Interview zur Lage in Kurdistan

Interview mit Gulistan, Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland, Infomail 1223, 27. Mai 2023

Morgen, am 28. Mai, findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Das folgende Interview wurde bereits vor der ersten Runde gemacht. Es kann daher nicht auf den Ausgang des ersten Wahlgangs eingehen, wirft aber ein deutliches Licht auf das Erdogan-Regime, seine Verbindungen zum westlichen Imperialismus und die Lage in Kurdistan. Auch wenn wir nicht alle Positionen der Interviewten teilen, so halten wir es für notwendig, authentische Berichte auch auf dieser Seite zu verbreiten.

Wir haben Gulistan von YJK-E (Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland) zu einem Gespräch getroffen. Sie ist in München geboren, aber ihre Wurzeln liegen in den von der Türkei besetzen Gebieten in Nordkurdistan.

Sie bezeichnet sich selbst als Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte.

arbeiter:innenmacht: Was ist es für eine Struktur, in der du aktiv bist? Welchen Austausch gibt es mit Kurd:innen international?

Gulistan: Unser vollständiger Name lautet „Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland e. V.“. Wir kurdischen Frauen sind bundesweit mit lokalen Vereinen in jeder größeren Stadt als YJK-E vertreten. International gehören wir der Dachorganisation „Kurdische Frauenbewegung in Europa“ an. Als Verein sind wir außerdem Teil der TJK-E.

Unsere Frauenstrukturen sind zwar größtenteils kurdisch, aber auch offen für Frauen türkischer Herkunft und alle, die sich einbringen möchten.

In München haben wir etwa 20 aktive Mitglieder, die kurdische Community ist jedoch wesentlich größer. Unser Verein ist hier gut vernetzt und beteiligt sich u. a. an Bündnissen zum 8. März oder 25. November (Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen), aber auch an weiteren Aktionen mit Bezug zu frauenpolitischen Themen.

Einmal im Jahr treffen sich unsere lokalen bzw. nationalen Verbände zu einer internationalen Konferenz. Dieses Jahr fand sie in Hamburg statt und fast die ganze Welt war zugegen, was uns wegen der teils schwierigen Lage vor Ort besonders freut.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet unsere Öffentlichkeitsarbeit mit Fokus auf Kurdistan und hier insbesondere Rojava.

arbeiter:innenmacht: Rojava ist vielen Aktivist:innen in Deutschland ein Begriff. Bitte schildere uns aus deiner Sicht, durch was es sich auszeichnet!

Gulistan: In Rojava, bestehend aus den 3 Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê, wird Basisdemokratie gelebt!

Die Schriften Abdullah Öcalans bilden die Grundlage unserer politischen Arbeit. Die von ihm formulierten Thesen zu (Basis-)Demokratie und Alternativen zum Kapitalismus, Frauenbefreiung und Ökologie bilden auch die 3 Säulen, die beim Aufbau und im Kampf um Rojava eine zentrale Rolle einnehmen.

Trotz des anhaltenden Krieges der Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ gegen den IS und den türkischen Staat ist eine autonome Region entstanden, die als eine Art Räterepublik konzipiert und nach dem Prinzip des demokratischen Konföderalismus aufgebaut ist. Das bedeutet, dass jede/r stimmberechtigt ist, um die jeweilige Kommune nach seinen/ihren Bedürfnissen aufzubauen, frei von jeder Machtherrschaft. Die Menschen stimmen z. B. über Wasserversorgung oder Weizenanbau ab, was in dieser Region (über)lebenswichtigen Entscheidungen gleichkommt.

Im täglichen Leben der Menschen vor Ort zeigt sich dabei auch die Verbindung politischer und ökologischer Fragestellungen. Efrîn z. B. verfügt über mediterranes Klima und ist daher besonders für den Anbau von Oliven geeignet. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dort Kooperativen zu gründen. Die vorhandenen Ressourcen werden mit Rücksicht auf die Natur genutzt, nach den Bedürfnissen der Menschen anstatt wie in der kapitalistischen Verwertungslogik durch Ausbeutung von Mensch und Natur unter Profitzwang.

In Sachen Frauenbefreiung hat unsere Revolution schon früh begonnen. Bereits in den 1980er Jahren, kurz nach Gründung der PKK, haben sich Mädchen, die nicht wie vorgesehen verheiratet werden wollten, dem Kampf angeschlossen. Es entstand eine Bewegung, die wiederum eine eigene Dynamik entwickelt und Frauen dazu gebracht hat, Forderungen nach Selbstbestimmung zu formulieren. Schon Öcalan hat dazu formuliert und aufgerufen, dass Frauen sich eigenständig organisieren. Zusätzlich zu den eigenen Strukturen haben wir kurdischen Frauen uns auch in Seminaren ideologisch gebildet und führen nun seit mehr als 40 Jahren den Kampf weiter, den unsere Schwestern begonnen haben.

Uns ist es wichtig, Sichtbarkeit zu schaffen und zu verdeutlichen, warum dieser Kampf Menschen und besonders Frauen weltweit betrifft und deshalb interessieren sollte.

Im Kampf der Frauen in Iran wird deutlich, was auch Öcalan bereits formuliert hat: „Jin – Jiyan – Azadi“ ist für uns nicht nur ein Slogan, sondern eine Lebensweise, Lebenseinstellung, eine grundsätzliche Haltung.

Der Befreiungskampf in und um Rojava steht für uns deshalb stellvertretend für alle emanzipatorischen Bewegungen und soll ein Exempel statuieren, indem er Aufmerksamkeit für die gesamte Weltregion erzeugt.

arbeiter:innenmacht: Welche Auswirkungen hatte das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien? Es gab eine große Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, auch aus Deutschland.

Gulistan: ANF (kurdischer Nachrichtendienst) Deutsch berichtet von 250.000 Toten, die türkische Regierung hingegen gibt offizielle Zahlen um die 50.000 heraus. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele der nicht geretteten und gestorbenen Menschen weiterhin unter Trümmern begraben liegen und bisher keine Bergung stattgefunden hat.

Es gab zusätzlich viele Tote durch Erfrierungen. Sofern sie konnten, sind die Menschen zu Verwandten in andere Metropolen oder Nachbarstädte geflohen.

Als Sofortmaßnahmen sind zwar Zeltstädte entstanden, diese sind aber keine Dauerlösung, da es dort keinen stabilen Zugang zu Wasser, Strom, Medikamenten und Nahrung gibt.

Von der AFAD (türkische Katastrophenschutzbehörde) als zuständiger und dem Innenministerium beigeordneter Organisation kam nicht die erforderliche Hilfeleistung.

Stattdessen hat die Zivilbevölkerung Nothilfe geleistet. Auch viele Menschen aus Deutschland mit Familie oder Verbindungen vor Ort haben hier Menschen bei sich aufgenommen und eine enorme Solidarität gezeigt.

Dies ist umso wichtiger, da das AKP-Regime Konvois daran gehindert hat zu passieren und Hilfsgüter beschlagnahmt hat. Um diesen Kontrollen zu entgehen, haben einige Konvois die türkische Fahne angebracht, um auf diese Weise getarnt durchgewunken zu werden.

Mehr als eine Woche lang kam keine Hilfe an, was nur zum Teil der korrupten AKP-Regierung geschuldet ist. Seit dem letzten schweren Beben 1999 wird zwar speziell für solche Fälle eine Steuer erhoben, die Kassen sind aber leer und es wurden keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Es gibt auch viel zu wenig Personal, welches schlecht geschult ist. Die Gelder sind versickert und vermutlich zu einem großen Teil in die türkische Kriegsmaschinerie sowie die Unterstützung des IS geflossen.

Aus diesem Grund hat die kurdische Community gezielte Spendenaufrufe für Medico International, Ärzte ohne Grenzen und den Kurdischen Roten Halbmond gestartet. Letzterer wurde 1993 als kurdische Nichtregierungsorganisation bewusst unabhängig vom türkischen Staat gegründet. Bisher sind weltweit allein dort rund 2 Millionen Euro an Spenden eingegangen.

Das Ausmaß an Korruption und die zynische Skrupellosigkeit der türkischen Regierung zeigen sich auch daran, dass Spenden an DITIB-Moscheen und andere türkische Institutionen bei Erdogan gelandet sind anstatt bei den Menschen, die dringend Hilfe benötigen (DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.).

Das Erdbeben am 6. Februar 2023 war eine Naturkatastrophe, aber eine korrupte Regierung ist keine Naturkatastrophe. Man kann und muss etwas gegen sie unternehmen.

arbeiter:innenmacht: Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die türkischen Präsidentschaftswahlen?

Gulistan: Für mich ist klar, dass diese Wahlen weder demokratisch noch frei sind.

Interessant im Vergleich zu früheren Wahlen ist aber, dass durch das schwere Erdbeben viele Menschen die Verlogenheit und Korruption des Regimes erkannt haben. Sie haben die oben beschriebene Selektion bei der Vergabe von Hilfen bemerkt, wodurch die Spaltung zwischen Kurd:innen und Türk:innen sichtbarer denn je wurde. Die Menschen selbst waren untereinander solidarischer als die Politik, die selektiert und in großen Teilen versagt hat.

Eine wichtige Rolle spielt auch das Parteiverbot der HDP (Demokratische Partei der Völker; linksgerichtete Partei in der Türkei, die sich für Minderheitenrechte insbesondere der Kurd:innen einsetzt). Dies ist raffiniert, weil ein Vorgespräch bei Gericht und die Verhandlung erst nach den Wahlen angesetzt sind. Wegen anhaltender Repression wurde schon vor einigen Jahren die Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei; YSP) als Alternative zur HDP gegründet. Diese grüne Linkspartei ist zur Wahl zugelassen und konnte antreten, unabhängig vom Ausgang des Gerichtsverfahrens gegen die HDP. Es gab daher den Aufruf an alle Kurd:innen, diese Partei zu wählen.

Aus den genannten Gründen wird dieses Mal ein knapper Wahlausgang prognostiziert. Erdogan wird aber sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um durch Manipulationen das Ergebnis zu seinen Gunsten zu drehen. Er wird seinen Posten nicht einfach räumen.

Erwähnenswert ist noch, dass die YSP international um unabhängige Wahlbeobachter:innen gebeten hatte, dies aber vom EU-Parlament abgelehnt wurde. Leider zeigt sich auch hier der Einfluss des Erdogan-Regimes und seine Verflechtungen auf internationaler Ebene. Die Türkei wollte dies schlicht nicht. Doch auch ohne unabhängige Wahlkommission sind solidarische Menschen als Delegation ins Land gereist und haben diese Aufgabe übernommen.

arbeiter:innenmacht: Die kurdische Geschichte ist stark von Krieg und Vertreibung geprägt. Inwiefern sind auch Deutschland, die EU und die NATO daran beteiligt?

Gulistan: Man darf die Interessen der einzelnen Länder untereinander nicht vergessen. Noch im Osmanischen Reich, schon vor dem Genozid an den Armenier:innen, gab es enge Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. An der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wird dies am deutlichsten: Rund 7.000 deutsche Unternehmen profitieren von Steuervorteilen in der Türkei.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zugeständnisse der Vergangenheit durch die EU als Ganzes sowie einzelne europäische Staaten Erdogan erst dazu verhalfen, der Autokrat und Diktator zu werden, der er heute ist.

Der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen Deutschland und der Türkei sowie der Krieg gegen kurdische Gebiete, den die Türkei mit ihren NATO-Verbündeten führt, zeigen deutlich, dass es nicht Erdogan alleine ist, der Politik gegen uns Kurd:innen und andere Gruppen oder Minderheiten betreibt. Er ist vielmehr Mittel zum Zweck: Erdogan und seine AKP sind gewissermaßen die Türsteher:innen des Nahen Ostens. Erdogan hat eine Schlüsselfunktion darin, was er zulässt und was nicht.

Daher wird der völkerrechtswidrige Krieg von Erdogan gegen kurdische Gebiete nicht von Deutschland kritisiert. Vielmehr lässt man ihn gewähren.

Wir Kurd:innen in der Diaspora merken das sehr: Angela Merkel oder Olaf Scholz z. B. können sich ja schlecht hinstellen und sagen, dass sie Blut an ihren Händen kleben haben. Trotz vermeintlichen Stopps von Waffenlieferungen gab und gibt es diese weiterhin. Dies wurde nicht zuletzt durch die Recherchearbeit kurdischer Aktivist:innen und Politiker:innen aufgedeckt.

Allgemein kommen kurdische Anliegen sehr wenig in deutschen Medienberichten vor, hauptsächlich dann, wenn es wirklich schwerwiegende Angriffe in der Region gibt. Es müsste ein wesentlich größeres Politikum sein, wenn Menschen in Iran und auch im Nordirak bei Drohnenangriffen getötet werden.

Im Schatten des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen hat Erdogans korruptes und faschistisches Regime das Gebiet um Rojava unter Beschuss genommen. Dabei kommen nachweislich auch Chemiewaffen zum Einsatz, die teilweise von Deutschland bzw. deutschen Rüstungsfirmen geliefert wurden.

Unser Anliegen ist daher auch, gezielte Kriegsgewalt gegen Zivilist:innen überall auf der Welt sichtbar zu machen und zu versuchen, sowohl Femizide als auch Ekozide, also Verbrechen an Natur und Umwelt, zu stoppen.

arbeiter:innenmacht: Wie beurteilst du die Bedingungen für eure politische Arbeit?

Gulistan: Bundesweit erleben wir Kurd:innen allgemein und wir Aktivist:innen im Besonderen eine Verstärkung von Repression. Dies ist aber nur die Fortsetzung einer anhaltend strikten Vorgehensweise gegen uns Kurd:innen.

In München gab es Probleme mit der Präsidentschaftswahl, da das türkische Konsulat uns Kurd:innen vielfach als nicht wahlberechtigt anerkannt hat. Wahllokale wurden nicht geöffnet und Menschen, die als Aktivist:innen bekannt sind, wurden aktiv am Wählen gehindert.

