Türkische Wirtschaft am Abgrund

Markus Lehner, Neue Internationale 231, September 2018

Schon Anfang Juni stellte der bekannte Ökonomieprofessor Kenneth Rogoff im Guardian die Frage: „Sind die überkochenden Wechselkurs- und Schuldenkrisen in Argentinien und der Türkei lokale Ereignisse? Oder sind sie Warnzeichen für tiefer liegende Brüche in den aufgeblähten globalen Schuldenmärkten im Umfeld steigender Zinsen?“ (Guardian, 11.6.2018). Auch wir haben bereits länger auf eine seit 2016 zu beobachtende geänderte weltwirtschaftliche Situation hingewiesen, die insbesondere für eine Reihe von „Schwellenländern“ („emerging markets“) zu Problemen führen muss. Die Krise in der Türkei ist eben kein Einzelfall. Sie weist viele Parallelen mit ähnlichen auf, die sich in den letzten Monaten in Argentinien, Ägypten, Südafrika und Pakistan zugespitzt haben. Das wieder steigende Zinsniveau in den USA, die US-Steuerreform und die gerade anlaufende starke Investitionswelle in den imperialistischen Zentren haben die Kapitalflüsse umgekehrt – massiv werden Investments aus nicht mehr so profitabel angesehenen „emerging markets“ in die Triaden-Länder zurückgeführt.

Nach außen hin, zum Teil auch in den deutschen Medien, erscheint es so, als ob sich die derzeitige Zuspitzung der Wirtschaftskrise in der Türkei durch das Zusammenstoßen von zwei irrationalen Egomanen, dem türkischen Autokraten Erdogan und dem US-Präsidenten Trump, ergeben habe. Erdogan selbst versucht, die Aktionen des US-Präsidenten zu nutzen, um die eigentlichen Probleme als Ergebnis eines „terroristischen Wirtschaftskrieges“ gegen die Türkei darzustellen. Sicherlich haben die US-Sanktionen wegen der Affäre um den US-amerikanischen Pastor Brunson (der wegen angeblicher Verbindungen zu der Gülen-Bewegung und „Terrorunterstützung“ in türkischer Untersuchungshaft sitzt) und die bald darauf folgenden Strafzölle für Stahl und Aluminium den bereits vorher schon katastrophalen Verfall des Werts der türkischen Lira nochmals beschleunigt.

Inflation und Verschuldung

In den letzten sechs Monaten hat die Lira 40 % ihres Werts gegenüber dem Dollar verloren, in der Woche nach der Verkündung der Sanktionen gleich noch mal 20 %. Momentan liegt die Teuerungsrate offiziell bei 15 % und mit der jüngsten Verteuerung von Importen ist mit noch sehr viel mehr zu rechnen. Dies ist an sich schon ein politisch gefährlicher Wert. Viel schlimmer ist, dass der Währungsverfall Ausdruck eines Verschuldungsproblems von Kernbestandteilen der türkischen Ökonomie ist. In den letzten Jahren konnte in der Türkei hohes Wachstum nur durch massiven Zufluss ausländischen Kapitals gesichert werden: Ihre Leistungsbilanz ist seit mehr als einem Jahrzehnt negativ (2017: -5,5 % des Bruttoinlandsproduktes), d. h. kann nur durch entsprechenden Kapitalzufluss aus dem Ausland gedeckt werden. Dies stellt de facto (auch wenn es die Form von „Investitionen“ annimmt) eine jährlich wachsende Verschuldung türkischer Haushalte und Unternehmen in US-Dollar in der Höhe von 3-5 % der Jahreswirtschaftsleistung dar und führte zu wachsenden Auslandsschulden türkischer Privatunternehmen, aktuell in einer Höhe von 220 Milliarden US-Dollar. Diese Summe entspricht den tatsächlich in US-Dollar bestehenden Verbindlichkeiten abzüglich der eigenen Dollar-Vermögen. Insgesamt sind die türkischen Privatunternehmen in Höhe von 60 % des BIP verschuldet, die Hälfte davon in den besagten Fremdwährungen. Mit Einnahmen in Lira wird gerade deren Bedienung in Dollar immer teurer. Doch auch die Lira-Schulden werden von den Banken oft über Fremdwährungs-Gegenwerte finanziert, so dass sich das Schuldenproblem bei ihnen noch viel gravierender darstellt. Unmittelbar müssen sie und nicht-finanzielle Unternehmen in diesem Jahr noch 51 bzw. 18,5 Milliarden US-Dollar an Schuldendienst tilgen. Angesichts des beschleunigten Lira-Verfalls, des Einbruchs der türkischen Börse (40 Milliarden Verlust in der Woche nach den Trump-Aktionen) und der politischen Weisung Erdogans, Zinserhöhungen um jeden Preis zu verhindern, ging logischerweise in der Wirtschaftswelt die Angst vor einer baldigen Zahlungsunfähigkeit wichtiger türkischer Banken um – dies auch mit beträchtlichen Folgen für einige europäische Großbanken (insbesondere in Spanien und Italien). Erschwerend kommt hinzu, dass die Türkei im Vergleich zu anderen Schwellenländern geringe Dollarreserven angelegt hat. Diese wurden jetzt zur vorläufigen Stabilisierung des Lira-Werts eingesetzt, aber inzwischen sind die Devisenreserven auf den Gegenwert von Importen für 4 Monate gefallen. Mitte August stuften die Rating-Agenturen Moody’s und S&P türkische Staatsanleihen von „Ramsch“ auf „hoch spekulativ“ herab. In jedem Fall verteuern sich alle Geschäfte mit ausländischer Kapitalbeteiligung durch die „Kreditwürdigkeitskriterien“ auch anderer Finanzinstitutionen um ein Vielfaches und sind mit immer größeren Auflagen verbunden.

Der mit viel Pomp verkündete 15-Milliarden-Kredit aus Katar ist angesichts des dargestellten Schuldenproblems ein Witz. Ebenso wenig bringt eine mögliche Hinwendung zu Russland wirtschaftlich. Das Land wird vielmehr selbst von einer schweren ökonomischen Krise und von Auslandsverschuldung heimgesucht. Diese häufig in den deutschen Medien zitierte Hinwendung drückt eher Befürchtungen der deutschen Außenpolitik aus als eine tatsächliche Strategie Erdogans. China, das sich bei anderen „Problemfällen“ derzeit stark engagiert (z. B. Pakistan, Iran) hat überhaupt keine Veranlassung, seinen Konflikt mit den USA auch noch durch Unterstützung der Türkei zu verschärfen und Geld zu riskieren, das man gerade im Handelskonflikt mit den USA anderweitig braucht. Tatsächlich deutet einiges in die Richtung, dass man angesichts der Lage wieder eine Annäherung an die EU (insbesondere an das deutsche Kapital) versucht. Die plötzliche Aufhebung der Ausreisesperre für die deutsch-türkische Journalistin Mesale Tolu ist ein Indiz dafür. Dies wäre der einzige Geldgeber von Gewicht außerhalb des IWF, ohne einen Kniefall vor den USA tun zu müssen. Allerdings wäre auch hier der politische Preis hoch, da der deutsche Imperialismus so seinen Einfluss in der Region unverhofft wieder ausbauen könnte.

Die Bundesregierung, in erster Linie die SPD-MinisterInnen Nahles und Scholz, ließen bereits ihre Bereitschaft verlauten, den NATO-Partner Türkei unterstützen zu wollen und dabei auch einmal über politische Differenzen mit Erdogan hinwegzusehen.

In der Schuldenfalle

Früher oder später müsste Erdogan nach kapitalistischer Logik also zwei Dinge machen: rasche und heftige Erhöhung des Zinsniveaus und die Anfrage um ein wirksames Kreditprogramm des „Internationalen Währungsfonds“ (IWF). Dies geschah etwa vor kurzem im Fall von Argentinien und Ägypten. Das Problem für Erdogan und die AKP: Massive Zinserhöhungen würden einerseits zu einer massiven Pleitewelle in Bauwirtschaft, Einzelhandel, Unternehmensneugründungen etc. führen, andererseits dazu, den IWF und seine „BeraterInnen“ ins Land zu holen, die dann de facto die Wirtschaftspolitik übernehmen. Denn der IWF knüpft seine Milliardenkredite zumeist an sehr konkrete Forderungen in Bezug auf Wirtschafts- und Sozialpolitik und bestimmt, welche Unternehmen zu eliminieren seien. Die AKP würde also einen großen Teil ihrer (klein)bürgerlichen Wählerschaft offen ins Messer laufen lassen und Erdogan schnell das Gesicht als vermeintlicher „Anti-Imperialist“ verlieren. Die Alternative wären Verstaatlichungen überschuldeter Wirtschaftszweige und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. Dies wiederum würde die türkische (nicht-kemalistische) Bourgeoisie mit der AKP brechen lassen.

Angesichts der bisherigen Erklärungen Erdogans und seiner MinisterInnen und BeraterInnen ist nicht erkennbar, dass sie zu einem dieser beiden Wege bereit sind. Wenn das Verschuldungsproblem, das Dahinschmelzen der Devisenreserven, der Verfall der Währung und die Explosion der Inflation so weiter gehen, droht die Zahlungsunfähigkeit großer Banken und der Zusammenbruch wichtiger Unternehmen. Angesichts des Umfangs der investierten Werte werden insbesondere EU-Kapitalien wie Deutschland sicher versuchen gegenzusteuern und „Angebote“ machen. Möglicherweise wird die Unzufriedenheit von Teilen der die AKP unterstützenden Kapitale und Schichten schon vorher einen Kurswechsel erzwingen. Dies könnte sogar zum Sturz Erdogans oder zu einem diesmal professionell durchgeführten Putsch führen.

ArbeiterInnenklasse

Für die türkische ArbeiterInnenklasse bedeutet die Krise schon jetzt einen massiven Einschnitt. Nicht nur die Verteuerung des alltäglichen Lebens, auch eine wachsende Arbeitslosigkeit (offiziell bei 10 %) schmerzen. Für kommendes Jahr gehen die internationalen Agenturen von einer Rezession mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um 0,5 % (nach den starken Wachstumsraten der letzten Jahre eine völlige Umkehr) und einer Inflation von über 20 % aus. Zusammen mit Firmenpleiten wird dies die Arbeitslosigkeit nochmals in die Höhe schnellen lassen. Der Widerstand der ArbeiterInnenklasse in der Türkei ist weiterhin durch die gewerkschaftsfeindliche Politik, die Einschränkungen für betriebliche und überbetriebliche Organisierung und die Aushebelung demokratischer Rechte durch das Regime extrem schwierig. Hinzu kommt, dass die Unterdrückung der KurdInnen und der türkische Nationalismus auch in der ArbeiterInnenklasse wirken, diese spalten und schwächen.

Erfolge wie beim für den Yves-Rocher-Konzern arbeitenden Kosmetik-Betrieb Flormar im östlich von Istanbul gelegenen Gebze (Anerkennung der Vertretung durch die Gewerkschaft Petrol-Is) sind Zeichen für einen möglichen Wandel angesichts der ökonomischen Krise (labournet, 17.8.2018). Erdogan scheint sich des Potentials bewusst zu sein, das von einer organisierten, widerständigen ArbeiterInnenklasse in der Krise ausgehen könnte. Daher verschärfte er auch per Dekret vom 15. Juli die Kontrolle und staatliche Aufsicht über die Gewerkschaften. (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1095149.repression-in-der-tuerkei-gewerkschaften-in-erdogans-visier.html)

Angesichts von Inflation, Arbeitslosigkeit, Firmenpleiten etc. liegen die Kampfziele für die ArbeiterInnen auf der Hand: Kampf um die Anpassung der Lohn- an die Preisentwicklung, keine Entlassungen, Aufteilung der Arbeit auf alle durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverzicht, Kontrolle über die Betriebe, Öffnung der Bücher etc. Unter den Bedingungen der Türkei kann dies nur im Verbund mit dem Kampf um elementare demokratische Rechte, für Gewerkschafts- und Streikrechte, gegen die politische Repression und Unterdrückung von Organisationen geschehen, die die ArbeiterInnenklasse, die Interessen des kurdischen Volkes, anderer Minderheiten und der Geflüchteten vertreten. Dazu wird die ArbeiterInnenklasse jedoch eine politische Organisation brauchen, die in der Lage ist, ein Programm gegen die Krise des Kapitalismus aufzustellen und in den Kampf um die politische Macht umzusetzen. Es wäre die Zeit für Linke in der HDP, für ein sozialistisches Programm zu kämpfen und sich gegen den rechten Flügel zu behaupten, der sogar mit einem IWF-Kredit liebäugelt.

Gegenüber der sich notwendigerweise verschärfenden Krisenpolitik des Kapitals muss sich die türkische ArbeiterInnenklasse auf ihre schärfste Waffe, den Massenstreik bis hin zum Generalstreik, besinnen! Ein solcher Kampf würde freilich sofort die Frage der Selbstverteidigung gegen die Repression, die Notwendigkeit von Streikkomitees und Selbstverteidigungsmilizen aufwerfen. Er würde die Machtfrage stellen in einer Form, die Erdogans Regime und der bürgerlichen Herrschaft ein Ende setzen könnte. Die internationale ArbeiterInnenbewegung muss ihre von Verelendung und blutiger Repression bedrohten KlassengenossInnen in der Türkei dabei mit allen Mitteln unterstützen!




