Vergesellschaftung von Erziehung

Lina Lorenz (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Mama steht am Herd, putzt, macht die Wäsche und versorgt die Kinder. Sie backt den Geburtstagskuchen und tröstet die Kinder, wenn sie traurig sind. Papa geht zur Arbeit und wird als „der Beschützer“ der Familie angesehen. In der Schule werden hauptsächlich literarische Werke gelesen, in denen männlichen Protagonisten den Helden spielen und es fallen Sätze wie „Mädchen können kein Mathe, und quatschen zu viel.“ All das sind Beispiele, die sicherlich viele von uns aus ihrer Erziehung kennen. Schon von klein auf werden uns im Rahmen der Erziehung patriarchale Rollenbilder und bürgerliche Normen eingetrichtert – durch die Familie, in Kita und Schule. Doch was ist Erziehung eigentlich? Welchen Zweck erfüllt sie? Und kann es eine „neutrale“ geben?

Erziehung im Kapitalismus

Erziehung erfüllt in allen Gesellschaftsformationen die Funktion, das Individuum im Sinne der gesellschaftlichen Anforderungen zu formen. Natürlich möchte sich jedes System selbst erhalten und seinen Nachwuchs bestmöglich auf seine Zukunft in ihr vorbereiten, weshalb Erziehung immer im gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden muss. Da dieser von Klassengegensätzen durchzogen ist, kann sie nie unabhängig von den bestehenden Klassenverhältnissen stattfinden. Sie weist immer einen der jeweiligen Gesellschaft entsprechenden Klassencharakter auf. In Abgrenzung zur Erziehung umfasst Bildung einen weniger fremdbestimmten Prozess des Lernens, bei dem es um eine selbstständigere Entwicklung des Individuums geht. Aber auch Bildung kann niemals unabhängig von der gesellschaftlichen Struktur betrachtet werden. Die Gesellschaft beeinflusst, welche Ziele wir mit Bildung verfolgen und welche Mittel uns dafür zur Verfügung stehen.

Im Kapitalismus ist die Bourgeoisie die herrschende Klasse. Sie besitzt die Produktionsmittel und nutzt die Erziehung für ihre Interessen. Oberstes Ziel dabei ist, die Klassenstruktur und damit die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Die Produktionsverhältnisse sollen bestehen bleiben und die Klassen immer wieder reproduziert werden. Es braucht also immer neue Kapitalist:innen, die wissen, wie man Arbeitskräfte effizient ausbeutet, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können. Andererseits braucht es immer neue Arbeiter:innen, die spezifische Fachkenntnisse besitzen, um den Produktionsprozess am Laufen zu halten.

Eine Aufgabe der Erziehung ist also, die Arbeiter:innenklasse zu bilden. Gleichzeitig soll sie aber auch paralysiert werden. Denn was wäre, wenn sie zur Erkenntnis gelangen würde, dass sie sich nicht weiter ausbeuten lassen muss? Die Produktion und Verbreitung der bürgerlichen Ideologie stellt einen wichtigen Grundpfeiler dar, der verhindern soll, dass sie sich organisiert und für ihre eigenen Interessen eintritt. Nur so kann gewährleistet werden, dass sie sich freiwillig den Produktionsverhältnissen fügt. Erzählungen wie die „vom Tellerwäscher zum Millionär“ suggerieren, dass dem sozialen Aufstieg mit genug Fleiß und Durchhaltevermögen nichts im Wege steht. Sie verschleiern die Klassenstruktur und lassen glauben, dass wir im besten aller möglichen Systeme leben. Daneben werden wir schon als Kinder und Jugendliche zu Unterordnung und Gehorsam erzogen, damit wir uns später als Lohnarbeiter:innen brav den Interessen der Kapitalist:innen fügen. Wir sind es gewohnt, uns den Forderungen der Eltern, von denen wir finanziell abhängig sind, oder der autoritären Lehrer:innen, deren Notengebung über unsere beruflichen Chancen entscheiden, zu beugen. Ein weiteres Mittel zur Disziplinierung stellen Zuwendung und Anerkennung dar, womit wir vor allem dann belohnt werden, wenn wir die an uns gestellten Anforderungen erfüllen.

Wie schafft es die herrschende Klasse, die Erziehung auf diese Weise zu kontrollieren? Hier kommt der Staat ins Spiel. Denn einzelne kapitalistische Unternehmen haben kein Interesse daran, selbst für Erziehung aufzukommen. Diese erscheinen ihnen als unnütze Kosten. Sie erfordern Ressourcen, schaffen aber keinen Mehrwert – also auch keine Profite für das Unternehmen. Daher übernimmt der Staat – dessen Funktion es ist, das bestehende Gesellschaftssystem aufrechtzuerhalten – als ideeller Gesamtkapitalist diese Aufgabe. Er vertritt die Interessen des gesamten Kapitals, indem er Wissen und bürgerliche Ideologie vermittelt. Er führt beispielsweise eine allgemeine Schulpflicht ein und legt Lehrpläne fest. Er bildet pädagogisches Personal aus und betreibt Bildungs- und Erziehungseinrichtungen.

Überwindung des Klassencharakters von Erziehung

Viele Menschen sehen zwar einen Veränderungsbedarf des Erziehungs- und Bildungssystems, hegen allerdings die Illusion, dass hierfür bürgerliche Reformen das Mittel der Wahl darstellen. Reformen können sicherlich ein Werkzeug sein, kleine Veränderungen innerhalb des Gesellschaftssystems zu erreichen. Sie können aber niemals den Klassencharakter – der diesen Problemen zu Grunde liegt – verändern. Denn sie stützen sich auf den bürgerlichen Staat, der kein Interesse daran hat, die Klassenstruktur zu verändern. Reformpädagogische Ansätze beispielsweise zeigen den begrenzten Spielraum von solchen Mitteln auf. Sie ermöglichen ein Lernen ohne autoritäre Erziehung, Konkurrenz und Leistungsorientierung. Allerdings können sie nur pädagogische Inseln schaffen, zu welchen allein eine privilegierte Minderheit Zugang hat. Sie ignorieren die Einbindung der Erziehung in die Klassengesellschaft und stellen sich dieser nicht entgegen, wodurch sie letztendlich den Status quo unterstützen. Systeme wie Montessori oder Waldorfschulen sind dafür ein gutes Beispiel. Zwar schaffen sie die Illusion von einer Pädagogik, die tatsächlich für die Kinder gemacht wird und mit alten, autoritären Lehrmethoden bricht, aber sie individualisieren und isolieren die gesellschaftlichen Probleme der Bildung und Erziehung weiterhin. Es ist also auch kein Wunder, dass mit Rudolf Steiner (dem Begründer der Waldorfschulen) eine starke Abgleitfläche hin zu Esoterik bis zum Faschismus besteht. Ein unwissenschaftlicher Zugang, der es nicht schafft, die Ideologische Ausrichtung der momentanen Erziehung zu durchbrechen, wird immer zu einer Verstetigung des Systems führen und an den eigenen Widersprüchen zerbrechen.

Um die Probleme des Erziehungs- und Bildungssystems an ihrer Wurzel zu packen, darf die pädagogische Sphäre nicht losgelöst vom Rest der Gesellschaft betrachtet werden. Genauso müssen Erziehung und Bildung auch als Einheit verstanden werden, nicht nur als „private“ gegenüber der „gesellschaftlichen“ Aufgabe. Der Kampf um eine sinnvollere Erziehung muss immer mit dem gesamtgesellschaftlichen Kampf gegen die Klassenstruktur verbunden werden. Nur wenn das Klassensystem als Ganzes aufgehoben wird, kann auch der Klassencharakter der Erziehung überwunden werden. Ziel ist daher nicht die Herausbildung des besseren Individuums innerhalb des kapitalistischen Systems durch reformorientierte Erziehungsansätze, sondern die Überwindung dessen durch kollektive revolutionäre Organisierung. Kinder, Jugendliche und lohnabhängige Lehrende dürfen nicht mehr nur als Personen begriffen werden, die besser pädagogisch versorgt werden müssen oder andere besser pädagogisch versorgen sollen. Stattdessen müssen sie als revolutionäre Subjekte verstanden werden, die Akteur:innen im Klassenkampf sind und für ihre Interessen und Forderungen einstehen. Zentral dabei ist, dass sie neben Fragen nach inhaltlicher auch solche nach struktureller Veränderung der Erziehung stellen. Wer bestimmt Inhalt und Rahmen der Erziehung? Wer hat die Kontrolle über relevante Institutionen? Wer trifft Entscheidungen? Wer kontrolliert deren Umsetzung?

Vergesellschaftung von Erziehung auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft

Auch wenn es im Kapitalismus bereits gewisse Tendenzen zur Vergesellschaftung der Erziehung gibt – beispielsweise durch die Errichtung von Kitas, Schulen oder Internaten – werden wesentliche Teile ins Private zurückgedrängt, wo sie nicht entlohnt werden müssen. Erziehung wird immer noch hauptsächlich als private Angelegenheit betrachtet, die im Rahmen der bürgerlichen Familie geleistet werden soll, wo sie in die geschlechtliche Arbeitsteilung eingebettet ist. Erziehung ist wie andere Reproduktionsarbeiten (z. B. Nahrungsversorgung, Pflege etc.) eine der unsichtbaren und unbezahlten Tätigkeiten, die mehrheitlich von Frauen verrichtet wird. Männer dagegen haben einen größeren Anteil an der gesamtgesellschaftlich geleisteten Lohnarbeit.

Um die Struktur dieser Arbeitsteilung aufzubrechen, muss die Forderung nach Vergesellschaftung von Erziehung mit anderen Kämpfen verbunden werden. Nur wenn allen Menschen das Recht auf Arbeit garantiert wird und gleichzeitig jegliche Reproduktionsarbeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird, ist eine Neuaufteilung von Arbeit möglich. Erst dann können sich toxische Strukturen innerhalb von Familien abbauen, deren Grundlage die finanzielle Abhängigkeit von Frauen und Kindern legt.

