Linksradikale Bündnispolitik zwischen Sektierertum und Pragmatismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 281, April 2024

Auf den ersten Blick scheint Bündnispolitik eine einfache Sache zu sein. Zwei oder mehr Gruppierungen, Parteien, Organisationen schließlich sich für einen bestimmen gemeinsamen Zweck zusammen. Doch welchen Zweck verfolgen diese Bündnisse eigentlich? Geht es darum, ein bestimmtes gemeinsames Ziel durchzusetzen? Oder darum, eine längerfristige Einheit von „Revolutionär:innen“ in Form eines „revolutionären Bündnisses“ zu schaffen? Mit wem können diese eingegangen werden? Nur mit „Linken“? Mit welchen Klassenkräften? Nur mit der Basis oder auch mit der Führung reformistischer (bürgerlicher) Arbeiter:innenorganisationen? Oder sind für bestimmte Aktivitäten – z. B. im Kampf gegen den Faschismus – für uns sogar alle „Demokrat:innen“ Bündnispartner:innen? Wie weit kann sich ein solches Bündnis erstrecken? Nur für bestimmte Aktionen oder auch den Eintritt in eine Regierung?

Auf diese Fragen geben die verschiedenen Organisationen der deutschen Linken fast ebenso viele Antworten. Auf sich alleine gestellt kann keine linke Kraft etwas durchsetzen. Diese Binsenweisheit betrifft nicht nur die radikale Linke, sondern auch die reformistischen Organisationen (z. B. die Linkspartei), populistische Kräfte wie BSW, linke Sozialdemokrat:innen. Kein Wunder also, dass die Frage nach gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit in der „radikalen“ Linken, die selbst politisch, programmatisch und hinsichtlich ihres Klassenstandpunktes überaus heterogen ist, eng an „Bündnispolitik“ gekoppelt ist.

Und das durchaus mit Recht. Schließlich erfordern die Abwehr grundlegender politischer und wirtschaftlicher Angriffe wie auch die Erringung von Verbesserungen (Reformen) Massenkräfte, über die die radikale Linke schlichtweg nicht verfügt. Ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit stellt im Grunde kein Rätsel dar – und die Lösung desselben besteht nicht darin, dass die „radikale“ Linke für sich stark genug wird, etwas „alleine“ durchzusetzen.

Keine Bündnispolitik ist auch keine Lösung

Der Charme dieser Vorstellung, sofern man davon überhaupt sprechen kann, besteht wohl darin, dass man sich damit sämtliche Fragen von Bündnispolitik mit „nicht-revolutionären“, nicht „antikapitalistischen“ Kräften spart, diese allenfalls auf episodische Aktionen beschränkt und ansonsten hofft, irgendwann einmal so stark zu sein, wenn schon nicht die Welt selbst aus den Angeln heben, so doch seinen eigenen „Freiraum“ oder „Space“ verteidigen zu können.

Ironischerweise ähnelt diese linksradikale Vorstellung dem sozialdemokratischen Gradualismus mehr, als ihr lieb sein kann. So gingen die Parteien der Zweiten Internationale vor dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass der Aufbau der eigenen, einheitlichen Arbeiter:innenbewegung schrittweise, aber faktisch unaufhaltsam so vorangehen würde, bis eine expandierende Gewerkschaftsbewegung, eine parlamentarisch und organisatorisch immer stärkere Partei sowie zahlreiche Vorfeldorganisationen dereinst so stark würden, dass  ihnen bei einer tiefen Krise der Gesellschaft die Macht als Mehrheit der Gesellschaft zufiele.

Die Vorstellung, sich selbst durch den Aufbau eigener „Gegenstrukturen“, durch eine „autonome“ Gegenwelt, Kiezarbeit oder den Aufbau „eigener“ Gewerkschaften, unabhängig von existierenden, wenn auch verbürokratisierten und sozialdemokratisch geprägten, aufzubauen und schließlich mehr und mehr „Gebiete“ für sich zu erringen, weiter zu expandieren, reproduziert im Grunde den sozialdemokratischen Gradualismus, wenn auch mit viel verbalradikalem Glitzern.

In beiden Fällen erscheint die Frage der Bündnispolitik und damit des Verhältnisses zu anderen Kräften der Arbeiter:innenbewegung, der gesellschaftlich Unterdrückten wie auch gegenüber klassenübergreifenden Bewegungen, die oft von kleinbürgerlichen oder gar bürgerlichen Kräften dominiert sind, allenfalls als Nebenfrage. „Revolutionäre“ oder „linksradikale“ Politik ist in diesem Kontext letztlich wesentlich selbstreferentiell, fokussiert sich im Grunde auf die Ausdehnung des eigenen Milieus, der eigenen Kiezstrukturen oder, im Falle des Anarchosyndikalismus, der eigenen Gewerkschaft.

Veränderte Lage und Fehler

Doch die Erfahrung zeigt, dass die Angriffe der herrschenden Klasse und der Rechtsruck diese „eigenen“ Strukturen mehr und mehr zurückdrängen. Dies führte dazu, dass viele linksradikale Gruppierungen einen Kurs auf eine „flexiblere“ Bündnispolitik eingeschlagen haben, wobei dann oft genug das selbstreferentielle Sektierertum in sein Gegenteil, nämlich Pragmatismus und Opportunismus, umschlägt. Häufig erleben wir zudem eine Mischung aus beiden Phänomenen.

So stellen sich gerade deutsche Linke, die Bündnisse schmieden wollen, oft nicht so sehr die Frage, welche Kräfte für eine bestimmte gemeinsame Aktion, eine Demonstration gewonnen werden können, sondern wer als möglicher Partner erst gar nicht infrage kommt. Andere wiederum gehen davon aus, dass Bündnisse beinhalten, dass die teilnehmenden Organisationen ihre Differenzen zumindest für dessen Dauer hintanstellen, ihre Partner:innen nicht öffentlich kritisieren.

Zumeist treten diese beiden Fehler kombiniert auf – und zwar nicht nur bei gesellschaftlich wenig relevanten Kleinstaktionen, sondern auch in den wenigen Fällen, wo die radikale Linke wirklich relevante Kampagnen auf die Beine stellt. So z. B. in Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Einerseits verteidigte die politisch maßgebliche Interventionistische Linke dort jahrelang eine Politik, die die Linkspartei nicht nur richtigerweise als Verbündete ins Boot holte, sondern zugleich auch vor jeder Kritik abschirmte. Sie verhielt sich opportunistisch gegenüber dem Reformismus. Gegenüber revolutionären Organisationen wie der Gruppe Arbeiter:innenmacht verhielt sie sich hingegen sektiererisch und führte einen regelrechten Kleinkrieg, um Diskussionen und demokratische Debatten über die Strategie von DWe abzuwürgen. Diese Politik war letztlich mitverantwortlich dafür, dass DWe trotz eines riesigen Abstimmungserfolges und einer breiten Aktivist:innenbasis keine Antwort auf die Taktik des rot-rot-grünen Senats (einschließlich der Linkspartei) hatte, die den Volksentscheid in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgte.

Bedeutung

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Frage einer korrekten Bündnispolitik keineswegs nur eine von theoretischen Diskussionen ist, sondern trotz der Marginalisierung und geringen Größe der „radikalen Linken“ eine aktuelle darstellt. Daraus folgt die Notwendigkeit, diesen Themenkomplex systematischer zu diskutieren und fassen.

Es zeigt sich dabei, dass der Begriff „Bündnispolitik“ selbst ein oberflächlicher ist. Die Frage nach einer revolutionären Politik gegenüber anderen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung kann letztlich nur beantwortet werden, wenn wir sie im Rahmen des Klassenkampfes, des Kampfes um die sozialistische Revolution und Transformation der Gesellschaft begreifen.

Für Revolutionär:innen folgen die Prinzipien einer korrekten Bündnispolitik aus dem Verständnis des Klassenkampfes sowie des Verhältnisses zu anderen Organisationen der Bewegung der Lohnabhängigen, zu Parteien und Gewerkschaften.

Klasse und revolutionäre Organisation

Die Arbeiter:innenklasse tritt in den Klassenkampf immer schon als historisch geformte. Sie ist nie einheitlich, sondern schon aufgrund der Kapitalbewegung, die ihrer eigenen Formierung den Stempel aufdrückt, in sich differenziert. Hinzu kommt, dass das gesellschaftlich grundlegende Klassenverhältnis immer mit anderen Unterdrückungsverhältnissen verwoben ist und mit diesen reproduziert wird.