Wahlen in der Türkei: Schrecken ohne Ende oder Napoleon heißt auf Türkisch „Napolyon“

Svenja Spunck, Infomail 1008, 25. Juni 2018

Erdogan gewinnt die Präsidentschaftswahlen und das Wahlbündnis aus AKP und MHP sichert sich die Mehrheit im Parlament. Die HDP kann sich erneut über den Einzug ins Parlament freuen, während die CHP Stimmenverluste verzeichnet. Zum ersten Mal zieht die neu gegründete Iyi Parti ins Parlament ein. So weit das Ergebnis in Kurzform.

Wäre das Ergebnis aus dem Gefängnis in Edirne repräsentativ für die Türkei, würde sie ab heute von einem kemalistischen Staatspräsidenten und ihr Parlament von einer absoluten Mehrheit der HDP kontrolliert werden. In der Haftanstalt, die seit anderthalb Jahren die permanente Adresse von Selahattin Demirtaş ist, haben Erdogan und seine AKP keine einzige Stimme bekommen.

Doch nach der Auszählung von 99 Prozent der Stimmen zeichnet sich im „Rest“ der Türkei ein enttäuschendes Ergebnis für diejenigen ab, die noch Hoffnung auf so etwas wie einen demokratischen Wandel hatten. Obwohl die AKP keine alleinige Mehrheit im Parlament erringen konnte, schafft sie es, zusammen mit der MHP rund 53,6 Prozent der Stimmen für ihr Wahlbündnis zu erringen, wobei 42,5 Prozent auf die AKP und 11,1 Prozent auf die MHP entfallen. Damit steht zwar fest, dass Erdogans AKP sich die Regierungsmacht gesichert hat, doch im Vergleich zu den Wahlen im November 2015 hat sie acht Prozentpunkte verloren.

Dass die MHP ihren Stimmenanteil im zweistelligen Bereich halten konnte, war eine der großen Überraschungen des Wahlabends und bot AnhängerInnen der Opposition Anlass, über Wahlfälschung zu spekulieren. In den Umfragen der letzten Wochen lag die MHP immer deutlich unter der 10-Prozent-Hürde und hätte nur durch ihr Bündnis mit der AKP ihre Sitze im Parlament verteidigen können. Doch da anscheinend einige traditionelle AKP-WählerInnen ihre Stimme der MHP liehen, konnte sie ihre rund 11 Prozent konstant halten. In erster Linie wurde ein Stimmenverlust an die Iyi Parti von Meral Akşener befürchtet, die sich vor kurzem aus der MHP abgespalten hatte. Mit genau zehn Prozent zieht diese zwar ins Parlament ein, bleibt jedoch weit unter den in Umfragen prognostizierten Ergebnissen. Somit vereinen die drei rechtesten Parteien des neuen türkischen Parlaments rund 63 Prozent der Stimmen auf sich.

Manipulationen

Nachdem die ersten Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi (AA) am 24. Juni um 18 Uhr MESZ veröffentlicht wurden, sprachen VertreterInnen der CHP und HDP bereits von massiver Manipulation der Ergebnisse. Noch während die Wahlurnen geöffnet waren, wurde von Wahlbetrug mit gefälschten Stimmzetteln und gewalttätigen Auseinandersetzungen in einigen Wahllokalen berichtet. Internationalen WahlbeobachterInnen wie Andrej Hunko von der hiesigen Linkspartei wurde die Einreise in die Türkei verwehrt, eine Genossin und Beobachterin aus den Reihen der Interventionistischen Linken wurde sogar vor Ort kurzzeitig verhaftet.

Solche Vorkommnisse sind leider nichts Neues bei Wahlen in der Türkei. Bereits beim Referendum im April 2017 wurden Stimmen für Erdogan gefälscht und oppositionelle WählerInnen bedroht. Doch der eigentliche Betrug findet nicht am Wahltag statt, sondern setzt sich zusammen aus den unfairen Bedingungen, unter denen beispielsweise die HDP ihren Wahlkampf führen musste: Keine Sendezeit für ihren Präsidentschaftskandidaten in irgendeinem der staatlichen Fernsehsender, tägliche Verhaftungen von Parteimitgliedern und permanente Hetze der Regierung gegenüber der Partei sind nur ein Ausschnitt deren. Die Forderung nach einer Aufklärung der Ereignisse am Wahltag sollte dennoch von zumindest denjenigen aufgestellt werden, die sich als Oppositionspartei verstehen.

Über den Abend hinweg bestand dann eine große Differenz zwischen den Ergebnissen von AA, die einen klaren Sieg Erdogans in den Präsidentschaftswahlen anzeigte, und den offiziellen Zahlen des Hohen Wahlausschusses (YSK). Laut der Onlineplattform Adil Seçim, die von Oppositionsparteien gegründet wurde, wäre es sogar zur Stichwahl zwischen Erdogan und Muharrem İnce gekommen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind die Wahlergebnisse zwar noch nicht offiziell bestätigt, doch Erdogan verkündete bereits um Mitternacht seinen Sieg und auch İnce erklärte gegenüber dem Journalisten İsmail Küçükkaya, dass „der Mann gewonnen“ habe. Er zerschlug damit die Hoffnung der WählerInnen, die auf eine Anfechtung der Wahlen oder zumindest auf eine ernsthafte Untersuchung der Vorwürfe von Wahlfälschung gewartet hatten. Böse gesagt erspart der Sieg Erdogans im ersten Wahlgang zumindest vielen Linken die Farce, im zweiten Wahlgang für Ince zu stimmen, die bisher der falschen Überzeugung waren, er sei das kleinere Übel und die Rückkehr zum kemalistischen Staat berge die Möglichkeit zu echter Demokratie.

Ergebnis der HDP

Ein Sieger des Abends ist die HDP. Trotz aller Repressionen, denen die Partei in den letzten Jahren ausgesetzt war, schaffte sie es erneut, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden. Sie ist mit 11,2 Prozent die drittstärkste Partei im Parlament und auch ihr Präsidentschaftskandidat Demirtaş erkämpfte sich im Laufe des Abends den dritten Platz. Vor allem traditionelle WählerInnen der CHP liehen ihre Stimme an die Demokratische Partei der Völker, um die Parlamentssitze der AKP zu verringern und zu verhindern, dass die HDP an der 10-Prozent-Hürde scheitert. Dies trug zum Verlust der CHP bei, erklärt diesen aber nur zum Teil. Während İnce mit 30 Prozent in der Präsidentschaftswahl abschnitt, erreichte seine Partei gerade einmal 23 Prozent im Parlament. Sie fällt damit sogar noch hinter ihr damals schon enttäuschendes Ergebnis vom November 2015 (25,32 Prozent) zurück. Ihr Ergebnis in den Parlamentswahlen sowie die unerfüllte Hoffnung, İnce könnte zum Herausforderer Erdogans in einer Stichwahl bei der Präsidentschaftskandidatur werden, werden zu einer grundlegenden Debatte um die Neuausrichtung der Partei führen.

Die Bestätigung Erdogans im Amt als Präsident mit nun noch größeren Befugnissen, die Verteidigung der Parlamentssitze der HDP trotz eines Wahlkampfs unter schwierigsten Bedingungen und der Stimmenverlust der CHP drücken die extreme Spaltung der Gesellschaft in der Türkei aus. Die AKP ist eine der wenigen Parteien, die nicht die Aufhebung des Ausnahmezustandes zum Wahlversprechen machte, sondern deren politisches Programm diesen auf Dauer fordert. Mit dem Sieg der AKP steht weder eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Türkei in Aussicht, noch hat die Opposition, die für Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie warb, einen Anlass zur Hoffnung. Diese Ziele zu verteidigen, sagte Pervin Buldan, Co-Vorsitzende der HDP, sei jedoch die Aufgabe ihrer Partei für die kommende Periode und dafür werde sie weiterhin kämpfen.

Doch die Lage in der Türkei wird sich zunehmend verschärfen und die wirtschaftliche Krise, die auf sie zurollt, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Gerade junge Menschen, die mit der #Tamam-Bewegung (deutsch: „Zustimmung“, auch: „genug“, „es reicht“) vor einigen Wochen in den sozialen Medien millionenfach ihre Unzufriedenheit mit der Regierung ausdrückten und auf die Straße zogen, sehen keine Perspektive in der Politik der AKP. Mit dieser Wahl sind keineswegs alle Hoffnungen zerstört und auch der Faschismus zieht damit noch nicht automatisch in der Türkei ein, wie einige besonders „Radikale“ wieder einmal behaupten, aber die Bedingungen, unter denen Linke, SozialistInnen und unterdrückte Minderheiten kämpfen, sind noch einmal schwerer geworden.

Mit dem Wahlsieg hat Erdogan die Macht weiter in den Hände des Staatspräsidenten konzentriert. Er wird sie gegen die kurdische Nation, gegen die HDP, gegen Widerstand aus der ArbeiterInnenklasse, der Jugend und von allen anderen einsetzen, die von der kommenden Wirtschaftskrise durch Entlassungen, Verarmung, Entwertung ihrer Ersparnisse bedroht sind. Von der rechten und nationalistischen Opposition, İyi Parti und CHP ist in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Die Aufgaben der sozialistischen Linken, kämpferischer GewerkschafterInnen und der HPD bestehen vielmehr darin, den Kampf gegen die sozialen Angriffe, für demokratische Rechte und nationale Unterdrückung gemeinsam zu organisieren. Erdogan hat zwar – mit welchen Mitteln auch immer – die Wahlen gewonnen, doch die unvermeidliche Krise seines „Erfolgsmodells“ kann auch die Bedingungen für einen gemeinsamen Klassenkampf schaffen, um den türkischen Napolyon zu Fall zu bringen.




Neuwahlen in der Türkei: Zwischen Erdogan-Regime und türkisch-nationalistischer Opposition

Svenja Spunck, Neue Internationale 229, Juni 2018

Darauf, dass AKP (Adalet ve Kalkıma Partisi, „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung/Entwicklung“) und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, „Partei der nationalistischen Bewegung“) mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nicht bis November 2019 warten würden, deutete bereits vieles hin. Mitte März 2018 wurde dann bekannt, dass die Hohe Wahlkommission YSK 500 Millionen Umschläge für Stimmzettel in Auftrag gegeben hatte. Da es jedoch nur 55 Millionen Wahlberechtigte in der Türkei gibt, witterte die Opposition darin erste Vorbereitungen für Wahlbetrug im großen Maßstab. So war es bereits beim Verfassungsreferendum im April 2017 geschehen. Damals wurden nicht offiziell gestempelte Stimmzettel in das Ergebnis mit eingerechnet – bei all diesen war „Evet“ angekreuzt, also ein „Ja“ zum Präsidialsystem.

Um diesen Betrug zu legalisieren, stimmten AKP- und MHP-Abgeordnete ebenfalls im März diesen Jahres über ein Reformpaket ab, das dieser Koalition den Wahlsieg sichern soll. In einer Sitzung mitten in der Nacht wurde unter Ausschluss der Presse beschlossen, dass ungestempelte Wahlzettel gültig sein sollen. Anstatt die extrem hohe Sperrklausel von 10 Prozent zu senken, wurde außerdem entschieden, dass es möglich sein soll, sich innerhalb einer Koalition die Stimmen zu teilen. Es treten also Wahlbündnisse an und falls eine der Bündnisparteien unter 10 Prozent der Stimmen erhält, kann sie von ihren stärkeren Koalitionspartnerinnen trotzdem ins Parlament gehievt werden.

Praktisch soll damit verhindert werden, dass die MHP in einzelnen Bezirken verpassen könnte, einen Abgeordneten zu stellen. Die MHP, die momentan theoretisch in der Opposition ist, aber praktisch schon eng mit der AKP zusammenarbeitet und mit ihr ein Wahlbündnis vorbereitet, hat nach einer Spaltung mit starkem Stimmenverlust zu kämpfen. Die Abspaltung formierte sich unter Meral Aksener als IYI-Parti („Gute Partei“) und kommt in den meisten Umfragen locker über die 10-Prozent-Hürde.

Aktuell ist sie eine von zwei Parteien aus dem sogenannten „Bündnis der Nation“, das sich aus CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, „Republikanische Volkspartei“), IP (Iyi Parti, „Gute Partei“), Saadet Partisi (Saadet Partisi, „Partei der Glückseligkeit“) und der DP (Demokrat Parti, „Demokratische Partei“) zusammensetzt. Nur die CHP und die IP sind zur Zeit im Parlament vertreten. SP und DP sehen in dem Bündnis eine Möglichkeit, sich auf die politische Bühne in der Türkei zurückzubefördern.

Obwohl alle vier Parteien aus unterschiedlichen politischen Traditionen stammen, eint sie nicht nur die Opposition zur AKP und MHP. Übereinstimmung herrscht ebenfalls darüber, die pro-kurdische HDP (Halkların Demokratik Partisi, „Demokratische Partei der Völker“) aus ihrer Koalition auszuschließen und sie somit als einzige Partei übrig zu lassen, die tatsächlich im Alleingang die 10-Prozent-Hürde überwinden muss.