Erst nach einem revolutionären Bruch und dem beginnenden Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft wird Erziehung durch zunehmende Vergesellschaftung immer weniger den Interessen der wenigen Kapitalist:innen, sondern zunehmend denen der gesamten Gesellschaft folgen. Doch wie kann ermittelt werden, was gesellschaftlich relevant ist? Jugendliche, Pädagog:innen und Gewerkschaften müssen sich in Räten organisieren, um einerseits gesellschaftlich relevante Bildungsinhalte zu ermitteln und andererseits die Umsetzung dieser zu kontrollieren. Generell ist eine stärkere Verknüpfung von Erziehung, Ausbildung und Arbeit wichtig. Die sogenannte „polytechnische Bildung“ in der frühen Sowjetunion umfasste beispielsweise ein Bildungskonzept, indem die Erziehung mit der materiellen Produktion verbunden wurde. Auch die Möglichkeit zu lebenslangem Lernen und der Zugang zu außerschulischen Bildungseinrichtungen fördert Theorie und Praxis als gemeinsamen und wechselseitigen Prozess. So kann gewährleistet werden, dass nicht an den gesellschaftlichen Bedürfnissen vorbei gelernt wird.

Durch die Integration von Lernen und Arbeiten wird das Erziehungs- und Schulsystem, wie wir es kennen, grundlegend in Frage gestellt. Aber erst mit dem gänzlichen Verschwinden der gesellschaftlichen Klassenstruktur kann sich der Charakter der Erziehung vollends ändern. Die gesamte gesellschaftlich relevante Arbeit, einschließlich der Reproduktion, kann auf alle Hände aufgeteilt werden. Die bürgerliche Familie wird überflüssig werden, denn sie wird nicht mehr für die Reproduktion der Arbeitskraft benötigt. Auch die Rolle der Eltern wird sich wandeln, da diese nicht mehr die Hauptverantwortung für die Erziehung tragen müssen. Das bedeutet nicht, dass Eltern nicht auch weiterhin eine Rolle im Leben ihrer Kinder spielen können und sollten. Es steht in dieser anderen Form der Gesellschaft aber erstmal das Kindeswohl an oberster Stelle und es wird nicht mehr nur durch Zufall entschieden, wie die häusliche Erziehung passiert. Grundlegende pädagogische Fähigkeiten werden an alle weitergegeben, die sich um Kinder kümmern und werden gemeinsam gesellschaftlich festgelegt und verändert. Erst mit dem Umbruch in eine klassenlose Gesellschaft kann Erziehung also zu dem werden, was sie sein sollte: eine Aufgabe von allen für alle.




Die verratene Revolution

Trotzkis Analyse des Stalinismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 52, November 2019 (Erstveröffentlichung 2001)

Die russische Revolution war die erste erfolgreiche
proletarische Revolution, die einen ArbeiterInnenstaat errichtete. Sie wurde
somit zum wichtigen Bezugspunkt für alle, welche die kapitalistische
Gesellschaft ablehnen und nach einer Alternative suchen. Sie hat das Leben der
russischen ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der ganzen
Bevölkerung revolutioniert, den Frauen historisch erstmals das allgemeine und
gleiche Wahlrecht zugestanden, Abtreibung und Homosexualität legalisiert und
eine grundlegende Umgestaltung der Ökonomie unter ArbeiterInnenkontrolle und
-verwaltung begonnen.

Die Politik und Herrschaft Stalins sowie des Stalinismus
allgemein bedeuteten einen Bruch mit den revolutionären Zielen der Bolschewiki
und fügten dem Ansehen des Kommunismus in der ArbeiterInnenklasse und bei den
Unterdrückten weltweit immensen Schaden zu, indem er mit dieser reaktionären
Politik gleichgesetzt wurde.

„Die Sowjetunion ist aus der Oktoberrevolution als ein ArbeiterInnenstaat hervorgegangen. Die Verstaatlichung der Produktionsmittel als notwendige Voraussetzung der sozialistischen Entwicklung hat die Möglichkeit eines raschen Anwachsens der Produktivkräfte ermöglicht. Der Apparat des ArbeiterInnenstaates hat unterdessen eine völlige Entartung durchgemacht, wobei er sich von einem Werkzeug der ArbeiterInnenklasse zu einem Werkzeug der bürokratischen Gewalt gegen die ArbeiterInnenklasse verwandelt hat. Die Bürokratisierung eines rückständigen und isolierten ArbeiterInnenstaates und die Verwandlung der Bürokratie in eine allmächtige privilegierte Kaste sind die überzeugendste – nicht nur theoretische, sondern praktische – Widerlegung der Theorie des Sozialismus in einem Lande.

So schließt die Herrschaftsform der Sowjetunion bedrohliche Widersprüche ein. Aber sie bleibt immer noch die Herrschaftsform eines entarteten ArbeiterInnenstaates. Das ist die soziale Diagnose.

Die politische Prognose stellt sich als Alternative: entweder beseitigt die Bürokratie, die immer mehr zu einem Organ des Weltimperialismus in dem ArbeiterInnenstaat wird, die neuen Eigentumsformen und wirft das Land in den Kapitalismus zurück; oder die ArbeiterInnenklasse stürzt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.“ (1)

Bevor wir auf Trotzkis Analyse näher eingehen, wollen wir
kurz einige Schwierigkeiten darstellen, die uns bei seinen Arbeiten begegnen.

Womit beginnen?

Erstens hat sich seine Analyse im Laufe der Entwicklung des
Stalinismus selbst verändert. Anders als wir hatte er es nicht mit einem
fertigen Phänomen zu tun, sondern mit einer komplexen, im Werden begriffenen
Erscheinung. Daher ändern sich auch Trotzkis Positionen zur stalinistischen
Bürokratie und seine politisch-programmatischen Schlussfolgerungen.

Zweitens ist Trotzki wie alle großen marxistischen
TheoretikerInnen zugleich Revolutionär, Politiker, Praktiker im besten Sinne
des Wortes. Seine Analyse erarbeitet er im Kontext der polemischen
Auseinandersetzung, der damit einhergehenden Zuspitzung einzelner Punkte und in
praktischer, revolutionärer Absicht. Ein bürgerlicher, anschauender Marxismus
ist ihm fremd.

Die dritte und wichtigste Schwierigkeit liegt im
widersprüchlichen Wesen nicht nur des Stalinismus, sondern des Übergangs vom
Kapitalismus zum Sozialismus selbst begründet. Der bleibende Wert von Trotzkis
Beitrag zum Verständnis der Sowjetgesellschaft und des Stalinismus liegt gerade
darin, den Ausgangspunkt der Betrachtung richtig zu wählen.

Entgegen etlichen zeitgenössischen und heutigen Vorwürfen,
die Trotzkis Theorie als „historisch befangen“ erklären, die seine Konzeption
des degenerierten ArbeiterInnenstaates zurückweisen, weil er „emotional“ an der
Oktoberrevolution hänge (Cliff u. a.) und sich trotz Stalin von der SU
nicht lösen könne oder umgekehrt wegen Stalin deren Entwicklungspotential
übersehen hätte (z. B. Deutscher), ist bei Trotzki ein enormes Maß an
Objektivität zu spüren. Sein Eintreten für die verbliebenen Errungenschaften
der Oktoberrevolution und den revolutionären Sturz der Bürokratie hat – wie wir
zeigen werden – nichts mit persönlicher Eitelkeit oder gar einer „Revanche an
Stalin“ zu tun.

Nach einem vergleichenden Überblick über die soziale und
politische Situation in der Sowjetunion 1935 wendet sich Trotzki der eigentlichen
Analyse der Sowjetgesellschaft zu. Er beginnt dabei nicht bei Stalin, ja
überhaupt nicht mit der Untersuchung einzelner Aspekte der frühen Sowjetunion,
sondern mit grundlegenden Betrachtungen des Übergangs vom Kapitalismus zum
Sozialismus. Der sozioökonomische Charakter der Sowjetunion und der Stalinismus
müssen aus den inneren Widersprüchen dieser Übergangsperiode erklärt werden.
Dieser Methode bleibt Trotzki grundsätzlich treu. Das weist ihn als großen
Vertreter des historischen Materialismus aus.

Er lehnt jede normative Herangehensweise ab. Es reicht, so
Trotzki, nicht aus nachzuprüfen, ob ein ArbeiterInnenstaat oder jedes andere
Phänomen der „Norm“, unseren Idealen entspricht.

„Das übliche Denken arbeitet mit solchen Vorstellungen wie Kapitalismus, Moral, Freiheit, ArbeiterInnenstaat usw. als festgelegten Abstraktionen, wobei es voraussetzt, dass Kapitalismus gleich Kapitalismus, Moral gleich Moral ist usw. Das dialektische Denken untersucht alle Dinge und Erscheinungen in ihrer unablässigen Veränderung, wobei es in den materiellen Voraussetzungen dieser Veränderungen jene kritische Grenze bestimmt, jenseits derer ‚A‘ aufhört ‚A‘ zu sein, ein ArbeiterInnenstaat aufhört, ein ArbeiterInnenstaat zu sein.

Der grundlegende Fehler des üblichen Denkens liegt darin, dass es sich mit bewegungslosen Eindrücken der Wirklichkeit zufrieden gibt, die aus ewiger Bewegung besteht. Durch weitere Annäherungen, Berichtigungen, Konkretisierungen gibt das dialektische Denken Vorstellungen einen reicheren Inhalt und größere Anpassungsfähigkeit (…).“ (2)

Trotzki verdeutlicht das anhand eines Vergleiches mit
Gewerkschaften:

„Die geschichtliche Entwicklung hat uns mit den unterschiedlichsten Gewerkschaften bekannt gemacht: kämpferischen, reformistischen, revolutionären, reaktionären, liberalen und katholischen. Anders verhält es sich mit dem ArbeiterInnenstaat. Diese Erscheinung beobachten wir zum ersten Mal. Daher resultiert die Neigung, die UdSSR ausschließlich unter dem Blickwinkel der Normen des revolutionären Programms zu betrachten. Indessen ist der ArbeiterInnenstaat eine objektive geschichtliche Tatsache, auf die verschiedene geschichtliche Kräfte einwirken und die, wie wir sehen, in vollen Widerspruch zu den ‚traditionellen Normen‘ geraten ist.“ (3)

Hier und an anderer Stelle verweist er darauf, dass wir
wenig gewonnen haben, wenn wir einfach eine Idealvorstellung des
ArbeiterInnenstaates mit dem Phänomen Sowjetunion vergleichen und zur
Schlussfolgerung gelangen, dass sie diesem Modell nicht entspricht.