Schließlich ist jede Klasse auch ideologisch, politisch und gewerkschaftlich sowie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Klassen geformt. In Deutschland z. B. prägten (und prägen bis heute) der Reformismus der Sozialdemokratie, den die Linkspartei letztlich nur „links“ kopiert, sowie die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter:innenklasse. Dies beinhaltet auch eine spezifische Form der Trennung zwischen ökonomischen und politischem Kampf. Die radikale Linke war gegenüber diesen Kräften über Jahrzehnte weitestgehend marginalisiert, was auch die relative Stärke kleinbürgerlicher Ideologien in ihren Organisationen erklärt.

Uns geht es an dieser Stelle jedoch nicht um eine detaillierte Analyse der deutschen Arbeiter:innenklasse, sondern vor allem um ein alle kapitalistischen Gesellschaften charakterisierendes Phänomen. Die Lohnabhängigen selbst sind politisch-ideologisch gespalten. Der Kampf gegen das Kapital und für politische Reformen (ganz zu schweigen von der Revolution) erfordert aber in allen seinen Formen eine größtmögliche Einheit. Das wird in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar nachvollziehbar. Kein Streik ist lange durchhaltbar, wenn ihm eine Mehrheit der Arbeiter:innen feindlich gegenübersteht.

Doch wie entsteht diese Einheit? Wären alle oder jedenfalls die überwiegende Mehrheit der Arbeiter:innen in einer revolutionären Partei vereinigt, so würde sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Organisationen nicht stellen. Aber diese Phase der alle Lohnabhängigen umfassenden Arbeiter:innenbewegung gab es allenfalls in Ansätzen in der vorimperialistischen Epoche. Mit der grundlegenden und historisch unwiderruflichen Trennung von revolutionär-kommunistischer Arbeiter:innenbewegung und Reformismus als bürgerlicher Kraft in der Arbeiter:innenbewegung, dessen Wurzeln selbst in der imperialistischen Ordnung liegen, ist diese Phase unwiederbringlich vorbei. Die langfristige, strategische Einheit von Revolutionär:innen und Reformist:innen ist in der imperialistischen Epoche utopisch und reaktionär, weil beide letztlich gegensätzliche Klassenstandpunkte vertreten – den Sturz des Kapitalismus oder dessen Verwaltung. Der Reformismus ist nicht einfach ein langsamerer Weg zum sozialistischen Ziel, sondern verteidigt vielmehr in allen entscheidenden großen Klassenkämpfen die bestehende Ordnung.

Doch revolutionäre Politik, also die kommunistischer Parteien (oder von Organisationen, die eine solche aufbauen wollen), kann ihr strategisches Ziel – die sozialistische Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats – letztlich nur erreichen, wenn sie die nicht-kommunistischen Arbeiter:innen für den gemeinsamen Kampf gegen das Kapital gewinnt, ihnen praktisch den bürgerlichen Charakter der Politik ihrer reformistischen Führungen vor Augen führt und so deren verräterische Praxis entlarvt.

Strategie und Taktik

Die Kommunistische Internationale hat diese Fragen der „Bündnispolitik“ unter Führung Lenins und Trotzkis beim Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale unter dem Begriff Arbeiter:inneneinheitsfront systematisiert. Dabei überwand sie zahlreiche linksradikale Fehler und Irrtümer, die sich jedoch mit der Degeneration der KI unter Sinowjew sowie unter Stalin wiederholten (z. B. in der sog. Dritten Periode), um schließlich durch die opportunistische Politik der Volksfront ersetzt zu werden.

Für das Verständnis der Einheitsfrontpolitik stellen die Debatten und Beschlüsse der ersten vier Kongresse der KI, Lenins Polemiken gegen den „Linksradikalismus“ sowie Trotzkis Arbeiten zur Einheitsfront (z. B. in den „Schriften über Deutschland“) einen unschätzbaren Fundus dar.

Dabei sind mehrere Punkte von entscheidender Bedeutung. In der KI wurden – anders als in der Zweiten Internationale – Fragen der Taktik im Rahmen der kommunistischen Strategie der Machteroberung des Proletariats systematisch behandelt. Dabei bleibt natürlich die Taktik immer der Strategie untergeordnet, was aber keineswegs bedeutet, dass taktische Fragen einen nebensächlichen Charakter trügen. Vielmehr bleibt das strategische Ziel unerreichbar, wenn der Weg dahin nicht durch eine korrekte Durchführung kommunistischer Taktiken beschritten wird. Ohne diese Konkretisierung und Vermittlung hängt die strategische Zielsetzung im luftleeren Raum, verkommt zu einem bloßen Bekenntnis.

Ziele der Einheitsfront

Für die KI verfolgt die Einheitsfronttaktik zwei Ziele. Einerseits die Herstellung der größtmöglichen Kampfeinheit aller Arbeiter:innenorganisationen. Andererseits die Entlarvung der reformistischen, kleinbürgerlichen, bürokratischen Führungen dieser Organisationen als Agent:innen der Bourgeoisie, die unfähig sind, das Proletariat zum Sieg zu führen.

Eine korrekte Anwendung der Einheitsfronttaktik darf dabei keines der beiden Ziele zum „eigentlichen“ oder gar alleinigen verklären. Eine Einheitsfronttaktik, die nur auf die Denunziation des Reformismus zielt, beispielsweise indem Forderungen zur Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf gemacht werden, die reformistische Arbeiter:innen und Führer:innen ablehnen, weil sie Reformist:innen sind, ist nutzlos und schadet mehr, als sie nützt. So macht es keinen Sinn, die reformistischen Führungen dadurch vorzuführen zu wollen, dass man den Kampf für die Diktatur des Proletariats oder sozialistische Revolution zum „Programm der Einheitsfront“ machen will. Dies wird vielmehr von Führung wie Basis des Reformismus als Ultimatum begriffen werden. Es macht das Ziel der Einheitsfronttaktik – nämlich die reformistischen Arbeiter:innen durch die gemeinsame Aktion oder das Angebot dafür von der Untauglichkeit des Reformismus zu überzeugen – letztlich zur Vorbedingung für die Einheitsfront.

Ein umgekehrter Fehler bestände jedoch darin, einen Einheitsfrontvorschlag immer nur darauf zu begrenzen, was für die reformistischen Führungen annehmbar ist. So wäre es z. B. ein schwerer Fehler gewesen, im Kampf gegen die Rentenreform Macrons, einen Generalangriff auf die gesamte Arbeiter:innenklasse, dessen Abwehr einen Generalstreik erfordert hätte, auf die Generalstreiklosung zu verzichten oder diese nicht an die Führungen der Gewerkschaften zu richten, weil diese ja ohnehin dagegen wären. Kommunist:innen müssen vielmehr einen Einheitsfrontvorschlag für ein bestimmtes Ziel – in diesem Fall die Abwehr der Rentenkürzungen – damit verbinden, Kampfmethoden vorzuschlagen, die für sein Erreichen notwendig sind.

Es geht also nicht darum, immer die radikalste Aktionsform vorzuschlagen, sondern eine, die einem bestimmten Ziel angemessen ist. So wäre es z. B. albern, in jedem Tarifkampf auch gleich den Generalstreik zu fordern. Damit würden nicht die Bürokrat:innen entlarvt. Vielmehr erschienen die Revolutionär:innen in den Augen der Arbeiter:innen nur als Maulheld:innen und unverantwortliche Abenteuer:innen.

Führung und Basis

In jedem Fall ist es aber von grundlegender Bedeutung, Einheitsfrontangebote und Forderungen nicht nur an die Führungen der reformistischen Arbeiter:innenorganisationen, sondern auch an deren Basis zu richten. Umgekehrt stellt ein Vorschlag, der sich nur an die Basis richtet, die sog. „Einheitsfront von unten“, selbst einen ultimatistischen Bruch mit der gesamten Taktik dar. Ähnlich wie rein denunziatorische „Angebote“ setzt die Forderung an die Mitglieder der Linkspartei oder der SPD oder jeder anderen bürgerlichen Arbeiter:innenorganisation, ohne ihre Führung, ohne ihre Partei in ein Bündnis einzutreten, im Grunde den Bruch mit ihrer Organisation voraus.