Im WDR wurde diese Koalition von Kürsat Akyol als eine „demokratisch-einheitliche Allianz“ gefeiert, durch die die Wahlen in der Türkei in ein „Fest der Demokratie“ verwandelt werden könnten. Doch dass es sich hierbei keineswegs um eine Opposition oder gar eine demokratische Alternative zur aktuellen Regierung handelt, zeigt die genauere Betrachtung der einzelnen Mitgliedsparteien.

CHP

Die CHP, Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal (Atatürk), ist die älteste Partei der Türkei und die größte Oppositionspartei im Parlament. Ihre Kernwählerschaft bilden säkulare TürkInnen aus dem Westen des Landes und den größeren Städten. Außerdem wird sie von der religiösen Minderheit der AlevitInnen unterstützt. Die oft in irreführender Weise als sozialdemokratisch bezeichnete Partei beteiligte sich zwar beim Verfassungsreferendum im April 2017 an der Mobilisierung des „Nein“-Lagers, stimmte jedoch im Mai 2016 im Parlament für die Aufhebung der Immunität von 50 der 59 HDP-Abgeordneten. Sie bereitete somit den Weg für die Inhaftierung der damaligen Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, denen nun in unzähligen Verfahren der Prozess gemacht wird.

Bei dem Angriff der türkischen Armee auf die kurdische Stadt Afrin in Nordsyrien zu Beginn des Jahres lieferte sich die CHP einen regelrechten Kampf mit der AKP um das Ausmaß der Unterstützung für diesen Einsatz. Der Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroglu sagte kurz nach dem Beginn der „Operation Olivenzweig“: „Es handelt sich um ein nationales Problem und die Sicherheit der Grenzen der Türkei steht in Frage. Deshalb werden wir die in unserer Hand liegende Unterstützung liefern. Es ist wichtig, dass wir zur moralischen Unterstützung unserer Armee beitragen.“ Im selben Interview kritisierte er Erdogan, dieses Thema für WählerInnenfang zu nutzen und fügte hinzu, dass dieser sich wohl gestört fühle von der Zustimmung durch die CHP.

Für die Präsidentschaftswahl entschied die Partei, den Kandidaten Muharrem Ince ins Rennen zu schicken. Er ist seit 2002 CHP-Abgeordneter im türkischen Parlament und hatte dort den Posten des Fraktionsvorsitzenden inne. Er gilt auch als Konkurrent des Parteivorsitzenden Kılıçdaroglu, dem er zweimal bei der Wahl um dessen Amt unterlag. Dass er nun als Präsidentschaftskandidat ausgewählt wurde, deutet auch auf einen politischen Wechsel innerhalb der CHP hin. Seine Reden sind voller Populismus und Rassismus, vor allem gegen Geflüchtete aus Syrien. Der Bevölkerung verspricht er, ähnlich wie Erdogan, was alles gebaut werden soll, dass der Mindestlohn angehoben werden würde und den Studierenden Stipendien geschenkt werden sollen. Würde man ihn fragen, wie er das finanzieren will, dann würde er antworten, dass er das Geld lieber „seinem“ Volk statt den SyrerInnen geben würde. Dass syrische Geflüchtete in der Türkei in extrem bitterer Armut leben, dass sie entweder über gefährliche Routen weiter nach Europa fliehen oder schon die Kinder der Familie in Sweatshops arbeiten schicken müssen, ignoriert er komplett.

Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, hat er gute Chancen, gegen Erdogan in der Stichwahl, also der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl anzutreten. Kommt es zur Stichwahl, würde Ince auch keine schlechten Chancen haben, die Wahl sogar zu gewinnen. Denn die Opposition ist sich fast einig darüber, denjenigen zu unterstützen, der es wagt, Erdogan herauszufordern, auch wenn es sich dabei um einen rassistischen Kemalisten handelt.

IP

Frank Nordhausen bezeichnete die IP-Vorsitzende Meral Aksener in der Frankfurter Rundschau als „türkische Marine Le Pen“. Sie ist kein neuer Stern am Politikerhimmel. Aus der MHP wurde sie im September 2016 ausgeschlossen, da sie den Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli herausforderte. Ihr Hauptkritikpunkt war dessen Zusammenarbeit mit Erdogans AKP. Dieser wirft sie wiederum vor, den Friedensprozess mit der PKK eingeleitet zu haben und nicht mehr mit aller Härte gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung vorzugehen. Gegenüber der kurdischen Bevölkerung lautet die Devise der IP also deutlich: erzwungene Assimilation statt kultureller oder gar politischer Gleichberechtigung.

Doch wofür sonst steht die Partei, die direkt nach ihrer Gründung in den Umfragen bei fast 20 Prozent liegt? In erster Linie inszeniert sie ihre Ablehnung des Präsidialsystems, das Erdogan gerne einführen möchte. Dennoch tritt Aksener vorsichtshalber als Präsidentschaftskandidatin an und könnte ebenfalls im zweiten Wahlgang Gegenkandidatin Erdogans werden. Andere vermuten, dass sie im Falle der Kandidatur des Kemalisten Ince doch noch die Seiten wechselt und zur Unterstützung Erdogans aufruft. Doch eigentlich wollen sie und ihre Partei eine Alternative für die enttäuschten WählerInnen von AKP und MHP darstellen.Obwohl vor allem die CHP viel daran setzt, ihr Wahlbündnis als große Alternative zur AKP/MHP-Regierung zu präsentieren, zeigt die genauere Betrachtung doch eher, dass es sich lediglich um einen Zusammenschluss rechter Kräfte handelt, die keineswegs für Demokratie, Gerechtigkeit oder ein friedliches Zusammenleben stehen. Stattdessen verfolgen sie ihre eigenen Pläne, den türkischen Staat zu verwalten, wobei ihnen die inneren Widersprüche dieses Bündnisses oft im Weg stehen. Bei der Präsidentschaftswahl treten zwei KandidatInnen aus diesem Bündnis an: Muharrem Ince für die CHP und Meral Aksener für die IP. Da beide momentan ungefähr gleichauf liegen, könnte auch hier im zweiten Wahlgang die Frage entscheidend werden, welcheR KandidatIn die Unterstützung der kurdischen Bewegung gewinnen kann.

HDP – die einzige Opposition?

Die AKP verliert zur Zeit ihre Wählerbasis unter konservativen KurdInnen, die auf den Friedensprozess hofften und nun vom türkisch-nationalistischen Kurs enttäuscht sind. Diese verlorenen Stimmen versucht die Partei, durch die nationalistische Stimmung, erzeugt durch den Angriff auf Afrin, über die MHP wieder reinzuholen. Doch schafft es die HDP, die von der AKP enttäuschten KurdInnen auf ihre Seite zu ziehen?

Die massive Repression gegen PolitikerInnen der HDP, gegen ihre Presseorgane und gegen kleinere linke Organisationen wächst stetig, seitdem die Partei im Juni 2015 zum ersten Mal ins Parlament eingezogen ist. Das Ziel der Regierung ist es, die Strukturen der Opposition komplett zu zerstören und ein erneutes Aufbegehren im Keim zu ersticken. Die HDP wird ihrer einfachsten demokratischen Rechte beraubt, obwohl sie nach wie vor theoretisch eine legale Partei im türkischen Parlament ist.

Die Politik der AKP bestimmt auch die Strategie der HDP in den Wahlen. Bereits vor einigen Monaten wurde bei den Debatten um den neuen Parteivorsitzenden die parteiinterne Spaltung zwischen – einfach gesagt – VertreterInnen der türkischen Linken einerseits und der kurdischen Bewegung andererseits deutlich. In der HDP gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, demzufolge die Doppelspitze der Parteiführung nicht nur nach Geschlecht paritätisch besetzt ist, sondern auch immer einE VertreterIn aus der sozialistischen und der/die andere aus der kurdischen Bewegung kommen soll. Der gezielte Angriff der türkischen Armee gegen die KurdInnen in der Türkei und in Syrien wurde durch kurdischen Nationalismus in der HDP beantwortet. Die Co-Vorsitzende Pervin Buldan sagte: „Als ihr nach Afrin gegangen seid, habt ihr von einer osmanischen Ohrfeige gesprochen, die ihr dort austeilen wolltet. Macht euch bereit für eine kurdische Ohrfeige. Ihr werdet niedergehen an den Liedern, die ihr auf dem Weg nach Afrin gesungen habt.“ Mit dieser Wortgewalt will sie zu Recht Erdogan in die Schranken weisen und Vergeltung für den Angriff auf das kurdischen Volk ankündigen. Doch eine Strategie, die Spaltung der Unterdrückten in der Türkei zu überwinden und tatsächlich eine Partei für all diese zu schaffen, kann die HDP leider nicht präsentieren.

Ob die HDP den Einzug ins Parlament schaffen wird, ist ungewiss. Umfragen sagen ihr zwischen acht und elf Prozent voraus. Während der Wahlkampf in der Türkei massiv eingeschränkt ist, mobilisieren HDP-AnhängerInnen im Ausland rund um die Uhr.

Die HDP spekuliert darauf, dass unter dem neuen Wahlsystem, unter dem Parteien sich ihre Abgeordnetensitze untereinander hin und her zuschieben können, eventuell eine andere Partei der HDP die fehlenden Sitze überlässt, damit die AKP/MHP-Koalition im Parlament geschwächt wird. Denn wenn die HDP die 10-Prozent-Hürde nicht überwände, wären ihre Sitze ein direkter Gewinn für AKP/MHP, was Druck auf das CHP-Bündnis ausübt. Die jüngste Vergangenheit hat jedoch auch gezeigt, dass selbst die oft als „sozialdemokratisch“ beschriebene CHP die HDP sofort ans Messer liefert, um sich erstens nicht selbst zu gefährden und zweitens ihre Hoffnung auf eine Beteiligung am neuen Präsidialsystem aufrechtzuerhalten. Auch das Fehlen einer klaren Strategie zur zweiten Runde der Präsidentschaftswahl seitens der HDP deutet eher darauf hin, dass man sich die Tür offen halten will, um sich eventuell der CHP anzubiedern. Dies ist jedoch innerhalb der HDP eine heiß diskutierte Frage. Es ist zu hoffen, dass sich die Kräfte durchsetzen, die eine solche „Taktik“ ablehnen. Sie schadet dem Kampf gegen Erdogan wie gegen die reaktionäre Opposition.

Größte Schwäche Erdogans

Die extrem angeschlagene Wirtschaft der Türkei ist der wunde Punkt der Regierung, der Erdogan bereuen lässt, die Neuwahlen ausgerufen zu haben. Zum ersten Mal seit Jahren erlebt man ihn in einer eher defensiven als aggressiven Rolle. Die Einschüchterung der Zivilbevölkerung durch massiven Druck von Seiten der Regierung, aber auch die gefährdete Sicherheitslage hatten den Niedergang von ausländischen Investitionen zur Folge, auf die die Türkei angewiesen ist. Zunächst machte die Tourismusbranche, die eine der zentralen Einnahmequellen der Türkei ist, hohe Verluste. Dies verband sich nun in den vergangenen Monaten mit einer wachsenden Schuldenkrise, die für die türkische Wirtschaft bedrohlich geworden ist. Die Gesamtschulden türkischer Unternehmen betragen mittlerweile 70 Prozent der Wirtschaftsleistung und diese wurden meist in ausländischen Währungen aufgenommen. Mit dem Wertverlust der Lira im Vergleich zu Dollar und Euro sowie dem Rückgang von Investitionen in die Türkei wird deutlich, dass die Wirtschaftspolitik der AKP gescheitert ist. Die Türkei ist auf langfristige ausländische Investitionen angewiesen, die jedoch durch die angespannte politische Lage ausbleiben. Während die Inflation momentan bei 10 Prozent liegt, ist auch die Jugendarbeitslosigkeit auf 20 Prozent angestiegen und der Reallohnverlust ist in der Bevölkerung zunehmend spürbar. Viele sehen in der wirtschaftlichen Lage eines der größten Risiken für die AKP-Regierung, während diese ihr Finanzproblem als Intrige ausländischer Mächte darstellt und die Bevölkerung zum Zusammenhalt und dem Umtausch ihrer letzten Dollars aufruft.

In dieser Situation sehen Erdogan und die AKP ihre Mehrheit bei den Wahlen gefährdet. Umgekehrt stellt das Oppositionsbündnis um die CHP keine fortschrittliche Alternative dar. In manchen Fragen steht dieses bzw. stehen einzelne Parteien der Opposition sogar rechts von der AKP. Darüber hinaus ist es durchaus möglich, dass eine dieser Kräfte auch zu einer Koalition mit Erdogan bereit ist, wenn der politische Preis stimmt.

In jedem Fall wird es aber darum gehen, die heraufziehende Wirtschaftskrise auf Kosten der Bevölkerung zu lösen, den Krieg gegen die kurdische Bewegung und die Besetzung Afrins fortzusetzen, die Position der Türkei als Regionalmacht zu behaupten – und all das mit einer Mischung aus Nationalismus, Demagogie und Rassismus, also durch Spaltung und Verhetzung der Masse in Stadt und Land zu legitimieren.