Wenn kurdische Personen z. B. die Versammlungsleitung bei Demonstrationen übernehmen, kommt es immer wieder vor, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung oder der Pass nicht verlängert wird. Dadurch werden wir Kurd:innen in Deutschland illegalisiert. Das türkische Regime setzt die deutsche Regierung über seine Konsulate stark unter Druck.

Auslieferungen eben auch politischer Gefangener zwischen Deutschland und der Türkei finden regelmäßig statt. Die Zusammenarbeit deutscher mit türkischen Geheimdiensten ermöglicht erst die bundesweite Repression gegen Kurd:innen.

Menschen, die mutig sind und sich zeigen, setzen sich der Gefahr aus, dass neben dem türkischen Staat auch die Bundesrepublik mit Ablehnung und, schlimmer, Repressalien reagiert.

Dies dient eindeutig der Einschüchterung der kurdischen Bewegung als Ganzer und soll unseren Widerstand klein halten oder gar brechen.

arbeiter:innenmacht: Was sind angesichts der vielen Brandherde in der Welt eure aktuellen Schwerpunkte? Was hoffst du persönlich, mit deinem politischen Engagement zu bewirken? Was ist dein wichtigster Appell?

Gulistan: Aktuell liegt unser Fokus auf unseren gemeinsamen Kämpfen mit „Women Defend Rojava“. Wir sind außerdem Teil der Initiative „Defend Kurdistan“. Vor kurzem begann im Rahmen unserer internationalen Konferenz auch unsere Kampagne „1.000 Gründe, den Diktator anzuklagen“. Anlässlich der Wahlen in der Türkei haben wir u. a. nochmals kritisiert, dass Erdogan verfügt hat, aus der internationalen Istanbulkonvention für Frauenrechte auszutreten.

Unser Anliegen ist, die Vernetzung sowohl kurdischer Frauen untereinander als auch den gemeinsamen Kampf für unsere Ziele mit anderen Organisationen voranzutreiben. Für uns als Internationalist:innen bedeutet das, weltweit unsere Forderungen zu vertreten und ein Bewusstsein für unsere Themen zu schaffen. Ein wichtiger Schritt für uns Kurd:innen ist dabei, an politischem Einfluss zu gewinnen und dadurch die Möglichkeit zu bekommen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich persönlich wünsche mir für alle Menschen ein würdevolles Leben in Freiheit, Gleichberechtigung und eine Welt ohne Kriege.

Wir haben eine einzige Welt, machen wir das Beste daraus!

arbeiter:innenmacht: Wir danken dir für das Gespräch und freuen uns über die weitere solidarische Zusammenarbeit.




10 Jahre Rojava: Errungenschaften und Irrwege

Robert Teller, Neue Internationale 267, September 2022

Im Juli 2012 übernahmen bewaffnete kurdische Kräfte die politische Kontrolle in den Regionen Kobanê, Afrin (Efrin) und al-Hasaka Nordsyriens – Zeit für eine kurze Bilanz der Errungenschaften in Rojava.

Syrische und kurdische Revolution

Der Übergang der Macht vom syrischen Regime in die Hände kurdischer Organisationen fand statt im Zuge der Syrischen Revolution von 2011. Im Juli 2012 hatte das Regime die Kontrolle über die drittgrößte Stadt Homs bereits verloren. Am 18. Juli 2012 gelang Aufständischen in Damaskus der bis dahin folgenreichste direkte Schlag gegen das syrische Regime, der den amtierenden und stellvertretenden Verteidigungsminister das Leben kostete. In Aleppo brach der Aufstand am 19. Juli offen aus. Das Regime der Baath-Partei schien zu dieser Zeit so geschwächt wie noch nie. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli übernahmen kurdische Kämpfer:innen, unterstützt von unbewaffneten Zivilist:innen, unblutig die Kontrolle in Kobanê.

Die Sicherheitskräfte des Regimes wurden entwaffnet und nach Hause geschickt. Ähnliches ereignete sich in den darauffolgenden Tagen an zahlreichen anderen Orten. Vereinzelt leisteten Assads Polizei und Militär Widerstand. Sie mussten jedoch bald einsehen, dass Verstärkung aus anderen Landesteilen nicht zu erwarten war. Der Gewaltapparat der Regierung war in anderen Teilen des Landes massiv unter Druck und nicht in der Lage einzugreifen. Für das syrische Regime wurde die Machtfrage vor allem in Damaskus, Homs und Aleppo entschieden – für die PYD (der syrische Zweig der PKK-Bewegung) aber allein in Rojava.

Dass letztere die politische Führungsrolle der Umwälzung in Rojava einnehmen konnte, lag nicht zuletzt an der Stärke der von ihr aufgestellten bewaffneten Verbände, die im Angesicht einer jederzeit drohenden gewaltsamen Zerschlagung durchaus wichtiger war als jede der utopischen Ideen, die erdacht wurden.

Die seitdem in Rojava errichtete autonome Administration ist heute die letzte demokratische Errungenschaft der Syrischen Revolution von 2011. Weltweit bekannt wurde Rojava während der Belagerung von Kobanê Ende 2014 durch den Islamischen Staat. Die Stadt war zeitweise durch IS-Kräfte und die geschlossene türkische Grenze von jeder Versorgung abgeschnitten, der IS kontrollierte bereits den Ostteil der Stadt. Dass er in dieser aussichtslos erscheinenden Lage letztendlich doch zurückgeschlagen werden konnte, verschaffte der syrischen PKK-Bewegung hohe Anerkennung unter den Massen. Die Verteidigung von Kobanê ist auch einer Welle von Solidarität zu verdanken. Vor allem Kurd:innen aus der Türkei leisteten Unterstützung. Doch auch aus Europa wurde durch Spendensammlungen erhebliche materielle Unterstützung geleistet. Aus Sicht der US-Regierung war die Schlacht um Kobanê die Feuertaufe ihres künftigen Verbündeten, der auserkoren wurde, das Fiasko der gescheiterten Irak-Besetzung einzugrenzen und den Zerfall der staatlichen Ordnung durch den Vormarsch des IS aufzuhalten.

Verteidigt Rojava!

Die seit 10 Jahren permanente Bedrohung einer gewaltsamen Zerschlagung Rojavas zeigt, wie prekär die Selbstverwaltung im Rahmen der gegenwärtigen Grenzen, unter Anerkennung der von imperialistischen Mächten auferlegten staatlichen Ordnung nur sein kann. Der Sieg über den IS hat die Bedrohung Rojavas nicht beseitigt, sondern einen neuen Krieg eröffnet, in dem der US-Imperialismus allerdings weitaus geringeres Interesse für die kurdische Seite zeigte. Der entscheidende Beitrag der kurdischen Kräfte in der US-geführten Militärkampagne schützte sie nicht vor den darauffolgenden türkischen Angriffen. Trotz der von der PYD immer wieder versicherten Anerkennung der syrischen Grenzen stellt die Autonomie in Rojava diese zur Disposition, wie die wiederholten türkischen Überfälle zeigen, die 2018 zur Zerschlagung Afrins und 2019 zur Einrichtung einer „Pufferzone“ entlang der türkischen Grenze geführt haben. Die Türkei hat wiederholt ihre Absicht erklärt, ihre Kontrolle entlang des Grenzverlaufs auszudehnen.

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Hierzu ist kein romantisierender Blick auf die kurdischen Freiheitskämpfer:innen notwendig. Die Anerkennung der arabischen, kurdischen und aramäischen Sprache als gleichberechtigt, die Gewährleistung politischer Repräsentanz für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Bewaffnung von Frauen und ihre Gleichstellung in rechtlichen Fragen, die Abschaffung der religiösen Gesetzgebung markieren einen Bruch mit der Herrschaft der Baath-Partei, die jahrzehntelang über die kurdischen Regionen mit systematischer wirtschaftlicher Vernachlässigung, Umsiedlungen, Enteignungen und Repressalien regiert hat wie eine Kolonialmacht.

Dass die Türkei die Drohungen der vergangenen Monate noch nicht wahrgemacht hat, liegt daran, dass der US- und russische Imperialismus aus jeweils eigenen Motiven bislang keine Rückendeckung für eine weitere Militäraktion ausgesprochen haben. Die USA befürchten durch die Schwächung Rojavas eine Rückkehr des IS und einen neuen Strudel der Destabilisierung in der Region. Russland argumentiert für das irakische Modell, die Reintegration in den syrischen Staat. In beiden Positionen drückt sich letztlich das Ziel einer geordneten Abwicklung jeder ernsthaften kurdischen Selbstbestimmung, einer konterrevolutionären Stabilisierung aus. Die Türkei arbeitet darauf hin, dass ihre Vermittlungsrolle im aktuellen imperialistischen Hauptkonflikt Ukraine mit einem Geschenk auf dem Nebenschauplatz Syrien honoriert wird.

Der dritte Weg?

Die neutralistische Position der PYD gegenüber der syrischen Revolution bestärkte 2012 die Entscheidung des Regimes, sich aus Rojava zurückzuziehen. Sie enthält aber einen grundsätzlichen politischen Widerspruch: objektiv Teil einer allgemeineren revolutionären Umwälzung zu sein, dieser aber politisch gleichgültig gegenüberzustehen. In den städtischen Zentren, wo die Machtfrage entschieden wurde, stand sie zwischen den Fronten und versuchte, die kurdischen Viertel vom Verlauf der Syrischen Revolution abzuschirmen.

Eine Folge dessen war, dass die syrische Arbeiter:innenklasse – auch deren große kurdische Minderheit mit Verbindungen nach Rojava – nicht zur Verteidigung Rojavas mobilisiert wurde. Unter den arabischen Oppositionskräften setzte sich die chauvinistische Ablehnung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts durch, die auch die Herrschaft der Baath-Partei geprägt hat. Die Klassenbasis für ein autonomes Rojava wurde damit auf das ländliche Kleinbürger:innentum und die Kleinbäuerinnen/-bauern dieser Regionen reduziert. Unter diesen Bedingungen und durch das weitgehende Handelsembargo der Nachbarländer rückten die Selbstversorgung Rojavas mit Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern, der Aufbau von Kooperativen und eine begrenzte Landreform der staatlichen Anbauflächen in den Mittelpunkt. Ob dies nun als Verwirklichung einer sozialen Utopie bezeichnet wird oder als pure Notwendigkeit in einer jahrzehntelang besonders schwer unterdrückten Region – an der Realität ändert es nichts.

In Teilen der Linken scheinen sich die Sympathien für die Revolution in Rojava gerade am Zauber ihrer Widersprüche zu entzünden: ein Staat, der keiner ist (obwohl er über Armee, Polizei, Regierung und Justiz verfügt); den Kapitalismus überwinden, ohne das Kapital zu enteignen; die Hymne der Nation singen, die als bereits überwunden gilt; Macht besitzen und zugleich verachten; Überwindung von Grenzen durch Rückzug ins Dorf; Bekämpfung des Patriarchats durch Rückbesinnung auf Tradition.

Diejenigen Teile der westlichen Linken, die Rojava nur als Quelle von Inspiration schätzen, blicken dort in einen Spiegel ihrer eigenen libertären Flausen: von der Wichtigkeit „reiner Demokratie“, vom Weg als Ziel, von der Falschheit jeder objektiven Wahrheit und der Wahrheit des Subjektiven. Die eigene Isolation im befreiten linken Zentrum erscheint dann doch als der goldrichtige Weg. Mit den richtigen utopischen Ideen könnte ja noch ein zweites Rojava draus werden.

Die in den 1990er Jahren politisch „gewendete“ PKK-Bewegung hat ganz ähnlich wie ein Teil der Globalisierungsgegner:innen Ende des Jahrtausends einen Rechtsruck vollzogen, indem die Macht der Unterdrückten als revolutionäres Potenzial gegen den Staat als „utopisch“ verworfen und durch die wirklich utopische Vorstellung ersetzt wurde, den Staat einfach überflüssig zu machen, indem man beginnt, das schöne Leben aufzubauen.

Im Fall der PKK beinhaltete dies auch eine Anpassung ihres Programms an das Scheitern ihres bisherigen bewaffneten Kampfes für einen unabhängigen Staat im türkischen Teil Kurdistans. Es erschien als realistischer, im Rahmen der bestehenden Ordnung graduelle Verbesserungen zu erkämpfen, die nicht mit der bestehenden staatlichen Ordnung in Konflikt geraten. Dass die PKK-Bewegung einmal unverhofft in eine Lage stolpern würde, wo sie die Machtfrage würde stellen müssen, ist eine Ironie der Geschichte. Dass sie dabei über ihr eigenes Programm des Machtverzichts hinausging, kann keine Grundlage für Kritik sein.

Natürlich muss im Angesicht einer drohenden gewaltsamen Zerschlagung der Selbstverwaltung die Verwirklichung von Basisdemokratie der militärischen Notwendigkeit untergeordnet sein. Erstere reduziert sich auf die Organisation einer lokalen Bedarfsökonomie. Die Schwächen des in libertäre Wolken gehüllten, eigentlich urreformistischen Programms der neuen PKK wurden so aber tendenziell verschleiert.

