haben die Welt fest im Griff. Zugleich erleben wir eine weitere Fragmentierung des Weltmarktes, Schritte zur „Deglobalisierung“ und zur partiellen, im Fall Russlands der praktisch vollständigen Umstellung auf Kriegswirtschaft. In den nächsten Jahren werden wir mit einer Welt von Krieg und Krisen konfrontiert sein, die auch eine grundlegende Neuausrichtung der Linken und der Arbeiter:innenklasse erfordern.

Der darauffolgende Artikel beschäftigt sich mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht. Dass die fetten Jahre der wirtschaftlichen Expansion vorbei zu sein scheinen, hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen. Einerseits machen sich auch in China die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation, ihre krisenhafte Logik und der Fall der Profitraten geltend. Zweitens bedeutet die Konkurrenz zu den USA und den anderen „traditionellen“ imperialistischen Mächten, dass die Zeiten wechselseitiger ökonomischen Vorteile längst vorbei sein. Vielmehr geht es zunehmend darum, welche Großmacht, welche Mächtegruppe, die Welt in ihrem Interesse neu organisiert. Damit einher gehen nicht nur ein immer heftigerer Kampf um Märkte und Einflussgebiete, sondern auch Formen eines regelrechten Wirtschaftskrieges, wechselseitige Drohungen, Tendenzen zur Abschottung des jeweils eigenen „Einflussgebietes“ vor der Konkurrenz sowie Militarisierung, Aufrüstung und wachsende Kriegsgefahr.

Der Artikel beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der enorm gewachsenen Rolle des chinesischen Imperialismus, sondern auch mit den historischen Wurzeln des bonapartischen Regimes und den inneren Widersprüchen dieser Großmacht.

Die Texte zur Weltlage werden durch zwei weitere Beiträge ergänzt. Im Beitrag „Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs“ wird untersucht, wie dessen verschiedene Dimensionen – nationaler Verteidigungskrieg gegen die russische imperialistische Invasion einer-, innerimperialistischer Konflikt zwischen Russland und den NATO-Staaten andererseits – miteinander verwoben sind und welche Schlussfolgerungen Revolutionär:innen daraus ziehen.

Ein weiterer Artikel geht auf das Wachstum der extremen Rechten, sei es rechtspopulistischer oder gar faschistischer Kräfte, ein. Dabei wird nicht nur deren gesellschaftliche Basis in der gegenwärtigen Periode untersucht, sondern auch auf die Frage, wie ihr Aufstieg erfolgreich bekämpft werden kann, eingegangen.

Die Reihe der aus der Kongressdiskussion unserer Strömung erwachsenen Beiträge schließt der Artikel „Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse“ ab. Schon im „Kapital“ zeigt Marx, dass sein Wandel, Wachstum wie Stagnation, die Zusammensetzung und Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

Die ersten Abschnitte des Artikels skizzieren dabei die wichtigsten Veränderungen der Klasse der Lohnabhängigen während der Globalisierungsperiode, die Auswirkungen der Pandemie und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt seit Beginn des Ukrainekrieges. Die beiden folgenden Teile sind der Lage der Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien und ihrer politischen Entwicklung gewidmet. Die Politik des nationalen Schulterschlusses und der systematischen Klassenkollaboration, wie sie seit Jahren von den reformistischen Parteien und den Gewerkschaftsführungen betrieben wird, bildet selbst einen entscheidenden Faktor dafür, dass die herrschenden Klassen die Kosten von Krieg, Umweltzerstörung, Gesundheitskrise und Inflation den Lohnabhängigen aufbürden können.

Die Führungskrise des Proletariats nimmt weitere, dramatische Dimensionen an – und nicht nur, wenn wir die „traditionellen“ sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien betrachten. Auch der linke Reformismus und scheinbar radikale kleinbürgerliche Kräfte bilden letztlich einen Teil des Problems der Führungskrise und nicht ihrer Lösung. Doch auch die subjektiv revolutionären, zentristischen Kräfte vermögen keine programmatische Antwort auf die Krise zu geben. Der Artikel skizziert daher nicht nur ein Bild deren aktuellen Zustands, sondern auch historische Lehren des Kampfes für revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale, die es gilt, für die heutige Lage fruchtbar zu machen, wenn erfolgreich neue revolutionäre Organisationen aufgebaut werden sollen.

Zwei Texte, die sich Fragen von Programm und Strategie widmen, schließen diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Der Beitrag „Wohin treibt die DSA?“ von Andy Young wurde ursprünglich in unserem internationalen Magazin „Fifth International“ veröffentlicht und unterzieht die Politik der Democratic Socialists of America und vor allem ihren zweiten Kongress einer marxistischen Kritik.