Bei den Wahlen unterstützen wir die HDP kritisch, obwohl sie keine ArbeiterInnenpartei, sondern eine kleinbürgerliche, klassenübergreifende Partei darstellt. Sie repräsentiert aber den Kampf des seit Gründung der Türkei unterdrückten kurdischen Volkes und den Widerstand gegen die Besetzung Afrins. Das Abschneiden der HDP stellt also auch einen Gradmesser für die Ablehnung der Politik Erdogans und des expansiven türkischen Nationalismus dar.

Zugleich sind jedoch in den letzten Jahren die programmatischen und politischen Schwächen der HDP immer deutlich geworden. Sie schwankt vielmehr zwischen „harter“ Opposition und opportunistischen Manövern wie z. B. hinsichtlich einer möglichen Unterstützung des CHP-Kandidaten Ince im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl. Der entscheidende Grund dafür liegt darin, dass sie als kleinbürgerliche Partei nicht auf eine auf die Interessen der Lohnabhängigen, der BäuerInnen und der Unterdrückten orientierte sozialistische Klassenpolitik setzt. Eine solche Politik müssten aber die sozialistischen Kräfte in der HDP aktuell vorschlagen und öffentlich machen, denn die kommende Krise kann, ja wird – egal ob nun die reaktionäre AKP oder die genauso reaktionäre Opposition gewinnt – , den türkischen Kapitalismus erschüttern und neue Möglichkeiten im Klassenkampf eröffnen.




Türkei erobert Afrin: Die Konterrevolution auf dem Vormarsch

Robert Teller, Neue Internationale 227, April 2018

Am 18. März rückten die türkische Armee und von der türkischen Regierung kontrollierte FSA-Verbände ins Stadtzentrum von Afrin ein – zwei Monate nach Beginn des militärischen Überfalls auf den gleichnamigen kurdischen Kanton durch die „Operation Olivenzweig“. Wie auch in anderen von türkischen Truppen eroberten Ortschaften des Kantons war der militärische Siegeszug begleitet von Plünderungen und einem Massenexodus der dort lebenden BewohnerInnen. Ohne Zweifel ist der türkische Einmarsch ein weiterer Schlag der Konterrevolution im Nahen Osten, der die Zukunft von Rojava in Frage stellt.

Erdogan hat wiederholt erklärt, dass er bei Afrin nicht Halt machen wird, sondern die gesamte türkisch-syrische Grenze und sogar den Nordirak von kurdischen Verbänden „säubern“ will. Die Situation führt uns – wie bereits im Kampf gegen den IS/Daesch – einmal mehr vor Augen, dass keiner der beteiligten Akteure im Nahen Osten eine kurdische Selbstverwaltung akzeptieren wird, dass die dort bestehende staatliche Ordnung auf der nationalen Unterdrückung des kurdischen Volkes beruht. Zugleich werden die militärischen Erfolge Erdogans begleitet von einer Repressionswelle gegen KriegsgegnerInnen, und sein militärischer Erfolg wird den weiteren Abbau demokratischer Rechte und die Errichtung eines diktatorischen Regimes in der Türkei beschleunigen, was dort eine ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Krieg dringend erforderlich macht.

Deutsche Waffen

Die türkische Armee setzt bei ihrer Offensive deutsche Leopard-Panzer ein. Entgegen der anfänglichen Aussage Sigmar Gabriels, aufgrund des türkischen Angriffs auf Afrin zunächst keine Waffenexporte in dieses Land mehr zu genehmigen, wurden allein seit Beginn der Offensive insgesamt 20 Rüstungsexportgenehmigungen erteilt. Der militärische Angriff auf Rojava setzt für InternationalistInnen nicht nur die unmittelbare Unterstützung der kurdischen Verbände im Kampf gegen die türkischen Truppen auf die Tagesordnung. Er wirft auch die Frage auf, welche politische Strategie erforderlich ist, um die Errungenschaften in Rojava zu verteidigen.

Die kurdischen Verbände der YPG/YPJ haben als Teil der SDF (Syrian Democratic Forces) seit 2015 große militärische Erfolge gegen den IS/Daesch errungen und kontrollieren heute einen großen Teil der vom IS in Syrien zurückgelassenen Gebiete. Der größte militärische Erfolg war die Eroberung von ar-Raqqa im Oktober 2017. Die militärischen Erfolge beruhten auch auf der Unterstützung der SDF durch die USA in Form von Waffenlieferungen, Militärberatern und Luftangriffen, in geringerem Umfang auch auf russischer Unterstützung. Dank der militärischen Erfolge der SDF kontrolliert der IS/Daesch heute nur noch einige ländliche Gegenden im Osten Syriens, an der israelischen Grenze und das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus. Die kurdischen Verbände dagegen kontrollieren fast alle Gebiete östlich des Euphrat, etwa ein Viertel der Fläche Syriens. Seit Beginn der türkischen Intervention in Nordsyrien 2016 stellte Russland in den entsprechenden Gegenden Truppen in Pufferzonen bereit, die eine direkte Konfrontation der türkischen Armee mit den kurdischen Verbänden verhinderten. Vor Beginn des Angriffs auf Afrin zog Russland diese Truppen jedoch von dort zurück. Der türkische Angriff fand also mit der Duldung Russlands statt.

Nachdem 2014/2015 die Gefahr bestand, Rojava könnte vom IS militärisch zerschlagen werden, so scheint es heute gerade durch die zuletzt neu gewonnene militärische Stärke vor neuen Problemen zu stehen: nicht nur die Türkei, auch das syrische Regime und seine iranische Schutzmacht können einen unabhängigen kurdischen Staat als Teil einer Nachkriegsordnung in Syrien nicht akzeptieren. Assad hat wiederholt erklärt, dass er nicht bereit ist, eine Abspaltung Rojavas zu akzeptieren. Für die USA dagegen sind die kurdischen Kräfte zwar zentral für den Kampf gegen den IS – aber die militärische Niederlage des IS in Syrien wird die Grundlage dieser Kooperation in Frage stellen. Im Ringen um eine Nachkriegsordnung werden die USA Rojava mit in den Verhandlungstopf werfen, aus dem es neu zu verteilen gilt.

Als Folge des türkischen Angriffs wurden kurdische Verbände von der Front gegen den IS abgezogen und nach Afrin verlegt. Die Türkei hingegen zog zehntausende ihr loyale Rebellen aus der Provinz Idlib ab, um sie im Kampf gegen die kurdischen Verbände einzusetzen. Am 25. Januar forderte die kurdische Führung in Afrin das syrische Regime auf, Truppen zu seiner Verteidigung gegen den türkischen Einmarsch zu schicken. Am 19. Februar trafen Assad-treue Regierungsmilizen in Afrin ein und wurden von der türkischen Armee unter Beschuss genommen. Es gibt Berichte, dass das syrische Regime auch zur Entsendung der regulären Armee bereit gewesen wäre, dies aber durch eine Intervention Russlands verhindert wurde, das eine Eskalation zwischen dem syrischen Regime und der Türkei verhindern möchte. Als Teil einer Einigung zwischen der PYD und dem Regime übergab die PYD am 22. Februar die Kontrolle über den mehrheitlich kurdischen Stadtteil Sheikh Maqsoud und alle anderen von ihr in Aleppo kontrollierten Viertel an die Truppen des Regimes und erhielt dafür von selbigem die Erlaubnis, die von ihm kontrollierten Versorgungsrouten nach Afrin zu nutzen. Am 18.03. zogen sich die KämpferInnen der kurdischen Verbände aus der Stadt Afrin zurück, nachdem diese von den türkischen Truppen eingekesselt worden war.

Niederlagen und weitere Bedrohungen

Letztlich hat der türkische Angriff nicht nur zur Zerschlagung der Selbstverwaltung in Afrin geführt, sondern auch zur Wiederherstellung der Kontrolle des Assad-Regimes über ganz Aleppo und er hat die Bedingungen für seine Offensive in der Provinz Idlib verbessert. Die syrische und die türkische Regierung verfolgen zwar im syrischen Bürgerkrieg entgegengesetzte Ziele. Dennoch haben sie ein gemeinsames Interesse, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu zerstören. Insofern ist der türkische Angriff Teil der konterrevolutionären Entwicklung in der Region und steht in einer Reihe mit den verbrecherischen Angriffen des Assad-Regimes in Ost-Ghuta und Idlib, um seine Kontrolle über diese Gebiete wiederherzustellen.

Die absehbare Niederlage des IS und die mögliche Niederlage der letzten Rebellenverbände in der Provinz Idlib und der Region Damaskus werden unter den verbliebenen Mächten – dem russischen Imperialismus und dem Iran als Schutzmacht Assads, der Türkei und den USA – die Frage nach einer Nachkriegsordnung auf die Tagesordnung setzen. Fast alle würden kein unabhängiges Rojava akzeptieren und auch die USA werden ihren zeitweiligen Verbündeten allenfalls als politisches Faustpfand verwenden (und gegebenenfalls fallenlassen).

Es droht somit, dass Rojava durch die Türkei militärisch zerschlagen oder aber in den syrischen Staat reintegriert wird. Die PYD hat ihrerseits erklärt, dass sie bereit ist, im Rahmen einer Autonomielösung die bestehenden nationalen Grenzen Syriens zu respektieren und mit dem Regime über eine Nachkriegslösung zu verhandeln. Hierbei werden aber sowohl die türkische als auch die syrische Regierung ihre Bedingungen gegenüber den Kurdinnen durchsetzen wollen. Die politische Selbstbestimmung der KurdInnen wird dabei als Erstes auf der Strecke bleiben.

Internationale Perspektive

Verhindert werden könnte eine solche Entwicklung nur auf internationaler Ebene. Die Geschichte Rojavas ist eng verbunden mit der syrischen Revolution und den Aufständen der KurdInnen in der Türkei. Die Entwicklungen im Nordirak zeigen, dass dort die Bevölkerung den Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit vertritt. Letztlich ist die ArbeiterInnenklasse in der Türkei die entscheidende Kraft, die die militärische Expansionspolitik Erdogans stoppen kann. Umgekehrt ist jede militärische Niederlage Erdogans auch eine politische Niederlage für die Errichtung seiner Präsidialdiktatur. Die nationale Frage der KurdInnen ist also verbunden mit der demokratischen Frage und dem Klassenkampf in der Türkei. Die Zukunft von Rojava wird am Ende davon abhängen, ob es gelingt, ein Bündnis mit den unterdrückten Massen der ganzen Region zu bilden. Ein solches Bündnis wäre zugleich auch die einzige Hoffnung auf ein Ende des Vormarsches von Reaktion, Konterrevolution und Imperialismus in Syrien oder im Irak. Die Siege des Assad-Regimes und der Türkei bedeuten für die Bevölkerung Massenvertreibung, Plünderungen, Vergewaltigungen und Elend. Die drohende Ausschaltung der KurdInnen und die Niederlage der syrischen Revolution bedeuten aber keineswegs eine Befriedung des Landes, sondern werden angesichts der verschärften internationalen Konfrontationen früher oder später zu einem weiteren Kampf zwischen den verschiedenen Mächten führen, die heute ganze Länder verwüsten.

RevolutionärInnen treten für die Niederlage und den Rückzug der türkischen Armee ein, die Verteidigung der bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen und den Sieg der KurdInnen gegen die Invasoren. Wir fordern den Stopp der Waffenlieferungen an die Türkei und den Rückzug der Bundeswehr. Wir treten für den Abzug aller imperialistischen Truppen und aller Regionalmächte aus Syrien ein. Wir sollten als InternationalistInnen den kurdischen Verbänden jegliche mögliche Unterstützung für ihren Kampf zukommen lassen, ohne jedoch die nationalistische Politik ihrer Führung zu verteidigen, deren Utopie eines „Dritten Wegs“ die internationale Dimension des Befreiungskampfes negiert.




Syrische Frauen in der Türkei: Immer und immer auf der Flucht

Svenja Spunck, Frauenzeitung Nr. 4, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION, März 2016

Der syrische Bürgerkrieg ist mittlerweile der tödlichste Konflikt des 21. Jahrhunderts. Nicht nur die Getöteten sind dessen Opfer, sondern auch all jene, die ihre Heimat notgedrungen verlassen mussten, um am Leben zu bleiben. Die offizielle Zahl der syrischen Flüchtlinge im Nachbarland Türkei liegt bei 2 Millionen, die Dunkelziffer ist weitaus höher. Viele von ihnen sind minderjährig. Während sich der Staat notgedrungen um die vielen arbeits- und obdachlosen Syrer zu sorgen beginnt, wird eine Gruppe völlig ausgeblendet: geflüchtete syrische Frauen.

Berichte

Die Journalistin Mine Bekiroglu berichtet über deren Situation in Hatay, einer hauptsächlich arabisch-alevitischen Stadt im Süden der Türkei. Ein Geheimnis, das jeder kennt, ist der rasante Anstieg der sogenannten Imam-Ehen.