Diese Schwächen ändern zwar nichts am progressiven Charakter der demokratischen Errungenschaften in Rojava, die jede Unterstützung der Arbeiter:innen- und demokratischen Bewegungen anderer Länder erhalten sollten. Diese drohen aber, im Tausch gegen einen offiziellen Autonomiestatus im syrischen Staat unter den Tisch zu fallen. Eine Einigung zwischen dem syrischen und türkischen Regime dürfte dabei als erste Vorbedingung die Entwaffnung Rojavas zu erfüllen haben. Einem solchen reaktionären Deal hätte das heute isolierte Rojava nach den Siegen beider wenig entgegenzusetzen.Die Verteidigung Rojavas vor einer drohenden Zerschlagung oder Vereinnahmung kann aber auch Ausgangspunkt sein, diese zu durchbrechen und den Kampf mit der demokratischen und sozialen Frage in der Türkei, in Syrien und dem Irak zu verbinden. Die kurdische Selbstbestimmung kann nur im allgemeineren Kontext der permanenten Revolution im Nahen Osten weiter ausgebaut und verteidigt werden. Deren Haupthindernis ist wie auch in Rojava vor allem eine Führungskrise, das Fehlen einer revolutionären Partei, die die Massen für diese Verallgemeinerung des Befreiungskampfes gewinnt. Zwei programmatische Standpunkte sollten zentrale Lehren der vergangenen 10 Jahre sein: die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller unterdrückten Nationen, um diese als Verbündete für die Revolution zu gewinnen, und die Schaffung einer sozialistischen Föderation von Staaten im Nahen Osten, die Verknüpfung der demokratischen Revolution mit der Umwälzung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die in Widerspruch zu jeder demokratischen Errungenschaft geraten müssen.




Türkei: Solidarität mit der HDP!

Dilara Lorin, Infomail 1144, 4. April 2021

Das Verbot der einzigen linken Oppositionspartei im türkischen Parlament, der HDP (Halkların Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker), wurde am 31. März vom Verfassungsgericht wegen formaler Fehler noch einmal abgelehnt. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die immer unverhülltere Diktatur Erdogans verschärft seit Monaten die Angriffe auf sämtliche demokratischen Bewegungen, auf die ArbeiterInnenklasse und vor allem auch auf die HDP und die unterdrückte kurdische Nation.

Woche für Woche werden Oppositionelle festgenommen. So wurden in einer Woche über 100 StudentInnen inhaftiert, weil sie gegen den von Erdogan eingesetzten Rektor an ihrer Uni protestierten. Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention (siehe dazu „Frauen wehren sich gegen Erdogans verschärfte Diktatur“) verdeutlicht das.

Seit Anfang dieses Jahres fordern die rechten und konservativen Regierungsparteien AKP oder MHP in fast schon täglichen Debatten das Verbot der HDP und die Aufhebung der Immunität ihrer Abgeordneten. Vor ca. zwei Wochen wurde vom Generalstaatsanwalt Bekir Sahin ein Antrag auf Verbot der HDP an das Verfassungsgericht gestellt, der jedoch vorläufig abgewiesen wurde.

Was passiert gerade in der Türkei?

Der Antrag selbst kam für viele nicht überraschend. Nach dem Prozess über die Immunitätsaufhebung des HDP-Parlamentsabgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu reichte die Generalstaatsanwaltschaft des Kassationsgerichts beim Verfassungsgericht offiziell den Antrag ein, die HDP endgültig zu verbieten. Seit Beginn ihrer Gründung beanspruchte die Partei, linken, feministischen, ökologischen und sozialen Bewegungen und Organisationen eine Stimme zu geben, darunter vor vor allem den KurdInnen Gehör zu verschaffen. Die HDP agierte dabei trotz ihrer eigentlich kleinbürgerlich-reformerischen Programmatik und Politik als zweitgrößte Oppositionspartei im türkischen Parlament in einer zutiefst feindseligen Umgebung. Allein ihre Existenz ist den meisten ein Dorn im Auge. Seit fast Anfang des Jahres fordert die rechtsextreme MHP, darunter federführend ihr Vorsitzender Devlet Bahçeli, das Verbot der HDP. Im Februar wurden kurzzeitig 700 HDP PolitikerInnen festgenommen. Blickt man in die Geschichte der Türkei, kann man eine ganze Liste aufstellen, von vor allem prokurdischen Parteien, die von 1990 bis 2009 nach Wahlerfolgen verboten wurden. Hier nur eine kurze Auflistung:

  • HEP, Partei der Arbeit des Volkes, gegründet am 07. Juni 1990; Verbot der HEP im Juli 1993, nach den Parlamentswahlen
  • im Mai 1993 Gründung der ÖZDEP; Verbot der Partei am 23. November 1993
  • Demokratische Arbeitspartei DEP Immunitätsaufhebung der 6 Abgeordneten im März 1994 und Inhaftierung dieser zu 15 Jahren; Verbot der DEP Juni 1994
  • Gründung der HADEP im Mai 1994, gewann bei den Kommunalwahlen 1999 37 Gemeinden; Verbot im März 2003
  • im November 2005 wurde DTP gegründet; Verbot der Partei, nachdem 22 Sitze im Parlament und 100 Gemeinden gewonnen wurden, am 11. Dezember 2009.

Die HDP wurde daraufhin  2012 gegründet und trägt somit deutlich die Geschichte, aber auch die Verfolgung der vorherigen Parteien auf ihren Schultern. Doch auch mit ihrem Einzug 2015 ins türkische Parlament wurden mehrere tausend HDP-PolitikerInnen inhaftiert mit dem fadenscheinigen und verlogenen Vorwurf des Terrorismus. Der Wahlsieg stellte für viele einen Aufbruch dar und löste eine riesige Euphorie unter den linken, kurdischen, feministischen Kräften in der Türkei aus. Doch wenn wir die Lage heute betrachten, müssen wir unweigerlich erkennen, dass heute Massen an Abgeordneten inhaftiert sind, alle BürgermeisterInnen zwangsabgesetzt wurden und jegliche linke Organisierung mit dem Vorwurf des Terrors verunglimpft und kriminalisiert wird.

Krise, Hetze, Widerstand

Dass sich die Türkei zunehmend zu einer offenen Diktatur entwickelt, ist längst nichts Neues. Menschenrechtsverletzungen, völkerrechtswidrige Kriege, die rassistische und nationalistische Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung liefern dafür nur einige Beispiele. Die tiefe ökonomische Krise und das Wüten der Pandemie verschlechtern die Lage der ArbeiterInnenklasse, aber auch des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten dramatisch. Nationalistische, antikurdische, frauenfeindliche Hetze und Angriffe sollen von den wahren Ursachen ablenken und zugleich diktatorische Maßnahmen und die weitere Einschränkung der noch verbliebenen Überreste bürgerlich-demokratischer Rechte im Namen von Ordnung, Nation und Islam legitimieren.

Das politische Vorhaben der Regierungspartei AKP sowie ihres Koalitionspartners MHP, die HDP noch vor den Parlamentswahlen 2023 politisch stumm und machtlos zu machen und zu verbieten, nimmt in diesem Kontext  immer mehr an Fahrt auf. Auch wenn das Verfassungsgericht am 31. März für die HDP, also gegen ihr Verbot entschied, wird es sicher nicht der letzte Schlag gegen die ohnedies  kaum politisch arbeitsfähige Opposition sein. Sie wird immer mehr dazu gedrängt, in die Illegalität zu gehen. Was die Türkei jetzt braucht, sind nicht nur vereinzelte Proteste der Studierenden oder der Frauenorganisationen, die auf die Straße gingen, um auf die immer mehr ansteigende Zahl von Femiziden aufmerksam zu machen und gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren.

Die Proteste sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und müssen mit aller Kraft unterstützt werden. Doch wir brauchen nun mal eine gemeinsam agierende Bewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, die die Masse der Lohnabhängigen mobilisiert. Darunter befinden sich viele, die sich kaum noch etwas leisten können, weil die Lira immer mehr an Kaufkraft verliert. So betrug die Inflationsrate 2019 15,18 % und 2020 11,94 %. Die Lira verliert gegenüber dem Euro weiter an Wert und ein Euro entspricht zur Zeit 9,46 Lira. Der Lohn reicht für viele kaum noch zum Überleben. Die unteren Schichten der ArbeiterInnenklasse sowie Frauen und Jugend sind davon besonders stark betroffen.

Nur wenn es gelingt, die Kämpfe für das nationale Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen, für demokratische Rechte und für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen sowie andere soziale Bewegungen mit dem Kampf der ArbeiterInnenklasse zu verbinden, kann das Regime Erdogan zu Fall gebracht werden. Dazu ist es freilich auch nötig, aus den politischen Schwächen der HDP zu lernen. Sie stellte selbst eine Mischung aus einer linken kleinbürgerlichen Partei der Unterdrückten und eine Partei der sozialen Reform dar. Letztlich vermag jedoch nur die ArbeiterInnenklasse eine soziale Kraft zu entfalten, um nicht nur Erdogan und die AKP zu stürzen, sondern auch den türkischen Kapitalismus, der ohne Überausbeutung großer Teile der ArbeiterInnenklasse, ohne nationale Spaltung und Unterdrückung nicht existieren kann. Das ist auch der Grund, warum selbst eine Partei wie die HDP von der herrschenden Klasse nicht akzeptiert werden kann. Um die Lohnabhängigen und die unterdrückten Massen, um die sozialen und ökonomischen Kämpfe mit jenen um demokratische Rechte zu verbinden, braucht es eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnenklasse, die für ein Programm der permanenten Revolution, für eine sozialistische Umwälzung in der Türkei und im der gesamten Region eintritt.

Wenn heute die HPD angegriffen und mit dem Verbot bedroht wird, so zeigt dies, dass der türkische Staate jede Organisation von Unterdrückten, der Linken, der kurdischen Nation atomisieren, ja zerschlagen will. Der Angriff auf die HDP ist ein Angriff auf alle Linken, die Frauenbewegung und all jene, die sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wehren!

Alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, alle linke Parteien oder Gewerkschaften, alle linken und demokratischen Kräfte der Welt müssen sich daher mit der HDP solidarisieren.

Das bedeutet, Solidaritätsdemonstrationen und Kundgebungen zu organisieren. Es bedeutet aber auch, in Ländern wie Deutschland oder in der EU für die sofortige Aufhebung des Verbots der PKK und aller anderen kurdischen und linken türkischen Organisationen einzutreten.




Bergkarabach: Krieg droht zum Flächenbrand zu werden

Martin Suchanek, Neue Internationale 250, 2. Oktober 2020

Am Morgen des 27. September eskalierte der seit über drei Jahren mal offen ausgetragene, mal vor sich hin schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschanische Truppen beschossen Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach (Nagorny Karabach), einer armenischen Enklave, die formell zum Staatsgebiet Aserbaidschans gehört, aber seit Mitte der 1990er Jahre faktisch als unabhängige Region mit Armenien eng verbunden ist und um ihre internationale Anerkennung ringt. 2017 erklärte sich Bergkarabach unabhängig unter dem Namen Republik Arzach, wird aber seither international nicht anerkannt.

Reaktionärer Angriff

Die Bombardierung durch die Armee Aserbaidschans stellt eine qualitative Verschärfung der Kampfhandlungen im schwelenden Konflikt dar, der schon seit Juli von beiden Seiten verstärkt bewaffnet ausgetragen wird.

Die Führung Aserbaidschans unter dem autokratischen Präsidenten Alijew steht ihrerseits unter Druck extrem nationalistischer oppositioneller HardlinerInnen, die der Regierung zu große Nachgiebigkeit gegenüber Armenien und Bergkarabach vorwerfen. Eine Mobilisierung gegen den Erzfeind Armenien, militärische Erfolge im umkämpften Grenzgebiet und erst recht die Rückeroberung Bergkarabachs wären für das Regime angesichts einer tiefen Wirtschaftskrise, grassierender Korruption und sinkender Öl- und Gaspreise (und damit der wichtigsten Einnahmequelle des Landes) ein „Befreiungsschlag“. Und wie so oft wird ein nationalistischer Angriff als Selbstverteidigungsaktion legitimiert. Die massiven Artillerieangriffe auf armenische Siedlungen am 27. September wurden vom Verteidigungsministerium Aserbaidschans als „Gegenoffensive“ deklariert, „um Armeniens militärische Aktivitäten zu stoppen und die Sicherheit der Bevölkerung zu schützen“.

In Wirklichkeit ist der Angriff eindeutig reaktionärer Natur. Im Falle eines Erfolges würde die armenische Bevölkerung Bergkarabachs zu einer unterdrückten Nation, ihr Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten werden. In Aserbaidschan würde die Herrschaft der OligarchInnen und des seit 15 Jahren mit halb-diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten Alijew neue Legitimität erhalten. Nicht nur die Minderheiten, sondern auch die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, die als Kanonenfutter im reaktionären Waffengang verheizt werden soll, wären verstärkter, nationalistisch legitimierter Unterdrückung ausgesetzt.

Angesichts dieser Lage gilt unsere Solidarität allen Kräften der Linken, wie der Azerbaijani Leftist Youth (http://www.criticatac.ro/lefteast/anti-war-statement-of-azerbaijani-leftist-youth), die sich dem reaktionären, nationalistischen Treiben widersetzen und ein Ende des Angriffs fordern.

Zweifellos kann die Bevölkerung Bergkarabachs ein legitimes Recht auf Selbstbestimmung (und Selbstverteidigung) für sich reklamieren. RevolutionärInnen, ja alle DemokratInnen sollten ihr Recht anerkennen, selbst zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien anschließen wollen.

Wurzeln des Konflikts und Armeniens Rolle

Ginge es nur um Bergkarabach und die Frage von dessen Selbstbestimmungsrecht, so wäre der Charakter des Gesamtkonflikts recht einfach zu bestimmen. Doch im seit über drei Jahrzehnten offen ausgetragenen Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien verhält sich die Sache nicht so unkompliziert.

Gegen Ende der Existenz der Sowjetunion brach der selbst weit zurückliegende Konflikt um Bergkarabach offen aus. In der UdSSR war die Region entgegen dem Willen der armenischen Bevölkerung Aserbaidschan zugeschlagen worden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion reklamierte diese erneut  das Recht auf Lostrennung für sich und stieß dabei auf den erbitterten Widerstand Aserbaidschans. Das Land befand sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die NationalistInnen – ihrerseits ehemalige ParteibürokratInnen und städtische Intellektuelle – wollten nicht auf Bergkarabach verzichten, lehnten sowjetische Vermittlungsversuche ab und suchten eine militärische Lösung.