Den letzten Beitrag bildet die Übersetzung des Artikels „Gramsci und die revolutionäre Tradition“. Auch wenn dieser 1987 verfasst wurde, so enthält er eine umfassende Darstellung des politischen Werdegangs von Gramsci und insbesondere auch eine Kritik seiner politischen Strategie, wie sie in den sog. Gefängnisheften entwickelt wird.

Damit schließt diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Zweifellos kann sie nur Aspekte der gegenwärtigen Krise in der nötigen Tiefe und Komplexität darstellen – aber eine Schwerpunktsetzung ist leider unvermeidlich. Wir wollen aber vor allem die theoretisch interessierten Leser:innen auf die beiden vorhergehenden Ausgaben des Revolutionären Marxismus – „Umweltkrise. Eine Krise des Kapitalismus“ (RM 54) und „Imperialismus. Theorie, Kontroversen und Kritik“ (RM 53) – verweisen, die wichtige Grundlagenarbeit enthalten, die in dieser Ausgabe wieder aufgegriffen wird. Eine solche bildet einen unerlässlichen Bestandteil jeder marxistischen Organisation, denn ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.




Razzien gegen Letzte Generation: Mut soll kriminalisiert werden

Georg Ismael, Infomail 1223, 24. Mai 2023

Der Klimawandel und die Umweltzerstörung sind bekanntermaßen eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung für die Menschheit des 21. Jahrhunderts. Insbesondere die deutsche Regierung ist sich ihrer Verantwortung bewusst wie keine andere. Die Aufgabe ist klar, bei aller Zustimmung zur Rettung der Menschheit müssen natürlich vor allem die Profite und Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals und die Unantastbarkeit seines bürgerlichen Staates selbst geschützt werden.

Sagen darf in Deutschland freilich jede/r, dass der Kapitalismus die Umwelt und das Mensch-Natur-Verhältnis grundlegend zerstört. Handeln – darüber hinaus mit friedlichen Mitteln und zugunsten rational vollkommen nachvollziehbarer Forderungen –, hier hört die Freiheit auf. Das gilt für den effektiven Streik scheinbar genauso wie für die direkte Aktion.

Umso mehr muss dies natürlich der Fall sein, wenn jenes Handeln die Passivität nicht nur der unmittelbaren Akteur:innen selbst durchbricht, sondern auch den Raum der öffentlichen Debatte zu bestimmen, zumindest aber zu verändern beginnt. Immerhin sind gerade in bürgerlichen Demokratien nebst dem Gewaltmonopol des Staates die Vorherrschaft von Gedanken, die die Interessen des Kapitals stärken oder schützen, ein hohes Gut.

In diesem Sinne muss man jenes feststellen: Eine der erfolgreichsten Bewegungen der vergangenen Jahre in Deutschland, die die Hegemonie der herrschenden Diskurse unter Druck setzte und klimapolitische Forderungen anhand ihrer allgemeinen Sinnhaftigkeit und nicht ihrer Verträglichkeit mit aktuellen Kapitalinteressen in die Debatte trug, ist fraglos die Letzte Generation.

Ihren Aktionen schlossen sich zahlreiche junge und alte Menschen an, die sich seit 2019 über drei Jahre restlos hatten überzeugen können, dass die Fakten gepaart mit letztlich symbolischen Massendemonstrationen wie von Fridays for Future keine oder deutlich unzureichende Maßnahmen durch Staat, Kapital und Regierung zur Folge hatten.

Es ist eben nicht eine vermeintlich kriminelle Energie, die die Aktiven der Letzten Generation antreibt. Ihren Mut ziehen sie aus der faktisch absehbaren Überschreitung der Kipppunke in den Umweltsystemen. Dieser Prozess ist bereits im vollem Gange, mit Folgen, die einen dystopischen und bisher kaum absehbaren Charakter annehmen werden.

Nachdem anderthalb Jahre vergangen sind und eine energische Kampagne der bürgerlichen Medien gegen die Letzte Generation zwar die Spaltung der öffentlichen Meinung, keinesfalls aber eine Minderung der Popularität der Bewegung herbeiführte, nachdem Inhaftierungen und eine erste Inszenierung der Letzten Generation als krimineller Vereinigung scheiterten, konnte die Bewegung einen, wenn auch kleinen Erfolg vorweisen. Die Zustimmungswerte zu Tempolimits auf deutschen Autobahnen steigen in der deutschen Bevölkerung.

Damit kommt genau der richtige Zeitpunkt für Staatsanwaltschaft und Polizei, eine großangelegte Razzia gegen die Bewegung durchzuführen. Fünfzehn Wohnungen wurden am Mittwochmorgen des 24. Mai im Bundesgebiet durchsucht. Die Internetseite der Letzten Generation wurde abgeschaltet.