Schließlich geht es auch darum, der jeweiligen Einheitsfront angemessene Formen zur Organisierung des Kampfes vorzuschlagen. So wäre es z. B. bei Streikkämpfen immer notwendig, die Frage von Belegschafts- und Abteilungsversammlungen sowie der Wahl und Abwählbarkeit von Streikkomitees aufzuwerfen, gewissermaßen der Basisstrukturen der Einheitsfront.

Unterschiedliche Formen

Da die Arbeiter:inneneinheitsfront sehr viele Formen annehmen kann, von einmaligen Aktionen (z. B. eine Solidaritätsdemonstration) bis hin zu längerfristig angelegten Formen (z. B. die Arbeiter:inneneinheitsfront gegen Faschismus, Aufbau von Selbstverteidigungsorganen) und sie zudem in sehr verschiedenen Klassenkampfsituationen angewandt wird, gibt es kein festgelegtes Programm dafür. Um welche Forderungen eine solche gebildet werden soll und was dabei im Vordergrund steht, hängt vielmehr von der Klassenkampfsituation ab. In jedem Fall sollten Revolutionär:innen die Einheitsfront auf den Kampf um klar umrissene, konkrete Ziele und Forderungen konzentrieren, ja beschränken.

Das Ziel der Einheitsfront bzw. der Anwendung der Einheitsfronttaktik besteht nicht darin, einen möglichst langen Katalog gemeinsamer Ziele zu formulieren, sondern darin, eine verbindliche und überprüfbare Aktion durchzuführen. Weniger ist hier in der Regel besser. Lange Forderungskataloge, die neben den eigentlichen Aktionszielen zahlreiche andere an sich wünschenswerte, gar radikale, antikapitalistische Formulierungen enthalten, bringen die Aktion nicht weiter. Entweder liefern sie den Reformist:innen einen Vorwand, sich nicht zu beteiligen. Oder sie erlauben ihnen, sich durch verbale Bekenntnisse als linker hinzustellen, als sie sind. Hier schlägt die Absicht, einen radikalen Aufruf zu verbreiten, ungewollt in eine politische Hilfeleistung für den Reformismus um.

Massenorganisationen

Entscheidend bei der Einheitsfronttaktik ist schließlich auch, dass sie sich an Massenorganisationen richtet. Für die KI bezog sie sich vor allem auf die reformistischen, sozialchauvinistischen Parteien und die von ihnen geführten Gewerkschaften. Die Einheitsfront ist ausdrücklich kein Personenbündnis oder eine Sammlung möglichst vieler Individuen. Die Tatsache, dass die Einheitsfront auch erklärten Feind:innen der Revolution vorgeschlagen wird und mit ihnen eingegangen werden kann und soll, führte und führt immer wieder zu Vorbehalten gegenüber dieser Taktik. Schließlich hatte die deutsche Sozialdemokratie nicht nur den imperialistischen Krieg unterstützt, sondern maßgeblich zur Niederschlagung der Revolution samt der Ermordung von Luxemburg, Liebknecht und Tausender revolutionärer Arbeiter:innen beigetragen. Diese Kritik, so die KI, dürfen Revolutionär:innen natürlich nie verschweigen. Aber die Frage der Einheitsfront, die, so Lenin, auch mit des Teufels Großmutter möglich wäre, wenn sie eine verbürgerlichte, proimperialistische Arbeiter:innenpartei führen würde, bezieht sich letztlich darauf, wie Kommunist:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und vor allem ihren reformistischen Teil für ihre Programmatik gewinnen können. Wie lange die Taktik notwendig bleibt, hängt nicht davon ab, wie viele Verbrechen die reformistischen Führungen schon begangen haben, sondern davon, wie lange sie sich einen Einfluss über einen bedeutenden Teil der Arbeiter:innenklasse bewahren können.

Wenn wir diese historischen Lehren heute anwenden wollen, so müssen wir auch verstehen, dass die Grundprinzipien der Einheitsfrontmethode für kommunistische Parteien, nicht für Propagandagruppen entwickelt wurden. Eine Arbeiter:inneneinheitsfront im eigentlichen Sinn ist ein Abkommen zwischen revolutionären und reformistischen Massenorganisationen, nicht zwischen kleinen Gruppen. Denn nur Erstere sind in der Lage, auch wirklich die gemeinsamen Ziele gegenüber dem Klassenfeind durchzusetzen, weil sie – im Gegensatz zu kleinen Gruppen – über die dazu nötigen Machtmittel verfügen.

Der KI war darüber hinaus bewusst, dass die Reformist:innen in der großen Mehrzahl der Fälle eine Einheitsfront erst gar nicht eingehen würden, dass ihre Führungen es vorziehen, den Kampf zu hintertreiben oder mit offen bürgerlichen Kräften zu paktieren, statt mit den Kommunist:innen gemeinsame Sache zu machen. Darin drückt sich die vom reformistischen Standpunkt aus durchaus nachvollziehbare, antirevolutionäre Position aus, dass der gemeinsame Kampf mit Kommunist:innen die reformistischen Arbeiter:innen deren Argumenten stärker aussetzt, die Kommunist:innen den Unmut der reformistischen Arbeiter:innen aufgreifen. Daher antworteten sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaftsführungen in der Geschichte oft ablehnend auf kommunistische Einheitsfrontangebote. Doch dieses Nichtzustandekommen macht die Taktik keineswegs nutzlos, vielmehr erstreckt sie sich auch auf diesen vorbereitenden Weg. Lehnen nämlich die reformistischen Führer:innen einen in den Augen der reformistischen Arbeiter:innen vernünftigen und ernsthaften Vorschlag ab (oder gehen sie gar repressiv gegen Mitglieder vor, die für die Einheitsfront eintreten), so nützt auch das den Kommunist:innen.

Umgekehrt kann eine Einheitsfront von Kommunist:innen auf keinen Fall zurückgewiesen werden, weil die Reformist:innen bei einem erfolgreichen Kampf auch an Einfluss gewinnen könnten. In manchen Fällen mag das durchaus der Fall sein. Doch kommt dies einem klassenpolitischen Tunnelblick gleich, zumal in Krisenperioden. Nehmen wir einmal an, die Gewerkschaftsbürokratie würde unter dem Druck von unten und einer sich formierenden klassenkämpferischen Opposition einen erfolgreichen Streik führen müssen und echte Lohnzuwächse oder eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich erzielen. Das Prestige dieser Führung würde steigen, eventuell auch die Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems, weil man ja eine erfolgreiche Reform durchgesetzt hat.

Aber es würde auch das Selbstvertrauen und -bewusstsein der Arbeiter:innen in diesem Wirtschaftszweig sowie der gesamten Klasse heben. Gleichzeitig würde sich die herrschende Klasse, die ohnedies unter verschärfter globaler Konkurrenz steht, mit einem solchen Abkommen nicht abfinden wollen, sondern möglichst rasch versuchen, den Erfolg rückgängig zu machen und den Arbeiter:innen eine Niederlage beizufügen. Die reformistischen Führer:innen würden so von allen Seiten unter Druck geraten und die Aufgabe der Revolutionär:innen bestünde darin, diesen durch eine systematische Einheitsfrontpolitik zu verstärken und die Arbeiter:innen auf die nächste Runde des Kampfes vorzubereiten. Denn auch wenn reformistische und bürokratische Führungen durchaus an der Spitze erfolgreicher Teilkämpfe stehen können, so lässt die aktuelle Lage nicht zu, dass sich ein längerfristiges System des sozialpartnerschaftlichen „Klassenausgleichs“ wieder stabilisiert.

Und genau darin – diese Teilkämpfe als Teil eines längerfristigen Ringens um den Sozialismus zu begreifen und führen – unterscheidet sich die revolutionäre von der reformistischen Strategie. In diesem Kontext bildet die Einheitsfronttaktik historisch wie aktuell ein unerlässliches Mittel des Kampfes für die Revolution.

Zu Recht wurde die Einheitsfrontmethode oft mit der militärischen Metapher „Getrennt marschieren – vereint schlagen!“ zusammengefasst. Sie stellt eine flexible, sehr variantenreiche Taktik der gemeinsamen, einheitlichen Aktion gegen den Klassenfeind dar. Zugleich erfordert sie jedoch unbedingt, dass Revolutionär:innen in keiner Phase – auch nicht in der gemeinsamen Aktion – ihre eigentlichen Ziele vor den Massen verbergen und auf die notwendige und berechtigte Kritik an nicht-revolutionären Verbündeten verzichten. Einheitsfront und Propagandafreiheit müssen vielmehr Hand in Hand gehen. Nur so können die beiden Ziele dieser Taktik – größtmögliche Einheit gegen das Kapital und Entlarvung der reformistischen Führungen – erreicht werden. Nur so kann die Taktik als unerlässliches Werkzeug zum Aufbau einer revolutionären Partei fungieren.