Am Beginn des von 1992 bis 1994 andauernden offenen Krieges schienen die Streitkräfte Aserbaidschans als Siegerinnen hervorgehen – nicht zuletzt aufgrund ihres brutalen Vorgehens, das tausenden ZivilistInnen das Leben kostete und in barbarischen Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Doch das Blatt wendete sich. Die militärischen Verbände Armeniens und Bergkarabachs waren nicht nur in der Lage, die Enklave zu verteidigen, sondern eroberten auch mehrere Provinzen, die Armenien von dieser trennten. Diese mehrheitlich aserbaidschanischen Siedlungsgebiete wurden unter dem Kommando des nicht minder brutal vorgehenden armenischen Nationalismus ethnisch gesäubert. Er beschränkte sich offensichtlich nicht auf die Unterstützung der eigenen Verbündeten, sondern vertrieb hunderttausende AserbaidschanerInnen aus sieben Bezirken, die seit dem Waffenstillstand 1994 von Armenien kontrolliert werden.

Bis 1994 wurden über 1,1 Millionen Menschen aus Aserbaidschan und Armenien vertrieben, also fast 10 % der gesamten Bevölkerung der beiden Staaten. 25.000 bis 50.000 Menschen starben nach unterschiedlichen Schätzungen. Seit damals befinden sich Armenien und Aserbaidschan in Lauerstellung. Nicht nur die Frage Bergkarabachs ist ungelöst. Beide Seiten verweigern die Rückkehr hunderttausender Geflüchteter.

Reaktionärer Nationalismus auf beiden Seiten

Der Nationalismus wurde faktisch zur Staatsdoktrin beider Seiten einschließlich einer oft extremen religiösen und ethnischen Überhöhung. Seit 1994 kam es immer wieder zu begrenzten bewaffneten Konflikten zwischen den beiden Parteien, zuletzt im sog. „Vier-Tage-Krieg“ 2016.

Beide Staaten erlebten zwar einen massiven ökonomischen Einbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion, auf deren gesamtstaatliche Arbeitsteilung ihre Wirtschaftsplanung bezogen war. Der Maschinenpark in der Industrie war weitgehend veraltet. Die Einführung der Marktwirtschaft und die Privatisierungen nahmen die Form einer Plünderung, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch mafiöse, oligarchische Strukturen an.

Beide Staaten bzw. deren Regime unterhielten weiter enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland. Dieses fungierte als Moderator zwischen den befeindeten Seiten – sei es auf eigene Rechnung, sei es im Rahmen der sog. Minsker Gruppe, die 1993 zur Vermittlung und Befriedung des Konflikts ins Leben gerufen wurde und neben Russland auch solche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA umfasst. Im Grunde wurde der Konflikt eingefroren. Die UN verweigert die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes von Bergkarabach. Umgekehrt wurden dessen enge Verbindung mit Armenien und eine Wirtschafts- und Währungsunion ebenso faktisch geduldet wie die armenische Kontrolle über Gebiete mit ehemals aserbaidschanischer Mehrheitsbevölkerung.

Armenien und Aserbaidschan bezogen beide den größten Teil ihrer Waffen aus Russland, wenn auch zu unterschiedlichen Konditionen. So musste das öl- und gasreiche Aserbaidschan zu Weltmarktpreisen kaufen, während die armenische Armee zu günstigeren, russischen „Inlandspreisen“ aufrüsten konnte. Auch Serbien verkaufte an beide „befreundete“ Staaten, während Israel und die Türkei exklusiv an Aserbaidschan lieferten.

Während sich die Regionalmacht Türkei als Schutzpatronin Aserbaidschans ins Zeug legt und extrem aggressive Töne anschlägt, band sich Armenien stärker an Russland und den Iran. Dieser ist der wichtigste Energielieferant des Landes. Russland ist faktisch die Schutzmacht Armeniens, unterhält dort mehrere Militärbasen. Außerdem ist das Land Mitglied in den von Russland dominierten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bündnissen, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wie auch in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), dem von Russland dominierten Gegenstück zur NATO.

Warum jetzt?

Dass der Konflikt im Juli wieder bewaffnete Formen annahm, inkludiert möglicherweise auch ein zufälliges Element. So ist bis heute umstritten, wie die ersten Kampfhandlungen in den letzten Monaten ausgelöst wurden.

Wir können jedoch drei Faktoren ausmachen, die das Gleichgewicht unterminierten, das seit 1994 zu einem brüchigen Waffenstillstand geführt hatte und von der Minsker Gruppe und insbesondere auch von Russland weiter „vermittelt“ worden war.

Erster besteht in der politischen und wirtschaftlichen Instabilität beider Staaten. Beide sind nicht nur hart von der Weltwirtschaftskrise betroffen, beide Länder werden auch von repressiven, kapitalistischen und anti-demokratischen Regimen geführt, selbst wenn sich der armenische Präsident rühmt, über die samtene Revolution an die Macht gekommen zu sein. Für beide bietet der Nationalismus daher eine Möglichkeit, von inneren Konflikten abzulenken und die „Einheit des Volkes“ zu beschwören.

Zweitens haben sich aber die wirtschaftlichen Gewichte zwischen den Staaten verschoben. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und damit Devisenquellen, auch wenn dieser Reichtum vor allem der kapitalistischen Oligarchie und den führenden Schichten im Staatsapparat zugutekommt. Die Rendite aus dem Öl- und Gasexport konnte Aserbaidschan aber auch für Rüstungsausgaben verwenden, die jene Armeniens in den letzten Jahren um das Fünffache übertreffen. Angesichts der Ziele des Regimes (und der nationalistischen Opposition) dürfte es nur zu verlockend sein, die größeren wirtschaftlichen Reserven und die militärische Aufrüstung in Gebietsgewinne praktisch umzumünzen.

Drittens sind es die veränderten geo-strategischen Verhältnisse, die diesen Konflikt befeuerten – insbesondere die wachsende Rivalität zwischen dem russischen Imperialismus und der Regionalmacht Türkei. Diese beiden geraten schließlich nicht nur im Kaukasus, sondern auch in Syrien und Libyen aneinander, was den Konflikt noch explosiver macht.

Auch wenn EU und USA vor allem als VermittlerInnen agieren wollen, wenn beide mit größeren inneren Problemen und anderen Prioritäten konfrontiert sind, so ist es fraglich, dass v. a. die USA abseits stehen werden, falls sich der Konflikt verschärft oder regional ausweitet, also z. B. der Iran hineingezogen wird.

Drohender Flächenbrand

Der Konflikt um Bergkarabach und der drohende Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan droht somit leicht zu etwas Größerem zu werden, so wie die Balkankriege vor 1914 leicht zu einem Weltkrieg hätten werden können.

Beide Seiten, Aserbaidschan und Armenien, lehnen bisher jede Vermittlung ab, beide haben das Kriegsrecht verhängt. Beide beschuldigen andere Mächte mit mehr oder minder viel Recht der Unterstützung der Gegenseite. Während sich die Türkei offen und ganz hinter Aserbaidschan, logistische Hilfe stellt und reaktionäre MilizionärInnen aus dem Syrien-Krieg als „Freiwillige“ schickt, bezichtigt sie den Iran und Russland der Unterstützung Armeniens.

Zur Zeit zieht Russland (und wohl auch China und der größte Teil des Westens) eine „friedliche“ Lösung, also das weitere Einfrieren des Konflikts vor. Das würde Russland enge Verbindungen zu Aserbaidschan und Armenien und eine dominante Rolle erlauben. Eine geostrategische Expansion der Türkei kann es hingegen schwer dulden, weil diese seine Rolle als Ordnungsmacht sowohl in Eurasien als auch im Nahen Osten und im Mittelmeer schwer erschüttern würde.

So würde sich die OVKS als Papiertigerin entpuppen, wenn sie ein in Bedrängnis geratenes Armenien und das von ihm gestützte Bergkarabach nicht einmal gegen aserbaidschanische Kräfte und wachsenden Einfluss der Türkei schützen könnte.

Die Kriegsgefahr ist real. Der Konflikt kann sich leicht zum Flächenbrand ausweiten, selbst wenn das niemand will, denn jede Aktion der einen Seite droht eine Reaktion der anderen hervorzurufen. Selbst wenn die groß-türkische Rhetorik Erdogans teilweise „nur“ leeres Gerede sein mag, so können gerade bonapartistische Regime wie das seinige den Bogen ihrer außenpolitischen Abenteuer leicht überspannen – mit fatalen Konsequenzen.

Welche Perspektive?

Die internationale ArbeiterInnenbewegung und die gesamte Linke müssen der nationalistischen Mobilmachung auf beiden Seiten und jeder Einmischung der Türkei, Russlands und anderer Mächte entschieden entgegentreten. Es gilt, alle Kräfte in Armenien und Aserbaidschan zu unterstützen, die sich einem drohenden Gemetzel widersetzen, und diese durch Aktionen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten insbesondere in der Türkei und Russland zu stärken.

Ein zentrales Mittel zum Stopp der geo-strategischen Interventionen der Türkei und Russlands (wie anderer Mächte) besteht im Kampf gegen die autokratischen Regime Erdogans und Putins selbst.

Um dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan eine politische Alternative entgegenzusetzen, braucht es aber auch ein Programm, das eine Lösung der drängenden demokratischen und sozialen Fragen leisten kann.

Das beinhaltet die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen, also auch der Bevölkerung von Bergkarabach. Es beinhaltet ebenso das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen und Geflüchteten des Krieges und die Entscheidung über den weiteren Status der durch die armenischen Streitkräfte besetzten Bezirke durch die Bevölkerung. Das Selbstbestimmungsrecht bildet im Kaukasus – ähnlich wie auf dem Balkan – dabei nur ein Element der Lösung der nationalen Frage. Das andere muss in der Bildung einer freiwilligen Föderation der Staaten des Kaukasus bestehen, um so offene Grenze zwischen den verschiedenen Regionen zu gewährleisten.

Demokratie und Sozialismus

Wie die Geschichte der Sowjetunion, vor allem aber der Restauration des Kapitalismus gezeigt hat, ist eine demokratische Lösung der nationalen Frage untrennbar mit der Klassenfrage verbunden, der Frage, in welchem Interesse die Ökonomie organisiert wird. Auf der Basis von oligarchischem Kapitalismus, neoliberalem Markt, Mangel, Arbeitslosigkeit und Armut werden immer wieder reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen von den Herrschenden präsentiert werden.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht und eine Föderation der Staaten des Kaukasus muss daher verbunden werden mit dem für revolutionäre Arbeiter- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen und die Bildung einer sozialistischen Föderation auf Basis demokratischer Planwirtschaften.




Nieder mit der Festung Europa – öffnet die Grenzen jetzt!

Martin Suchanek, Infomail 1092, 3. März 2020

In Syrien droht der Konflikt zwischen dem Assad-Regime und
Russland einerseits, der Türkei und ihren Verbündeten anderseits weiter zu
eskalieren – selbst eine militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland
scheint möglich.

Doch selbst wenn diese Zuspitzung vermieden werden sollte, haben die bewusste Vertreibung Hunderttausender durch das syrische Regime und der Kampf um die Neuaufteilung des Landes zwischen imperialistischen Mächten wie Russland und den USA sowie ihren regionalen Verbündeten oder KontrahentInnen wie dem Iran oder der Türkei Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht gezwungen.

Wie schon Millionen vor ihnen bleibt ihnen nur der Weg in
die Türkei; und wie Millionen vor ihnen hoffen sie, es doch irgendwie in die EU
zu schaffen. Die Öffnung der Grenzen durch Erdogan – sicherlich einzig dadurch
motiviert, von seinen europäischen „ParternInnen“ finanzielle, politische und
ggf. auch militärische Unterstützung zu erhalten – wirkt für Hunderttausende
vertriebener, verarmter, entrechteter und traumatisierter Menschen wie ein
unerwarteter Hoffnungsschimmer, als letzter Strohhalm in größter Not.

Jeder vernünftige Mensch kann dies nur zu gut nachvollziehen. Eigentlich wären die unmittelbaren Maßnahmen zur Linderung der humanitären Katastrophe, zur Verbesserung des Schicksals Millionen Geflüchteter ganz einfach umzusetzen. Die EU, dieser selbsternannte Hort der Humanität und Menschenrechte, müsste nur die Grenzen für die Geflüchteten öffnen – nicht nur in Griechenland und Bulgarien, sondern auch deren Weiterreise in jenes Land der EU ermöglichen, in das die Geflüchteten wollen.

Vom Rechtsruck zur Barbarei

Doch während die öffentliche Meinung in den meisten EU-Staaten 2015 noch nicht bereit war, Menschen in großer Zahl sehenden Auges im Mittelmeer ertrinken oder durch Schießmanöver abschrecken zu lassen, so lautet 2020 das Credo aller Regierungen, dass sich genau das Durchbrechen der Festung Europa nicht wiederholen dürfe.

Griechenland und Bulgarien sollen mehr Unterstützung erfahren – nicht durch die Aufnahme von Flüchtlingen, die auf Inseln wie Lesbos eingepfercht werden –, sondern um sie zu stoppen und abzuschrecken. Die Zusammenstöße zwischen Geflüchteten und BewohnerInnen griechischer Inseln wurden schon vor der Aufkündigung des Türkei-EU-Flüchtlingsdeals durch Erdogan von der griechischen Regierung sowie rechten, rassistischen wie faschistischen, Kräften befeuert, um noch brutalere Abschiebungen und die gewaltsame Abschreckung syrischer Flüchtlinge zu legitimieren. Auf Lesbos wurde am 1. März ein ehemaliges UN-Begrüßungszentrum für Geflüchtete angezündet. RassistInnen versuchten, einen Polizeibus mit MigrantInnen auf dem Weg nach Moria mit Ketten und Steinen zu stoppen.