Besonderes Interesse galt auch ihren Spendengeldern. Immerhin kann es in einem Rechtsstaat nicht angehen, dass Arbeiter:innen wie auch Angehörige der Mittelschichten, aus denen sich ihre Aktiven zusammensetzen, auf kollektiven Beistand hoffen dürfen, wenn sie sich der individuellen Kriminalisierung durch den bürgerlichen Staat ausgesetzt sehen.

Ziel der Razzia ist es, die Letzte Generation organisatorisch zu schwächen und über die Kriminalisierung der Bewegung vielleicht nicht unmittelbar ihre bisher Aktiven an weiteren Aktionen zu hindern, sicherlich aber den Zustrom weiterer Aktiver zu hemmen und mögliche Spender:innen zu verunsichern.

Den Inhalt der Bewegung selbst nicht vergessen wollend, etwas, dessen sich viele Medien und Politiker:innen regelmäßig schuldig machen: aus rationaler, ökologischer, sozialer und volkswirtschaftlicher Sicht sind ihre Forderungen nach einem 9-Euro-Ticket und einem Tempolimit von 100 km/h vollkommen berechtigt. Die Forderung, einen Gesellschaftsrat technokratisch einzusetzen, hat einen utopischen Charakter, der auch die politischen Schranken dieser Gruppierung deutlich macht.

Dass die sogenannte „Fortschrittskoalition“ insbesondere auch diesen zwei Forderungen nicht nachgeben möchte, weil dann womöglich ein Teil der oberen Mittelschichten sich von dieser abwenden könnte, vermutlich noch wichtiger, weil man einer sozialen und ökologischen Bewegung zu ihren Bedingungen entgegenkäme, das lässt tief blicken.

Es mag in der Debatte über die Strategie der Letzten Generation selbst viele unterschiedliche Meinungen geben. Wir haben etliche unserer Gedanken und auch Kritik an anderer Stelle geäußert. Ganz sicher entblößt sie aber durch ihr Handeln die innere Dynamik sowohl des bürgerlichen Diskurses als auch Staates.

Wir fordern daher ein sofortiges Ende der Kriminalisierung der Letzten Generation und rufen zu Solidaritätsaktionen auf. Ebenfalls denken wir, dass sich die ökologischen und sozialen Bewegungen in Deutschland eines ganz gewiss von der Letzten Generation abschauen können: mutig und selbstgewiss im Angesicht von öffentlicher Diffamierung als auch Gewalt durch Staat und Wutbürger:innen ihren berechtigten Anliegen nachzugehen.




Stellungnahme: FFF schmeißt REVO raus – Sind Antikapitalismus und die Klimabewegung unvereinbar?

REVOLUTION, Revolutionär-kommunistische Jugendorganisation, zuerst veröffentlich auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1222, 4. Mai 2023

Die Katze ist aus dem Sack: Pünktlich zum Ersten Mai hat uns die Nachricht erreicht, dass nun tatsächlich ein Antrag durchgekommen ist, der eine Unvereinbarkeit von Fridays For Future (FFF) Deutschland mit REVO beschließen soll. Unser Name prangt nun im Hufeisen neben AFD, NPD, MLPD und dem III. Weg im offiziellen Strukturpapier. Dass hier linke und faschistische Gruppen so nebeneinander genannt werden, müsste schon für Empörung sorgen. Anfang April wurde auf bundesweiter Ebene von FFF entsprechender Antrag gestellt. Dieser ist so weit FFF-intern zu behandeln, weswegen wir nicht auf Details der Erklärung eingehen können. Wir möchten dennoch zumindest im Groben einige der Lügen und Vorwürfe hier einordnen, damit die Debatte einem breiteren Kreis von Aktivist:innen zugänglich wird.

Im Antrag werden wir als isolierte Organisation dargestellt, deren ausschließliche Politik ein parasitäres und hinterhältiges Unterwandern anderer linker Kräfte sei. Angeblich schrecken wir dabei so wenig vor Druckausübung bis hin zu unmittelbarer Gewalt zurück, dass allen Aktivisti angst und bange werden müsste. Untermalt wird dies mit dem Vorwurf, dass wir ein unkritisches Verhältnis zur DDR oder der RAF hätten. Für all diese Vorwürfe hätte ein fünfminütiger Besuch unserer Insta- oder Webseite ausgereicht, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Man hätte dort beispielsweise gesehen, dass wir tatkräftig in der Umweltbewegung aktiv sind, aktionistische Basisarbeit an Schulen leisten, solidarisch in diversen Bündnissen mitwirken und himmelweit davon entfernt sind, mordlustige Monster zu sein. Und wenn wir schon bei der schlechten Informationslage sind: Die Gruppe Arbeiter:innenmacht wurde auch direkt als unsere „Dachorganisation“ ausgeschlossen, während wir in Wahrheit von dieser unabhängig sind.