Die wissenschaftliche Charakterisierung hat immer auch
programmatische und politische Konsequenzen. Ist die Sowjetunion nur ein
anderer, totalitärer, imperialistischer Staat, würde daraus z. B. im Krieg
gegen das faschistische Deutschland eine defaitistische Haltung des
Proletariats folgen.

Hinter der Charakterisierung degenerierter
ArbeiterInnenstaat steht für Trotzki jedoch, dass die Sowjetunion trotz der
Monstrosität der Stalin‘schen Herrschaft noch immer auf der Enteignung der
Bourgeoisie gründet, dass sich keine neue Kapitalistenklasse an die Macht
geschwungen hat und dass eine ArbeiterInnenrevolution gegen Stalin diese
Aufgabe nicht erneut erfüllen muss. Daher traten die TrotzkistInnen vor dem und
im Zweiten Weltkrieg für die Verteidigung der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland
und für den Sieg der UdSSR ein.

Revolutionäre Klasse

Trotzki versucht, das Problem des Übergangs im Anschluss an
Marx, Engels und Lenin sowohl theoretisch zu erschließen wie auch historisch –
in der Analyse der Entwicklung der Sowjetunion. In seinen Arbeiten greift
Trotzki die wichtige Erkenntnis des Marxismus auf, dass der Übergang zur
klassenlosen Gesellschaft, zum Kommunismus, nur über die politische
Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse möglich ist.

Sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die aufgrund
ihrer Stellung im Produktionsprozess zur vollständigen Umwälzung der
Gesellschaft, zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung
fähig ist. Der gesellschaftliche Charakter der kapitalistischen
Produktionsweise schafft die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, das Leben der
Menschen bewusst zu gestalten und jede Form von Ausbeutung und Unterdrückung zu
überwinden.

Möglich ist das aber nur, wenn sich die Arbeitenden, die den
Reichtum der Gesellschaft schaffen, dieser Notwendigkeit bewusst werden. Das
passiert nicht spontan. Das Proletariat ist vielmehr selbst in der
Warenwirtschaft verhaftet, es ist von chauvinistischen, sexistischen, usw.
Vorurteilen geprägt, die sie an die bestehende Gesellschaft fesseln.

Damit diese Klasse wirklich revolutionär wird und einen
konsequenten Kampf für ihre eigene Emanzipation führen kann, muss gegen alle
Formen der Unterdrückung und Ausbeutung agiert werden. Es bedarf dazu des
Kampfes gegen bürgerliches und kleinbürgerliches Bewusstsein und jede Form
unterdrückerischen Verhaltens unter den Ausgebeuteten. Nur durch die Verbindung
von Kampf, Organisierung und Bewusstsein wird das Proletariat befähigt, den
revolutionären Sturz des bestehenden Ausbeutungssystems herbeizuführen und dem
Marktwahnsinn der Profitwirtschaft ein Ende zu bereiten. Das ist die notwendige
Vorbedingung, damit die Potenzen der Gesellschaft zur freien und allseitigen
Entfaltung aller Menschen genutzt werden können. Es gibt nur eine
Gesellschaftsformation, in der das möglich ist: die kommunistische, das Ziel
der proletarischen Revolution.

Diese Erkenntnis muss zusammen mit einem weiteren wichtigen
Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution verarbeitet
werden. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus konnte sich die
entstehende Bourgeoisie auf eine lange historische Phase der Entwicklung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Schoße der Feudalgesellschaft
stützen. Schon lange bevor die Aristokratie ihre politische Macht verlor und
diese an die Kapitalistenklasse abzutreten gezwungen war, begannen die
bürgerliche Produktionsweise, das Vordringen von Geldwirtschaft und Manufaktur,
die feudale Produktionsweise von innen zu zerstören.

Wie Engels zu Recht feststellt, war die Umwälzung der
politischen Verhältnisse, die Zerstörung der feudalen Ordnung nicht einfach ein
„Nachvollzug“ des ökonomischen Voranschreitens, sondern notwendig, um die neue
Produktionsweise von den feudalen Fesseln zu befreien. Dem/r KönigIn musste der
Kopf abgeschlagen werden. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse mussten
über die Landesgrenzen ausgedehnt werden – und sei es mit den Bajonetten der
napoleonischen Armee.

In den bürgerlichen Revolutionen gelangte die Bourgeoisie
auf Basis der Mobilisierung der Volksmassen an die politische Macht. Auch dort,
wo es der Feudalaristokratie gelang, diese wieder zu erlangen, wo die
Revolutionen scheiterten und die Exekutivgewalt in den Händen der
konterrevolutionären Aristokratie blieb, war an eine Restauration des
gesellschaftlichen Systems des Feudalismus nicht mehr zu denken. Der
Kapitalismus und erst recht das Fabriksystem hatten die Mauern der alten
Ordnung zu diesem Zeitpunkt schon so gründlich zerstört, dass der ehemals
herrschenden Klasse nur übrig blieb, sich mit der Kapitalistenklasse zu
arrangieren und, wie z. B. in Deutschland oder der Habsburger Monarchie,
die rasch wachsende Angst der BürgerInnen vor dem sich bildenden Proletariat zu
einem möglichst großzügigen Arrangement für KaiserIn, KönigIn und JunkerIn zu
nutzen.

In jedem Fall aber blieb die kapitalistische
Produktionsweise die vorherrschende, weil sie schon in der Feudalgesellschaft
ihre historische Überlegenheit gezeigt hatte, weil sich die Bourgeoisie mit
ihrer Entwicklung zur herrschenden Klasse bereits auf ein überlegenes,
bürgerliches System der Produktion und Distribution stützen konnte.

Die Bedeutung der politischen Machtergreifung

Die ArbeiterInnenklasse kann sich jedoch vor der
revolutionären Machtergreifung auf kein solches System stützen. Der
Kapitalismus entwickelt zwar die Voraussetzungen des Kommunismus und seine
inneren Widersprüche drängen notwendig zum Sturz dieser Klassengesellschaft –
aber im Kapitalismus entwickelt sich keine zukünftige sozialistische
Produktionsweise.

Die Kapitalistenklasse entwickelte sich organisch aus
Geldwirtschaft, Handel und Handwerk im Feudalismus. Sie konnte ihre ökonomische
Vorherrschaft, lange bevor sie zur politisch herrschenden Klasse wurde, auf der
Grundlage einer neuen, historisch überlegenen Produktionsweise vorbereiten, die
sich neben der und gegen die feudale Produktionsweise entwickelte.

Die Kapitalistenklasse entwickelte sich aus den
Zwischenklassen, Mittlerinnen der Feudalgesellschaft, nicht aus der
unterdrückten Produzentenklasse der Leibeigenen, Hörigen oder abhängigen
Bauern/Bäuerinnen. Sie entwickelte sich aus dem Kampf der Stadt gegen das Land,
aus dem Kampf neu entstehender Mittelklassen, die sich oft selbst aus
ehemaligen, entflohenen Leibeigenen rekrutierten. So war es möglich, dass sie
sich nach der politischen Machtergreifung bereits auf die ökonomische
Vorherrschaft stützen konnte.

Für das Proletariat besteht diese Möglichkeit nicht. Gerade
weil die kapitalistische Produktionsweise auf der Ausbeutung der Arbeiterinnen
und Arbeitern als Klasse von LohnrbeiterInnen basiert, die Mehrwert und Kapital
produzieren, kann diese Klasse nicht im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft
ihre eigene Produktionsweise schaffen. Sie muss vielmehr zuerst ihre
gesellschaftliche Stellung zur politischen Machtergreifung nutzen, zur eigenen
Klassenherrschaft gelangen, um auf dieser Grundlage die Gesellschaft gründlich,
bewusst und planmäßig umzugestalten. Nach der Machtergreifung muss sich die
ArbeiterInnenklasse nicht nur mit der bürgerlichen Konterrevolution
auseinandersetzen, sie kann nur über die bewusste Umwälzung der vom
Kapitalismus übernommenen Verhältnisse zur klassenlosen Gesellschaft
voranschreiten.

„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtische Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: jeder nach seinen/ihren Fähigkeiten, jedem/r nach seinen/ihren Bedürfnissen.“ (4)

Der Sturz der bürgerlichen Herrschaft erfordert eine
bewusste Klassenführung, erfordert ein Bewusstsein von der Aufgaben der Klasse.
Nach der Revolution wird die Frage des Bewusstseins der Klasse nicht weniger
bedeutend. Das Proletariat kann nach Marx´ Auffassung den Staat nicht einfach
„abschaffen“, wie die AnarchistInnen glauben, es muss vielmehr für eine Periode
des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus selbst die Staatsmacht ausüben,
um sich gegen die innere und äußere bürgerliche Konterrevolution zu verteidigen
und diese zu unterdrücken.

„Zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft liegt eine Periode der revolutionären Umwälzung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (5)

Welchen Staat braucht das Proletariat?

Schon vor der Revolution von 1848 vertraten Marx und Engels die Auffassung, dass die ArbeiterInnenklasse die politische Macht erringen müsse, um ihre ökonomische Befreiung erwirken, um Ausbeutung und Unterdrückung beseitigen und schließlich den Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft ebnen zu können. Das kommt auch im Kommunistischen Manifest zum Ausdruck: „Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der ArbeiterInnenrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“ (6)

Welche Staatsform zur Befreiung des Proletariats notwendig
sei, was mit dem schon existierenden Staatsapparat geschehen müsse – das war
damals noch nicht mit Inhalt gefüllt. Doch schon die Errichtung der
bonapartistischen Diktatur Napoleons III. 1851 in Frankreich führte Marx und
Engels zu wichtigen neuen Erkenntnissen in Bezug auf den Staat. Der bürgerliche
Staat ist nicht einfach eine Institution, die der Herrschaft jeder beliebigen
Klasse – egal ob ausbeutend oder nicht – dienen kann.

Im Gegenteil, er dient in jeder Form – egal ob als
parlamentarische Demokratie oder als Diktatur, ob als Republik oder Monarchie –
der Aufrechterhaltung und Befestigung der Macht des Bürgertums. Das trifft
selbst dann zu, wenn VertreterInnen des Proletariats z. B. die Mehrheit im
Parlament hätten, da das eigentliche Machtzentrum des Staates nicht bei den
Abgeordneten, sondern im Staatsapparat selbst liegt, bei der Bürokratie, der
Justiz vor allem bei Armee und Polizei.