Anhang: Einheitsfront und Propagandagruppen

Die Einheitsfronttaktik im eigentlichen Sinn ist die einer kommunistischen Partei gegenüber Massenorganisationen. In Deutschland befindet sich die radikale Linke seit Jahren in einem Zustand der Marginalisierung, der es ihr in der Regel verunmöglicht, Massenorganisationen unter Druck zu setzen oder gar zur Aktion zu zwingen. Dies ist allenfalls möglich, wenn es größere gesellschaftliche Bewegungen gibt und kleinere Gruppen ihre Kräfte bündeln, um Druck auf Massenorganisationen für bestimmte, spezifische Forderungen auszuüben.

Unabhängig davon besteht für Vorformen revolutionärer Organisationen auch immer die Pflicht zu skizzieren, welche Taktiken, welche Bündnisse, welche Forderungen und Aktionsformen notwendig wären, um zentrale gesellschaftliche Kämpfe zum Erfolg zu führen. Das schließt notwendigerweise die Propagierung der Einheitsfronttaktik ein, d. h. eine Skizze, welche Massenkräfte in Bewegung gesetzt, welche Forderungen gegenüber bestehenden Massenorganisationen erhoben werden müssen, um diese in Bewegung zu bringen. Ansonsten bleibt die Propaganda letztlich abstrakt. Die Erarbeitung und Herleitung eines richtigen Verständnisses der Einheitsfrontpolitik ist selbst ein unerlässlicher Bestandteil dieser Arbeit.

Die deutsche radikale Linke will davon in der Regel jedoch nichts wissen. Das spiegelt selbst die Isolierung von der Arbeiter:innenklasse wider, die sich nicht nur auf politischer, sondern auch auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene offenbart. Hinzu kommt, dass ein Teil der Linken dieses Problem durch Anpassung an die Apparate (Entrismus in DIE LINKE, Posten in den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, Versorgungsposten in der akademischen Welt) löst. Dies gilt anderen Teilen der Linken durchaus nachvollziehbar als abschreckendes Beispiel.

Daher verfällt ein anderer, scheinbar radikalerer Teil der deutschen Linken auf den ultralinken Fehler, am liebsten Bündnisse mit sich selbst zu machen, bis hin zu sog. „revolutionären Bündnissen“. Für die Tradition der KI stellen diese eigentlich ein Unding dar, bezieht sich doch das eigentliche Problem der gesamten Einheitsfrontpolitik auf das Verhältnis von revolutionären zu nicht-revolutionären, bürgerlichen, letztlich oft konterrevolutionären Arbeiter:innenorganisationen.

Nehmen wir das „revolutionäre“, „linksradikale“ Bündnis beim Wort, so handelt es sich um keine Einheitsfront. Sollte sich ein solches Bündnis als revolutionär bezeichnen, so wirft das unmittelbar die Frage auf, was eigentlich „revolutionär“ bedeutet. Sollte es wirklich so viele Gemeinsamkeiten geben, dass Übereinstimmung nicht nur bezüglich des allgemeinen Zieles, sondern auch zu vielen grundlegenden theoretischen Fragen, zur Einschätzung der Weltlage, zu programmatischen und taktischen Schlüsselfragen (Krieg, Krise, Taktik gegenüber Gewerkschaften und anderen Arbeiter:innenorganisationen, sozialer Unterdrückung, Übergangsmethode usw.) besteht, so müssten sich die in einem solchen Bündnis versammelten Gruppen nicht die Frage nach einem Bündnis, sondern nach einer programmatischen Diskussion mit den Ziel der revolutionären Vereinigung stellen.

Ein Blick auf die meisten „radikalen“ oder „antikapitalistischen“ Bündnisse zeigt aber, dass die Gruppen darin im Grund nur ein Bekenntnis zur „Revolution“ oder einer „anderen Gesellschaft“ eint, ansonsten aber grundlegende Differenzen vorherrschen. Es handelt sich um eine Pseudoeinheit, die weder für den konkreten Kampf hilfreich ist noch zur politischen Klärung beiträgt. Im schlimmsten Fall ist es ein politisches Stillhalteabkommen, bei dem falsche Programmatik und Politik der „Bündnispartner:innen“ nicht weiter kritisiert werden.

Im Grunde legen alle solche Bündnisse immer eine Tendenz zu einem Propagandablock und politischen Stillhalteabkommen politisch-ideologisch weit entfernter oder gar gegensätzlicher Gruppen an den Tag. Sie werden direkt kontraproduktiv für den Klassenkampf und daher für Kommunist:innen unzulässig, wenn sie sich als Alternative zur Gewinnung von Massenorganisationen für den Kampf betrachten.

Bündnisse und Initiativen auch kleiner linker Gruppen können jedoch eine fortschrittliche Rolle spielen, wenn sie nicht einfach das bleiben wollen, was sie sind. So waren verschiedene kleinere linke Gruppen und die Gewerkschaftslinke Anfang des Jahrhunderts im Anschluss an die Bewegung gegen Hartz IV in Aktionskonferenzen in der Lage, große Proteste gegen die Angriffe der Regierung Schröder/Fischer zu organisieren. Diese mündeten in einer bundesweiten Demo gegen Sozialabbau mit 100.000 Teilnehmer:innen, die ihrerseits den DGB zu regionalen Demonstrationen mit weit über eine halben Million Gewerkschafter:innen zwang, wenn auch nur einmalig. Auch die Bildungsstreikbewegung ging ursprünglich von kleineren Gruppen und Bündnissen aus, zwang aber Student:innenvertretungen und größere Organisationen zu Mobilisierungen, an denen sich bundesweit weit mehr als 100.000 Jugendliche beteiligten.

Ein weiteres, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel dafür sind klassenkämpferische Blöcke am Ersten Mai. Sie stellen Mittel dar, um einen gewissen Einfluss auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen zu nehmen und diese mit einer weitergehenden Perspektive zu konfrontieren. Daher arbeiten wir auch in der VKG, die selbst sowohl Züge eines linken Bündnisses trägt, zugleich aber den Keim einer klassenkämpferischen Basisbewegung, einer Art Einheitsfront gegen die Bürokratie in den Betrieben und Gewerkschaften darstellt. In dem Maße, in dem sie die Gewinnung der Massenorganisationen der Arbeiter:innen für die jeweiligen Ziele des Kampfes in den Vordergrund rücken und, wie im Falle der VKG, die klassenkämpferische, antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften, können auch Bündnisse von Propagandagruppen als Formen der Einheitsfront verstanden werden. Es muss aber immer bewusst sein, dass diese Miniaturfronten nur einen schwachen Keim dafür pflanzen können. Unter dieser Voraussetzung aber können sie zum wirklichen Mittel geraten, damit auch kleine Gruppierungen in der Lage sind, Massenkräfte in die Aktion zu zwingen, sodass die Keimform zum Mittel wird, wirkliche Einheitsfronten der Arbeiter:innen und Unterdrückten herzustellen. Dadurch können auch kämpfende Propagandagruppen einen Faktor bei größeren Mobilisierungen darstellen und eine aktive Rolle darin spielen.




Solidarität mit dem Streik im Handel

Mattis Molde, Infomail 1237, 17. November 2023

Seit April 2023 laufen die Tarifverhandlungen im Handel. Seitdem werden sie von Seiten der Bosse verschleppt. Das hat allerdings zur Situation geführt, dass trotz unterschiedlicher Laufzeiten jetzt alle im Arbeitskampf stehen. In den letzten Wochen beteiligten sich in vielen Städten tausende Beschäftigte an Warnstreiks und gingen auf die Straße, so dass man auch als Kund:in etwas merken konnte.

Fünf Millionen Beschäftigte

5 Millionen Menschen sind im Handel beschäftigt, wobei die Tarifverträge für den Einzel- und Großhandel regional unterschiedlich ausfallen. Gegen diese große Masse der Beschäftigten stehen auf der anderen Seite etliche der reichsten Menschen in Deutschland, die mit ihren Handelsketten enorme Profite aus denen ziehen, die in ihrer überwältigenden Mehrzahl alle am unteren Ende der Lohnskala stehen.