Die politische Herkunft derjenigen, die uns hier als „Parasiten“ bezeichnen, hat dabei schon eine gewisse Ironie: Eine Führung, in welche Millionen Schüler:innen ihre Hoffnung gesetzt haben, welche aber gleichzeitig keine politischen Erfolge gegen die Regierung durchsetzen konnte und stattdessen mit den Grünen und den NGOs im Rücken ein paar ansehnliche Posten gefunden hat, sollte mit diesem Wort vorsichtiger umgehen gegenüber einer kleinen, aktivistischen Gruppe von Jugendlichen. Angesichts der immer größeren Dringlichkeit der Klimakatastrophe, der Mobilisierungsschwäche unserer Bewegung und der Antwort der Ampel-Regierung, die in Lützerath knochenbrechende Bullen auf uns los gehetzt hat und nun mehr und mehr Aktivist:innen einknastet (von LG z. B. ), wäre es rühmlicher, wenn die Führung der Bewegung eine allgemeine Debatte darüber anstieße, wie wir in die Offensive übergehen können, anstatt diejenigen, die es auf eigene Initiative versuchen, auszuschließen.

Im Konkreten beziehen sich die gegen uns erhobenen Vorwürfe zum allergrößten Teil auf angebliche Handlungen eines unserer Genoss:innen. Mensch hat sich 2019 als Schüler:in in FFF politisiert, sich davon wegradikalisiert und ist vor circa einem Jahr bei uns gelandet. Dennoch hat sich Mensch bis zum Schluss als Teil von FFF verstanden und noch schwindende Hoffnungen reingesteckt, dass auch die Bewegung die offensichtlichen Widersprüche erkennt, in denen sich eine bürgerliche Umweltbewegung befindet. Hierbei war Mensch unter anderem im linken Flügel von FFF aktiv und zwar weitestgehend eigenständig und unabgesprochen mit uns als REVO.

Erst recht haben wir den linken Flügel nicht geheim orchestriert. Dennoch wird uns genau dies vorgeworfen, wobei unerheblich ist, ob bestimmte Geschichten stattfanden, bevor besagte Person überhaupt bei uns war und welchen Anteil sie selbst daran geleistet hat. Wir werden dabei für ein Großteil der jüngeren linken Oppositionsarbeit verantwortlich gemacht, als könnte so etwas nicht auch spontan in FFF passieren.

Uns erscheint es so, als seien alle halbgaren Infos und Vorwürfe zusammengekratzt worden, die gefunden werden konnten, um unsere Positionen aus den Prozessen in FFF auszuschließen. Das andere sich an bestimmten Verhaltensweisen gestört haben, ist sicherlich nachvollziehbar. Aber dass für eine relativ kleine Orga direkt der große Hammer „Unvereinbarkeit“ rausgeholt wird, wirft schon Fragen auf.

Was ist der politische Hintergrund?

Millionen von Aktivisti haben sich der Bewegung angeschlossen, haben Gegenwind geerntet und viel Energie in die Bewegung gesteckt. Und was haben wir dafür bekommen? Lausige Klimapakete, folgenlose Konferenzen und eine Menge heißer Luft. Dies führte dazu, dass der Abstand zwischen unseren Aktionen größer und die Aktionen selbst kleiner wurden, sich viele von uns frustriert von der Bewegung zurückgezogen haben. Die Bewegung hat sich polarisiert in diejenigen, die für die Grünen im Bundestag sitzen, während wir uns wie viele andere von den Bullen aus dem Danni oder Lützi prügeln lassen.

In unserem Strategiepapier zur Krise der Klimabewegung haben wir ausführlich dargelegt, welche Schritte wir als nächstes gemeinsam gehen müssen, wenn wir die Bewegung retten und diesen Planeten erhalten wollen. Wir müssen die Basis unserer Bewegung erweitern. Es kann nicht sein, dass wir hauptsächlich aus Schülis und Studis bestehen. Wir müssen auf die Beschäftigten in den für das Klima relevanten strategischen Wirtschaftssektoren zugehen und uns zusammen organisieren. Inhaltlich müssen wir unsere Forderungen daran ausrichten, die Klimafrage mit der Sozialen Frage zu verbinden. Andernfalls werden die Rechten diese Lücke füllen und ihre Klimaleugnerei als Sozialpolitik verkaufen. Wir brauchen Klimaforderungen, die zugleich soziale Verbesserungen für alle mit sich bringen, statt Verbote, Entlassungen und Green Washing. Gleichzeitig müssen wir anfangen unsere Forderungen auch dort an die Leute zu bringen, wo wir uns tagtäglich aufhalten: in unseren Schulen, Unis und Betrieben. Vor Ort müssen wir Basiskomitees aufbauen, die kontinuierlich Arbeit zum Klimaproblem machen und diese mit den sozialen Problemen vor Ort verknüpfen.