Das Proletariat kann daher die bürgerliche Staatsmaschine,
so die Schlussfolgerung von Marx und Engels, nicht einfach übernehmen. Sie muss
vielmehr zerbrochen oder, wie sich Lenin in „Staat und Revolution“ ausdrückt,
zerschlagen werden. In einem berühmten Brief an Ludwig Kugelmann vom 12. April
1871 macht Marx seine Auffassung besonders deutlich:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines ,Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wird Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (7)

Genau das, so Marx, habe die Kommune im Unterschied zu allen
Revolutionen vor ihr gemacht. Sie hat nicht mehr den bestehenden Staatsapparat
einfach übernommen, ihre Leute auf hoch dotierte Bürokratenposten gesetzt und
ihnen damit ermöglicht, sich über jene zu stellen, die sie in diese Position
gebracht haben. Sie hat den Staatsapparat sozusagen vom Himmel auf die Erde
geholt – indem sie ihn zerschlagen und durch einen völlig neuartigen „Staat“,
die Kommune, ersetzt hat.

Die Kommune wurde durch Abgeordnete gebildet, die in den
Bezirken von Paris durch allgemeines Stimmrecht gewählten wurden. Das Besondere
dabei war erstens, dass diese ihren WählerInnen jederzeit verantwortlich und
von diesen absetzbar waren. Anders als in der bürgerlichen Gewaltenteilung
üblich, waren gesetzgebende und ausführende Tätigkeit in einer Körperschaft
vereint. Zweitens durften alle Mitglieder der Kommune und Ausführende sonstiger
öffentlicher Tätigkeiten nicht mehr als einen ArbeiterInnenlohn beziehen, um
dem im bürgerlichen Staat üblichen Karrierismus vorzubeugen.

Alle öffentlichen Funktionen, die auch unter der Herrschaft
des Proletariats notwendig sind, wurden in die direkte Selbstverwaltung der
arbeitenden Bevölkerung überführt. Sie verwirklichte auf ihre Art den
„schlanken Staat“ – ohne MinisterialbeamtInnen, HofrätInnen und tausende andere
HonoratiorInnen, die das „Wohl der Allgemeinheit“ vor allem zum Mittel ihrer
eigenen Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit machen.

Gleich im ersten Dekret, das die Kommune erließ, räumte sie
auch entschlossen mit der bewaffneten Macht des alten Staatsapparats auf. Das
stehende Heer wurde abgeschafft und durch die Bewaffnung des ganzen Volkes
ersetzt. Ebenso wurden alle RichterInnen und sonstigen JustizbeamtInnen ihrer
scheinbaren Unabhängigkeit entkleidet und sollten wie alle übrigen Ämter
gewählt, verantwortlich und jederzeit absetzbar sein.

Die Diktatur des Proletariats

Die Kommune ging natürlich auch daran, die geistigen
Hilfsmächte der alten Ordnung, vor allem den Klerus, in die Schranken zu weisen
und Symbole des Kaiserreichs, der Reaktion und des Chauvinismus zu zerstören.
Die Religion wurde aus den Schulen verbannt und Grundbesitz und sonstige
kommerzielle Unternehmungen der Kirche wurden enteignet. Die Siegessäule
Napoleons und die als Sühne für die Hinrichtung Ludwigs XVI. errichtete
Bußkapelle wurden geschliffen, die Guillotine öffentlich verbrannt.

Nicht zuletzt ging auch die Kommune in den wenigen Wochen
ihres Bestehens daran, in die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse einzugreifen.
Mietschulden der ArbeiterInnen wurden für nichtig erklärt und die Nachtarbeit
bestimmter Berufe wie der BäckerInnen verboten. Am 16. April wurde eine
statistische Erfassung der von den Unternehmern stillgelegten Fabriken und die
Ausarbeitung von Plänen für ihren Betrieb und ihre Leitung durch in
Kooperativen vereinigte Arbeiter und Arbeiterinnen begonnen.

In nur wenigen Wochen hatte die Kommune, getragen vom
arbeitenden Paris, für das Interesse der Massen mehr geleistet als sämtliche
bürgerliche WeltverbessererInnen der Geschichte zusammen. Zweifellos hatte auch
die Kommune ihre Schwächen. Sie hatte es versäumt, rechtzeitig der bürgerlichen
Konterrevolution in Versailles militärisch entgegenzutreten, bevor diese
ähnliche Versuche in großen französischen Städten niederschlagen und
schließlich das Pariser Proletariat im Bürgerkrieg niedermachen konnte. Sie
hatte es versäumt, solche grundlegenden ökonomischen Maßnahmen wie die
Beschlagnahme der Bank von Frankreich durchzuführen und damit der bürgerlichen
Konterrevolution ein wichtiges Machtmittel zu entreißen.

Doch all das ändert nichts an der weltgeschichtlichen
Bedeutung dieser ersten Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, dieser ersten
Errichtung der Diktatur des Proletariats in der Geschichte. Auf den ersten
Blick erscheint es seltsam, diese demokratischste aller Demokratien, die
direkte Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung als Diktatur zu
bezeichnen. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Entgegen den
bürgerlichen ApologetInnen erkennen wir, dass jeder demokratische Staat in
seinem Kern eine Diktatur ist. Der bürgerliche Staat – egal welche Partei auch
an seiner Spitze steht und welche Herrschaftsform er annimmt – bleibt immer ein
Instrument zur Aufrechterhaltung der Profitwirtschaft und des Privateigentums
an den Produktionsmitteln, also ein Instrument zur Diktatur der herrschenden
Klasse, des Kapitals, über die von ihr ausgebeutete Klasse, die
ArbeiterInnenklasse.

In der Diktatur des Proletariats verkehrt sich die Diktatur
einer winzigen Minderheit über die große Mehrheit der Bevölkerung in jene der
überwältigenden Mehrheit über die Minderheit, um deren Ausbeutung und
Unterdrückung national wie weltweit zurückzudrängen. Wenn wir hier von Diktatur
sprechen, anerkennen wir, dass der ArbeiterInnenstaat einen bewussten Kampf
gegen Unterdrückung und Ausbeutung führen muss. Um dabei erfolgreich zu sein,
stützt er sich – wie die Kommune – auf die weitestgehende Demokratie (tagtäglich
und nicht bloß alle vier Jahre) in Form eines Rätesystems. Dies ist die
Herrschaftsform des ArbeiterInnenstaates für die Übergangsperiode zum
Sozialismus, während der in der Gesellschaft der Klassenwiderspruch (etwa in
Form des Kleinbürgertums) noch existiert.

Während die Bourgeoisie wie alle ausbeutenden Klassen die
Unterdrückten zu täuschen versucht, indem sie den Klassencharakter des
bürgerlichen Staats und der Demokratie leugnet, haben KommunistInnen nichts zu
verbergen. Uns geht es darum, den Arbeitern und Arbeiterinnen politische
Klarheit zu vermitteln. Wir treten offen für unsere Auffassungen ein. Wir
bezeichnen den Staat der Übergangsperiode als Diktatur, weil er wie jeder Staat
ein Herrschaftsinstrument einer Klasse gegen eine andere ist und weil wir aus
allen bisherigen Versuchen des Sturzes des Kapitalismus wissen, dass wir ein
solches Instrument zum Kampf gegen die bürgerliche Konterrevolution brauchen.
Wer die proletarische Diktatur ablehnt, ist in Wirklichkeit gezwungen, weiter
die Diktatur der KapitalistInnen zu dulden.

Schon wenige Tage nach der Niederlage der Kommune, am 30.
Mai, präsentierte Marx vor dem versammelten Generalrat der Internationalen
ArbeiterInnenassoziation, die später als die Erste Internationale in die
Geschichte eingehen sollte, die Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich” (MEW
Bd. 17, S. 313–365). Dort legt er erstmals die wesentlichen Schlussfolgerungen
über die Pariser Kommune nieder.

„Die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen waren. Ihr wahres Geheimnis ist dies: Sie war wesentlich eine Regierung der ArbeiterInnenklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.

Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und Täuschung. Die politische Herrschaft des/r ProduzentIn kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner/ihrer gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und der Klassenherrschaft ruht.“ (8)

Mit der Kommune war endlich die Form gefunden, durch die die
bürgerliche Staatsmaschinerie in der proletarischen Revolution zu ersetzen ist
– ein Ziel jedes wirklich sozialistischen Programms, das sowohl durch
sozialdemokratische wie durch stalinistische Staatsgläubigkeit fast verloren
ging.

Anders als der bürgerliche Staat ist die Kommune eine
Staatsform, die in dem Maß, wie der Aufbau des Sozialismus im internationalen
Maßstab voranschreitet, die, je mehr die Klassengegensätze planmäßig überwunden
werden, selbst aufhört, ein Staat, ein Mittel einer Klasse zur Unterdrückung
einer anderen zu sein. Gerade weil die Kommune einen Mechanismus darstellt zur
Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft (jederzeitige Wahl- und
Abwahl öffentlicher FunktionärInnen, ArbeiterInnengehalt), ist sie eine
Staatsform, die schon die Möglichkeit des Absterbens des Staates in sich trägt.

Mit ihr – nicht mit den stalinistischen Imitationen des
bürgerlichen Staates – ist der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft und damit
zur Überwindung des „ganzen Staatsplunders“ (Engels) möglich. Lenin und die
Bolschewiki knüpften an diese Tradition von Marx und Engels an. In seiner Schrift
„Staat und Revolution“ greift Lenin die Erkenntnis auf, nicht nur die
Staatsmacht zu ergreifen, sondern auch die existierende bürgerliche
Staatsmaschinerie zu zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat zu
ersetzen.

„Beamtentum und stehendes Heer, das sind die ‚SchmarotzerInnen‘ am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, SchmarotzerInnen, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben ParasitInnen, die die Lebensporen ‚verstopfen‘.“ (9)

Das Programm der Bolschewiki

Er schlägt daher in der Tradition der Pariser Kommune
Maßnahmen vor, um die Herausbildung einer neuen Bürokratie und deren
Verfestigung zu einer Kaste zu verhindern:

Erstens tritt er entschieden für die Wahl und jederzeitige
Abwählbarkeit aller staatlichen FunktionärInnen ein; zweitens darf das Gehalt
dieser FunktionärInnen den Lohn der ArbeiterInnen nicht überschreiten; drittens
sollen die Aufsichts- und Kontrollfunktionen unter allen Mitgliedern der
Gesellschaft rotieren, so dass für eine begrenzte Zeit jede/r „BürokratIn“ wäre
– und somit niemand lebenslang BürokratIn werden kann.