Vor allem aber erreicht die rassistische, offizielle Politik
jetzt eine neue Eskalationsstufe – mit Unterstützung aller EU-Staaten.
Rechts-populistische oder konservative Regierungen wie jene Österreichs
verkünden schon, dass sie vorsorglich SoldatInnen an den eigenen Landesgrenzen
stationieren werden, um jene Geflüchteten, die es vielleicht doch über den
Balkan nach Mitteleuropa schaffen sollten, zu stoppen.

Bulgarien und Griechenland haben in den letzten Tagen tausende zusätzliche PolizistInnen, GrenzschützerInnen und SoldatInnen an die Landgrenzen zur Türkei verlegt, um die Flüchtlinge mit Tränengas und schwer bewaffneten Patrouillen zu stoppen. Griechenland hat das Asylrecht ausgesetzt.

In der Ägäis ziehen die griechische Marine und das Heer weiter Kräfte zusammen. Auf einigen Inseln soll die Armee auf Befehl ihres Oberkommandos Schießübungen durchführen – und die EU schickt Verstärkung durch Frontex. Gegen die Geflüchteten wird regelrecht Krieg geführt.

Der Rechtsruck in Europa wird selten deutlicher als angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien und der Türkei. Erdogan wird ausgerechnet dafür gescholten, dass er sich an den menschenverachtenden Deal zur „Entsorgung“ der syrischen Flüchtlinge nicht mehr halten will. Er erpresse sie – das sei „schäbig“. Darunter verstehen die RepräsentantInnen der EU, dass der türkische Regierungschef nicht mehr bereit ist, sie gegen Milliarden Euro eines Problems zu entledigen. Daher soll neben Grenzsicherung und Abschreckung eine Neuverhandlung das Abkommen mit der Türkei retten, vorzugsweise indem sie etwas mehr Geld erhält, damit das Land wieder als Endstation für Bürgerkriegsflüchtlinge fungiert.

Die europäischen PolitikerInnen von rechts bis zu Grünen und „linken“ ReformistInnen brüsten sich gern ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber Erdogan. Ihr eigenes Verhalten, die barbarische Genzsicherung durch EU-Kommission und alle Landesregierungen straft freilich ihren eigenen „Humanismus“ Lügen, offenbart die ganze Heuchelei dieser DemokratInnen. An den Außengrenzen wird das Ertrinken der Geflüchteten zwecks Abschreckung billigend in Kauf genommen.

Der Rechtsruck in Europa kommt auch hier zum Ausdruck. Keine konservative, liberale, grüne oder sozialdemokratische Partei möchte sich vorwerfen lassen, „zu viel“ für die Geflüchteten tun zu wollen. Die wenigen Vorschläge einzelner Städte wie Berlin, einige tausende Menschen aufzunehmen, stellen das „höchste“ der Gefühle dar. Es sind wohl kalkulierte begrenzte humanitäre Gesten, Tropfen auf den heißen Stein, die solchen Stadtverwaltungen oder einzelnen PolitikerInnen erlauben, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Eine Öffnung der Grenzen für alle, „unkontrollierbare Zustände“, die Hunderttausende Geflüchtete angeblich mit sich bringen würden, wollen natürlich auch sie nicht. Die Masse der syrischen Flüchtlinge soll auch nach ihrem Kalkül in der Türkei verbleiben. Dort sind die Zustände zwar auch längst unhaltbar und katastrophal. Doch während die ökonomisch viel schwächere Türkei gerügt wird, sich nicht ausreichend um Millionen zu kümmern, will die EU möglichst jede/n abweisen, der/die nicht den Verwertungserfordernissen des europäischen Kapitals entspricht. Während Regelungen für die Beschäftigung von FacharbeiterInnen aus Drittstaaten von der EU kürzlich gelockert wurden, um keinen Arbeitskräftemangel zu erleiden, so sollen die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien dicht bleiben, ja unüberwindbar werden.

Offene Grenzen jetzt!

Die Linkspartei fordert immerhin die Aufkündigung des Deals mit Erdogan und lehnt die Entsendung weiterer Frontex-Truppen ab. Zur Forderung nach Öffnung der Grenzen kann sie sich freilich nicht entschließen. So fordert Cornelia Ernst, die migrationspolitische Sprecherin der Linkspartei im Europaparlament, „die Einrichtung sicherer Fluchtwege, beispielsweise durch die Gewährung humanitärer Visa an EU-Botschaften“ und das Bereitstellen von Kapazitäten, „damit diesen Menschen ein faires Asylverfahren garantiert werden kann.“ (https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12632.t%C3%BCrkei-pakt-mit-erdo%C4%9Fan-muss-enden.html)

Und wo sollen die Menschen bleiben, bis sie ein Visum von
einer EU-Botschaft erhalten? Soll die Entscheidung darüber, wer kommen darf,
tatsächlich deutschen, italienischen oder anderen EU-BeamtInnen überlassen
werden? Sollen Hunderttausende, ja Millionen warten, bis die Kapazitäten für
ein „faires Asylverfahren“ von der EU bereitgestellt werden?

Allein diese Fragen verdeutlichen, wie ungenügend, ja
geradezu weltfremd und bürokratisch diese Vorschläge sind angesichts von
Hunderttausenden, die jetzt der Hölle von Idlib zu entfliehen versuchen, von
Millionen in der Türkei, die seit Jahren als menschliche Manövriermasse
verschoben werden, angesichts von Zehntausenden, die in entwürdigenden Lagern
in Griechenland ihr Leben fristen müssen.

Es gibt nur eine einzige humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU, die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung und das Zurverfügungstellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte DemagogInnen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit, Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen.

Aktionen und Mobilisierungen wie jene von antirassistischen Bewegungen, von Seebrücke und anderen AktivistInnen zeigen, dass es Kräfte gibt, die sich dem Rechtsruck und der Abschottung der Festung Europa entgegenstellen wollen. Die Linkspartei, die Gewerkschaften, alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, von MigrantInnen und der radikalen Linken müssen sich jetzt mit den Geflüchteten solidarisieren – gegen die Abschottung der EU, für offene Grenzen – sofort!




Droht der Krieg in Syrien zum Flächenbrand zu werden?

Dilara Lorin/Martin Suchanek, Infomail 1092, 29. Februar 2020

Hunderttausende, wenn nicht Millionen,
befinden sich in Syrien auf der Flucht. Die Offensive der syrischen
Armee sowie ihrer russischen und iranischen Verbündeten sollte ein
weiteres blutiges Kapitel im Bürgerkrieg
zum Abschluss bringen – die Rückeroberung Idlibs samt Vertreibung
Hunderttausender, der Zerschlagung der oppositionellen bewaffneten
Gruppen – egal ob nur dschihadistisch, pro-westlich oder
verbliebene Restbestände der demokratischen Opposition.

Zweifellos kalkulierten das syrische
Regime wie auch seine Verbündeten, dass sie dieses mörderische
Unternehmen rasch durchziehen konnten. Protestnoten der zur
„Weltgemeinschaft“ hochstilisierten westlichen Mächte waren
einkalkuliert, ein Stillhalten der Türkei, der Russland (und damit
das Assad-Regime) wichtige Teile Nordsyriens und vor allem Rojavas
überlassen hatten, ebenfalls.

Doch wie schon in Libyen erweist sich
die Putin-Erdogan-Allianz als brüchig. Sie ist praktisch am Ende.
Beide Räuber, beide „Sieger“ wollen ihren Teil vom Kuchen. Das
Assad-Regime will erst recht nicht mehr auf die Türkei Rücksicht
nehmen.

Umgekehrt droht nun der Krieg, selbst
zu eskalieren, von einem StellvertreterInnenkrieg in einen heißen
Krieg umzuschlagen. Selbst wenn keine der Parteien diese Entwicklung
anstrebt, so spielen sie doch mit dem Feuer. Während Russland
weitere Kriegsschiffe ins Mittelmeer beordert, ruft die Türkei die
NATO-PartnerInnen an. Die Trump-Administration sieht die Chance
gekommen, verlorenen Einfluss wiederherzustellen, und verspricht
Unterstützung. Die NATO erklärt ihre Solidarität mit dem
Mitgliedsstaat, auch wenn sie noch offenlässt, welche praktischen
Formen diese annehmen soll. Bei allem Gerede von Besorgnis ob der
Eskalation könnte sich die Konfrontation in den nächsten Tagen
massiv zuspitzen, im extremsten Fall aus dem syrischen
BürgerInnenkrieg ein Krieg zwischen Russland und NATO werden.

Lage in der Türkei

Im Folgenden wollen wir die Lage in der
Türkei genauer betrachten.

In den vergangenen Tagen starben laut
türkischen Nachrichtenagenturen bis zu 33 Soldaten in Idlib, einer
Stadt im Nordwesten Syriens, durch syrische Luftangriffe. Laut der
kurdischen Nachrichtenagentur ANF (Firatnews Agency) sind bis zu 113
Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Videoaufnahmen kursieren im
Internet, die von mehreren hundert „Märtyrern“ sprechen, und
türkische Soldaten beklagen, „man komme aus Idlib nicht mehr
lebend heraus“.

Der Kurznachrichtendienst Twitter ist
seit gestern Abend in der Türkei geschlossen, um keine weiteren
Meldungen über den Krieg und die getöteten Soldaten zu verbreiten.
Aber die Grenzregion zu Syrien liegt lahm, die Krankenhäuser sind
überfüllt mit Leichen und das Gesundheitsministerium ruft die
Bevölkerung dazu auf, Blut zu spenden. Das deutet darauf hin, dass
die Opferzahlen wahrscheinlich viel höher sind als die 33.

Die Türkei führt gerade einen offenen
Krieg in Syrien gegen das Assad-Regime, faktisch auch einen gegen
seinen Verbündeten Russland. Dass die Türkei seit dem 27. Februar
ihre Grenzen nach Europa für syrische Geflüchtete geöffnet hat und
und diese nicht mehr darin hindert, dorthin auszureisen, bedeutet für
sie nur, die Geflüchteten als Spielball zu benutzen. Sie möchte
damit die EU unter Druck setzen und zwingen, im Krieg um Idlib auf
ihrer Seite einzugreifen oder jedenfalls Unterstützung zu gewähren.
Dies könnte auch zu einem Krieg zwischen Türkei, EU und Russland
führen.

Der türkische Außenminister Mevlüt
Çavuşoğlu steht im Telefonkontakt mit NATO-Generalsekretär Jens
Stoltenberg. Dieser verkündete am 28. Februar, dass die NATO die
Türkei auch militärisch unterstützen und die Luftverteidigung
stärken wird. Teile der NATO stellten sich schon vorher und während
des Manövers in Idlib auf die Seite der Türkei, welche mit
dschihadistischen Truppen wie der Division Sultan Murad und Ahrar
Al-Sharqiya (Freie Männer des Ostens) zusammen kämpft.

Das Leid der 3 bis 4 Millionen
ZivilistInnen in Idlib jedoch wird in der Türkei kaum gehört.
Mehrere tausende Menschen, welche vom syrischen Regime teils
zwangsumgesiedelt wurden, befinden sich in Idlib unter
türkisch-dschihadistischem und syrisch-russischem Beschuss.

Während Russland und Syrien, die
Türkei und USA Stellung beziehen und eine weitere Eskalation droht,
laviert die schwächelnde EU. Sie fordert ein Ende der
Kampfhandlungen, unterstützt zur gleichen Zeit den NATO-Verbündeten.
Mit der Türkei freilich hadert sie um die Frage der Geflüchteten,
denen sie auf keinen Fall helfen will.

Die Öffnung der türkischen Grenzen
bedeutet längst nicht, dass die Menschen, die fliehen, allzu weit
kommen. Frontex wurde in den letzten Jahren weiter aufgerüstet, an
die EU-Außengrenzen werden mehr und mehr Polizei und
Grenzschutzeinheiten beordert. Wird der Andrang zu groß, kann auch
nicht ausgeschlossen werden, dass der bewaffnete Arm der Frontex auf
Menschen an den Grenzen schießen wird. Es droht somit eine
humanitäre Krise der Menschen in Idlib und der Millionen Flüchtlinge
des Bürgerkriegs.

Aktuell sammeln sich größere Gruppen
von Geflüchteten vor Edirne, einer türkischen Grenzstadt nahe
Bulgarien und Griechenland, sowie in Izmir und anderen Hafenstädten
im Westen der Türkei und versuchen, der Hölle von Bürgerkrieg und
Vertreibung zu entkommen. Wir brauchen offene Grenzen für alle!
Jetzt sofort! Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass alle, die
nach Europa wollen, sichere Fluchtwege über Meer oder Land erhalten
und sich in den Ländern ihrer Wahl niederlassen, arbeiten und eine
Existenz aufbauen können.

Geostrategische Gründe

Der türkische Einmarsch in Syrien
erfolgte – wie die Intervention aller anderen Mächten – aus
geostrategischen Gründen. Ursprünglich ausgezogen, Assad selbst zu
stürzen, will Erdogan nun ein möglichst großes Stück von der
Beute, sprich die Neuordnung des Landes mitbestimmen. Den Einmarsch
türkischer Truppen, die Eroberung Afrins und anderer kurdischer
Städte stellt er als Akt der „Verteidigung“ des Landes dar, ganz
so wie Russland, Iran und Syrien die brutale Wiedererrichtung des
Assad-Regimes zum „Kampf gegen den Terrorismus“ verklären.