Die Gewerkschaft ver.di, die diese Branche vertritt, organisiert nur einen Bruchteil der Beschäftigten. In den Unternehmen herrscht eine hohe Fluktuation. Die einzelnen Läden sind eher kleine Einheiten, Kaufhäuser verschwinden. Allerdings bieten die großen Verteilzentren gute Möglichkeiten zum Aufbau gewerkschaftlicher Macht.

Ver.di hat es aber auch seit zwanzig Jahren versäumt, mehr kampffähige Strukturen aufzubauen. Der Trend zu Gewerkschaften, die sich selbst als „Dienstleisterinnen“ verstehen, ist für Branchen mit niedrigem Lohnniveau und hoher Fluktuation besonders verheerend. Wenn dann noch Betriebsratsgremien – so sie überhaupt existieren – in Regionalbüros sitzen und einmal im Jahr pro Laden vorbeikommen, dann hat das sehr viel mit Bürokratie und wenig mit Bewegung zu tun. Gerade in solchen Betrieben sind Basisaktivist:innen, die über Rechte und Tarifverträge Bescheid wissen, nötig. Sie brauchen ein Netz – eine Betriebsgruppe oder Vertrauensleutestruktur – um Widerstand, Solidarität und Hilfe zu organisieren. Solche Strukturen sind fast überall zurückgegangen, aber gerade für den Handel ist das besonders schlimm. Dass es auch anders gehen kann, haben die Kolleg:innen z. B. im Gesundheitswesen in den letzten Jahren gezeigt.

Tarifrunden-Taktik

Die Unternehmen im Handel und deren Dachverband HDE (Handelsverband Deutschland – Einzelhandel) haben jetzt beschlossen, bereits terminierte Tarifverhandlungen abzusagen, und wollen stattdessen in einer Spitzenrunde verhandeln. Ihr Angebot ist lächerlich. Für 2023 bieten sie nach drei Nullmonaten eine tabellenwirksame Erhöhung von durchschnittlich 5,3 Prozent im Einzelhandel und nach vier Nullmonaten eine von 5,1 Prozent im Groß- und Außenhandel an. Das Angebot für 2024 fällt noch niedriger aus. Ver.di fordert 2,50 Euro mehr pro Stunde sofort.

Die Kapitalist:innen haben auch begonnen, in den großen Konzernen (Rewe, Aldi, Lidl, Kaufland und der Otto-Gruppe) freiwillige Entgelterhöhungen auszuzahlen, die aber natürlich nicht bindend sind und bleiben, solange sie in keinem Vertrag stehen. So versuchen sie, die sich entwickelnde Kampfkraft zu unterminieren.

Die Verhandlungschefin ver.dis, Leiterin des Fachbereichs Handel und Bundesvorstandsmitglied Silke Zimmer, empört sich darüber, aber in ihrer Entrüstung schwingt schon die Bereitschaft mit, darauf einzugehen. „Ver.di verweigere sich keinen Gesprächen, egal auf welcher Ebene“, heißt es in einer Pressemitteilung vom 6. November, aber, so Zimmer: „Voraussetzung ist, dass die Tarifverhandlungen fortgeführt und die gemeinsam vereinbarten Verhandlungstermine wahrgenommen werden“. Zugleich droht sie mit Streiks während des Weihnachtsgeschäfts.

Diese Drohung ist sicher angebracht. Wenn sie ernst gemeint ist, dann muss unbedingt daran gearbeitet werden, die Kampfkraft zu erhöhen. Derzeit sind eigentlich nur Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin ernsthaft streikfähig.

Es muss ein klarer Plan her, wie die Verhandlungsverschleppung seitens des Kapitals mit einer systematischen Mobilisierung bisheriger weißer Flecken und dem Aufbau stabiler Strukturen beantwortet wird. Nur so können neue Mitglieder auch gehalten werden. Es gibt genug Kampfformen, die in der Vergangenheit erfolgreich eingesetzt worden sind und jetzt zur Anwendung kommen müssen:

  • Soli-Aktionen von Kolleg:innen aus anderen Branchen, die in oder vor den Läden oder Kaufhäusern die Streiks unterstützen.

  • Viele Läden in Fußgängerzonen zugleich bestreiken und mit Beschäftigten und Unterstützer:innen diese Passagen in Streikversammlungen verwandeln.

  • Gerade Samstage und Weihnachten eignen sich dafür gut.

Statt also um „eine Entgelterhöhung als Respekt und Wertschätzung für ihre geleistete Arbeit“ zu betteln, wie es ver.di tut, ist Kampf angesagt. Die Initiative dafür muss wohl von unten kommen. Aber viele Streiks in den letzten Jahren haben gezeigt, dass unter den Beschäftigten immer wieder gute Initiativen entwickelt wurden.

Deshalb sagen wir, dass es die Basis ist, die über Streiks und Streikformen entscheiden muss!

  • Aktions- und Streikkomitees wählen – in den Betrieben, aber auch in den Konzernen, damit gute Erfahrungen verbreitert werden können!

  • Öffentliche Verhandlungen! Abstimmung über die Verhandlungsergebnisse durch die Mitglieder.

  • Soli-Komitees in den Städten bilden!

  • Jeder Abschluss muss die Inflation der Vergangenheit und Zukunft voll ausgleichen!



Deutscher Oktober 1923 – Parteidebatte um die Niederlage

Bruno Tesch, Neue Internationale 278, November 2023

Die KPD offenbarte nach dem Oktober 1923 bei der Ursachenbetrachtung der Niederlage tiefe Unterschiede in der Gewichtung und vor allem auch im Verständnis der Einheitsfronttaktik und setzte damit ihre nach wie vor bestehenden ungeklärten Differenzen fort.

Selbst bei der scheinbaren Einigkeit über die Einschätzung der deutschen Situation „als objektiv revolutionär“ sind Zweifel angebracht. Festgemacht wurde dies in erster Linie am Grad der Zerrüttung der bürgerlichen Demokratie und der Polarisierung in ein klar reaktionäres, gestützt auf kleinbürgerliche Bewegungen und Militär, und ein revolutionäres Lager. Dessen Zusammensetzung und das Kräfteverhältnis zum feindlichen Pol wurden jedoch unterschiedlich interpretiert.

In der Debatte zeichneten sich drei Flügel ab: Linke, Mitte und Rechte. Wir untersuchen und bewerten im Folgenden ebenso deren Antworten wie jene aus dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI). Dabei beschränken wir uns aus Platzgründen auf Sinowjews Buch und die im Ergänzungsheft 1 der „Internationale“ (Januar 1924) geführte Debatte und liefern diese sowie weitere Quellen am Schluss.

Unterschiedliche Lehren: in Parteiführung … 

In ihren „Thesen zur Oktoberniederlage und zur gegenwärtigen Lage“ hielten Thalheimer und Brandler fest:

„1. Der Oktoberrückzug war unvermeidlich und richtig.

2. Die grundlegenden Ursachen der Oktoberniederlage sind objektiver Art und nicht wesentlichen taktischen Fehlern der KPD geschuldet. Die entscheidende Ursache ist der noch zu starke hemmende Einfluss der Sozialdemokratie. Die Mehrheit der Arbeiterklasse war nicht mehr bereit, für die Novemberdemokratie zu kämpfen, die ihnen bereits materiell nichts mehr gab, und noch nicht bereit, für die Rätediktatur und den Sozialismus zu kämpfen. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit der Arbeiterklasse war noch nicht für den Kommunismus gewonnen.

3. Der gemeinsame Fehler der Exekutive (der Komintern) wie der Zentrale der KPD war die falsche Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen SPD und KPD. Die KPD, hat in dieser Beziehung sich kritisch gegenüber der Exekutive verhalten, aber nicht genügend energisch. Die Exekutive hat dieser Kritik nicht das genügende Gewicht beigelegt.

4. Die Folgen dieser falschen Beurteilung des Kräfteverhältnisses waren:

a) ein zu früher Termin des Endkampfes

b) die Vernachlässigung der Teilkämpfe und der politischen Vorbereitung

c) infolge der mangelnden Verbindung zwischen politischer und technischer Vorbereitung litt auch die militärisch-technische Vorbereitung

5. Mängel zweiter und dritter Ordnung waren:

a) in Sachsen und Thüringen nicht genügende Ausnützung der gegebenen Positionen sowohl in Bezug auf Zersetzung der SPD und Heranziehung der SPD-Arbeiter an die KPD, wie auch in Bezug auf die Organisation der militärischen Abwehr.

b) Schwerfälligkeit der organisatorischen Umstellung der Partei für den Bürgerkrieg.