Zweifellos haben die Bolschewiki schon zu Lebzeiten Lenins
von diesem Programm viele Abstriche machen müssen. Sie haben, um die russische
Revolution zu verteidigen, sogar in vielen Fällen zu ganz und gar dem Programm
entgegengesetzten Maßnahmen greifen müssen. Deutlich wird das z. B. im
Fall der Gründung der Roten Armee.

Wollte man einen normativen Maßstab an die Russische
Revolution und die Sowjetunion anlegen, so müsste man die Oktoberrevolution vom
ersten Moment der Machtergreifung an für gescheitert erklären. Die
AnarchistInnen tun das konsequenterweise – in totaler Verkennung und Ignoranz
gegenüber den inneren Widersprüchen der Übergangsperiode. Für die AnarchistInnen
und Ultralinken löst sich die Frage im Endeffekt in der Losung nach sofortiger
Umsetzung bestimmter programmatischer „Marotten“ auf. Schaffen wir den Staat ab
– dann hat sich alles gelöst. Dasselbe trifft auf die frühen ultralinken
KritikerInnen zu. Warum wird das Geld, wird der Warentausch nicht einfach
„abgeschafft“? Warum gehen die Bolschewiki gegen die Kronstädter Matrosen vor?
Verletzt das nicht alles die Reinheit der Revolution und ihrer „Prinzipien“?

Das Problem der Übergangsperiode besteht aber gerade darin,
dass wir es hier mit einem Widerstreit zweier gesellschaftlicher Prinzipien –
dem Wertgesetz und bewusster gesellschaftlicher Planung, der alten bürgerlichen
Gesellschaft und der zukünftigen sozialistischen – zu tun haben. Die Übergangsgesellschaft
ist – anders als Sozialismus und Kommunismus – keine eigene
Gesellschaftsformation, sie ist vielmehr ein Übergangsregime, wo sich die alte,
bürgerliche Produktionsweise und die neue, erst embryonal vorhandene
sozialistische einen Kampf auf Leben und Tod liefern.

Die übernommenen, mehr oder weniger starken bürgerlichen
Elemente können nur auf Basis einer Entwicklung der Produktivkräfte, die weit
höher als die des fortgeschrittensten Kapitalismus ist, überwunden werden. Auch
bei günstigen inneren und äußeren Umständen (und die lagen in der frühen
Sowjetunion nicht vor) kann das zur Macht gekommene Proletariat das Wertgesetz
nicht einfach „abschaffen“. Es muss vielmehr die gesellschaftlichen
Bedingungen, und das bedeutet u. a. ein bestimmtes Niveau der
Vergesellschaftung der Produktion, herstellen, um diesen Schritt auch real
durchführen zu können. Ansonsten wird sich das Wertgesetz nur blind zur Geltung
bringen.

Wurzeln der Stalinisierung

Ein typisches Beispiel ist der in den stalinistischen Staaten
florierende Schwarzmarkt, der überall dort wucherte, wo die offizielle
Produktion nicht ausreichte und Engpässe existierten. Ein historisches Beispiel
für einen Kompromiss mit den gesellschaftlichen Bedingungen stellt die
Zulassung von Marktmechanismen im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik 1922 dar,
als der Staat nicht fähig war, den Bauern/Bäuerinnen im Tausch für ihre
landwirtschaftlichen Produkte Maschinen anzubieten, und diese daher wenig
Anreiz zur Produktion hatten, solange sie ihre Produkte nicht verkaufe konnten,
sondern an den Staat abliefern mussten.

Trotzki beschreitet auf dieser Linie einen grundsätzlich
anderen Weg als die AnarchistInnen und Ultralinken, einen grundsätzlich anderen
Weg als alle normativen AnalytikerInnen. Er erklärt die bürokratische Entartung
der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion mit der Rückständigkeit und
der internationalen Isolierung des Landes, dem Ausbleiben der internationalen
Revolution.

„Die revolutionäre Nachkriegskrise führte jedoch nicht zum Sieg des Sozialismus in Europa: Die Sozialdemokratie rettete die Bourgeoisie. Die Periode, die Lenin und seine erfahrenen KampfgenossInnen als eine kurze ‚Atempause‘ (gemeint ist der Frieden von Brest-Litowsk und die Phase unmittelbar danach; d. A.) erschien, dehnte sich auf eine ganze historische Epoche aus. Die widersprüchliche gesellschaftliche Situation der UdSSR und der ultra-bürokratische Charakter ihres Staates sind direkte Folgen dieser einzigartigen, ‚unvorhergesehenen‘ historischen Stockung, die gleichzeitig in den kapitalistischen Ländern zum Faschismus oder zur präfaschistischen Reaktion führte.“ (10)

Die Rückständigkeit der Sowjetunion (und in diesem Sinne die
Problematik jedes Landes, das „selbstständig“ den Weg zum Sozialismus
einschlagen wollte) drückt sich in inneren Klassenwidersprüchen aus, den
gegensätzlichen Interessen von Proletariat und Bauern-/Bäuerinnenschaft, in der
Rückständigkeit der Produktivkräfte und damit in der Unmöglichkeit, Preise,
Geld, Wert usw. einfach abzuschaffen. Aus dieser inneren Widersprüchlichkeit
erklärt Trotzki den Aufstieg der Bürokratie in der frühen Sowjetunion.

„Scheiterte der anfänglich unternommene Versuch, einen vom Bürokratismus gereinigten Staat zu schaffen, vor allem an der Unerfahrenheit der Massen in der Selbstverwaltung und am Mangel von dem Sozialismus ergebenen, qualifizierten ArbeiterInnen, so tauchten schon sehr bald hinter diesen unmittelbaren Schwierigkeiten andere, tiefer liegende auf. Die Reduktion des Staats auf die Funktionen eines ‚Revisors und Kontrolleurs‘ bei ständiger Verminderung seiner Zwangsfunktionen, wie es das Programm fordert, setzt doch ein gewisses Maß von allgemeinem materiellen Wohlstand voraus. Gerade diese notwendige Voraussetzung aber fehlte. Die Hilfe des Westens blieb aus. Die Macht der demokratischen Sowjets erwies sich als hinderlich, ja, als unerträglich, als es darum ging, die für Verteidigung, Industrie, Technik und Wissenschaft unentbehrlichen privilegierten Gruppen zu versorgen. Auf Grund dieser keineswegs ‚sozialistischen‘ Operationen, ,zehnen wegnehmen, um einem/r zu geben‘, kam es zur Absonderung und Vermehrung einer mächtigen Kaste von SpezialistInnen an der Futterkrippe.“ (11)

Die frühe Sowjetunion war aufgrund ihrer imperialistischen
Umkreisung, des Bürgerkriegs und v. a. der ökonomischen Rückständigkeit
gezwungen, die Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben – nicht zuletzt,
um den Gegensatz zwischen ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, aber auch
innerhalb der ArbeiterInnenklasse – überbrücken zu können. Statt Überfluss und
Reichtum wurde vor allem der Mangel vergesellschaftet – und wo Mangel herrscht,
stellt sich die Notwendigkeit eines/r RegulatorIn der Verteilung ein, eines/r
„SchiedsrichterIn“ über den Klassen. Diese Funktion nahm der Staat wahr. Das
gesellschaftliche Gewicht, und damit auch die Bedeutung der Bürokratie, nahmen
zu.

Bis zu einem gewissen Grad ist das eine innere Notwendigkeit
(auch eines gesunden) ArbeiterInnenstaates. Aber die bürokratischen Tendenzen
führen beim Ausbleiben der internationalen Revolution zu einer inneren
Entartung, zu einer politischen Konterrevolution – gegen Sowjetdemokratie,
gegen die Partei, gegen den Kommunismus. Trotzki greift dabei die Marx‘sche
Sicht auf, dass die Entwicklung zum Sozialismus nicht durch die automatische Entwicklung
der Eigentumsverhältnisse garantiert wird. Anders als beim Übergang vom
Feudalismus zum Kapitalismus haben sich im Kapitalismus keine überlegenen,
sozialistischen Produktionsverhältnisse herausgebildet, die nach der Revolution
den Weg zum Sozialismus unabhängig von bewusster menschlicher Tätigkeit,
Lenkung – d. h. von ArbeiterInnendemokratie und Planung – sichern könnten.

In der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus
bedarf es einer als Staatsmacht organisierten ArbeiterInnenklasse: der Diktatur
des Proletariats. Doch was passiert, wenn die politische Herrschaft dem in
Räten organisierten Proletariat entgleitet, wenn die revolutionäre Vorhut der
Klasse liquidiert, wenn die politische Herrschaft des Proletariats zur
Herrschaft der Bürokratie wird, wenn die revolutionäre Partei selbst entartet?

Der degenerierte ArbeiterInnenstaat

Es findet, so Trotzki, eine politische Konterrevolution
statt. Während die ökonomischen Grundlagen der Oktoberrevolution
(Verstaatlichung, Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol) weiter in Kraft sind,
während das Wertgesetzt noch nicht dominierender Regulator der Wirtschaft ist,
wird die politische Macht bei der einstigen „Schiedsrichterin“ im
Verteilungskampf des nachkapitalistischen Mangels konzentriert. Dadurch wird
die Bürokratie aber noch nicht zu einer neuen herrschenden Klasse.

„Die Verstaatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlage der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen Verhältnisse definieren für uns im wesentlichen den Charakter der UdSSR als den eines proletarischen Staates.“ (12)

Die Bürokratie als herrschende Schicht reproduziert sich auf
Grundlage dieser sozialen Verhältnisse, d. h. auf Grundlage der Enteignung
der Kapitalistenklasse. Zweifellos erwachsen daraus soziale Privilegien,
plündert die Bürokratie das gesellschaftliche Mehrprodukt und verteilt es nach
ihren Interessen. Das macht sie zwar zu einer überaus repressiven und
reaktionären Erscheinung, es macht sie jedoch zu keiner neuen herrschen Klasse
oder einer „kollektiven“ Kapitalistenklasse.