Doch der Krieg könnte für Erdogan
leicht zum Bumerang werden. Die Türkei befindet sich in einer
wirtschaftlich sehr schlechten Lage und ein Krieg trägt sicherlich
nicht zu einer Erholung bei. Im Gegenteil, die ArbeiterInnenklasse
wird zu den Kriegen einberufen und muss für die Interessen eines
Staates sterben, der vielen nicht einmal genug zum Überleben bieten
kann. Der Mindestlohn reicht kaum, um sich und seine Familie zu
ernähren. Die Lebensqualität sinkt mit jedem anbrechenden Tag und
nun werden junge Lohnabhängige auch noch zur Armee berufen, um in
einem Krieg zu sterben, der in keinster Weise ihren Interessen dient.

So wie die ArbeiterInnenklasse
Russlands oder Irans, so muss auch die türkische ArbeiterInnenklasse
„ihrer“ Regierung jede Unterstützung verweigern. Der Krieg
Erdogans ist nicht unser Krieg. Es hilft jedoch nicht, sich über den
Tod türkischer Truppen und Soldaten zu freuen, es kommt darauf an,
Erdogan und das Regime zum Rückzug aus Syrien zu zwingen – und
zwar nicht nur aus Idlib, sondern auch aus Rojava und allen anderen
Gebieten.

Ein Rückzug aus Idlib allein – ob
nun infolge syrisch-russischer Militärschläge oder durch ein
weiteres „Waffenstillstandsabkommen“ – würde schließlich
bedeuten, dass sie weiter Besatzungsmacht in Nordsyrien/Rojava
bleibt. So kontrolliert sie strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte
der nordsyrischen Region wie die Autobahn M14, die Antalya mit Mossul
verbindet, und dem türkischen Staat dienen soll, im arabischen Raum
besser Fuß zu fassen. Sie wird weiterhin Besatzungsarmee der
kurdischen Gebiete sein und dschihadistische Strukturen weiter
aufbauen, bewaffnen und unterstützen.

Nein zum Krieg! Abzug aller
imperialistischen Truppen und Regionalmächte!

In der Türkei, in Russland und den
NATO-Staaten brauchen wir eine breit aufgestellte Einheitsfront von
Organisationen, Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnenklasse.
Denn nur die ArbeiterInnenklasse kann in internationaler Solidarität
mit den Geflüchteten, KurdInnen, der ArbeiterInnenklasse und
demokratischen Opposition in Syrien diesen Krieg stoppen! Wer soll
eingezogen werden, wenn wir streiken? Wie soll die Türkei weiter
Krieg führen, wenn die ArbeiterInnenklasse sich mit den bis zu vier
Millionen ZivilistInnen in Idlib und den drei Millionen KurdInnen in
Nordsyrien solidarisiert, auf die Barrikaden geht und einen
Generalstreik ausruft?

Alle Räder stehen still, wenn die
Klasse das auch will, und natürlich ist damit auch das Rad eines
Panzers gemeint!

Wir brauchen keine weiteren
imperialistischen AkteurInnen und Regionalmächte im Krieg in Syrien,
die allesamt nur für ihre eigenen Profite und strategischen
Interessen kämpfen. Es war schon ein richtiger Schritt, dass sich
viele türkische und internationale Linke gegen den Einmarsch der
Türkei in die kurdischen Gebiete in Syrien aussprachen und sich mit
den KurdInnen solidarisierten, aber Solidarität darf und kann nicht
bei Lippenbekenntnissen stehenbleiben! Es muss eine gemeinsame
Mobilisierung diskutiert und umgesetzt werden, um die drohende
Ausweitung des Kriegs zu verhindern und der Zivilbevölkerung in
Idlib beizustehen.

Die ArbeiterInnenklasse, die
Gewerkschaften müssen erkennen, dass die Intervention der Türkei in
Syrien nicht dem Schutz der Bevölkerung dient, sondern nur eigenen
Machtinteressen und der Verhinderung kurdischer Selbstbestimmung. Sie
muss erkennen, dass eine etwaige US-amerikanische oder
NATO-Intervention nur dazu führen, kann dass der Kampf um die
Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eine militärische
Form annimmt, sich zu einem internationalen Flächenbrand ausweiten
kann. Daher: Nein zu jeder NATO-Intervention! Abzug aller deutschen,
französischen, US-amerikanischen Truppen, nein zu allen westlichen
imperialistischen Sanktionen! Öffnung der EU-Grenzen für die
Flüchtlinge! Sie muss aber auch erkennen, dass die Intervention
Russlands und Irans keinen Akt des „Anti-Imperialismus“, sondern
selbst nur nackte und brutale Verfolgung eigener geostrategischer
Interessen bedeutet. Sie muss erkennen, dass sie mit dem Assad-Regime
eine mörderische Kriegsmaschinerie am Leben hält, die für den Tod
Hunderttausender und die Vertreibung von Millionen verantwortlich
ist.

Ob sich der Krieg in Syrien zu einer
internationalen Konfrontation ausweitet oder ob er am
Verhandlungstisch auf dem Rücken der Bevölkerung“ befriedet”
wird – wir dürfen nicht auf die Assads und Erdogans, die Putins
und Trumps, aber auch nicht die Merkels und Macrons unsere Hoffnungen
setzen. Sie sind alle Teil des Problems.

Nur eine gemeinsame, internationale
Anti-Kriegsbewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt,
kann in der Aktion verhindern, dass sich der syrische
BürgerInnenkrieg weiter ausweitet, ja zu einer Konfrontation
zwischen NATO und Russland wird.

  • Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte aus Syrien, vor allem der türkischen, russischen und iranischen Truppen!
  • Nein zu jeder Intervention und Waffenlieferungen an Erdogan oder Assad!
  • Abzug aller NATO-Truppen aus der Region, Schließung der NATO-Basen in der Türkei!
  • Schluss mit dem EU-Türkei-Deal! Öffnung der europäischen Grenzen für alle Geflüchteten!
  • Unterstützung für Rojava sowie für die ArbeiterInnenklasse, die demokratische und sozialistische Opposition in Syrien!



Erdogan-Putin Deal gegen Rojava

Robert Teller, Neue Internationale 242, November 2019

Das am 22.
Oktober in Sotschi ausgehandelte türkisch-russische Abkommen über die
Einrichtung einer Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze verändert
die Kräfteverhältnisse in Syrien grundlegend.

Erstens festigt
es Russland als unbestrittene, einzige verbliebene Hegemonialmacht. Syrien wird
de facto zu einer Art russischen Mandatsgebiets. Die letzten Wochen und Monate
verdeutlichen, dass im Land ohne Zustimmung Putins nichts geht, dass selbst
reaktionäre Potentaten wie Erdogan und Assad letztlich ihre Ziele nur in
Abstimmung und durch Zustimmung oder Akzeptanz der Kremls umsetzen können.
Umgekehrt offenbart der Deal die Schwäche des „Westens“, also der USA und erst
recht der europäischen imperialistischen Mächte.

Zweitens ist die
Türkei ihrem Ziel, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu beseitigen,
deutlich näher gekommen. Sie steht nun offen zur Disposition.

Drittens sollen
der türkische Einmarsch und die Vereinbarung von Sotschi zwischen Russland und
der Türkei zur Wiederherstellung der Kontrolle des syrischen Regimes über die
kurdischen Gebiete führen und damit dessen konterrevolutionären Siegeszug
vollenden.

Eine ganze Reihe
konterrevolutionärer Verschiebungen droht damit zu einem unrühmlichen Abschluss
zu kommen. Der „Frieden“, den das Abkommen bringen soll, bedeutet den Frieden
von Niederlage und Aufteilung Syriens unter den Kräften der Reaktion. Es stellt
insbesondere eine Niederlage des kurdischen Volkes und die drohende Zerstörung
der in Rojava errungen Formen von Autonomie und Selbstbestimmung dar.

Abzugspläne der
USA und erste Pufferzone

Trumps
beabsichtigtem Truppenabzug im Blick, drohte die Türkei seit Monaten offen mit
einer Militäroffensive gegen Rojava, falls keine „Einigung“ mit den USA
zustande kommen sollte. Eine solche erfolgte Mitte August. Im Gegenzug für
einem Teilrückzug der kurdischen Kräfte von der türkischen Grenze versprach die
Türkei, keine Invasion durchzuführen. Die Kurdischen Selbstverteidigungskräfte
(YPG/JPG) und die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) erfüllten aufgrund von
US-Garantien diese Forderung.

Das Versprechen der
Türkei hielt dann gerade 6 Wochen. Am 9. Oktober begann sie dem Einmarsch
entlang der Grenze zwischen den Städten Tell Abyad und Ras al-Ayn, nachdem sich
Erdogan Trumps Zustimmung hierfür eingeholt hatte und dieser den sofortigen
Abzug der US-Truppen aus der Region anordnen würde. Nach der am 22. Oktober
zwischen der Türkei, Syrien und Russland getroffenen Vereinbarung muss sich die
YPG/JPG aus einem 30 Kilometer breiten Streifen vollständig zurückziehen, hier
übernimmt Russland gemeinsam mit dem syrischen Regime die Kontrolle. Die Türkei
behält die alleinige Kontrolle über die während der Offensive eroberten
Gebiete.

Kriegsziele der
Türkei

Erklärtes Ziel
der türkischen Invasion ist es, die gesamte Grenzregion von kurdischen Kräften
zu „säubern“ und letztlich der Selbstverwaltung Rojavas ein Ende zu setzen, die
de facto seit 2012 die staatliche Unabhängigkeit einer mehrheitlich kurdischen
Region unter Führung der PKK-nahen PYD darstellt. Die türkische Regierung
strebt an, zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der „Pufferzone“ anzusiedeln,
was der ethnischen Säuberung dieser Gebiete gleichkommt. Obgleich ein Verstoß
gegen internationales Recht, wird in der Vereinbarung von Sotschi anerkannt
wird. Das Erdogan-Regime bedient sich des Rassismus gegenüber den Flüchtlingen,
um derartige reaktionäre Maßnahmen zur Durchsetzung seiner regionalen
Interessen zu legitimieren. Zugleich wird damit die Grundlage für einen neuen
nationalen Konflikt in den kurdischen Gebieten gelegt. Die von der Türkei
geplanten Umsiedlungen stehen in einer Reihe mit der Arabisierungspolitik des
syrischen Baath-Regimes in den 1970er Jahren, die mit genau der gleichen
Zielsetzung betrieben wurde: dem Anspruch der kurdischen Bevölkerung auf
Selbstbestimmung einen Riegel vorzuschieben.

Darüber hinaus
bekräftigt die Vereinbarung auch die Adana-Erklärung von 1998, in der sich
Syrien auf türkischen Druck verpflichtete, jegliche Tätigkeit der PKK in Syrien
zu unterbringen, also als Hilfstrupp des türkischen Staates bei der
Unterdrückung der KurdInnen zu fungieren.

Veränderte
Kräfteverhältnisse

Wenige Tage nach
Beginn der türkischen Invasion stimmten die „Syrischen Demokratischen Kräfte“
der Entsendung von Assads Truppen in die kurdischen Gebiete zu. Das syrische
Regime hat seinen territorialen Anspruch auf Rojava viele Male betont, aber
während der vergangenen 7 Jahre war es nicht in der Lage, diesen Anspruch
tatsächlich durchzusetzen. Der wichtigste Nebeneffekt der türkischen Invasion
ist, dass sie Rojava dem syrischen Regime als einzig verbliebenem möglichen
Verbündeten ausliefert. Während die USA die kurdischen Kräfte als temporär
nützliche Alliierte und Bodenstruppen für den Kampf gegen Daesh benutzten, gibt
es für Assad nichts „Nützliches“ an Rojava selbst.

Für das syrische
Regime ist es schlicht und einfach eine illegitime Verletzung seiner
Souveränität. Der einzige Grund für Assad, Rojava in den vergangenen Jahren zu
verschonen, war, dass es für das Regime weit wichtigere Kriegsziele gab. Mit
dem Siegeszug im syrischen Bürgerkrieg wird nun unverhofft eine „Lösung“ für
Rojava greifbar, die auch den Konflikt mit der Türkei zu befrieden imstande
ist, und die sich in der Sotschi-Vereinbarung abzeichnet. Auch wenn die Regime
von Assad und Erdogan im syrischen Bürgerkrieg GegnerInnen waren, haben sie
sich gleichermaßen bei der Unterdrückung der KurdInnen verdient gemacht. Wie
aus den 1990er-Jahren bekannt ist, taugt dies durchaus als Grundlage einer
Zusammenarbeit beider Regierungen. Kurz gesagt: Wenn das selbstverwaltete
Rojava als letztes Überbleibsel der Revolte von 2011 beseitigt ist, erleichtert
das eine einvernehmliche Lösung zwischen Türkei, Syrien, Iran und Russland. Eine
gute Nachricht ist das bestimmt nicht.

Niedergang der
US-Hegemonie

So umstritten
der plötzliche Truppenabzug in den USA auch ist, kennzeichnet er doch das
Anerkennen der Tatsache, dass Russland als imperialistische Hegemonialmacht in
Syrien das Heft in der Hand hat. Er bedeutet auch ein Scheitern des Versuches,
dem iranischen Streben nach Einfluss in Syrien Einhalt zu gebieten. Es ist auch
davon aufzugehen, dass der Iran gegen die verbliebenen Elemente kurdischer
Selbstbestimmung vorgehen wird.

Die PYD und
damit die Führung von Rojava betrachtete ihre Beteiligung an der
Anti-Daesh-Koalition als Garantie gegen eine türkische Invasion. Wie zu
erwarten, ließ der US-Imperialismus seinen einstigen Verbündeten fallen – und
bringt damit Rojava an den Rand seiner Existenz.