6. All diese Fehler und Mängel ändern nichts Wesentliches an dem grundlegenden Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.“

In „Zur gegenwärtigen Lage“ stellten sie aber eine Militärdiktatur fest, mithin ein scharfes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Der Einfluss der Oktoberniederlage auf Stimmung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und Zustimmung zur KPD fand keinen Niederschlag, auch nicht in den nachfolgenden erläuternden Gedankengängen von Thalheimer zu den Thesen.

Brandler sprach in seinem Beitrag jedoch davon, dass der kampflose Sieg der Reichsexekutive, der Truppen des Generalleutnants Müller, der in Sachsen Befehlsgewalt hatte, demoralisierend auf die Arbeiter:innenklasse und Teile der Partei gewirkt habe – ein Schwächezustand, der durch die Umstellung auf die Illegalität in Verbindung mit dem Oktoberrückzug die Aktivität lähmte.

Zur Frage, warum die linkssozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter:innen doch der passiven Regierungsführung in Sachsen/Thüringen gefolgt sind, führte Thalheimer aus:

„Wir haben nicht geglaubt, dass die linken SPD-Führer kämpfen wollten, aber dass die linken SPD-Arbeiter zum Kampf bereit waren. Es hat sich gezeigt, dass die Wirkung des organisatorischen Bandes viel stärker ist, als wir annahmen.“ Zur Festigung der Position in Sachsen und Thüringen bemerkte Thalheimer:

„Der bürgerliche Staatsapparat war unseren Genossen in Sachsen und Thüringen sehr wenig vertraut. [ … ] Es zeigte sich in der Praxis die Notwendigkeit der sofortigen Zerschlagung und völligen Neubaus dieses Apparates.“

Brandler wies eine Schuld durch taktische Fehler der Partei zurück und lastete sie dem Verrat der SPD an. Der Fehler bestände nur in der Unterschätzung der Zähigkeit der konterrevolutionären Fraktion der SPD und in der Überschätzung der eigenen Kräfte.

Er sah in „Lehren der Oktoberniederniederlage“ drei Fehlerquellen bei der falschen Beurteilung der Kräfteverhältnisse: zum einem habe die Außerachtlassung der gesamten internationalen Situation, das Verbot der proletarischen Hundertschaften und Kontrollausschüsse in Preußen sowie in Rheinland-Westfalen durch die Okkupationsarmee den Ausbau der proletarischen Klassenorgane gehemmt.

… und Parteigliederungen: Abrücken von der Mehrheitslinie

Andere Stimmen aus den Reihen der Parteimehrheit konstatierten eine Krise der Partei und verwiesen darauf, dass bereits bei den Kämpfen in den Bergbauregionen im Frühjahr Vorbereitungsarbeit auf entscheidende Kämpfe hätte geleistet werden sollen, und hielten eine Weiterführung von Teilkämpfen zur Deckung des Rückzugs der Partei für erforderlich.

Einen kritischen Schritt weiter gingen Genoss:innen, die von der Parteiführung (in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“) abrückten und der Partei vorhielten, dass sie In den Länderregierungen die Kampfpositionen nicht genügend ausgenutzt hätte, um die Mobilisierung der Massen zum organisierten Widerstand durchzuführen.

„Der Kardinalfehler der strategischen Einstellung war, dass die Partei sich auf einen ,Endkampf’ zur Eroberung der politischen Macht vorbereitete und die Einleitung von Teilkämpfen, Kämpfen mit Teilforderungen und weniger aggressiven Mitteln und Kampfmethoden ablehnte und verhinderte.

Nur aus der Verteidigung der mitteldeutschen Position zum entscheidenden Kampf überzugehen, war falsch. Nach Einzug der Weißen in Mitteldeutschland trat deshalb überall eine starke Desorientierung ein.

Der kampflose Rückzug war falsch, dem aktiven Teil des Proletariats unverständlich, Vertrauen auch der sympathisierenden Sektoren in die Partei geschwächt.“

Weitere Argumente (H. Lemann: „Um den proletarischen Machtkampf) wurden mit dem Hinweis vorgebracht:

„Statt über den Weg der Konzentration auf die regionalen Regierungen als Machtbasis für den sogenannten Endkampf hätte die Kampfaufnahme bedeutet: Generalstreik über das Reichsgebiet mit dem politischen Ziel, zunächst die Regierung und die Staatsgewalt unter Druck zu setzen und die Truppentransporte nach Sachsen zu verhindern. Zugleich mit dem Generalstreik konnte man auf bewaffnete Erhebungen unter Förderung und Führung der revolutionären Vorhut rechnen. Erst aus diesen Kämpfen mit Minimalzielen hätte man prüfen müssen, ob weitere Ziele erreichbar sind.“

Schlussfolgerungen der Parteiopposition

Noch grundlegendere Vorwürfe erhob A. Kleine in seinem Aufsatz „ Die Oktoberniederlage des Proletariats und die Aufgaben der KPD“, v. a. im Abschnitt „Die Fehler der Partei“.

Er bestritt die Aussage: „Es hat sich herausgestellt, dass der europäische Menschewismus viel tiefere Wurzeln in der Arbeitermasse hat, als wir es annehmen konnten.“ Kleine verwies in dem Zusammenhang auf Trotzkis „Anti-Kautsky“ („Terrorismus und Kommunismus“) und folgerte: „Die Partei konnte nicht das wahre Kräfteverhältnis erkennen, weil sie jeden anwachsenden Kampf der Massen abzubremsen versuchte, um ihn in den Rahmen des von der Partei vorbereiteten Widerstand einzugliedern.“

Kein Organ der Partei, keine Hundertschaft, kein Kontrollausschuss, kein Minister hätten trotz der gespannten Lage die Vereinbarungen mit der SPD durchbrochen, obwohl die reformistischen Führer:innen den gemeinsamen Kampf gegen die drohende „weiße“ Gefahr hintertrieben. In Berlin waren breitere Teile des Proletariats als in dem Anti-Cuno-Streik zum Kampfe bereit. „Was hat die Partei diesen Massen gesagt? Wir werden nicht siegen! Der Feind ist stärker, die Zeit arbeitet für uns; lasst ihn die Macht übernehmen. In dieser Situation war der Oktoberrückzug falsch.“ Die Mehrheit der Klasse war nur gewinnbar, wenn die Partei ihre Kampfbereitschaft auch beweisen konnte, wie das Hamburger Beispiel es vorgeführt hätte. Der Nichteinbezug der Massen in die Kampfvorbereitung zeigte, dass die Partei, v. a. die Leitung, ein unzulängliches Verständnis für die Verhältnisse zwischen ihr und den Massen und die Rolle der Partei im Kampfe um die Einheitsfront bewiesen hat.

Fehler waren schon vor dem Streik gegen die Regierung absehbar. Betriebsrätebewegung und militärische Vorbereitung hätten gestärkt werden müssen. Dass dies unterblieb, war als Ausdruck der Unterschätzung der Rolle der KPD in einer Epoche des Kampfes um die Einheitsfront des Proletariats zu werten. Die Partei hat im Großen und Ganzen das Vertrauen in die linken Führer:innen der SPD gestärkt. Die Hoffnung auf die Chemnitzer Konferenz, um diese Führung in den Kampf hineinzuziehen, trog. Das Stillhalten der KPD in der Regierung rächte sich. Kleine räumte allerdings ein, dass sich große Teile noch keine Kampferfahrung erworben hatten. Auch die Betriebsräte in Berlin hatten zum Oktober Teile ihres Einflusses eingebüßt.

Noch schärfer ging Max Albert in dem Artikel „Alles oder nichts“ mit der Parteiführung ins Gericht. Er stellte die Situation als ununterbrochenen Aufstieg und gewaltige Stärkung der revolutionären Bewegung des Proletariats dar und verwies auf Zersetzungserscheinungen im Lager der Arbeiter:innenfeinde – Schwarze Reichswehr, monarchistische (Kronprinz-)Truppe, Deutschnationale, katholische Gruppen –, die hätten genutzt werden sollen, um selbst nach dem Einmarsch in Sachsen aktive Gegenwehr zu leisten.