Die Bourgeoisie im Kapitalismus reproduziert sich über ihr
Eigentum an den Produktionsmitteln, das sie innerhalb ihrer Klasse weiterreicht
(vererbt). Zum/r KapitalistIn aufzusteigen, setzt eine Mindestmenge Kapital in
eigenen Händen voraus. Zur Reproduktion der Klasse ist es keinesfalls
notwendig, dass die KapitalistInnen die politische Macht persönlich ausüben. Das
können sie ruhig bezahlten FunktionärInnen – bürgerlichen, kleinbürgerlichen,
reformistischen PolitikerInnn – überlassen. In der Tat ist das gerade in den
fortgeschrittenen bürgerlichen Staaten üblich.

Die herrschende Bürokratenkaste in der Sowjetunion und in
den späteren stalinistischen Ländern Osteuropas, in China, Kuba usw. hat sich
nicht so reproduziert. Die Macht des/r BürokratIn, vor allem aber die
Reproduktion der Bürokratie als Gesamtheit war wesentlich politisch, über
Staats- und Parteifunktionen, über die Hierarchie einer politischen Institution
vermittelt. Das drückt auch der Terminus Nomenklatura deutlich aus.

Fällt der/die BürokratIn aus der Rolle, gibt es innerhalb
der Bürokratie politische Säuberungen, so kann ein/e BürokratIn seine/ihre gesellschaftliche
Macht und Privilegien verlieren. Er/Sie besitzt kein Privateigentum, das er/sie
an seine/ihre Kinder weiterreichen könnte. Er/Sie hat auch keine
Verfügungsgewalt, sobald er/sie aus dem Kreis der politischen Macht verstoßen
ist.

Das ist nicht nur individuelles Schicksal eines/r
FunktionärIn, es ist ein Problem der gesamten Kaste. Sie kann sich auf keine
besonderen Eigentumsformen stützen. Sie ist vielmehr gezwungen, mit ihren
Methoden das staatliche Eigentum zu verteidigen.

„Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von ‚StaatskapitalistInnen‘ hinzustellen, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obligationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie, ohne Rücksicht auf irgendwelche, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der/Die einzelne BeamtIn kann seine/ihre Anrechte auf die Ausbeutung des Staatsapparates nicht weitervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien in missbräuchlicher Weise. Sie verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale Gruppe.“ (13)

Genau diese gesellschaftlich widersprüchliche Lage der
Bürokratie bringt auch Isaac Deutscher in „Die unvollendete Revolution“ sehr
gut zum Ausdruck. Die Einkünfte des Staatsapparates, der Parteihierarchie, der
Militärs, der Managergruppen stammen aus dem Mehrprodukt der Arbeitenden. Das
hat die Bürokratie mit jeder Ausbeuterklasse (nicht nur mit den
KapitalistInnen) gemein.

„Aber was dieser sogenannten neuen Klasse fehlt, ist Eigentum. Sie besitzen weder Produktionsmittel noch Boden. Ihre materiellen Privilegien sind auf die Sphäre des Verbrauchs beschränkt. (…) Sie können ihren Nachkommen keinen Reichtum hinterlassen; das heißt, sie können sich nicht als Klasse verewigen.“ (14)

Auch die Darstellung, dass die Bürokratie als „kollektive“
Kapitalistin fungiere, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Begriff des
Kapitals vollkommen seiner wissenschaftlichen Bedeutung entleert wird.
Kapitalismus bedeutet Produktion für Profit – und zwar immer wiederkehrende,
fortgesetzte Aneignung von Mehrwert, seine Verwandlung in Profit und
Wiederverwendung des angeeigneten Mehrwerts, um noch mehr Profit zu
erwirtschaften. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos, rastlos, führt zu
immer wiederkehrender Umwälzung und Revolutionierung der Produktion (wie auch
der Zirkulationssphäre). Kapital ist sich selbst verwertender Wert, der/die
KapitalistIn ist Personifikation dieser Bewegung.

Diese rastlose, ständige Suche nach immer profitableren
Anlagemöglichkeiten des Kapitals, dessen Zweck die Vermehrung abstrakten
Reichtums ist (und nicht irgendein bestimmter Gebrauchswert), ist der
Bürokratie fremd. Die Wirtschaft der UdSSR oder der DDR war nicht dadurch
bestimmt oder getrieben, immer mehr Wert zu schaffen. Im Gegenteil: die
Wirtschaftspolitik der Bürokratie war auf die Produktion bestimmter
Gebrauchswerte ausgerichtet – wenn auch in erster Linie solcher, die ihrer
eigenen Machterhaltung, ihren Konsumbedürfnissen und dem Druck der
ArbeiterInnenschaft entsprachen.

Das Wertgesetz machte sich natürlich auf verschiedene Art
und Weise auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten geltend. Wie jede
Übergangsgesellschaft waren sie von einem Wettstreit zwischen Planung und
Wertgesetz gekennzeichnet, zwischen zwei verschiedenen gesellschaftlichen
Systemen.

Der kapitalistische Weltmarkt wirkte ebenso ins Innere der
Planwirtschaft, wie auch bestimmte, für die kapitalistische Ökonomie typische
Formen – z. B. die Lohnform – erhalten blieben (und bis zu einem gewissen
Grad aufrechterhalten werden mussten). Aber diese Formen waren dem System der
(bürokratischen) Planung untergeordnet. Sie machten die herrschende Bürokratie
zu keiner neuen Kapitalistenklasse, so sehr das manche/r FunktionärIn insgeheim
vielleicht auch wollte.

Ebenso wenig konnte das vom Westen angestachelte Wettrüsten
die internen Mechanismen der bürokratischen Planwirtschaft außer Kraft setzen,
auch wenn es die sowjetische Wirtschaft zunehmend belastete. Die Konkurrenz auf
dem Weltmarkt, das Wettrüsten sowie die zunehmende Verschuldung trugen
eindeutig zur Beschleunigung des Niedergangs der Wirtschaft der degenerierten
ArbeiterInnenstaaten bei. Die lange wirtschaftliche Instabilität nach 1989 und
die Schwierigkeiten bei der Wiedereinführung der Profitwirtschaft verdeutlichen
jedoch, wie tief verankert die nachkapitalistische Produktionsweise nach wie
vor war.

Die Monopolisierung der politischen Macht in den Händen der
Bürokratie verleiht ihr auf Grundlage der nachkapitalistischen Verhältnisse
zweifellos eine Machtfülle, wie es für die Bürokratie im Kapitalismus unüblich
ist (und wie sie am ehesten in faschistischen oder staatskapitalistischen
Regimes der halbkolonialen Welt, aber auf anderer, kapitalistischer Grundlage,
anzutreffen ist).

Die Kontrolle über die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums darf daher nicht auf die Aneignung persönlicher Privilegien und
Plünderung im Eigeninteresse von Partei- und StaatsfunktionärInnen eingeengt
werden. Das ist ein, gerade für „sozialistische“ Staaten besonders
abscheulicher Vorgang. Das politische Machtmonopol der Bürokratie bedeutet
auch, dass die Wirtschaftsentwicklung von ihr kontrolliert wird, neue Vorhaben,
die Verteilung des Reichtums auf verschiedene Sektoren, von ihren politischen
Entscheidungen bestimmt werden.

Dies führt dazu, dass die Grundlagen der Planwirtschaft von
innen unterhöhlt werden. Die Bürokratie ist nicht einfach eine schlechte
Sachwalterin des Übergangs zum Sozialismus, ihre Herrschaft ist ein Hindernis,
das – wird es nicht rechtzeitig durch eine ArbeiterInnenrevolution beseitigt –
früher oder später zur Rekapitalisierung führt.

Die Bürokratie ist weder willens noch fähig, eine bewusste
Lenkung der Wirtschaft in Richtung Sozialismus zu gewährleisten. Dazu ist eine
funktionierende ArbeiterInnendemokratie unabdingbar. Hinzu kommt, dass die
Herrschaft der Bürokratie gleichzeitig dazu führt, dass das Klassenbewusstsein
des Proletariats, der noch immer gesellschaftlich herrschenden Klasse, mehr und
mehr zerstört wird.

Der Staat der Bürokratie

Die politische Machtergreifung der Bürokratie bedeutet in
der frühen Sowjetunion den Vollzug einer inneren politischen Konterrevolution.
Sie geht mit der Zerstörung aller Elemente des proletarischen Halbstaates, der
Räte und räteähnlicher Strukturen, aller Formen der ArbeiterInnen- und
Parteidemokratie einher.

Wie wir oben gesehen haben, war auch die frühe Sowjetunion
gezwungen, im Interesse der Sicherung der Revolution auf bürgerliche Strukturen
und Formen zurückzugreifen. Solche Schritte können auch für zukünftige
Revolutionen nicht ausgeschlossen werden, wenn auch ihre weltgeschichtliche
Dramatik geringer sein mag. Auch der revolutionärste ArbeiterInnenstaat kann,
ja wird für eine bestimmte Phase gezwungen sein, auf bürgerliche Organe wie
eine Bürokratie zurückzugreifen. Diese Schritte „prinzipiell“ abzulehnen,
bedeutet in Wirklichkeit nur, die Notwendigkeit einer Übergangsperiode vom
Kapitalismus zum Kommunismus, einer Diktatur des Proletariats, die organisierte
Herrschaft der Mehrheit gegen die alten AusbeuterInnen abzulehnen.

Es stellt jedoch einen qualitativen Schritt dar, wenn sich
die bürokratischen Auswüchse, die vom Proletariat notgedrungen benutzten
bürgerlichen Organe in ein Vehikel der politischen Machtergreifung einer
Staatsbürokratie verwandeln. Es ist kein Zufall, dass dieser Prozess in der
Sowjetunion erst nach einem langen, für alle Oppositionellen, vor allem aber
für genuine kommunistische InternationalistInnen vom Schlage Trotzkis,
tödlichen Kampf abgeschlossen war.