Das bedeutet, dass syrische Frauen an türkische Männer verheiratet werden, nicht offiziell vom Staat, sondern „nur“ vor einem Imam. Diese Ehe, genau so wie die Verheiratung von Minderjährigen, ist illegal. Die Frauen sind oft nicht die erste, sondern die zweite oder dritte Ehefrau eines türkischen Mannes. Der Grund, warum Syrerinnen oft Türkinnen vorgezogen werden, ist ein finanzieller. Während man vor 2 Jahren noch gut 10.000 Lira für eine Ehe bezahlte, sind jetzt schon 2.000 TL genug. Der Preis variiert je nach Aussehen und Alter der Mädchen.

Ganz offensichtlich wird hier die soziale Lage der geflüchteten syrischen Familien ausgenutzt. Wer weder Arbeit noch eine Unterkunft hat, erhofft sich durch das Verkaufen der Tochter finanzielle Verbesserung. Dieser Frauenhandel geschieht nicht heimlich. In Städten wie Sanliurfa ist er auf der Straße zu beobachten und der türkische Staat unternimmt nichts dagegen.

Die wenigsten Flüchtlinge sind in den offiziellen Flüchtlingslagern untergebracht. Diese sind zwar angeblich überdurchschnittlich gut ausgestattet, jedoch gibt es auch hier immer wieder Berichte über Vergewaltigungen, Prostitution und Frauenhandel.

Eine Umfrage der türkischen Regierung ergibt, dass 70% der Frauen ihre berufliche Qualifikation lediglich als „Hausfrau“ beschreiben, also keinen Ausbildungsberuf erlernt oder gar ein Studium absolviert haben. Ebenfalls sind rund 25% Analphabetinnen. Ohne oder mit nur geringer Schulbildung und ohne Aussicht auf eine solche in der Türkei ist für sie eine selbstständige Zukunft undenkbar. Doch wie auch die Broschüre schreibt, in der diese Umfrage veröffentlicht wurde, werden Flüchtlinge in der Türkei als „Gäste“ bezeichnet.

Dies ist keine freundliche Bezeichnung, die auf Gastfreundschaft hindeutet. Sie bezeichnet das traurige Schicksal, dass es für SyrerInnen keinen Geflüchtetenstatus gibt, sondern lediglich einen temporären Gaststatus. Das schließt sie vor allem auch von legaler Lohnarbeit aus, weshalb viele Frauen und Kinder Müllsammlerinnen auf Istanbuls Straßen werden. Soziale Absicherung und Zugang zu Bildung werden ihnen verweigert, da der Staat von ihrer baldigen Heimreise ausgeht.

Realität

Die Realität ist jedoch, dass viele der SyrerInnen in der Türkei bleiben werden, denn ein Ende des syrischen Bürgerkrieges und ein schneller Wiederaufbau des Landes sind nicht einmal in allerweitester Ferne zu erblicken. Den Menschen muss also in dem Land, in dem sie sich jetzt befinden, eine Zukunft ermöglicht werden. Dazu gehört an erster Stelle der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den gleichen Bedingungen wie für türkische StaatsbürgerInnen. Da diese ebenfalls unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, ist es die Aufgabe der Gewerkschaften, diese Frauen zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen.

Wie es nun einmal in der kapitalistischen Welt so ist, wird natürlich auch in der Türkei die Kinderversorgung als kostenlose Arbeit der Frauen betrachtet. Deshalb müssen die syrischen Kinder versorgt und vor allem auch gebildet werden. Die patriarchalen Verhältnisse, unter denen die Frauen leiden, gehören bekämpft und abgeschafft! An erster Stelle steht im Moment die Gewährleistung von Sicherheit für diese Frauen.

Die bedeutet Schutz vor Verheiratung, Vergewaltigung und Zwangsprostitution. Die Frauen müssen sich in den Lagern organisieren. Im besten Fall schließen sich auch Männer an, die Frauen als gleichwertige Menschen betrachten und für deren Unabhängigkeit eintreten. Der türkische Staat ignoriert die sozialen Probleme der SyrerInnen im Land, doch er wird es sich nicht mehr lange leisten können, die Augen davor zu verschließen. Es ist die Aufgabe von SozialistInnen, für die Integration und volle BürgerInnenrechte für Flüchtlinge einzutreten und vor allem auch Frauen zu verteidigen und in den Kampf gegen das Patriarchat einzubinden.




Hände weg von Afrin! Solidarität mit den KurdInnen!

Martin Suchanek, Infomail 983, 22. Januar 2018

Seit dem 20. Januar läuft die „Operation Olivenzweig“. Allein am letzten Wochenende flog die türkische Armee über hundert Laufeinsätze. Schon Tage zuvor beschoss sie mit schwerer Artillerie die Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ (deutsch: Volksverteidigungs-/Frauenverteidigungseinheiten). Seit Sonntag, den 21. Januar, dringen ihre Panzer und Infanterie, oft gestellt von Marionettentruppen türkisch gelenkter FSA-Verbände (Freie Syrische Armee) einschließlich zahlreicher islamistischer Ultrareaktionäre, in das von den KurdInnen gehaltene Gebiet um Afrin vor.

Es kämpft eine hochgerüstete NATO-Armee mit absoluter Lufthoheit gegen eine trotz US-Hilfen militärisch weit unterlegene Streitmacht. Erdogans Kriegziel ist dabei klar: Es geht darum, die Formen kurdischer Selbstbestimmung und Autonomie, die in den letzten Jahren etabliert wurden, zu zerschlagen. Er weiß sich darin einig mit der syrischen Regierung, den von ihm unterhaltenen Teilen der „Opposition“ und dem russischen Imperialismus. Formal drücken diese zwar ihre „Besorgnis“ aus, doch mehr oder minder offen lassen sie der Türkei und ihren Bodentruppen freie Hand – ein Teil der reaktionären Neuordnung des Landes nach Assads Sieg im Bürgerkrieg.

Die USA und der Westen, die sich der KurdInnen als Fußtruppen im Kampf gegen den islamischen Staat bedienten, lassen sie nun fallen wie eine heiße Kartoffel. Ihre Ankündigung, eine 30.000 KämpferInnen starke Grenztruppe im Verbund mit den kurdisch dominierten SDF (Demokratische Kräfte Syriens) zu schaffen, wurde als „Missverständnis“ dementiert. Am 21. Januar twitterte das US-Außenministerium: „Wir fordern die Türkei zur Zurückhaltung auf, um bei ihren militärischen Operationen zivile Opfer zu vermeiden.“ Im Klartext: Tote KämpferInnen der YPG/YPJ sind akzeptable Kollateralschäden einer an Zynismus kaum zu überbietenden US-Politik. Das deutsche Außenamt steht dem allerdings nicht viel nach, wenn es in diesem ungleichen Kampf „beide Seiten zur Zurückhaltung“ aufruft.

Während die Türkei ihren Einfluss als Regionalmacht mit dieser Operation festigen will und sie zugleich zur Abrechnung mit allen inneren „Feinden“ nutzt, so akzeptieren offenkundig die syrische Regierung, alle anderen Regionalmächte und die imperialistischen AkteurInnen die Invasion. Für die Rechte des national unterdrückten kurdischen Volkes will sich niemand die Finger verbrennen. Im Gegenteil: Alle hoffen, dass die türkische Offensive möglichst reibungslos vonstattengeht, dass sie rasch Fakten schafft. Daher mögen die KurdInnen zwar bedauert werden, vor allem aber sollen sie sich „mäßigen“, also gegen das zynische Spiel nicht aufbegehren.

Mit seiner Invasion hat das Land nicht nur der Bevölkerung von Afrin den Krieg erklärt. Auch der Krieg gegen das kurdische Volk und dessen Organisationen wie die HDP und die PKK wird verschärft. Die von der HDP ausgerufenen Proteste wurden mit brutaler Polizeigewalt im Keim erstickt. Unverhohlen droht Erdogan allen GegnerInnen, jedem demokratischen Protest mit brutaler Unterdrückung und Vernichtung: „Wir leiten gerade im Geiste der nationalen Einheit eine Operation gegen jene, die aus dem Ausland unsere Landesgrenzen bedrohen. Und ihr? Ihr versucht, uns von innen zu schlagen. So wie wir die einen aus ihren Höhlen in den Bergen herausgeholt haben, so werden wir auch euch niemals die Plätze und Straßen überlassen.“ (Tagesschau ARD, 21. Januar)

Der kurdische Widerstand gegen die türkische Invasion ist mehr als gerechtfertigt. Unabhängig von ihrer Haltung zur Politik der Führung der KurdInnen in Rojava und Afrin müssen alle Linken, die gesamte internationale ArbeiterInnenbewegung, alle Anti-ImperialistInnen die türkische Invasion verurteilen und deren sofortige Beendigung fordern.

Appelle an die Großmächte oder an die UNO werden dabei jedoch nicht weiterhelfen.

RevolutionärInnen unterstützen den berechtigten Widerstand des kurdischen Volkes in Rojava und in der Türkei. Wir treten für internationalistische Hilfe für die Kämpfenden ein, für deren materielle Unterstützung. Die kurdische Region im Nordirak muss ihre Grenzen für Rojava öffnen.

Wir rufen die ArbeiterInnenbewegung, alle linken Parteien, die Gewerkschaften, alle linken und anti-imperialistischen Kräfte auf, in Solidarität mit den KurdInnen auf die Straße zu gehen. Wir fordern die Öffnung der Grenzen für alle kurdischen Geflüchteten, die Aufhebung das Verbotes ihrer Organisationen, allen voran der PKK. Wir fordern die Einstellung aller Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Türkei, den Abzug aller imperialistischen Truppen aus der Region!

Der Einmarsch türkischer Truppen droht, ein weiterer reaktionärer Schlag zur Neu-Aufteilung Syriens und vor allem gegen das kurdische Volk zu werden. Eine „Stabilisierung“ der Region wird er jedoch nicht bringen. Vielmehr wird er nur das Unrecht, die Unterdrückung festigen.

Die einzige Hoffnung liegt im Widerstand – nicht nur des kurdischen Volkes, sondern in der Vergeschwisterung der ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen, der städtischen und ländlichen Massen im gesamten Nahen Osten, der KurdInnen und PalästinenserInnen, der iranischen ArbeiterInnen und der wirklich demokratischen und sozialistischen Kräfte in Syrien, im Irak, in der Türkei.

Ein solche Politik – und auch das ist eine Lehre des kurdischen Kampfes und erst recht des Bürgerkriegs in Syrien – muss unabhängig von allen imperialistischen und reaktionären Kräften verfolgt werden. Sie muss die sozialen und demokratischen Fragen, den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht mit dem Kampf um eine sozialistische Umwälzung in der gesamten Region verbinden. Dazu braucht es ein Programm und eine politische Organisation, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Internationale.




Türkische Offensive gegen Afrin: Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte

Svenja Spunck, Infomail 983, 22. Januar 2018

Die kurdische Autonomieregion Rojava in Nordsyrien ist der türkischen AKP-Regierung ebenso ein Dorn im Auge wie die pro-kurdische Partei HDP, die Erdogans Truppen bei den letzten Wahlen fast um eine Mehrheit für seine autoritäre Verfassung gebracht hatte. Durch eine massive Verschärfung der staatlichen Repression, die nun mehr sechste Verlängerung des Ausnahmezustandes und die Inhaftierung tausender Oppositioneller hält er sich weiter an der Spitze des Regimes.

Türkei und KurdInnen

Zwar ist der Maulkorb, den er der kurdischen Bewegung in der Türkei aufgesetzt hat, bisher recht erfolgreich, über die Landesgrenzen hinaus gelang es Erdogan jedoch bisher nicht, Einfluss auf die Entwicklungen in Syrien zu nehmen – wie er es sich seit 2011 vorgestellt hatte. Obwohl die Türkei Waffen und Soldaten nach Syrien schickte und reaktionäre Verbände der FSA um sich schart, standen die Stadt Qamischli (kurdisch: Qamislo) und der Kanton Afrin (kursich: Efrîn), die von der kurdischen PYD regiert werden, kurz vor der Vereinigung. Mit dem Erstarken der PYD in Syrien, so die Furcht Erdogans, stände die Einheit mit den KurdInnen in der Türkei bevor und damit de facto die Grenzziehung des Nahen Ostens auf dem Spiel.

Da auch das Assad-Regime solch eine geographische Neudefinition um jeden Preis verhindern will, ließ sie dem türkischen Militär im Norden freie Hand und protestierte nicht gegen den Einmarsch türkischer Truppen. Diese liefern sich seit Monaten immer wieder Gefechte mit den Kräften der SDF, die maßgeblich von den USA finanziert werden. Seit dem 19. Januar bombardiert die türkische Armee aus der Luft die Stellungen der YPG/YPJ. Am 20. Januar startete der Einsatz von Bodentruppen. Obwohl Russland den Luftraum kontrolliert und das Assad-Regime verkündete, sämtliche türkische Flugzeuge vom Himmel zu schießen, konnte die türkische Armee bisher ungestört agieren.

Türkei, Bundesrepublik Deutschland und USA gegen Russland und Syrien?