Die Unterschätzung der eigenen Kräfte – in Hamburg wurden die linken sozialdemokratischen Arbeiter:innen nicht eingeweiht und führten keinen synchronisierten Aufstand durch – und Überschätzung der gegnerischen wären der schwerste Fehler in der Oktoberniederlage gewesen. Albert beschuldigte aber beide Flügel, Parteiführung und „linke“ Opposition, eine falsche Vorstellung von Bürgerkrieg gehabt zu haben. Dieser könne nicht mit „Entscheidungskämpfen“ beginnen, was sich auf die falsche Alternative Sieg oder Niederlage zuspitzen würde. Die Vertagung des Kampfes führte zu einer schweren Niederlage nicht nur der KPD, die zu einer des deutschen, ja internationalen Proletariats geriet. Ebenso im Debakel endete die Einschätzung, den Kampf leicht gewinnen zu können.

Die Ankündigung wirtschaftlicher Maßnahmen wie Lebensmittelverteilung wären kein Mittel zur Mobilisierung des sächsischen Proletariats angesichts des drohenden Reichswehreinmarschs gewesen. So wurde im Gegenteil das Gefühl geweckt, als sei eine Besserung ihrer Lebenslage auch ohne Kampf möglich, als könnten ein paar sächsische Minister für sie die Revolution machen. Wenn am Ende der Chemnitzer Konferenz plötzlich die Parole: Generalstreik, die gleichzeitig bewaffneter Endkampf heißen sollte, „wie ein Dachziegel in die Versammlung flog, soll man sich doch nicht darüber wundern, wenn diese Parole nicht sofort mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.“

Albert erblickte auch Fehler darin, dass in der Periode der Kampfvorbereitung die politische Arbeit durch die militärischen Vorkehrungen sehr stark verdrängt wurde. Bewaffnung von Kadern reichte nicht, sie musste vielmehr aus der Massenbewegung heraus entwickelt werden.

Strategiekritik des linken Flügels

Der Flügel, der sich v. a. um Parteikräfte in Berlin und Brandenburg gruppiert hatte, stand von Beginn an in Fragen von Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung in Opposition zur Parteimehrheit. Die einzige scheinbare Gemeinsamkeit eines situativen Fixpunktes bestand in der Ausrichtung auf den „Endkampf“, der auch von den Oppositionellen als richtig erachtet wurde, wie in der „Skizze zu den Thesen über die politische Situation und über die Lage der Partei“ durch die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg festgehalten wurde. Die Wegbeschreibung und Einschätzungen über die notwendige Politik unterschieden sich jedoch diametral. In diesem Papier hieß es, die Situation sei objektiv reif für die Machteroberung des Proletariats, die Siegesaussichten der KPD im Oktober seien groß gewesen. Den Kampf hätte die Partei wagen müssen. Die Parteileitung hätte jedoch im August eine Perspektive linkssozialdemokratischer, rein gewerkschaftlicher Regierung verbreitet und durch eine Popularisierung der linken SPD durch Einheitsfront und Bündnis, deutlich geworden in den Regierungen Sachsen und Thüringen, ein falsches Bild von Arbeiter:innenregierung erzeugt. Die KPD-Führung habe die Schwächung der Position des Proletariats und der Partei zu verantworten.

Ruth Fischer, die führende Feder des Flügels, schrieb dazu ausführlicher in: „Zur Lage in Deutschland und zur Taktik der Partei“ über die Taktik der KPD in Sachsen. Sie kreidete der Parteiführung eine

„- falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse

– falsche Anwendung der Einheitsfronttaktik, u. a. in Regierungsbeteiligung Sachsen und Thüringen

– reformistische Betrachtung der Regierungsbeteiligung, des Staates, der Staatsmacht und der ,Ausnützung des Staatsapparates’“ an.

In Sachsen sei die KPD nicht so stark wie behauptet, sondern politisch unselbstständig, schwankend gewesen. Dies zeigte sich bei Wahlen zum Metallarbeiter:innenverband, beim Antifaschistischen Tag, Auguststreik und während der Regierungsbeteiligung besonders zum Ende. Die Stärke der sächsischen Hundertschaften wurde übertrieben.

In der Einheitsfrontpolitik sei der „ehrliche[r] Wille, zusammen mit der linken SPD, Arbeiterpolitik im Rahmen der Demokratie zu betreiben“, betont worden. Jedes Wort dieses Leitsatzes unserer sächsischen Politik war ein prinzipieller wie taktischer Fehler, Betonung auf der Unfähigkeit der SPD, Arbeiter:innenpolitik (d. h. revolutionäre Politik) zu treiben, notwendig. Ziel musste sein, die Einheitsfront mit ihnen zu vernichten. Jede Zusammenarbeit mit diesen Führer:innen habe ihnen Kredit verschafft, gefolgert aus der These des Leipziger Parteitags, „dass auch die Sozialdemokratie revolutionäre Kämpfe führen“ könne.

Fischer kritisierte ferner: „Unsere Einheitsfronttaktik bestand in einigen Spitzenverhandlungen und parlamentarischen Kombinationen unter bewusstem Verzicht auf Betriebsrätekongresse. Selbst nach Ermordungen von Arbeitern im Frühjahr und Generalstreiksabotage während Regierungsbeteiligung ist die Front nicht gesprengt worden. Stattdessen hätten klare Signale durch mobilisierende Aktivität zu einem echten Fundament für eine Einheitsfront mit den Massen gelegt werden können, um sie von unseren revolutionären Kampfeswillen und Zielen zu überzeugen. Durch unsere Taktik in Sachsen haben wir die Entwicklung der KPD aufgehalten, die Zersetzung der SPD gehemmt, ihren ‚linken Flügel‘, die gefährlichste Barriere für die Revolution, konsolidiert und die besten revolutionären Elemente der eigenen Partei wie des Proletariats der KPD gegenüber misstrauisch gemacht. Jede bürgerliche Regierung mit einem intakten Staatsapparat und einer Spitze, die aus Personen mit sozialdemokratischem (oder auch kommunistischem) Mitgliedsbuch in der Tasche besteht, ist eine bürgerliche Regierung und handelt als und ist eine solche. Eintritt in diese Regierung konnte nur den Sinn haben, den Apparat zu sprengen, einen proletarischen an seine Stelle zu setzen und den Angriff gegen die Bourgeoisie zu beginnen. Voraussetzung hierzu war: Massenmobilisierung, Rätekongress, Beginn der Bewaffnung. Eine Änderung des Staatstyps in einen proletarischen, ohne den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, ist praktischer Revisionismus der Staatstheorie.“

Auch in der Praxis der Regierungsbeteiligung hätten sich viele skandalöse Fehler ereignet, z. B. die Mitverantwortung für ein Regierungsprojekt, das in Zeiten höchster Hungerkrise dem ehemaligen Königshaus ungeheure Wertobjekte schenkt, Verzicht auf selbstständige Aktionen zur Verteidigung der Regierung. Hamburg, so meinte Fischer, hätte trotz Niederlage und personeller Verluste mehr genützt als geschadet, den Kommunist:innen eher einen Prestigegewinn verschafft.

Diese Zusammenschau der Sichtweisen auf das Revolutionsjahr 1923 und die Rolle der KPD darin drückt gravierend große Gräben innerhalb der Partei aus, wobei die Brandler/Thalheimer-Führung deutlich angeschlagen aus der Niederlage der Revolution hervorging.