Innerhalb von FFF rumort es und immer mehr Antikapitalist:innen fangen an, die Politik der Führung von FFF in Frage zu stellen. Als Organisation sind wir dabei ein leichtes Ziel, für diejenigen, die das verhindern wollen. Weil wir offen und unangepasst auftreten und dadurch vielleicht nicht zu den Allerbeliebtesten gehören, und darauf sind wir stolz.  Den verbliebenen linken Kräften innerhalb von FFF sollte klar sein: Wenn man mit solchen Vorwürfen durchkommt, erhöht das den Anpassungsdruck auf alle anderen antikapitalistischen Kräfte und schwächt deren Position massiv. Das sollte eben diese Kräfte zum Nachdenken anregen, welche Rolle FFF noch spielen kann. Es gibt eine große Kluft zwischen einigen Ortsgruppen und der Bundesorga und die politische Perspektivlosigkeit, dass man durch Appelle ein Einlenken der Regierung erreichen will, hat sich ein ums andere Mal gezeigt. Wir wollen FFF zugutehalten, dass sie die Klimakrise auf die Tagesordnung gesetzt haben. Aber zur Bewältigung brauchen wir kämpferische und antikapitalistische Antworten.

Wir schlagen vor, gemeinsam mit linken Kräften der Umweltbewegung eine antikapitalistische Klimakonferenz zu organisieren, um Forderungen und Aktionsformen zu entwickeln, die diese Antworten leisten. Die Wähl- und Abwählbarkeit ist hierbei zentral, um die Verselbstständigung von Führungspersonen zu verhindern und eine basisdemokratische Kontrolle von unten zu gewährleisten. Außerdem müssen wir dafür Sorge tragen, dass an diesen Debatten und Auseinandersetzungen sowohl Arbeiter:innen als auch marginalisierte Gruppen teilnehmen können und gehört werden. Der Charakter einer solchen Konferenz sollte darauf ausgerichtet sein, ein gemeinsames antikapitalistisches Klima-Aktionsprogramm zu verabschieden, in dem wir uns auf gemeinsame Forderungen und Aktionen einigen.

  • Der Widerstand gegen die Klimakrise geht also weiter und wir lassen uns nicht unterkriegen!

  • Kämpfen wir zusammen in den Schulen, Unis, Betrieben, Gruben, Wäldern und auf der Straße!

  • Falls ihr eure Solidarität zeigen wollt, könnt ihr den Beitrag gerne teilen!



Konversion der Autoindustrie – eine Frage des Plans

Leo Drais, Neue Internationale 273, Mai 2023

Von der Fläche her ist es die größte Fabrik der Welt – das VW-Werk bei Wolfsburg. Ursprünglich gebaut von den Nazis, finanziert mit Geld, das die NSDAP von den verbotenen Gewerkschaften raubte. Nach dem Krieg wurde aus dem Kraft-durch-Freude-Wagen der Volkswagen. Außer dem geänderten Namen sah der VW Käfer genauso aus wie in Hitlers Massenmotorisierungsträumen. Wirklichkeit wurde das, was mal als Größenwahn galt – jedem Mann ein Auto, das Land zerschnitten von Asphalt – spätestens ab den 1960er Jahren, Nachkriegswestdeutschland beerbte Nazideutschland.

Geerbt wurde ein zerbombtes Land. Die Städte in Schutt und Asche boten Gelegenheit, gründlich aufzuräumen. Straßen breit machen, weg mit den lästigen Schienen und ab damit unter die Erde. Die Straßenbahn wurde zur U-Bahn, der Platz für die autofreundliche Stadt war frei. Die Kinder zäunte man ein, wo sie den zum Dosenfleisch gewordenen deutschen Mann der 1960er Jahre bei seinen PS-Spielen nicht störten. Der Spielplatz war geboren und wo sonst noch etwas Grün frei war, da passte doch viel besser ein Parkhaus hin.

Der Käfer wurde zum Symbol des Wiederaufbaus und machte das Vergessen leichter. Wer denkt schon an Auschwitz, wenn man so wunderbar gedankenverloren durch die grünen Wälder braust?

Auch das war Hitlers Erbe, der die Idee von Ford geklaut hatte: Man kette den Menschen ans Fließband, wo er sich für den Konzern oder den Staat abrackert, aber nach Feierabend darf er in seinem in Raten abzuzahlenden Automobil allen Frust auslassen, alles vergessen, Spaß haben, Freude am Fahren, ein bisschen den Wind schnuppern, der ihn glauben lässt, er sei frei.