Das Proletariat ist für Trotzki daher eine gleichzeitig
herrschende und unterdrückte Klasse:

„,Wie soll sich unser politisches Gewissen nicht empören‘, sagen die Ultralinken, ‚wenn man uns glauben machen will, in der UdSSR, wo Stalin regiert, sei das ‚Proletariat‘ die ‚herrschende‘ Klasse …?! In so abstrakter Form kann diese Behauptung tatsächlich ‚empören‘. Aber es ist doch so, dass abstrakte Kategorien, die für eine Analyse notwendig sind, für eine Synthese, die so konkret wie möglich sein soll, überhaupt nicht taugen. Das Proletariat in der UdSSR ist die herrschende Klasse in einem zurückgebliebenen Land, wo nicht einmal die elementarsten Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Das Proletariat in der UdSSR herrscht in einem Land, das nur ein Zwölftel der Menschheit umfasst, über die übrigen elf Zwölftel herrscht der Imperialismus. Die Herrschaft des Proletariats, die schon aufgrund der Rückständigkeit und Armut des Landes missgestaltet ist, wird durch den Druck des Weltimperialismus doppelt und dreifach deformiert. Das Herrschaftsorgan des Proletariats, der Staat, wird zu einem Organ des imperialistischen Drucks (Diplomatie, Armee, Außenhandel, Ideen und Sitten). Historisch gesehen findet der Kampf um die Herrschaft nicht zwischen Proletariat und Bürokratie statt, sondern zwischen Proletariat und Weltbourgeoisie. Die Bürokratie nimmt in diesem Kampf nur die Funktion eines Transmissionsriemens ein. (…) Der faschistischen und demokratischen Bourgeoisie reichen Stalins einzelne konterrevolutionäre Taten nicht aus; sie benötigt eine vollständige Konterrevolution in den Eigentumsverhältnissen und die Öffnung des russischen Marktes. Solange das nicht der Fall ist, hält sie den Sowjetstaat für feindlich. Und hat recht damit.“ (15)

Im Zuge ihrer politischen Machteroberung musste die Bürokratie
einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsapparat, einen seiner Form,
seinem Typus nach bürgerlichen schaffen. Trotzki verweist in seinen Schriften
mehrmals darauf. Er erkennt, dass der Staatsapparat in der Sowjetunion geradezu
abstoßende Ähnlichkeit mit dem im Faschismus aufweist.

„Seine Entstehung verdankt der Sowjetbonapartismus letzten Endes der Verspätung der Weltrevolution. Dieselbe Ursache aber erzeugte in den kapitalistischen Ländern den Faschismus. Wir gelangen zu einer auf den ersten Blick überraschenden, doch in Wirklichkeit unabweislichen Schlussfolgerung: Die Erstickung der Sowjetdemokratie durch die allmächtige Bürokratie geht, ebenso wie die Zerschlagung der bürgerlichen Demokratie durch den Faschismus, auf ein und dieselbe Ursache zurück – die Verspätung des Weltproletariats bei der Lösung der ihm von der Geschichte gestellten Aufgabe. Stalinismus und Faschismus sind trotz des tiefen Unterschiedes ihrer sozialen Grundlagen symmetrische Erscheinungen. In vielen Zügen sind sie sich erschreckend ähnlich. Der Weltrevolution den Rücken kehrend hat die Stalin‘sche Bürokratie auf ihre Weise recht: sie folgt lediglich ihrem Selbsterhaltungstrieb.“ (16)

Form und Inhalt

Der Widerspruch zwischen der Form des Staatsapparates und
der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist keineswegs einzigartig in der
Geschichte. Auch beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus finden sich
lange Perioden, wo ein Widerspruch zwischen Staatsform und ökonomischen
Verhältnissen zu finden ist. Engels verweist darauf z. B. im Anti-Dührung:

„Diesem gewaltigen Umschwung der ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft folgte indes keineswegs sofort eine entsprechende Änderung ihrer politischen Gliederung. Die staatliche Ordnung blieb feudal, während die Gesellschaft mehr und mehr bürgerlich wurde.“ (17)

Auch die ersten Monate nach der Oktoberrevolution, als die
proletarische Diktatur über eine kapitalistische Wirtschaft herrschte, waren
von einem solchen Widerspruch gekennzeichnet. Die Formel, dass der Charakter des
Staates durch die Eigentumsverhältnisse, die vorherrschen, bestimmt sei, hilft
uns also gerade in Übergangsperioden nicht weiter.

„Aber kennt die Geschichte nicht Fälle eines Klassengegensatzes zwischen Staat und Wirtschaft? Sehr wohl! Als der Dritte Stand die Macht eroberte, blieb die Gesellschaft noch mehrere Jahre lang feudalistisch. Während der ersten Monate des Sowjetregimes herrschte das Proletariat über eine bürgerliche Ökonomie. In der Landwirtschaft stützte sich die Diktatur des Proletariats mehrere Jahre lang auf eine kleinbürgerliche Wirtschaft (in erheblichem Maß ist das auch heute noch der Fall). Im Falle einer erfolgreichen bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müsste sich die neue Regierung für eine längere Zeitspanne auf die nationalisierte Wirtschaft stützen. Was bedeutet dann aber ein derartiger zeitweiliger Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft? Er bedeutet Revolution oder Konterrevolution. Der Sieg einer Klasse über eine andere bedeutet doch, dass die Wirtschaft im Interesse des/r SiegerIn umgestaltet wird. Aber ein solcher zwiespältiger Zustand, der ein notwendiges Stadium jedes sozialen Umsturzes ist, hat nichts gemein mit der Theorie eines klassenlosen Staates, der wegen der Abwesenheit des/r wirklichen HerrIn von einem/r Kommis, d. h. der Bürokratie, ausgebeutet wird.“ (18)

Trotzki hat daher eine wesentlich dynamischere Sichtweise
des Verhältnisses von Inhalt und Form des Staatsapparates.

„Die Klassennatur eines Staates ist folglich nicht durch seine politische Form, sondern durch den sozialen Inhalt bestimmt, d. h. den Charakter jener Eigentumsformen und Produktionsverhältnisse, die der jeweilige Staat schützt und verteidigt.“ (19)

Diese Definition hat zwei Vorteile. Erstens erlaubt sie den
Widerspruch zwischen Form und Inhalt bzw. Funktion des Staatsapparates zu
beachten. Zweitens ist die Betonung des „Schützens“ und „Verteidigens“ der
Produktionsverhältnisse sehr viel dynamischer als z. B. die Aussage, der
Charakter des Staates beruhe auf den vorherrschenden Eigentumsverhältnissen.
Trotzki stellt damit die aktive, bewusste Rolle der Staatsmacht beim Übergang
vom Kapitalismus zum Sozialismus in Rechnung. Die Sicherung des Übergangs zum
Sozialismus hängt somit von der Staatsmacht ab.

„Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern. Gegen eine Wiederherstellung der Leibeigenschaft und des Zunftwesens schützte sie die Überlegenheit ihrer Produktionsweise. Die Staatsmacht konnte die kapitalistische Entwicklung fördern oder hemmen, doch im Allgemeinen verrichteten die Produktivkräfte auf Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr Werk selbständig. Hingegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorgegangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger gebunden. Die Vorherrschaft sozialistischer Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist keineswegs durch den Automatismus der Wirtschaft gesichert – bis dahin ist es noch weit –, sondern durch politische Maßnahmen der Diktatur. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völlig von dem der Staatsmacht ab.“ (20)

Für Trotzki ergeben sich aus der Analyse der Bürokratie und
ihrer Herrschaft zwei Alternativen: proletarische politische Revolution oder
Restauration des Kapitalismus.

Auch zur Restauration des Kapitalismus sieht er zwei Wege:
Sturz durch eine offen bürgerliche Partei; die Wandlung der (Spitze der)
Bürokratie zur herrschenden Klasse. In beiden Fällen geht die Eroberung der
Staatsmacht durch eine konterrevolutionäre Partei, die politischer Ausdruck
einer (neu) entstehenden herrschenden Klasse ist, der Umwandlung der Wirtschaft
in eine kapitalistische voraus!

Nach 1989 haben wir beide Wege erlebt, teilweise in
Mischform. In den beiden folgenden Artikeln werden wir uns sowohl der Expansion
wie dem Untergang des Stalinismus zuwenden.

Konterrevolutionäres Wesen des Stalinismus

Trotzki erkennt durchaus an, dass die stalinistische
Bürokratie aufgrund des Drucks anderer Klassenkräfte zu partiellen progressiven
Maßnahmen fähig war. Er nahm auch zur Kenntnis, dass das auch die territoriale
Expansion mit einschließen konnte. Diese analysierte er am Beispiel Finnlands
und Polens. Im Gegensatz zu den stalinistischen ApologetInnen erkannte er
jedoch den widersprüchlichen Charakter dieser Ausdehnung des degenerierten
ArbeiterInnenstaates, die in ihrer Gesamtheit in die konterrevolutionäre
Politik Stalins eingebettet war. Trotzki verdeutlicht das am
Hitler-Stalin-Pakt, der Teilung Polens, die mit der Umwälzung der
Eigentumsverhältnisse in Ostpolen einherging.

„Die ihrem Charakter nach revolutionäre Maßnahme der ‚Expropriation der AusbeuterInnen‘ wird im vorliegenden Fall auf militärisch-bürokratischem Wege durchgeführt. Der Aufruf zur Selbsttätigkeit der Massen in den neuen Gebieten – und ohne einen solchen Appell, mag er auch noch so vorsichtig sein, kann das neue Regime nicht errichtet werden – wird zweifellos morgen von unbarmherzigen Polizeimaßnahmen unterdrückt werden, um der Bürokratie das Übergewicht über die aufgerüttelten revolutionären Massen zu garantieren. Das ist die eine Seite der Sache. Doch gibt es auch eine andere. Um über ein militärisches Bündnis mit Hitler die Möglichkeit einer Okkupation Polens zu schaffen, hat der Kreml lange die Massen der UdSSR und der ganzen Welt getäuscht und täuscht sie weiterhin. Damit hat er den völligen Zerfall seiner eigenen Komintern heraufbeschworen. Das wichtigste Kriterium der Politik ist nicht die Umwandlung des Eigentums auf dem einen oder anderen Teilterritorium, wie wichtig es an und für sich auch sein möge, sondern der Wandel der Bewusstheit und Organisiertheit des internationalen Proletariats und die Steigerung seiner Fähigkeit, alte Errungenschaften zu verteidigen und neue zu machen. Unter diesem allein entscheidenden Gesichtspunkt aufs Ganze gesehen ist die Politik Moskaus nach wie vor reaktionär und bleibt das Haupthindernis auf dem Wege zur internationalen Revolution.“ (21)

Trotzkis Verständnis des konterrevolutionären Charakters der
Bürokratie und ihrer Politik schloss die generelle Einschätzung der
herrschenden Kaste als Krebsgeschwür, als Totengräberin des
ArbeiterInnenstaates ein. Diese Prognose hat sich mit dem Fall des Stalinismus
bestätigt.