Doch die
Kurdische PYD war kein unschuldiges Opfer dieser Politik, sie selbst hing der
Illusion an, bei diesem Zweckbündnis auch profitieren zu können und machte sich
die Hoffnung zu eigen, im Windschatten der US-Präsenz eine „anderes“
Gesellschaftsmodell aufbauen zu können. Diese Politik scheiterte – und war von
Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Das größte Problem
dieser Bündnispolitik bestand und besteht darin, dass sie verhindert hat, die
Verteidigung von Rojava mit dem Klassenkampf in der Region und insbesondere der
Türkei zu verbinden. Dass Rojava zum Gegenstand imperialer und regionaler
Konflikte werden musste, liegt naturgemäß daran, dass seine bloße Existenz die
territorialen und machtpolitischen Interessen mehrerer Staaten berührt. Dass
die KurdInnen dabei zum politischen Spielball der russisch-amerikanischen
Rivalität wurde, lag natürlich immer im zynischen Kalkül dieser Mächte.

In diesem
Kontext war es natürlich auch legitim, ja untermeidlich, die imperialistische
Gemengelage etwa im Kampf gegen Daesh zum eigenen Vorteil auszunutzen. Die
Politik der  PYD ging jedoch weit
darüber hinaus, so dass sie sich zum Verbündeten einer reaktionären
Mächtegruppe, des US-Imperialismus wurde.

Das hätte jedoch
nur verhindert werden können, wenn die PYD einen internationalistischen Kurs
der aktiven Verbindung mit den demokratischen Kräften der Syrischen Revolution
und des „Arabischen Frühlings“, mit dem Widerstand in der Türkei, im Irak oder
auch in Palästina verfolgt hätte. So hätte z. B. die Blockade gegen Rojava durch
die irakisch-kurdische Regierung zum Gegenstand des Klassenkampfes gemacht
werden können durch die Mobilisierung der irakisch-kurdischen Massen. Die PYD
befolgte jedoch tatsächlich die Politik der „Nichteinmischung“. Sie hoffte ein
quasi-staatliches Reformprojekt – eine „Kommune“ auf Basis von Marktwirtschaft
und Warenproduktion – aufbauen zu können, indem sich Rojava möglichst aus dem
syrischen BürgerInnenkrieg und allen anderen großen Umbrüchen raushält. Dieses
Konzept musste scheitern, spätestens mit der Niederlage und Degeneration der
syrischen Revolution und dem Sieg Assads und des russischen Imperialismus.

Solidarität mit Rojava! Nein zur türkischen Invasion! Nein zum Deal von Sotschi!

Unabhängig von
den politischen Differenzen mit der PYD treten wir für die Solidarität mit
Rojava, die Verteidigung seiner demokratischen und sozialen Errungenschaften –
der rechtlichen Gleichstellung der Frauen und des kurdischen
Selbstbestimmungsrechtes.

Die
ArbeiterInnenklasse, RevolutionärInnen, ja alle demokratischen Kräfte müssen
für den sofortigen Abzug der türkischen Besatzungstruppen und ihrer
reaktionären Verbündeten eintreten! Dasselbe trifft für russische und syrische
Truppen zu! Wir lehnen auch jede weiteren Verbleib von US-Truppen oder
Stationierung von UN-Friedenstruppe, wie von Kamp-Karrenbauer vorgeschlagen,
kategorisch ab.

Die KurdInnen
und die Bevölkerung von Rojava brauchen keine Besatzungstruppen, um sich gegen
die Banden des Daesh und andere reaktionäre Kräfte zu verteidigen, sondern
wirkliche Kontrolle über Rojava! Um sich zu verteidigen, brauchen sie Waffen
und Material. Zugleich aber brauchen ein Ende des Wirtschaftsembargos durch
Türkei oder Irakisch-Kurdistan. Die imperialistischen Mächte und
Regionalmächte, die auf allen Seiten für die Verwüstungen des Bürgerkrieges,
für die Toten und Zerstörungen im Kampf gegen Deash mitverantwortlich sind,
müssen gezwungen werden, wirkliche Aufbauhilfe zu leisten, indem sie für die
Schäden durch die Zerstörung durch Angriffe und Bombardements aufkommen.

Die Forderung
nach Rückzug der Türkei stellt heute eine zentrale Forderung jeder
Solidaritätsbewegung mir Rojava dar. Diese muss mit der nach einem sofortigen
Stopp aller Waffenlieferungen und militärischen Kooperation verbunden werden.

Gegen Erdogans
Drohung, die Geflüchteten in der Türkei in den Sicherheitskorridor zu zwingen,
fordern wir die Öffnung der EU-Außengrenzen für die Geflüchteten. Nur wenn wir
die rassistische Abschottung hier bekämpfen, können wir auch verhindern, dass
die Flüchtlinge für Kriegsziele des türkischen Nationalismus missbraucht
werden.

Wir rufen daher
zur Unterstützung aller Solidaritätsaktionen und Demonstrationen mit der
kurdischen Bewegung auf! Wir fordern die Aufhebung des Verbots der PKK und
aller anderen kurdischen und türkischen linken und demokratischen
Organisationen in der BRD und in der EU!




Nein zur türkischen Invasion! Solidarität mit Rojava!

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1072, 9. Oktober 2019

Am 9. Oktober begann der türkische Angriff auf das kurdische Rojava mit Luftschlägen, Bombardements und heftigem Artilleriefeuer. Der türkische Präsident Erdogan und die Armee des Landes ließen schon seit Tagen keinen Zweifel daran, dass ein blutiger Angriff von langer Hand vorbereitet war.

Das türkische Regime betrachtet eine Besetzung Rojavas oder
zumindest von Teilen des kurdischen Kantons als sein „Recht“, das ihm als
Regionalmacht bei der Neuordnung Syriens zustehe. Die kurdische Bewegung wird
ebenso wie die PKK und alle anderen kurdischen Kräfte in der Türkei als
„terroristisch“ verleumdet – ein durchsichtiges Manöver, um den Angriff auf Rojava
mit fadenscheinigen Gründen zu legitimieren.

Den öffentlich verkündeten Abzug bzw. Rückzug von US-Truppen
verstand nicht nur die Türkei als Signal, dass die USA ihre einstigen
Verbündeten, die kurdische PYD (Partei der Demokratischen Union) und von ihr
dominierten „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF), endgültig fallengelassen
haben. Schon 2018, als die türkische Armee und von ihr unterstützte
islamistische Milizen das kurdische Efrîn okkupierten und ein eigenes
Terrorregime errichteten, versagten die USA ihren Verbündeten jegliche Hilfe.

Dies offenbart einmal mehr: Wer sich auf einen
imperialistischen Verbündeten verlässt, ist am Ende selbst verlassen. Die
kurdischen Selbstverteidigungskräfte PYD, YPG/JPG und die SDF trugen
bekanntermaßen die Hauptlast im Krieg gegen den klerikal-faschistischen sog.
„Islamischen Staat“ (IS). Auch wenn wichtige Teil des US-Militärs, der
Republikanischen und Demokratischen Partei ähnlich wie die meisten europäischen
ImperialistInnen mit Trumps Syrien-Politik nicht übereinstimmen, eine härtere
Gangart gegenüber Erdogan fordern und die SDF längerfristig als Verbündete und
Fußtruppen für die eigenen Interessen halten wollen, betrachten letztlich auch
sie die kurdische Bewegung nur als Mittel zum eigenen, imperialen Zweck. Das
Bündnis der PYD mit den USA hat den türkischen Angriff letztlich nicht
aufgehalten, sondern nur aufgeschoben auf den Moment, wo es den USA nicht mehr
nützlich erschien.

Ziele der Türkei

Nun wird die Türkei unter Erdogan versuchen, die Lage zu
ihren Gunsten zu nutzen, um einen bis 20–30 Kilometer tiefen „Korridor“ an der
türkischen Grenze zu errichten und zumindest Teile der kurdischen Gebiete zu
annektieren. Mit dem russischen Imperialismus, den der Despot vom Bosporus
sicherlich fürchtet, dürfte Erdogan ein Abkommen erzielt haben. Darauf deuten
jedenfalls seine eigenen Aussagen hin. Die zeitweilige Überlassung von Teilen
des syrischen Grenzgebietes scheint auch eine Art Entschädigung für die
Übergabe der Kontrolle der Region um Idlib an Assad und seine SchergInnen
darzustellen. Auch wenn Erdogan die Invasion als Zeichen der Stärke darstellt,
so sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türkei ihre Kriegsziele in
Syrien in den letzten Jahren herunterschrauben musste. Mit dem Sieg des
Assad-Regimes musste sich Ankara längst abfinden. Nur die Vernichtung jeder
Form kurdischer Selbstbestimmung und Autonomie, die Vernichtung eines
„KurdInnenstaates“ bleibt als Kriegsziel, das jedoch mit brutaler und
mörderischer Konsequenz verfolgt wird.

Daher wird die PYD als „terroristisch“ diffamiert. Die
türkische Öffentlichkeit soll durch die gleichgeschalteten Medien – unter
tatkräftiger Mithilfe der nationalistischen Opposition – auf Krieg eingeschworen
werden. Mittels enormer waffentechnischer Überlegenheit soll die von ihren
NATO-Verbündeten (und neuerdings auch von Russland) hochgerüstete Armee die
kurdische Bevölkerung demoralisieren und die KämpferInnen der SDF, von YPG und
YPI durch massive Bombardements vernichten oder vertreiben. Islamistische
Milizen und demoralisierte Einheiten der ehemaligen FSA, die praktisch zu
Erdogan-SöldnerInnen mutierten, sollen zumindest die an die Türkei grenzenden
Gebiete Rojavas besetzen, die kurdische Bevölkerung und alle weiteren
vertreiben, die sich ihrer Herrschaft von Erdogans Gnaden nicht beugen wollen.

Erdogans Invasion, würde sie Erfolg haben, liefe praktisch
auf die ethnische Säuberung dieser Gebiete hinaus, die von der türkischen Armee
und ihren reaktionären Verbündeten besetzt wären. Die Vertreibung
Hunderttausender in einem immer kleineren und immer unhaltbareren „Restkanton“
Rojava ist Teil des Plans, alle Formen und Institutionen kurdischer
Selbstverwaltung zu vernichten.

Dies stellt das eigentliche Kriegsziel der Türkei dar, mit
dem die USA und die EU, aber auch Russland, Iran und Assad durchaus leben
können. Letzterer bietet zur Zeit zwar den KurdInnen seinen „Beistand“, doch
dieser ist freilich nur zu haben, wenn sich die PYD vollständig seinem Regime,
seiner Armee, seinen Interessen unterordnet. Gerade die Erfahrung des
Bündnisses mit dem US-Imperialismus sollte den KurdInnen klarmachen, dass
solche opportunistischen Abenteuer letztlich nicht ihnen, sondern nur ihren
„Verbündeten“ nutzen, die sie jederzeit fallenlassen werden, wenn es ihnen
opportun erscheint. Eine solche opportunistische Politik hilft nicht nur den
ImperialistInnen oder reaktionären Regimen, sie unterminiert auch die
Möglichkeit, dort Verbündete zu finden, wo es allein verlässliche für die
kurdischen Massen geben könnte – unter den ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen
in den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie auf dem ganzen Globus.

Das Erdogan-Regime war immer eine aktive Partei im Kampf um
die reaktionäre Erstickung der ursprünglich demokratischen syrischen
Revolution. Es war immer an der Vernichtung der kurdischen Bewegung in Syrien
und erst recht in der Türkei interessiert. Jetzt versucht die Regionalmacht,
sich ihren Anteil an der „Beute“ und damit ein „Mitspracherecht“ bei der
zukünftigen Ordnung Syriens zu sichern.

Zynisch versucht Erdogan auch das sog. „Flüchtlingsproblem“
zu lösen. Hunderttausende syrische Geflüchtete sollen aus der Türkei oder der
Provinz Idlib in den zu erobernden Gebieten Rojavas „angesiedelt“ werden.
Gefragt werden sie dabei nicht. Auch sie sollen gegen die kurdische Bevölkerung
und Bewegung in Stellung gebracht werden, um eine spätere „Ordnung“ auf
nationalistischen Gegensätzen und Unterdrückung der KurdInnen aufzubauen.

Internationale Gemengelage

Gegen die offen reaktionäre Politik erheben die
VertreterInnen der EU, darunter auch die Bundesregierung, „Bedenken“. Der
scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker fordert die Einstellung der
türkischen Angriffe, zumindest aber ein „verhältnismäßiges“ Vorgehen. Der deutsche
Außenminister will ebenfalls eine Einstellung des Angriffs und fordert die
Türkei auf, „ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen“ –
eine diplomatisch verlogene Formulierung, die bei aller Kritik am
Erdogan-Regime implizit anerkennt, dass es in Rojava legitime
Sicherheitsinteressen verfolgt. Solche „FreundInnen“ werden für die KurdInnen
keinen Finger rühren. Erstens sind sie (und wohl auch große Teile des
US-Establishments) an einer Türkei interessiert, die ökonomisch nicht
zusammenbricht und auch nicht ins Lager von Putin abwandert. Zweitens
kritisieren sie zwar Erdogans Flüchtlingspolitik als zynisch – aufnehmen wollen
sie aber selbst keinen einzigen Menschen aus Syrien. Zur Not lassen eben auch
sie einmal mehr die KurdInnen fallen.

Erdogan und die türkische Regierung sind sich dieser
politischen Gemengelage bewusst. Sie wissen, dass sie, abgesehen von Rhetorik,
bei einer Invasion, die sich auf Teile Rojavas beschränkt, relativ wenig
unmittelbare Probleme zu erwarten haben, solange Russland diese toleriert.

Damit will die türkische Armee zugleich das Risiko großen,
dauerhaften Widerstandes verringern. Sie könnte militärische Erfolge als Mittel
nutzen, von den inneren Problemen im Land, allen voran der ökonomischen Krise,
abzulenken. Schließlich erweist sich „das Volk“ für den nationalistischen Wahn
dann am empfänglichsten, wenn das „eigene“ Land Siege vorzuweisen hat. Ein Sieg
Erdogans würde daher nicht nur für hunderttausende EinwohnerInnen Rojavas und
für das kurdische Volk eine barbarische Niederlage bedeuten, er soll auch dazu
dienen, die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in der Türkei an „ihren“
Präsidenten zu binden, also Erdogan und seine Herrschaft im eigenen Land zu
stärken.