Die Panzer, die über die syrische Grenze rollen, sind vom Typ Leopard II, made in Germany. Weitere Lieferungen an die Türkei wurden vor wenigen Tagen bekannt gegeben. Nachdem sich die Außenminister Gabriel und Çavusoglu bei Gabriel zu Hause in Goslar in einem privaten, gemütlichen Ambiente getroffen hatten, verkündeten sie beide ausdrücklich, wie eng sie auch durch eine persönliche Freundschaft verbunden seien. Im Interview mit derARD-Tagesschau rechtfertigte Gabriel die Lieferung an die Türkei (seit 10 Jahren übrigens), mit dem angeblichen Bündnis der NATO-Partner im Kampf gegen den sog. „Islamischen Staat“ (IS). Dabei ist seit langem bekannt, dass die Türkei nicht gegen den IS kämpft, sondern dessen Anhänger im Süden des Landes medizinisch versorgt und IS-Gruppen sich ungestört selbst in großen Städten der Türkei organisieren können, während die Grenze für zivile Geflüchtete aus Syrien durch eine Mauer abgeriegelt wird.

Während Erdogan schon angekündigt hat, demnächst auch die östlichen Kantone um die Stadt Manbidsch (kurdisch: Minbic) anzugreifen, um keinen „Terrorkorridor“ zuzulassen, ruft das Auswärtige Amt „alle Beteiligten auf, jetzt besonnen zu handeln und keine neue Gewalt aufkommen zu lassen.“

Hierbei wird unterschlagen, dass es sich um einen Angriffskrieg der Türkei auf die KurdInnen handelt. Zugleich wird eine Hintertür für einen gemeinsamen Kampf gegen „Terroristen“ offen gelassen. Denn auch in Deutschland nahmen die Angriffe auf sämtliche demokratische Rechte der kurdischen Bewegung in den letzten Wochen massiv zu, was sich durch Verhaftungen auf Demonstrationen, Hausdurchsuchungen und Einleitungen von Gerichtsverfahren ausdrückte. Die französische Regierung findet klarere Worte gegenüber der türkischen Regierung und fordert sie auf, die Offensive gegen die KurdInnen zu stoppen, man solle sich stattdessen eher auf den Kampf gegen die Terroristen des IS konzentrieren.

Besonders brisant in diesem Konflikt ist das Kräftemessen der zwei NATO-Partner Türkei und USA, die offensichtlich gegensätzliche Interessen verfolgen. Solange die Türkei jedoch noch keine großen Militärschläge vollzogen hatte, wurde der Konflikt auf den Nebenschauplätzen von Reisewarnungen und Visabeschränkungen geführt. Nachdem die USA angekündigt hatten, eine 30.000 Mann starke Truppe nach Nord-Syrien zu schicken, die dort gemeinsam mit der YPG/YPJ eine „Sicherheitszone“ errichten sollte, bereitete sich die türkische Armee auf den Einmarsch vor. Das Weiße Haus riet der türkischen Regierung mehrmals, von einem Angriff auf syrisch-kurdische Gebiete abzusehen.

Außenminister Tillerson leugnete jedoch auch, jemals den Aufbau der 30.000 Mann-Truppe in Nord-Syrien angekündigt zu haben. Allenfalls wäre die Presseerklärung falsch formuliert worden. Über dieses „Missverständnis“ wird sicherlich bei dem Treffen in den nächsten Tagen geredet werden, wenn die stellvertretende NATO-Generalsekretärin Rose Gottemoeller in die Türkei fährt. Für die AKP-Regierung ist es nicht hinzunehmen, dass die USA eventuell noch mehr Waffen an die KurdInnen in Syrien liefern würden, um sich ihr eigenes Einflussgebiet in Syrien auszubauen. Für Erdogan ist der Angriff auf Afrin ein heikles Unterfangen, obwohl dieser westliche Kanton abgeschnitten ist vom Rest der kurdischen Gebiete. Er geht das Risiko dennoch ein, denn er braucht auf Grund der innenpolitischen Lage außenpolitische Erfolge.

Während die Auswirkungen dieses Angriffs auf die türkisch-amerikanischen Beziehungen noch nicht sicher sind, ist bereits klar geworden, dass die USA die KurdInnen im Stich lassen. Schon während ihrer Allianz hatten sie die Hilfe für Rojava auf militärische Mittel beschränkt, die den USA dienten, und die Lieferung von Maschinen für den wirtschaftlichen Aufbau verweigert. Zweifellos stellt die Schwächung der KurdInnen auch einen Rückschlag für die USA dar, weil sie praktisch über keinen anderen einigermaßen verlässlichen Verbündeten in Syrien verfügen und somit nur wenig bei der Neuordnung des Landes „mitbestimmen“ können. Aber sie sind erst recht nicht bereit, eine weitere Verschlechterung der Beziehungen mit Ankara für die KurdInnen zu riskieren.

Sicherlich hat auch Russland den Angriff mit gemischten Gefühlen betrachtet. Aber es wurde klar, dass es diesen hinnehmen würde. Kurz vor dem Angriff auf Afrin wurden die dort stationierten Einheiten der russischen Armee zurückgezogen und auch das Flugverbot wird gegen türkische Kriegsflugzeuge nicht umgesetzt. Bereits vor einigen Tagen fand ein Treffen zwischen dem türkischen Geheimdienstchef, dem Generalstabschef und der russischen Regierung in Moskau statt, bei der wahrscheinlich das Vorgehen abgesprochen wurde. Hier ziehen zwei Kräfte am gleichen Strang, die sich somit der KurdInnen entledigen wollen und dadurch den einzigen zuverlässigen Partner der USA aus Syrien zunichtemachen würden.

Innenpolitische Gründe Erdogans

Aber hinter dem Angriff stecken auch wichtige innenpolitische Gründe. In der Türkei stehen 2019 stehen die wichtigsten Wahlen seit der Erdogan-Ära an. Spätestens im November werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahl gleichzeitig stattfinden. Dann treten die Verfassungsänderungen des Referendums von 2017 in Kraft. Wer diese Wahl gewinnt, wird demnach den Posten des neuen Staatsoberhaupts und auch des/r RegierungschefIn mit großer Macht bekleiden, da das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Die bisherigen Kandidaten sind Recep Tayyip Erdogan, der sich die Zustimmung der MHP bereits gesichert hat. Seine größte Rivalin ist Meral Aksener mit ihrer neu gegründeten Iyi Parti (GutePartei), einer Abspaltung von der MHP. Die Iyi erreicht in Umfragen bereits 20 Prozent und wäre damit nach der CHP die drittstärkste Partei im Parlament. Die MHP verliert momentan massiv an Stimmen und Mitgliedern und taugt höchstens noch als Steigbügelhalterin und Lückenfüllerin für die AKP.

Auch die HDP muss um ihren Einzug bangen, auch wenn sie in den Umfragen noch weit vor der MHP liegt. Der HDP droht jedoch das Verbot und ihre politischen FührerInnen befinden sich im Gefängnis. Da sich die AKP der misslichen Lage ihres einzigen Verbündeten, der MHP, im Klaren ist, wird momentan über eine Senkung der Hürde auf 5 % diskutiert. Ebenfalls als Vorbereitung auf die Wahl ist die Rücktrittswelle von AKP-BürgermeisterInnen zu sehen.

Prominentestes Beispiel ist der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, der nach 23 Jahren im Amt „freiwillig“ zurücktrat, nachdem beim Verfassungsreferendum 2017 das AKP Evet-Lager in Ankara knapp verloren hatte. So wie im Falle Gökçeks sollen die Posten nun durch erfolgversprechendere PolitikerInnen ausgetauscht werden.

Auch die CHP rüstet auf und wählte vergangene Woche Canan Kaftancıoğlu zur Vorsitzenden der Istanbuler und damit größten Ortsgruppe der Partei. Dass keine 24 Stunden nach ihrem Amtsantritt ein Verfahren gegen sie wegen Terrorpropaganda für die PKK und DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), der Erniedrigung des türkischen Staates und Beleidigung des Präsidenten eröffnet wurde, macht sie auf den ersten Blick sympathisch. In der Tat gehört sie zum linken Flügel der Partei, unterstützt offen die Kämpfe um Frauenrechte, bezeichnet den Genozid an den ArmenierInnen als solchen und war solidarisch mit den Gezi-Protesten sowie den KurdInnen in Kobanê. Außerdem verurteilte sie scharf diejenigen, die in der Nacht des Putsches vom 15. Juli 2016 das AKP-Regime brutal verteidigten und propagiert eine Aktionseinheit zwischen CHP und HDP. Die Hoffnung, dass mit ihrer Wahl ein neuer Wind in die CHP einzieht, der einigen dort zumindest die Augen öffnet, die sich noch Illusionen in eine Kooperation mit der AKP machen, entpuppt sich jedoch gerade als eine Illusion. Der CHP-Vorsitzende Kiliçdaroglu stimmte in den Kriegsrausch der AKP mit ein und erklärte am 19. Januar: „Kein Land kann die Einnistung von Terrororganisationen an seinen Grenzen dulden. Unserer heldenhaften Armee gilt unser Vertrauen und der Operation Olivenzweig unsere Unterstützung.“

Die Illusion vieler Linker, man könnte gemeinsam mit der CHP eine demokratische Front gegen die AKP aufbauen, wurde damit wieder einmal als vollkommen falsch entlarvt. Wer sich wirklich als demokratisch und solidarisch mit dem Kampf der Kurdinnen versteht, muss diese chauvinistische, rassistische Partei verlassen.

Doch Erdogan steht auch unter Erfolgsdruck. Die schwierige innenpolitische Lage zeichnet sich nicht nur an der Parteienkonstellation ab, auch ökonomisch wird es für die AKP zunehmend härter, sich zu behaupten. Die Verkündung des Mindestlohnes von 1600 Lira zu Beginn des Jahres löste einen Sturm der Empörung zumindest in den sozialen Medien aus. Der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK meint, man müsse mindestens 2300 Lira monatlich verdienen, doch den Mindestlohn würden allein die Regierung und die Arbeit„geber“Innen festlegen. Die Jugendarbeitslosigkeit habe zwar in den letzten Monaten abgenommen, liegt jedoch immer noch bei 20 %. Betrachtet man genauer, wo diese Jugendlichen arbeiten, stößt man meist auf hochgefährliche Arbeitsplätze wie in der Baubranche, wo jährlich dutzende Menschen durch Unfälle ums Leben kommen. Nach dem Militärdienst, der viele junge Männer traumatisiert, fehlen vor allem der ländlichen Bevölkerung Arbeits- und Ausbildungsperspektiven. Diese und andere Probleme setzen sich momentan nicht in großen Protesten auf der Straße um, sondern drücken sich eher in einer riesigen Fluchtbewegung nach Europa aus – in erster Linie der Mittelschicht, die sich das leisten kann.

Obwohl Erdogan auch rhetorisch in alle Richtungen schießt und sich scheinbar unbeeindruckt und stark zeigt, ist deutlich zu erkennen, dass er außenpolitische Erfolge und den türkischen Nationalismus braucht, um seine Herrschaft zu halten. Der Unterstützung der USA im Kampf gegen die KurdInnen nicht mehr sicher, das Gefühl, in Syrien rinne ihm der mühevoll aufgebaute Einfluss durch die Hände, und innenpolitisch mit schwindender Macht, holt er nun außenpolitisch zum Gegenschlag aus.

Der Angriff rollt

Am Morgen des 19. Januar kursierten Bilder von großen weißen Bussen im Internet, die im Süden der Türkei über die syrische Grenze fuhren. Hierbei handelte es sich nicht um eine Klassenfahrt, sondern bei näherem Betrachten überquerten dort die Klischee-Salafisten vom Dienst bzw. von der Dschabhat Fatah asch-Scham die Demarkationslinie, um gemeinsam mit dem türkischen Militär die YPG/YPJ in Afrin anzugreifen. Kurz darauf folgten die ersten Berichte über starken Beschuss der kurdischen Stellungen und die PYD verkündete, dass sie die Angriffe nicht nur in Nordsyrien zurückschlagen, sondern ihren Kampf gegen Erdogan auch in die Türkei tragen werde.

Doch der Kampf zwischen dem türkischen Militär und der PYD ist kein Kampf von gleich oder nur ähnlich starken GegnerInnen. Die Türkei, einer der wichtigsten Staaten im Bunde der NATO, füllt trotz aller Differenzen eine Schlüsselrolle für die USA zwecks Kontrolle über die Region aus. Die PYD wiederum ist eine Kraft, die zwar momentan als Teil der SDF und politisch stärkste Kraft in Nord-Syrien als Vehikel dient, um die Präsenz der USA zu begründen, stellt jedoch eine nicht-staatliche Militäreinheit dar, welche die Grenzziehung in Frage stellt.

Die Geschichte der KurdInnen ist dafür bekannt, kurzzeitig im Machtkampf für einen der Imperialismen eingespannt zu werden und davon profitieren scheinen zu können, indem ihnen Autonomierechte oder gar eigene Staaten versprochen werden. Am Ende werden sie jedoch wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Nun droht ihnen ein ähnliches Schicksal, da die USA durch eine permanente Kooperation mit der PYD die Hinwendung der Türkei Richtung Russland riskieren würden.

Mit der Zerschlagung der KurdInnen im Norden Syriens wäre einer der größten Störfaktoren bei der Neuordnung Syriens aus dem Weg geschafft. Daran hat nicht nur die Türkei, sondern auch Assad ein großes Interesse.