Wie viele RevolutionärInnen vor ihm unterschätzte er jedoch
den Zeitrahmen, in dem sich die theoretische Vorhersage praktisch bewahrheiten
sollte. Trotzki ging davon aus, dass die Bürokratie als herrschende Kaste den
Zweiten Weltkrieg nicht überleben würde. Er war sich sicher, dass der Kreml
entweder von der faschistischen Konterrevolution oder von der proletarischen
politischen Revolution zu Fall gebracht würde. Wie wir wissen, traf diese
kurzfristige Prognose nicht ein. Der Stalinismus überlebte den Weltkrieg und
konnte sein Herrschaftsgebiet, sein Prestige, seine Macht ausdehnen.

Diese Expansion des Stalinismus und die ab Ende der 1940er
Jahre stattfindende Etablierung einer konterrevolutionären Nachkriegsordnung
hatte die revolutionäre Vierte Internationale nicht vorhergesehen. Sie
verwirrte die Kader politisch und führte zu einer Revision der Analyse Trotzkis
durch die Hauptströmungen dieser Tendenz, zur politischen Degeneration und zur
organisatorischen Zersplitterung.

Die politische Revolution

Trotzkis Programm im Kampf gegen den Stalinismus wandelte sich
in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens. In den 1920er Jahren vertrat
die Linke Opposition in der UdSSR einen Kurs der Reform des
ArbeiterInnenstaates, den Kampf um die Wiederbelebung der Partei- und
Sowjetdemokratie, den Kampf um einen umsichtigen Ausbau des staatlichen Plans
und den Kampf um einen klaren, internationalistischen Kurs der Sowjetunion und
der Komintern.

Die politischen Niederlagen der Kommunistischen
Internationale begünstigten Stalins Aufstieg und stärkten die Bürokratie. Auf
den ersten Blick ist das paradox. Es wird jedoch verständlich, wenn wir uns die
soziale Situation in den 1920er Jahren vor Augen halten. Die sowjetische
ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde waren durch den Bürgerkrieg und die
ökonomischen Verwerfungen des Kriegskommunismus ermattet, der revolutionäre
Elan der Klasse verringert.

Gleichzeitig war die Partei gezwungen, auf wirtschaftlichem
Gebiet mit der Neuen Ökonomischen Politik einen umfassenden taktischen Rückzug
anzutreten, um angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen die
Produktion v. a. im Agrarsektor wieder anzukurbeln.

Zweifellos wurde dieser Prozess durch ökonomische Regularien
(Einpersonenleitung in den Betrieben) und falsche politische Maßnahmen
(Fraktionsverbot) begünstigt. Es wäre jedoch ganz und gar idealistisch, die
Degeneration der russischen Revolution und die politische Machtergreifung der
Bürokratie aus diesen Fehlern, aus Maßnahmen der politischen Führung erklären
zu wollen. Die Wurzeln liegen viel tiefer: in der ökonomischen Rückständigkeit
des Landes, in den inneren Klassenwidersprüchen, dem sozialen Bedarf nach einer
Bürokratie.

Das Proletariat und die Masse der Bauern/Bäuerinnen sind
oder werden passiv. Die Bürokratie – z. T. aus ExpertInnen und
FunktionärsträgerInnen des alten Regimes rekrutiert, zum Teil aus Partei- und
ArbeiterInnenkadern – erscheint als das tätige, aktive Element der
Sowjetgesellschaft. Was am Beginn als funktionaler Unterschied erscheint, die
Übernahme einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion des Leitens, verfestigt
sich mehr und mehr zu einem sozialen Unterschied.

Es ist kein Zufall, sondern notwendiges Element des
Aufstiegs der Bürokratie, dass sie mit der revolutionären Tradition der
Oktoberrevolution theoretisch und praktisch brechen muss.

Theoretisch vollzieht sie das in der Abwendung vom
Internationalismus. Die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land
ersetzt die Ausrichtung auf die Internationalisierung der Revolution.

Praktisch vollzieht sich das über die Unterordnung der
Interessen des Weltproletariats unter jene der Kremlbürokratie – zuerst, in
China, noch tastend, später mit der Volksfrontpolitik in Frankreich, dem
Hitler-Stalin-Pakt, der Liquidierung der Spanischen Revolution dann ganz offen
konterrevolutionär.

Die Herrschaft der Bürokratie kann keine Opposition dulden,
schon gar keine linke. Die Moskauer Prozesse sind ein notwendiges Element des
Stalinismus, nicht einfach „Fehler“ oder „Exzesse“.

Die Bürokratie muss gestürzt werden!

All das führt Trotzki zu einer zentralen programmatischen
Schlussfolgerung: Die herrschende Kaste muss vom Proletariat durch eine neue
politische Revolution hinweggefegt werden. Ansonsten sind die Errungenschaften
der Oktoberrevolution früher oder später vollständig verloren. Die Herrschaft
der Bürokratie ist keine lange Phase der Weltgeschichte, sondern eine nicht
notwendige Episode.

„Der neue Aufschwung der Revolution in der UdSSR wird ohne jeden Zweifel unter dem Banner des Kampfes gegen die soziale Ungleichheit und die politische Unterdrückung beginnen. Nieder mit den Privilegien der Bürokratie! Nieder mit dem Stachanowsystem! Nieder mit der Sowjetaristokratie und ihren Rangstufen und Orden! Angleichung der Löhne für alle Arten der Löhne!

Der Kampf für die Freiheit der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees für die Presse- und Versammlungsfreiheit wird sich weiterentwickeln zum Kampf um das Wiedererwachen und die Entfaltung der Sowjetdemokratie. Die Bürokratie hat die Sowjets als Klassenorgane durch den Schwindel der allgemeinen Wahl im Stile von Hitler/Goebbels ersetzt. Es ist notwendig, den Sowjets nicht nur ihre freie demokratische Form, sondern auch ihren Klasseninhalt wiederzugeben. So wie früher die Bourgeoisie und die KulakInnen nicht zu den Sowjets zugelassen waren, ebenso müssen jetzt die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets verjagt werden. In den Sowjets ist nur Platz für die VertreterInnen der ArbeiterInnen, der KolchosenarbeiterInnen, der Bauern/Bäuerinnen und der roten SoldatInnen.

Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung von sowjetischen Parteien. Die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind.

Reorganisation der Planwirtschaft von oben bis unten gemäß dem Interesse der ProduzentInnen und KonsumentInnen! Die Fabrikkomitees müssen die Kontrolle der Produktion wieder übernehmen. Die demokratisch organisierten Konsumgenossenschaften müssen die Qualität der Erzeugnisse und ihre Preise kontrollieren.

Neuorganisierung der Kolchosen in Übereinstimmung mit dem Willen der KolchosbewohnerInnen und nach ihren Interessen!

Die konservative internationale Politik der Bürokratie muss der Politik des proletarischen Internationalismus Platz machen. Die ganze diplomatische Korrespondenz des Kreml muss veröffentlicht werden. Nieder mit der Geheimdiplomatie!

Alle von der thermidorianischen Bürokratie inszenierten politischen Prozesse müssen unter den Bedingungen vollständiger Öffentlichkeit und freier Erforschung überprüft werden. Die OrganisatorInnnen der Fälschungen müssen ihre verdienten Strafen erhalten.

Ohne den Sturz der Bürokratie, die sich durch Zwang und Fälschung hält, kann dieses Programm nicht verwirklicht werden. Nur die siegreiche revolutionäre Erhebung der unterdrückten Massen kann die Sowjetherrschaft erneuern und ihre Weiterentwicklung zum Sozialismus sichern. Allein die Partei der IV. Internationale ist in der Lage, die sowjetischen Massen zum Aufstand zu führen.

Nieder mit der bonapartistischen Bande des Kain Stalin! Es lebe die Sowjetdemokratie! Es lebe die internationale sozialistische Revolution.“ (22)

Trotzki verdeutlicht in seiner Analyse, dass die
Degeneration der Sowjetunion und die Durchsetzung des Stalinismus aus der
historischen Situation erklärbar sind, diese jedoch weder unabwendbar noch
organisch aus der Oktoberrevolution entstanden. Vielmehr waren die Rolle der
internationalen ArbeiterInnenbewegung, das Ausbleiben der internationalen
Revolution sowie die Niederlage der RevolutionärInnen und der Linksopposition
im innerparteilichen Kampf entscheidend für die Entwicklung.

Der Stalinismus ist nicht Ergebnis der Ideen von Marx,
Engels, Lenin und Trotzki. Er ist vielmehr die Verkehrung dieser Ziele in ihr
Gegenteil. Die Entwicklung des Stalinismus zeigt, gegen welche Schwierigkeiten
und Gefahren wir auf dem Weg zum Kommunismus anzukämpfen haben. Ohne
revolutionäre Kritik am Stalinismus wird es keine kommunistische Revolution
geben – ohne revolutionäres Ziel ist die Kritik am Stalinismus irrelevant.

Endnoten

(1) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und Aufgaben
der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).

(2) Trotzki, In Verteidigung des Marxismus, Seite 78.

(3) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
in: Schriften 1.2., S. 1127.

(4) Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21.

(5) Marx, ebda., S. 28.

(6) Marx, Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW
4, S. 381.

(7) Marx, Brief an Kugelmann, 12. April 1871, MEW 33, S. 205.

(8) Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 343.

(9) Lenin, Staat und Revolution, Lenin Werke 25, S. 420.

(10) Trotzki, Verratene Revolution, S. 751/752, in:
Schriften 1.2.

(11) Trotzki, a. a. O., S. 752/753.

(12) Trotzki, a. a. O. S. 952.

(13) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954

(14) Deutscher, Die unvollendete Revolution, S. 67 f.

(15) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
a. a. O.

(16) Trotzki, Verratene Revolution, S. 979.

(17) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 97.

(18) Trotzki, Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat?,
a. a. O., S. 1123/24.

(19) Ebda., S. 1120.

(20) Trotzki, Verratene Revolution, S. 954.

(21) Trotzki, Die UdSSR im Krieg, Trotzki: Schriften über
Russland 1.2, S. 1292.

(22) Trotzki, Die Todesagonie des Kapitalismus und die
Aufgaben der Vierten Internationale (Übergangsprogramm).