Sieg für Rojava!

Daher müssen die gesamte internationale
ArbeiterInnenbewegung, die Linke, alle demokratischen und fortschrittlichen
Kräfte gegen die drohende Invasion der Türkei mobilisieren und, für den Fall
des Angriffs, für deren Niederlage eintreten. Wir treten für den Sieg der SDF
und der kurdischen Selbstverteidigungskräfte ein – und damit auch dafür, dass
sie die Mittel für diesen Sieg erhalten.

Der Kriegstreiber Erdogan wird nur gestoppt werden können,
wenn Millionen in Solidarität mit Rojava demonstrieren, wenn das türkische
Regime und die Armee selbst unter Druck geraten. Jede militärische
Unterstützung, jede Waffenlieferung an die Türkei muss sofort beendet werden.
Die ArbeiterInnenbewegung, allen voran die Gewerkschaften, müssen die
militärische und wirtschaftliche Unterstützung Erdogans durch Streiks und
ArbeiterInnenboykotts unterlaufen.

Die Grenzen der EU müssen für die syrischen Flüchtlinge
geöffnet werden, auch um zu verhindern, dass sie für Erdogans Krieg missbraucht
werden. Während die EU und andere imperialistische Staaten Erdogan verhalten
kritisieren und die KurdInnen für ihren Kampf gegen den IS loben, so verweigern
sie diesen nicht nur Hilfe – sie verfolgen vielmehr weiter kurdische
Organisationen wie die PKK in Europa. Damit muss Schluss sein – Aufhebung aller
Verbote kurdischer und türkischer revolutionärer, linker und demokratischer
Organisationen in der EU und in Deutschland!

Auch wenn die Türkei die Invasion in Rojava beschränken will
und daher zu vermeiden sucht, dass es zu einer offenen Konfrontation mit
syrischen, russischen, iranischen oder auch verbliebenen US-amerikanischen
Streitkräften kommt, so kann der Angriff sehr wohl zu einem Flächenbrand
werden. Der Nahe Osten ist längst zu einem zentralen Aufmarschgebiet im Kampf
um die Neuaufteilung der Welt geworden – daher kann jeder Konflikt auch
entgegen den unmittelbaren Kriegszielen und Absichten der einzelnen AkteurInnen
internationalen, globalen Charakter annehmen. Auch daher muss die
internationale ArbeiterInnenbewegung gegen den türkischen Angriff mobilisieren.
Ein erzwungener Rückzug der türkischen Armee oder ein erfolgreicher Widerstand
der KurdInnen könnten jedoch in Verbindung mit dem Aufbau einer internationalen
Solidaritätsbewegung, von Protesten, Streiks und Demonstrationen auch zu einer
fortschriftlichen Internationalisierung der Auseinandersetzung führen – nämlich
zur engeren Verbindung der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in der Türkei,
Syrien, im Iran oder auch dem Irak.

  • Beteiligt Euch an den Solidaritätsdemonstrationen und Aktionen!



Offene Grenzen statt Hölle von Moria!

Korrespondent REVOLUTION, Infomail 1071, 5. Oktober 2019

Am Sonntag, den 29. September  brach im Geflüchtetencamp Moria auf der griechischen Insel
Lesbos ein gewaltiges Feuer aus. Zwei Wohncontainer standen in Flammen und
rissen mindestens zwei Menschen – eine Mutter mit ihrem Kind – in den Tod. Die
BewohnerInnen des für 3.000 Menschen ausgelegten und aktuell von ca. 13.000
Menschen bewohnten Camps reagierten mit Protest und Ausschreitungen. Die
Repression ließ nicht auf sich warten: Während also das Feuer wütete, griff die
griechische Polizei die Menschen zusätzlich mit Tränengas an. Auf weiterhin
täglich stattfindende Proteste reagierte Griechenlands neue konservative
Regierung mit einer massiven Verstärkung der auf der Insel stationierten
Polizeieinheiten.

Das Camp Moria wurde aufgrund der unmittelbaren Nähe der Insel Lesbos zur Türkei seit 2015 schnell zum „Hotspot“. Seinen berüchtigten Ruf erhielt die „Hölle von Moria“ aufgrund der unhaltbaren Überbelegung und der unmenschlichen Zustände im Inneren. BewohnerInnen berichteten mehrfach von stundenlangen Warteschlangen für Mahlzeiten, miserablen hygienischen Zuständen und brutaler Gewalt. Frauen, Kinder und Angehörige unterdrückter Minderheiten, wie zum Beispiel KurdInnen, leiden besonders unter den katastrophalen Zuständen.

Die seit der Etablierung des sogenannten EU-Türkei-Deals
zurückgegangene Anzahl von Neuankünften schoss in den letzten Monaten erneut in
die Höhe und erreichte Ausmaße, wie sie zuletzt 2015 verzeichnet wurden. Allein
im September schafften es ca. 4.800 Menschen von der Türkei auf die Insel
Lesbos. Daneben existieren jedoch auch viele weitere griechische Inseln in der
Umgebung, an deren Küsten täglich Boote ankommen. Wir vermuten, dass die vielen
Neuankünfte ihren Ursprung in den angespannten Beziehungen zwischen der Türkei
und der EU haben. So könnte Erdogan mit einer Lockerung des EU-Türkei-Deals
drohen, also bewusst mehr Menschen aus der Türkei nach Griechenland
durchlassen, um die EU unter Druck zu setzen, ihm bei seinen Invasionsplänen in
Syrien nicht in die Suppe zu spucken.

Weiterhin werden täglich Menschen in das ohnehin überfüllte
Moria-Camp deportiert. Die Lage vor Ort spitzt sich deshalb weiter zu und die
Protestierenden fordern eine Überführung auf das Festland. Griechenlands
Regierungspartei „Nea Dimokratia“ reagiert mit Repression und
Asylrechtsverschärfungen, so wie sie es auch in ihrem rassistischen Wahlkampf
angekündigt hatte. Eine Krisensitzung des Ministerkabinetts beschloss, 10.000
Menschen wieder in die Türkei abzuschieben und geschlossene Gefängnisse für
abgelehnte Asylsuchende zu errichten. Anstatt sich der unmenschlichen Zustände
in Moria anzunehmen und den Leuten Schutz vor Verfolgung, Krieg und Armut zu
gewähren, setzt Ministerpräsident Mitsotakis auf den Ausbau der Festung Europa
und schnelle Abschiebungen. Rückendeckung erhält er dabei von PolitikerInnen
der EU, wie z. B. auch vom deutschen „Heimatminister“ Horst Seehofer.

Linke, AntifaschistInnen, soziale Bewegungen und vor allem
die Gewerkschaften müssen den Protesten in Moria nun zur Seite stehen und
gemeinsam Widerstand gegen die „Nea Diktatura“ aufbauen. Gründe dafür gibt es
viele: So ließ Mitsotakis in seiner kurzen Amtszeit bereits mehrere besetzte
Häuser in Athen räumen und schaffte das nach der Militärdiktatur 1982
etablierte „Universitäts-Asyl“ ab. Seine Politik ist es, die bereits von der
Syriza-Vorgängerregierung eingeführten Repressionsmaßnahmen zu verschärfen. Auf
gemeinsame Großdemos müssen deshalb Streiks in Betrieben, Unis und Schulen
folgen, um die von Mitsotakis und EU-MinisterInnen geplanten Abschottungs-,
Abschiebe- und Sparmaßnahmen zu stoppen.

Wir fordern:

  • Schluss mit der „Hölle von Moria“! Wohnungen statt überfüllter Container! Für sofortige dezentrale Unterbringungsmaßnahmen!
  • Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle! Für die Aufnahme aller Geflüchteten in die Organisationen unserer Klasse statt nationalistische Spaltung!
  • Für die Rücknahme aller rassistischen und repressiven Maßnahmen der Nea-Dimokratia-Regierung und den sofortigen Stopp des EU-Türkei-Deals!
  • Fähren statt Frontex, offene Grenzen statt Festung Europa!



Tayyip ist nicht willkommen! Tayyip hoş gelmesin!

Aufruf der Gruppe ArbeiterInnenmacht zu den Protesten gegen den Erdogan-Besuch, Infomail 1021, 21. September 2018

Am Freitag, dem 28. September, wird sich der türkische Präsident Erdogan in Berlin mit Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier treffen. Es geht bei diesem Treffen um die konkrete Planung der engeren Zusammenarbeit zwischen den beiden NATO-Partnern. Da sich die türkische Wirtschaft momentan in einer Krise befindet, wird die finanzielle Lage der Türkei dabei eine große Rolle spielen. Für Deutschland ist es eine gute Gelegenheit, ähnlich wie in Griechenland, Kredite zu vergeben, um größeren Einfluss auf die türkische Wirtschaft auszuüben und die dortige Bourgeoisie vor der Pleite zu retten. Die galoppierende Inflation und die Verschuldung des türkischen Staates und der Wirtschaft sind der Hebel, mit dem der deutsche Imperialismus seinen Einfluss auf die Türkei stärken will. Nicht Erdogan, sondern Merkel und das deutsche Kapital werden die Bedingungen diktieren, zu denen die Regionalmacht gefügig gemacht und der Einfluss des deutschen Kapitals vergrößert wird. Die Kosten dafür wird die arbeitende Bevölkerung zahlen müssen, wenn sie keinen Widerstand leistet.

Seit der letzten Woche protestieren 10.000 ArbeiterInnen auf dem dritten Flughafen in Istanbul gegen ihre furchtbaren Arbeitsbedingungen – 600 von ihnen wurden allein am 14. und 15. September verhaftet. Dass bei dem Treffen in Berlin die Politik Erdogans kritisiert werden wird, ist nicht zu erwarten, da sogar die MinisterInnen der SPD den Staatsempfang verteidigen. Heiko Maas bezeichnete Proteste gegen den Erdogan-Besuch gnädigerweise als „Teil der demokratischen Realitäten in unserem Land“, doch man habe kein Interesse daran, dass die innenpolitischen Konflikte aus der Türkei auch Deutschland erreichen. Wer sich das wünscht, der sollte sich das Problem nicht einladen.

Die deutsche Bundesregierung kooperiert seit Jahren mit dem AKP-Regime, liefert Waffen an die Türkei, betreibt politische Verfolgung von Oppositionellen innerhalb der BRD im Interesse Erdogans, während pro-AKP-Organisationen freie Hand gelassen wird. Sie unterstützt nicht zuletzt den Kampf der türkischen Regierung gegen die KurdInnen in der Türkei und Syrien. Besonders widerlich ist der 2015 ausgehandelte Flüchtlingsdeal, der die Türkei zur Türsteherin Europas gemacht hat. Der dortigen Regierung wurden bereits mehrere Milliarden Euro gezahlt, die jedoch nicht bei den Geflüchteten ankommen. Viele junge Menschen, die keine Perspektive mehr in der Türkei haben, die verfolgt werden oder unter dem Krieg im Osten des Landes leiden, sind in den letzten Jahren nach Deutschland geflohen. Doch die Mehrheit der Bevölkerung ist dem Terror ihrer Regierung weiterhin ausgesetzt, die es verdient, mit Widerstand und Protest empfangen zu werden. Ein reibungsloser Besuch bei der deutschen Regierung ist das, was sich Erdogan erhofft, denn dies verschafft seinem Regime internationale Legimiation, die er braucht, um InvestorInnen anzuziehen.

Umgekehrt will die Regierung den Besuch des Autokraten nutzen. Schließlich ist jetzt die Gelegenheit günstig, ihm die Bedingungen des deutschen Imperialismus aufzudrücken, braucht er doch dringend GeldgeberInnen und InvestorInnen. Erdogans Krieg gegen die KurdInnen, die Besetzung Afrins, die Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse und der demokratischen Rechte sind für die Bundesregierung letztlich nur „Nebenfragen“, die sie an der Verfolgung ihrer wirtschaftlichen und geo-strategischen Interessen nicht hindern dürfen.

Doch diese Freude werden wir weder Erdogan noch der Bundesregierung machen! In Solidarität mit der arbeitenden Bevölkerung der Türkei, die eine Abwälzung der Krise auf sich abwehren muss, mit der Frauenbewegung, die ihre Rechte verteidigt, und mit der kurdischen Bevölkerung, deren politische Organisationen regelrecht zerschlagen werden, sowie mit allen anderen Unterdrückten rufen wir zum Protest gegen den Erdogan-Besuch auf. Linke Organisationen und Parteien sowie die Gewerkschaften in Deutschland müssen gemeinsam mit den linken Organsationen der kurdischen und türkischen MigrantInnen deutlich machen, dass sie den schmutzigen Deal zwischen der Bundesregierung und dem türkischen Diktator ablehnen. Bereits jetzt ist ein massives Polizeiaufgebot angekündigt, das Protestierende abschrecken soll, doch wir lassen uns nicht einschüchtern!

Kommt zu den Protesten!

Freitag, 28.09. // Großdemo „Erdogan not welcome!“ // Berlin // 16:00 Potsdamer Platz

Route der „Erdogan not welcome“-Großdemonstration am 28.09. in Berlin: Auftakt 16:00 Uhr Potsdamer Platz – Potsdamer Str. – Reichpietschufer – Klingelhöferstr. – Hofjägerallee – Großer Stern – Spreeweg – Schloss Bellevue

Samstag, 29.09. // Großdemo // Köln // 10 Uhr: Großkundgebung auf der Deutzer Werft

11 Uhr: Eröffnung, 12 Uhr: Demonstration durch die Kölner Innenstadt, Ab 14 Uhr Abschlusskundgebung auf der Deutzer Werft- Köln

Weitere Infos über die Aktionen: Erdogan Not welcome!