Welche Position müssen RevolutionärInnen in dieser Situation einnehmen?

Der Angriff auf die KurdInnen in Syrien ist ein reaktionäres, verbrecherisches Vorhaben der Türkei, das von allen imperialistischen Mächten geduldet wird. RevolutionärInnen müssen deshalb für die Niederlage der türkischen Armee und das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen im gesamten Nahen Osten eintreten.

Deshalb muss ebenfalls der sofortige Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei gefordert werden sowie der Abzug der deutschen Bundeswehr aus der Region. Um den berechtigten Aufstand gegen Assad und die demokratische Revolution in Syrien im Keim zu ersticken, wurden reaktionäre Kräfte wie die al-Nusra-Front (heute: Dschabhat Fatah asch-Scham) und andere Salafisten finanziert, die nun Seite an Seite mit der türkischen Armee kämpfen.

Die Grenzen zwischen der Türkei und Syrien müssen nicht für diese Kräfte, sondern für die syrischen Geflüchteten geöffnet werden – nieder mit der Grenzmauer! Der Eingriff der ImperialistInnen in Syrien transformierte den berechtigten Kampf der Opposition in einen der tödlichsten Konflikte des 21. Jahrhunderts. Kampf der türkischen Invasion! Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf! Sofortiger Abzug aller imperialistischen Kräfte!




Proteste gegen Gewalt an Frauen in der Türkei: „Wir trauern nicht, wir rebellieren“

Svenja Spunck, Infomail 800, 16. Februar 2015

Die Leiche der jungen alevitischen Kurdin Özgecan Aslan wurde am Mittwoch in einem Fluss in Mersin gefunden, einer Stadt im Südosten der Türkei. Sie wurde erst erstochen und dann verbrannt, weil sie sich gegen einen Vergewaltiger wehren wollte. Der Haupttäter ist zwar verschwunden, aber einige Männer aus seiner Familie, die an der Tat beteiligt waren, haben bereits gestanden. Sie kommen wohl aus dem Umfeld der faschistischen Bozkurt, der Grauen Wölfe. Auf Facebook hatten sie angekündigt, eine türkische Serie zu schauen, deren Plot damit beginnt, dass eine junge Frau vergewaltigt wird.

Zunahme von Gewalt gegen Frauen

Özgecan war auf dem Weg nach Hause und saß als letzte im Kleinbus, als der Fahrer sie angriff. Auf Grund ihrer Herkunft war sie in der Türkei ohnehin sozial benachteiligt. Doch an dieser Stelle möchten wir darauf eingehen, warum brutale Gewalt gegen Frauen in der Türkei kein Einzelfall ist. Seit der Regierung der AKP hat sie außerdem rasant zugenommen. Zwischen 2002 und 2009 stieg die an Anzahl der registrierten Fälle um 1.400 Prozent!

Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist eine konservativ-islamistische Partei, die seit 2002 die Türkei regiert. Ihre Politik gegen die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, gegen Nicht-Muslime und gegen ethnische Minderheiten wird autoritär durchgesetzt, wobei sie großen Rückhalt in der stark religiösen und wirtschaftlich-rückständigen Landbevölkerung hat. Schon am Beginn seiner politischen Karriere hat der ehemalige Bürgermeister von Istanbul und heutige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan verkündet „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Seit seine Partei an der Regierung ist, hat sich die Rhetorik noch verschärft. Seitdem Frauen auch nach bezahlter Arbeit suchen, würde die Arbeitslosigkeit steigen. Stattdessen sollten sie lieber zu Hause bleiben, schließlich gäbe es im Haushalt und mit den Kindern genug zu tun. Laut Erdogan solle jede Frau mindestens drei Kinder bekommen. Schwangere Frauen sollen auch nicht aus dem Haus gehen. Zu viel Gleichberechtigung würde dem Zusammenhalt der Familie schaden. Die Gewalt gegen Frauen hätte gar nicht zugenommen, das sei nur falsche Wahrnehmung.

Es sollen also nicht nur die Frauen selbst, sondern auch die Debatte um ihre Unterdrückung aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Mit einem neuen Gesetzespaket wurde auch das Strafmaß für Gewalt gegen Frauen gesenkt, aber über die allgemeine Einführung der Todesstrafe wird beraten.

Widerstand regt sich

Nach Özgecans Tod sind in vielen Städten mehrere tausend Frauen auf die Straße gegangen, mit dem Slogan „Wir trauern nicht, wir rebellieren!“. Das ist der richtige Ansatz. Natürlich ist diese Tat so unfassbar furchtbar, dass jedeR darüber traurig sein sollte, aber den vielen Frauen, die weiter unter dieser Gewalt leiden, ist durch Mitgefühl allein nicht geholfen.

Die gegenwärtige Wut und Mobilisierung sollte vielmehr Ausgangspunkt für eine starke Frauenbewegung werden, die gegen ihre strukturelle Unterdrückung kämpft. In der Türkei, in der v.a. die Familie nach wie vor eine sehr wichtige Rolle spielt, ist politische Organisierung für Frauen schon die erste große Hürde, die sie überwinden müssen. In den Gewerkschaften z.B. ist der Anteil von Frauen sehr gering, viele Männer verstehen nicht, warum sie sich mit Frauen gemeinsam organisieren sollen, schon gar nicht, wenn diese mit ihnen vermeintlich um den Arbeitsplatz konkurrieren. Doch zu diesem reaktionären Verständnis, das sich hinter vermeintlicher „Tradition“ versteckt, die man nicht hinterfragen soll, muss eine Alternative her!

Eine neue Frauenbewegung sollte sich von Beginn an als Teil der ArbeiterInnenbewegung, als proletarische Frauenbewegung verstehen. Die aktuellen Kämpfe der Gewerkschaften bieten einen Ansatzpunkt zur gemeinsamen Aktion. Aber es ist auch klar, dass eine solche Bewegung nicht nur in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch unter den Lohnabhängigen  gegen Chauvinismus, Sexismus und reaktionäres Gedankengut und Verhalten angehen muss.

Dazu ist es in erster Linie wichtig, dass sich Frauen untereinander treffen können, über ihre Unterdrückung sprechen und lernen, sich zu wehren. Özgecan hatte versucht, sich mit Pfefferspray zu wehren, doch sie war allein und hatte keine Chance. Gerade auf dem Land ist es wichtig, dass sich Frauen Selbstverteidigungsstrukturen schaffen.

Auf den Demonstrationen in den letzten Tagen wurde auch immer wieder betont, dass die Regierung maßgeblich Schuld daran sei, dass die Gewalt gegen Frauen zunimmt, dass die Täter nicht verurteilt werden und dass es als Normalität erscheint, dass Frauen erniedrigt und unterdrückt werden.

Der Anstieg von Gewalt gegen Frauen, die reaktionären Angriffe von Seiten der Regierung und der extremen Rechten sind auch eine Reaktion auf eine Veränderung in der Gesellschaft, die sich in den Protesten zeigt. Frauen werden in die Produktion, ins wirtschaftliche Leben gezogen, was oft mit Doppelbelastung und Überausbeutung einhergeht. Aber es unterminiert auch deren traditionelle Rolle in der patriarchalen Familie.

Die Parole „Wir trauern nicht, wir rebellieren!“ bringt zum Ausdruck, dass sich viele Frauen nicht mehr mit ihrer Rolle aus Dienerinnen, Unterdrückte und Opfer abfinden wollen. Damit kann aber auch der Grundstein gelegt werden für die Entstehung einer neuen proletarischen Frauenbewegung.




Die Türkei ein Jahr nach dem 15. Juli – Erdogans Gegenputsch triumphiert

Svenja Spunck, Infomail 954, 24. Juli 2017

Im Juli letzten Jahres fanden in der Türkei zwei Putsche statt, ein erfolgloser und ein erfolgreicher. Am Abend des 15. Juli verbreiteten sich rasend schnell Fotos in den sozialen Medien, die die Bosporus-Brücke zeigten, welche durch das Militär abgeriegelt wurde, und die Bombardierungen von Regierungsgebäuden in Ankara durch die Armee.

Bis heute ist nicht sicher, wer diesen Putsch geplant und durchgeführt hat. Glaubt man den Aussagen der AKP-Regierung und ihren AnhängerInnen, so waren es ganz eindeutig der in den USA lebende Fethullah Gülen und seine Hizmet-Bewegung, die ihren schon seit langem aufgebauten Staat im Staat auf diese Weise an die Macht bringen wollten. Um diese Bewegung zu diffamieren, wurde der Begriff „FETÖ“ ins Leben gerufen, was so viel wie „Fethullahistische Terrororganisation“ heißen soll.

Erdogans Putsch

Hunderttausende wurden unter dem Vorwurf – besser Vorwand – aus dem Staatsdienst entlassen, Mitglieder dieser Organisation zu sein – in erster Linie MitarbeiterInnen der Justiz und AkademikerInnen.

Und hierbei handelt es sich um den zweiten, den erfolgreichen Putsch, der bis heute ausgeführt wird. Die Webseite <www.turkeypurge.com> dokumentiert präzise, wie viele Entlassungen es seit dem 15. Juli 2016 gegeben hat, ebenso, wie viele JournalistInnen verhaftet wurden. Nicht nur die 274 inhaftierten JournalistInnen sollten dabei auffallen, sondern vor allem auch die nirgendwo offiziell registrierte Zahl von Medienschaffenden, die tagtäglich durch Hausdurchsuchungen, Internetsperren oder Ausreiseverbot drangsaliert werden.

So wie Erdogan und die AKP sich FETÖ als Zielscheibe für die Säuberung des Staatsapparates geschaffen haben, so liegt auch die Definitionsmacht darüber, wer zu dieser Organisation gehört, in ihren Händen. Es ist kein Geheimnis, dass die Gülen-Bewegung lange Zeit eine enge und gute Beziehung zur AKP und Erdogan pflegte und dabei half, die kemalistischen Eliten aus dem Staatsapparat zurückzudrängen. Sie wirkte auch tatkräftig bei allen Versuchen mit, die kurdische Bewegung zu zerschlagen und die Herrschaft des türkischen Staates im Osten zu stärken.

Die bekanntesten Beispiele dafür sind die Balyoz- und Ergenekon-Prozesse aus den Jahren 2010 bzw. 2013, so wie die KCK-Prozesse. Balyoz und Ergenekon sind Namen von mutmaßlichen Geheimorganisationen innerhalb des Militärs, die angeblich einen Putsch gegen die AKP-Regierung planten. Jedoch ging es hierbei vor allem um die Säuberung des Militärs von der Hegemonie der Kemalisten und die Ersetzung dieser durch Offiziere, die der AKP treu sind. Richter und Staatsanwälte in diesen Verfahren waren zum Großteil Anhänger der Gülen-Bewegung und wurden nun entlassen. Man könnte meinen, Erdogan bekomme langsam Angst vor der Position, die sich die Anhänger dieser Bewegung geschaffen haben. In den KCK-Prozessen ging es in erster Linie um die Vernichtung der Strukturen der kurdischen Bewegung. Zuletzt wurden im Mai 2017 gegen dutzende kurdische PolitikerInnen jahrelange Haftstrafen verhängt, jedoch einige Verurteilte konnten sich noch rechtzeitig ins Ausland absetzen.

Es muss betont werden, dass die Maßnahmen, die nun gegen (vermeintliche) Gülen-AnhängerInnen durchgeführt werden, für Linke und KurdInnen seit Jahren an der Tagesordnung sind. Die Absetzung und Inhaftierung demokratisch gewählter kurdischer BürgermeisterInnen wurde ab Mitte 2015 verstärkt, nachdem die AKP den Einzug ins Parlament mit einer absoluten Mehrheit verpasst hatte. Der Erfolg der HDP bei jenen Wahlen war es auch, der der Partei Erdogans zunächst einen Strich durch die Rechnung machte und die Einführung des Präsidialsystems blockierte.

Die Stimmen, die ihr dafür fehlten, sollten bei den Neuwahlen wieder reingeholt werden, auf die die Bevölkerung mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen vorbereitet wurde. Durch gefälschte und gestohlene Stimmen konnten sowohl die Wahlen im November 2015 als auch das Referendum im April 2017 gewonnen werden, wobei letzteres den wachsenden Unmut gegen die AKP in der Bevölkerung zeigte.

Rund zwei Millionen Stimmen mussten gefälscht werden, um den hauchdünnen Vorsprung der AKP zu sichern, Von einem „demokratischen Mandat“ kann hier wohl keiner sprechen. Die Proteste, die sich um dieses Referendum formiert hatten, sind nun leider wieder abgeebbt. Es fehlte vor allem an einer treibenden politischen Kraft, die diese bündeln und ihnen eine Perspektive aufzeigen konnte. Gerade solch eine Kraft zu finden, ist schwer in der heutigen Türkei.

Die Repressionswelle ist dafür ein Grund. Jede/n kann es wegen noch so kleiner „Vergehen“ treffen. Die Verurteilten müssen jahrelange Haftstrafen absitzen in Gefängnissen, wo sie Willkür erwartet und Folter droht. Erdogan bezeichnete den Putschversuch als ein Geschenk Gottes und wahrlich – er wurde „erhört“.