Ideologisiertes, mystifiziertes – Blech

Dabei ist diese Freiheit doch eigentlich nur auf den rechten Fuß beschränkt, der auf das Gaspedal steigt und dessen Besitzer:in bei 180 auf der Autobahn orgiastisch denkt: „Danke FDP!“ („Danke Union, Danke AfD.“) Außerhalb dessen ist sie für die meisten Fiktion, weder wo die Arbeiter:innenklasse lebt (zur Miete oder im „Eigenheim“ der Bank), noch wo sie arbeitet (am Fließband oder Bildschirm), ist sie frei. Es ist eine gefakte bürgerliche Freiheit, die sonst eigentlich nur für die Bosse und Reichen existiert.

Heute gibt es in der BRD fast 50 Millionen PKW, aber keineswegs 50 Millionen Autobesitzer:innen. Zweit- und Drittwagen verzerren die Statistik. In keinem anderen europäischen Land sind Wohlstand und Individualität, und seien sie auch nur scheinbar, ideologisch so sehr mit dem Auto verbunden. Das „Wirtschaftswunder“, das nichts anderes war als die Erneuerung des deutschen Kapitalismus dank der Zerstörungen des Krieges, bedeutete eine Neuausrichtung des deutschen Kapitals. An der militärischen Eroberung der Welt war man gescheitert, starke Bankkonzerne hatte man im Vergleich zu den USA oder Großbritannien nicht, aber wo man mitspielen konnte, war in der Industrie. Die Fabriken waren zerstört. Während die USA, Frankreich und Großbritannien mit veralteten Maschinen im Rückstand waren, hatten deutsche Konzerne bitter ironisch den Vorteil des Neustarts. Das Know-how erbte man aus den Kriegsfabriken und von der Konkurrenz.

Politisch hatte man als Verlierer des Krieges und als gespaltenes Land nichts zu melden, aber für den Neustart des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt war das Auto wie gemacht. Es war ein Massenkonsumgut, Produktion und Produkt ständig und hochgradig technisch revolutionierbar, Letzteres damit prädestiniert für hohe immer neue Profite.

Von Anfang an ist dieses neue Flaggschiff der deutschen Industrie aufs Engste mit dem Staatsapparat verschränkt. Immerhin ist im imperialistischen Stadium des Kapitalismus die Konkurrenz der Konzerne auch die der Staaten. Immerhin muss das Produkt unter das Volk gebracht werden, muss Deutschland der Welt zeigen, wie Wiederaufbau geht. Am offensichtlichsten ist diese Verbindung natürlich an der Entwicklung des Fernstraßennetzes und dem Freiräumen der Städte für das Auto ablesbar (und an der Verstümmelung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs auf der Schiene). Darüber hinaus profitiert die Autoindustrie aber bis heute und bis zum Abwinken von massiven staatlichen Subventionen, die sich nur in Namen und Programm unterscheiden. Mal heißen sie Abwrackprämie, mal Umweltbonus (für E-Autos, die dann mit Kohlestrom fahren).Entsprechend war und ist jeder Verkehrsminister (bisher alles bekennende Cismänner) diesen Konzernen nicht nur verpflichtet, sondern stets selbst ein leidenschaftlicher Autofahrer gewesen. Volker Wissing peitscht 144 Autobahnprojekte durch, die Grünen kriegen als Trostpflaster Solaranlagen neben die Fahrbahn gestellt.

Vernunft am Steuer?

Und da sind wir, in der Gegenwart einer verkehrspolitischen Dystopie, in der die Stadt stinkt und lärmt und vollgestopft ist mit Blech, in der das Land vernarbt ist von Asphalt und der Bahnhof von Mittelnirgendwo stumm vor sich hin verfällt. Völlig unzureichende Klimaziele werden weit verfehlt. Die Mobilitätswende ist in allen Mündern, passiert aber nicht in der Realität.

Denn für die Autoindustrie und ihren Verkehrsminister bedeutet sie: Erneuerung der Fahrzeugflotte durch übergewichtige E-Autos, E-Fuels in den SUV. VW (Volker Wissing) fährt nach Brüssel und dem EU-Verbrenner-Aus in die Karre. VW plant ein E-Autowerk auf dem Acker gleich hinter der heutigen (Alb-)Traumfabrik. Sie sind die, über die Macht verfügen. Wenn wir als Klimabewegung, linke Gewerkschafter:innen oder Antikapitalist:innen ernsthaft über eine Verkehrswende sprechen, müssen wir uns überlegen, wie wir diese brechen können.

Das wird entscheidend sein. Die fossilen Kapitale und ihre politischen Vertreter:innen beweisen jeden Tag, dass sie kein Interesse an einer echten Verkehrswende hegen. Sie können es auch gar nicht und heucheln es nicht einmal vor. Eine echte Verkehrswende hätte so wenig wie möglich, so viel wie nötig die Schiene als Rahmen. Im Kapitalismus ist das unmöglich. Selbst eine relevante Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene fände doch immer noch unter der Voraussetzung permanenter Ausweitung der Produktion, des Wachstums statt. Schon jetzt sind die Hauptgüterkorridore des Schienenverkehrs in Deutschland überlastet. In einem Gesellschaftssystem, dass sich stärker als jemals zuvor in der Konkurrenz verwirklicht, kann Vernunft keine Rolle spielen. Was gesamtgesellschaftlich völlig irrational ist – z. B. die Verkehrspolitik der letzten 100 Jahre – macht nur Sinn für die Bosse, Aktionär:innen und Politiker:innen VWs, Daimlers und BMWs. Eine echte Verkehrswende umzusetzen, wäre ihr Klassenverrat. Es würde bedeuten, die größte Profitquelle und damit Machtbasis Deutschlands zu ersticken, ihren eigenen Reichtum zu gefährden.

Enteignung und …

Ihre Macht zu zerbrechen, heißt, ihnen ihren Besitz wegzunehmen, über den die größten Aktionär:innen nach Belieben kommandieren, die Welt mit Autos bewerfen können. Es heißt, Quandt, Porsche, die Qatar Holding und so weiter entschädigungslos zu enteignen und die riesigen industriellen Kapazitäten der Autofabriken für sinnvolle Zwecke zu verstaatlichen. Das ist natürlich leicht gesagt und weit weg und mit heutigen legalen Mitteln gar nicht zu verwirklichen. Der Staat schützt Eigentum. Die Freiheit für Privatbebesitzen ist doch die eigentliche bürgerliche Freiheit.

Durch einen äußeren Druck der Klimabewegung alleine wird so eine Verstaatlichung kaum passieren, wie das Beispiel Ende Gelände zeigt, das die Enteignung RWEs fordert. Wir sehen die Möglichkeit realistischer in den Fabriken selbst. Wenn die Beschäftigten von VW sagten, wir bauen diese Masse an Autos nicht mehr, sie dafür streikten, dann würde sie auch nicht mehr gebaut werden.

Anlässe für die Arbeiter:innen in den Autowerken, ihre Arbeiten selbst in die Hand zu nehmen, gibt es genug. In jedem Warnstreik steckt das schon als winziger Keim. Zudem sind die Jobs in der Autoindustrie keineswegs auf ewig sicher. Durch Produktivitätssteigerung, Standortverlagerungen und E-Auto werden sie sowieso immer neu in Frage gestellt. Zudem wird für einen übersättigten Markt produziert. Die Geschichte von Opel Bochum beweist, wie schnell die Tore für immer zugesperrt werden können, ebenso die vielen Werksschließungen von Zulieferbetrieben in den letzten Jahrzehnten, etwa GKN Zwickau oder Mahle Alzenau.

Im Kampf gegen diese Schließungen, aber auch schon in jeder Nulltarifrunde offenbart sich dann auch immer die zweifelhafte Rolle der IG Metall, genauer ihrer Führung. Seit Jahrzehnten ist sie eine aus selbstgefälligen, privilegierten Eigeninteressen getriebene treue Partnerin der Autobosse. Werksschließungen werden mit abgewickelt, Leiharbeiter:innen zugunsten der Kernbelegschaften ausverkauft, Tarifrunden lieber abgebrochen bevor sie mit unbefristeten, flächendeckenden Erzwingungsstreiks eskalieren. Sie will die Kontrolle nicht verlieren. Mit dem etablierten Teil der Umweltbewegung inszeniert sie unverbindliche Klimapolitik in der Ampeltraumfabrik. Vor den radikaleren Teilen der Bewegung warnt sie, statt ihre Forderungen positiv aufzugreifen.

Sie ist eines der größten Hindernisse für eine schnellstmögliche soziale, ökologische Konversion der Autoindustrie. Wenn die Klimabewegung die Autoarbeiter:innen gewinnen will, muss sie die Rolle der IG-Metall-Bürokratie verstehen und sich daran beteiligen, eine Opposition gegen sie aufzubauen – für eine demokratische Reorganisation der Gewerkschaften, für Arbeitskämpfe die von den Belegschaften selbst kontrolliert werden, für politische Streiks und für Betriebsbesetzungen – für Konversion statt Werkschließungen, für die Verteilung der Arbeit auf alle ohne Lohnverlust.

 … demokratische Planwirtschaft!