Die Gülen-Bewegung hatte Ende 2013 Korruptionsskandale um Erdogans Familie und weitere hochrangige AKP-PolitikerInnen veröffentlicht, für die er eigentlich hätte verurteilt werden müssen. In jedem Fall vertiefte sich der Graben zwischen der AKP und ihren einstigen Verbündeten. Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes konnte Erdogan noch vor der Einführung des Präsidialsystems alle Zügel in die Hand nehmen und sich mit diesem Rundumschlag sämtlicher Opposition weitgehend entledigen.

Unter dem Motto „Ein Volk, eine Fahne, eine Heimat, ein Staat“ versucht Erdogan, die Türkei unter großem Druck unter einem bonapartischen Regime zu vereinen, gegen sämtliche äußeren und vor allem inneren Feinde. Er präsentiert sich dabei als über den Gruppen stehende Verkörperung der „nationalen Einheit“ aller TürkInnen, aller MuslimInnen. Er stützt sich dabei auf eine reale Basis in Teilen der Bourgeoisie, vor allem aber auch des Kleinbürgertums in Stadt und Land. Der gescheiterte Putsch war für ihn der willkommene Anlass zur Säuberung des Staatsapparates und dazu, sich permanent diktatorische Vollmachten zu sichern, die Medien unter seine Kontrolle zu stellen, die bürgerlich demokratischen Rechte zu zerstören und „Demokratie“ als plebiszitäre, populistische Übung für die Absegnung der AKP-Politik zu verwenden.

Krise der Opposition

Rhetorisch und praktisch gibt es für ihn keinen Unterschied mehr zwischen friedlichen Oppositionellen und TerroristInnen. StudentInnen werden wegen Facebook-Posts zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Der Vorwurf lautet: Terrorpropaganda. AkademikerInnen, die entlassen wurden, fordern ihre Arbeit zurück und treten dafür sogar in den Hungerstreik. Die ArbeiterInnenbewegung, in der Türkei sowieso politisch und gewerkschaftlich schwach, bringt keine Proteste auf die Straße, geschweige denn finden politische Streiks statt. Die Repression gegen Gewerkschaftsmitglieder hält sich zwar in Grenzen, doch ein Großteil der Gewerkschaften steht seit Jahren sowieso unter der Kontrolle der AKP.

Die HDP, einst Hoffnungsträgerin der oppositionellen Kräfte und unterdrückten Minderheiten der Türkei, ist extrem geschwächt, nicht nur weil ihre Führung verhaftet ist, sondern weil ihre undemokratische Parteistruktur jeglichen Fortschritt und Einfluss linker und sozialistischer Gruppen lähmt. Vor allem hat sie es verabsäumt, bis heute eine politische und strategische Antwort auf die Bedingungen unter einem diktatorischen und zugleich populistischen Regime zu finden.

Die größte, kemalistische Oppositionspartei CHP, die erst der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten zustimmte, ist nun selbst von solchen Maßnahmen betroffen. Sie mobilisierte mehrere hunderttausend AnhängerInnen zu dem „Gerechtigkeitsmarsch“ auf die Straße. Die Gerechtigkeit, die dort gefordert wurde, galt in erster Linie für sie selbst. HDP-AnhängerInnen wurde es untersagt, mit ihren Parteifahnen am Protest teilzunehmen, und so reiht sich die CHP brav ein in den Tenor der Regierung, die versucht, die kurdische Bewegung als das größte aller Übel zu brandmarken. Zwar erntete auch sie für ihren Marsch hämische Kommentare aus der Regierung, doch die AKP ist sich wohl bewusst über die Rolle, in die sie die CHP drängen kann – die Rolle der zahnlosen Alibi-Opposition, die eine Diktatur von einer Demokratie zumindest dem Anschein nach unterscheidet.

Doch so gespalten die Opposition jetzt ist, so wichtig wäre ein entschlossener Widerstand gegen das Regime der islamistischen AKP. So allmächtig sich Erdogan auch gerne gibt – sein Regime steht auf eine unsicheren wirtschaftlichen und sozialen Grundlage. Es ist absehbar, dass die Türkei von einer wirtschaftlichen Krise getroffen wird, beispielsweise wenn die Immobilienblase platzt, auf der ein Teil des ökonomischen Erfolgs der AKP aufbaut. Ebenso kann sich der Kampf um die kurdischen Regionen weiter zuspitzen oder auch die Lage in Syrien verändern, in dessen Norden die türkischen Truppen demnächst einmarschieren wollen.

Dennoch reicht es nicht, auf die Krise und einen spontanen Aufstand zu warten, sondern in erster Linie müssen jetzt grundlegende demokratische Rechte zurückgefordert werden wie die Aufhebung des Ausnahmezustandes, Aufklärung über den Betrug während des Referendums, Freilassung aller verhafteten Abgeordneten, JournalistInnen, StudentInnen usw. Ein zweiter wichtiger Aspekt für den Aufbau einer politischen Massenmobilisierung könnte die Forderung nach Offenlegung des Geflechts aus Korruption, Vetternwirtschaft und privater Bereicherung rund um Erdogan, seine Familie und andere Teile der AKP und der KapitalistInnenklasse sein.

Dazu braucht es nicht nur international bekundete Solidarität, sondern eine internationale, sozialistische Organisation, die gemeinsam ein politisches Programm entwickeln kann, mit dem in der Türkei eine ArbeiterInnenpartei aufgebaut und die Herrschaft der AKP beendet werden kann.

Türkei und die imperialistischen Staaten

Heute ist die Türkei auf dem Weg in eine Diktatur, der man sich nicht nur mit moralischen Belehrungen oder Pazifismus entgegenstellen kann. De facto werden täglich Menschen verhaftet, von zu Hause oder ihrem Arbeitsplatz abgeholt und verschwinden jahrelang hinter Gittern. Manchen wird sogar verwehrt, mit einem Anwalt zu sprechen. Bei diesen Zuständen reichen keine hohlen Verurteilungen deutscher PolitikerInnen, die wesentlich zum Aufstieg Erdogans beigetragen und seine Armee mit Waffen beliefert haben. Während sie Moral einmahnen, werden kurdische Oppositionelle und Organisationen wie die PKK weiter als „TerroristInnen“ verfolgt und die EU-Außengrenzen in Zusammenarbeit mit der Türkei weiter für Millionen abgeriegelt. Der deutschen Regierung und der EU geht es nicht um Demokratie und Menschenrechte. Das ist reinste Heuchelei. Die Forderungen nach Sanktionen gegen die Türkei, nach einem „Kurswechsel“ der EU-Politik, also einem Aussetzen der Beitrittsverhandlungen, dienen vor allem dazu, die längerfristigen wirtschaftlichen und geo-strategischen Interessen des deutschen Imperialismus und der EU zu verfolgen. An Erdogan stört sie nicht, dass er zu diktatorischen Maßnahmen greift, sondern dass sich die Türkei gegenüber den herrschenden Mächten der westlichen Welt und v. a. gegenüber Deutschland und der EU unbotmäßig verhält. Die Drohung mit Sanktionen dient dazu, einer Regionalmacht zu zeigen, wo der Hammer hängt.

Umgekehrt versucht das türkische Regime, zwischen den konkurrierenden imperialistischen Mächten wie Russland, Deutschland, den USA zu manövrieren. Die reale Einbindung in die existierende globale wirtschaftliche und politische Ordnung wird das zwar nicht antasten, den Spielraum kann es jedoch erhöhen. Hinzu kommt, dass das Regime Erdogan jede Opposition nicht nur als AnhängerInnen von TerroristInnen aller möglichen Couleur hinzustellen vermag, sondern auch noch als von „außen“ gesteuerte, volksfeindliche Kräfte.

Die internationale Linke und ArbeiterInnen dürfen auch daher ihre Solidarität mit der Opposition in der Türkei, mit den Verfolgten, mit dem unterdrückten kurdischen Volk nicht im Schlepptau der imperialistischen und bürgerlichen „Türkei-Kritik“ betreiben. Im Gegenteil, sie müssen sich von der heuchlerischen und durch eigene, imperialistische Interessen diktierten Politik der deutschen Regierung oder der EU klar absetzen und die Forderung nach Sanktionen zurückweisen. Vielmehr sollte sich eine Solidaritätsbewegung um folgende Forderungen gruppieren:

– Offene Grenzen und Asyl für alle, die aus der Türkei flüchten! Öffnung der Grenzen und volle StaatsbürgerInnenrechte für alle Geflüchteten!

– Keine Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Türkei! Abzug der Bundeswehr wie aller NATO-Truppen!

– Aufhebung des Verbots der PKK wie aller anderen kurdischen und türkischen Organisationen!




Taksim: Ein türkischer Frühling?

Georg Ismael, Neue Internationale 181, Juli/August 2013

Seit Ende Mai wird die Türkei von einer riesigen Protestwelle erschüttert, welche die politische Landschaft stark verändern könnte. Der Auslöser für die Proteste, die Bebauung einer der letzten Grünflächen in der Innenstadt Istanbuls am Taksimplatz, hat sich zu einer Bewegung entwickelt, die die konservativ-islamische AKP-Regierung und ihre Reformen bekämpfen will.

Frauen und Jugend

In den ersten Reihen der Bewegung standen v.a. Frauen und Jugendliche. Zwei der sozialen Schichten, die besonders von den reaktionären Gesetzen der Regierung betroffen sind, z.B. durch das Alkoholverbot oder den Versuch öffentliches Küssen zu unterbinden.

Doch die Bewegung, die Millionen einen Monat lang auf die Straßen brachte und deren Ende nicht absehbar ist, war bisher trotzdem nicht in der Lage, die Regierung zu stürzen. Sie konnte Erdogan nur in Verlegenheit bringen. Letztlich sah er sich gezwungen, auf Grundlage eines Verwaltungsgerichtsbeschlusses seine Pläne für die Bebauung des Taksimplatzes aufzugeben. Doch gegenüber der Bewegung als solcher hat er mit weiterer Repression, einer ausgedehnten medialen und öffentlichen Hetze und Verhaftungswellen, besonders gegen zentrale AktivistInnen und kritische Journalisten geantwortet.

Das Verdienst der Bewegung ist allerdings weniger in der Verteidigung des Taksimplatzes zu sehen, dessen symbolischer Kampf durchaus weiterreichende Bedeutung erlangte. Sie hat dazu geführt, die türkische Arbeiterbewegung und die Linke wachzurütteln. Außerdem hat sie die Spaltungstaktik  der AKP offenbar gemacht. Der türkische Staat wird es in Zukunft schwerer haben, den Krieg gegen die KurdInnen zu führen, nachdem TürkInnen und KurdInnen gemeinsam in der Bewegung aktiv waren.

Auch die Selbstorganisierung der Massen, die oft zum ersten Mal in ihrem Leben aktiv in die offene Auseinandersetzung mit der Regierung und dem kapitalistischen Staat kamen, kann für die revolutionäre Linke Früchte tragen, die über die aktuellen Ereignisse hinausgehen. Die „Volksversammlungen“, die in vielen Städten und in den Istanbuler Bezirken die Proteste organisierten, sind Errungenschaften, die auch für kommende Mobilisierungen einen unschätzbaren Erfahrungswert darstellen.

Schwächen der Linken

Die türkische Linke ist in die Bewegung aus einer Position der Schwäche hineingegangen, die sich einerseits aus dem Militärputsch aus den 80er Jahren erklärt, andererseits aus ihrem maoistisch/ stalinistischen Erbe, dessen Strategie – wie auch in den aktuellen Protesten – den Weg zu den Massen auf einer revolutionären Grundlage verbaut. Auch die organisierte Arbeiterbewegung in Form der Gewerkschaften ist schwach und politisch kraftlos. Von den ArbeiterInnen in der Türkei sind nur 10% gewerkschaftlich organisiert. Die Gewerkschaften selbst haben sich auf einer reformistischen Grundlage mit den kapitalistischen Verhältnissen arrangiert. Aber ohne die Kraft der organisierten ArbeiterInnenbewegung und ohne ein Programm, das diese ausschöpfen kann, ist der Sturz von Regierungen wie dem Erdogan-Regime undenkbar. Dazu wäre ein unbegrenzter Generalstreik nötig.

Für die Linke in der Türkei und den kurdischen Gebieten gilt es daher, nicht nur die Errungenschaften der aktuellen Bewegung zu loben. In der nahen Zukunft wird es besonders wichtig sein, die Kampfkraft der Bewegung zu nützen, um sich gegen Angriffe des Regimes, die Verhaftungswellen und neue reaktionäre Gesetze zu stemmen. Die „Volksversammlungen“ müssen zu landesweiten Aktionskomitees der Jugend, der städtischen und ländlichen Armut, sowie der ArbeiterInnen mit Delegiertenstruktur werden. Dabei ist es besonders wichtig, auch die Gewerkschaften zu integrieren. So kann nicht nur die Organisation der ArbeiterInnenbewegung gehoben werden, sondern gleichzeitig eine Auseinandersetzung über das Programm dieser Bewegung geführt werden, die mit der Volksfrontpolitik des Maoismus/Stalinismus bricht und ihr ein revolutionäres Übergangsprogramm gegenüberstellt