Es ist alles eine Frage der Kontrolle. Wer hat das Sagen in der IG Metall? Eine abgehobene Führung, die mit im Aufsichtsrat sitzt, oder aus der Belegschaft heraus gewählte Kolleg:innen, die sich vor dieser rechtfertigen müssen? Der Kampf um Opel Bochum zeigte Funken von dieser Selbstermächtigung. Ihm fehlten jedoch die betrieblichen Organe wie Streikkomitees, um daraus ein Feuer zu entfachen, ganz zu schweigen davon, dass die Solidarität aus anderen Fabriken fehlte, die fest in den Händen der IG-Metall-Bürokrat:innen lagen.

Aber auch: Wer hat die Kontrolle über das, was produziert wird? Auch wenn VW und Co. enteignet und verstaatlicht sind, stellt sich diese Frage. Die Deutsche Bahn beispielsweise gehört komplett dem Staat und ist trotzdem unzuverlässig, außer wenn es um Gehaltserhöhungen für den Vorstand geht. VW gehört zu zwanzig Prozent dem Land Niedersachsen.

In der Idee der demokratischen gewerkschaftlichen Selbstkontrolle liegt auch die der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion, die Planwirtschaft der Konzerne selbst in die Hand zu nehmen. Denn nicht anders produzieren sie intern. Unternehmen in der Größe von VW und Co. können gar nicht anders, als sich eine langfristige Strategie zurechtzulegen.

Das Problem dabei ist nicht der Plan, sondern, dass er unter dem Gesichtspunkt maximaler Profite geschrieben wird, ebenso wie das Problem mit der DDR-Planwirtschaft darin bestand, dass sie diktatorisch den Interessen der Honeckerclique unterworfen war.

Eine demokratische Planwirtschaft bedeutet demgegenüber die Möglichkeit einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, also möglichst so zu produzieren, dass Produkte lange halten und am Ende ihrer Lebenszeit komplett wiederverwertet werden können (während heute einem Unternehmen die Ware egal ist, sobald sie verkauft ist … bis auf, dass ein Auto nicht ewig halten soll, irgendwann soll ja wieder ein neues verkauft werden). Sie bedeutet, dass die, die heute in der Autoindustrie arbeiten, gemeinsam mit der gesamten Arbeiter:innenklasse die Entscheidungbefugnis darüber bekommen, was und wie viel produziert wird: Straßenbahnen und Busse statt Autos, ohne den Arbeitsdruck einer 40-Stundenwoche oder eines drakonischen 5-Jahres-Plans von oben.

Im Gegensatz zum Zerrbild des real existierenden Sozialismus, der sich doch immer nur im Wettbewerb zum kapitalistischen Westen begriff, würde ein wirklich demokratischer – eine lebendige Rätedemokratie – in ihrem Plan die Idee verfolgen: so wenig wie möglich, so viel wie nötig, damit die Bedürfnisse befriedigt werden, was auch für Mobilität und Verkehr gilt. Die Zeitersparnis durch neue Maschinen würde weniger Arbeitszeit für alle bedeuten. An die Stelle der individualistischen Freiheit des Gaspedals könnte eine kollektive Freiheit treten: Selbst entscheiden, was produziert wird, wie man so leben will, dass es für alle Sinn macht, auch für die Generationen, die es noch gar nicht gibt, deren Chance auf ein gutes Leben die Autoindustrie von heute sabotiert.

Alles utopisch?

Es mangelt in der Klimabewegung nicht an Fantasie, wie die Welt anders, solidarischer aussehen könnte. Viele haben in den letzten Jahren die Erfahrungen von gemeinsamen Aktionen und riesigen Demos gemacht, in Waldbesetzungen erlebt, wie ein anderes Zusammenleben sich anfühlen könnte. Allein die Macht von Staat und Kapital war so nicht zu brechen. Unter den Arbeiter:innen der Autoindustrie wiederum ist ein Potential – ein Know-how – darüber vorhanden, wofür diese Fabriken besser genutzt werden könnten, wie die Produktion umgebaut werden kann.

Zudem haben sie – wenigstens von ihrer Position her – tatsächlich die Möglichkeit, die Herrschaft der Autobosse, Wissings und Autodeutschlands in Frage zu stellen, zu brechen. Wenn Umweltaktivist:innen diese Potentiale erkennen und zusammen mit den fortschrittlichsten Kolleg:innen in der Verkehrsindustrie ein Programm entwickeln würden, das einen Weg zu einer ökologischen, sozialen – also  antikapitalistischen – Konversion zeichnet, dann könnte aus dieser Allianz heraus vielleicht wirklich gegen die Wissings, Zetsches und Blumes gewonnen, aus Träumen eine konkrete Utopie werden ohne Zukunftsangst, Asphaltwüsten und in Blech verpackte Menschen, und an ihrer Stelle eine Freiheit treten, die nicht Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen und unseren Lebensgrundlagen bedeutet.