Sinowjews Haltung

Rückenwind erhielt der linke KPD-Flügel durch Sinowjew, der als Vorsitzender des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (EKKI) an exponierter Stelle stand, zumal er die treibende Kraft bei der Festlegung eines bewaffneten Aufstands im Herbst 1923 war. Seiner Beurteilung, die er in „Probleme der deutschen Revolution“ niederlegte, kam besonderes Gewicht zu. Rückblickend hielt er die Taktik der KPD in Sachsen für richtig, sie konnte und durfte eine Teilnahme an einer Koalition mit der SPD nicht ablehnen. Es gab keinen Grund zur Reue über das sächsische Experiment, weil dort ein Bankrott der linken Sozialdemokratie offenbart worden wäre. Im Nachwort revidierte er jedoch diese pauschale Absegnung:

„Der Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung war gedacht als militärisch-politische Episode, mit dem Zwecke, für die kämpfende Avantgarde einen Stützpunkt zu schaffen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Die ganze Episode begann, einer banalen parlamentarischen Zusammenarbeit der Kommunisten mit den sogenannten ‚linken‘ Sozialdemokraten zu ähneln. Um diesen Versuch erfolgreich zu gestalten, hätte man sofort einige Zehntausend Arbeiter bewaffnen müssen. Man hätte die Frage der Nationalisierung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzen müssen. Man hätte die Fabrikanten verhaften müssen, die die Arbeiter aussperren. Man hätte sofort die Schaffung von Arbeiterräten in Angriff nehmen müssen.“ Die sich dem widersetzende Sozialdemokratie hätte von Anfang an dafür an den Pranger gestellt werden müssen. „Das alles geschah nicht. Und darin besteht der größte Fehler der Partei.“ 

In der Frage der Einheitsfront vollzog Sinowjew eine Kehrtwendung, weg von den Kominternbeschlüssen auf dem 4. Weltkongress, die eine Einheitsfront von Kommunist:innen mit reformistischen Organisationen auf allen Ebenen befürwortete. Er sagte nun:

„Die Taktik der Einheitsfront ist in eine neue Phase eingetreten. Als Lehre muss nun gelten: ,Wir verzichten auf jegliche Verhandlungen mit dem Zentralkomitee der Sozialdemokratie und mit der Zentralleitung der deutschen Gewerkschaften. Einheit von unten heraus – das ist unsere Losung.’“ Lokale Verhandlungen mit linken Sozialdemokrat:innen seien allerdings möglich und notwendig.

Aus der Erfahrung mit dem Hamburger Aufstand folgerte er: „Ihre Schattenseite besteht darin, dass sie die organisatorischen Mängel unserer Partei erbarmungslos aufdeckte und deutlich hervorhob, dass vorläufig noch eine elementare technische Ausbildung nicht vorhanden ist.“ Es habe sich aber auch gezeigt, „dass die Sympathie bedeutender Schichten der Kleinbourgeoisie für das revolutionäre Proletariat gesichert ist.“

Sinowjew kritisierte die KPD an dem Punkt, „dass in den Tagen des Bestehens der Arbeiterregierung in Sachsen niemand von den Kommunisten an die Schaffung von Räten gedacht hat“, auch in Hamburg vor der Aktion nicht. Er propagierte auch die Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die er für „unveränderlich“ und „ewig“ erklärte und die „in der allgemeinen Form auch für das heutige Deutschland“ tauge. Er bediente sich dabei einer fragwürdigen Übertragung der Verhältnisse in der SU (Klassenbündnis, -zusammenschluss Smytschka), auf Deutschland und überging die Unterschiede der bäuerlichen ökonomischen Schichtung und politischen Tradition in beiden Ländern. Sinowjew beschwor die Einheit der Partei, zu der jedoch weder sein noch das eher Laisser-faire- und dann überstürzte Verhalten der gesamten KI zur Lage in Deutschland 1923 beigetragen hatte. Sinowjews Resümee nach dem Oktober brachte den Klärungsprozess der KPD nicht wirklich weiter.

Die Lage nach der Niederlage

Auch mit seiner Prognose zur Weiterentwicklung der Lage saß er einer Fehleinschätzung auf.

Sinowjew glaubte nach den Vorkommnissen noch an einen Aufschwung der revolutionären Bewegung. „Das dringende Bedürfnis der Arbeiter, sich zu bewaffnen, erhält erst jetzt Massencharakter. Die Entscheidungskämpfe werden für einige Zeit verschoben.“ Er war der Meinung, dass die Arbeiter:innen nun zu der Einsicht gelangen werden, die linken Führer:innen der SPD seien nur ein Anhängsel der konterrevolutionären rechten Mehrheit. 

Sinowjew ging auch davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands noch weiter verschlechtern würde.

Dem war jedoch nicht so. Die im November 1923 erfolgte einschneidende Währungsreform und der im April 1924 vorgelegte Dawes-Finanzierungsplan, der im August 1924 im Reichstag angenommen wurde, bewirkten eine Revision der Reparationsleistungen des deutschen Reichs gegenüber den alliierten Kriegssiegermächten und bereiteten den Weg für eine Stabilisierung der v. a. durch Inflation und ungeregelte Reparationsforderungen aus dem Lot geratenen kapitalistischen Wirtschaft und stützten auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Dies verfehlte auch nicht seine Auswirkungen auf die Arbeiter:innenschaft, deren Kampfmüdigkeit sich nach dem Oktober 1923 nicht mehr erholte. Die Anzahl der Streiks ging im Laufe des Folgejahres deutlich zurück, und sie blieben auch räumlich begrenzt, so z. B. bei den Remscheider Metallbetrieben um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar 1924. Der seit 1919 geltende Achtstundentag war von der Unternehmer:innenschaft während der Inflationsperiode durchlöchert worden. Hier hätte die KPD bspw. wieder einen Anknüpfungspunkt gehabt, um die Streikbewegung zu verbreitern und zu politisieren, aber ihr waren die Hände gebunden, denn:

Der Preis, den die KPD zahlen musste, bestand im Parteiverbot von November 1923 – März 1924. Die proletarischen Hundertschaften wurden aufgelöst. Der noch anfängliche Wahlerfolg im Mai 1924 (12,9 % Stimmanteil mit 62 Reichstagsmandaten) verflog im Dezember 1924 jedoch auf nur noch 9 %.

Politische Folgen

Stalin konnte sich scheinbar damit rühmen, frühzeitig die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Aufstands vorausgesehen zu haben. Sein erst später veröffentlichter Warnbrief als einzige bekanntgewordene Stellungnahme und seine ansonsten indifferente Haltung während der gesamten Phase der deutschen Entwicklung 1923 wiesen in Wirklichkeit jedoch bereits darauf hin, dass es ihm weniger darum zu tun war, die Weltrevolution zu fördern, als Machtpositionen im eigenen Land zu stärken.

Statt einer ernsthaften Aufarbeitung der Lehren des Oktobers 1923 gerade in der Frage von Einheitsfrontpolitik und Anwendung der Arbeiter:innenregierungstaktik wurde innerhalb der Komintern in erster Linie Kritik an der KPD-Führung geübt. Der linke Flügel ging zunächst personell gestärkt hervor. Im April 1924 wurde eine neue Parteiführung aus seinen Reihen gebildet. Trotzki nahm nach dem Oktober 1923 die alte KPD-Leitung insofern in Schutz, als er Sinowjews und Stalins alleinige Schuldzuweisung an Brandler für die Niederlage der deutschen Revolution als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern erachtete, denn der KI-Führung kam ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung für dieses weltpolitisch markante Fiasko zu.

Weder das EKKI noch die KPD hatten die Einheitsfrontpolitik, insbesondere in der Frage der Arbeiter:innenregierung, im Geiste der entsprechenden Thesen und Resolutionen des III. und IV. Weltkongresses im entscheidenden Moment beherzigt, sondern schwankten zwischen rechtszentristischer, opportunistischer und linkszentristischer Auslegung (Einheitsfront nur von unten). Beide Linien traten schon zuvor auf: die ultralinke in der Märzaktion 1921 und die opportunistische in der Rathenaukampagne 1922, die sich auf den Aufruf zur Republikanisierung der Reichswehr durch Hinauswurf der monarchistischen Elemente beschränkte, aber von Arbeiter:innenbewaffnung und -regierung schwieg. Unsere Synopse legt nahe, dass sich Elemente richtiger Kritik und Perspektiven v. a. bei Anhänger:innen einer mittleren Opposition finden („Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“, Lemann). Splitter richtiger Einsichten finden sich auch bei Kleine und dem linken Flügel der Parteimehrheit, der die Untätigkeit der Leitung während und nach der Ruhrbesatzung betonte.

Die politischen Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Das Scheitern der Revolution 1923 erleichterte zumindest Stalins Bestrebungen, den Sowjetstaat zu bürokratisieren. Die schwankende Linie in der Arbeiter:inneneinheitsfrontpolitik mit deren übelstem Auswuchs, der Sozialfaschismusdoktrin gegenüber der Sozialdemokratie, mündete dann 10 Jahre später in ein noch maßloseres Verhängnis für das Proletariat, die Niederlage gegenüber dem Faschismus.

Namen und Pseudonyme

Max Albert (Pseudonym für Hugo Eberlein)

August Kleine (Pseudonym: Samuel Guralski)

H. Lemann (Pseudonym: wahrscheinlich Ernst Meyer)

Quellen

Sinowjew: Probleme der deutschen Revolution, Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1923

Ergänzungsheft Nr. 1, Jahrgang 6, Januar 1924; in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Band 4, Reprint: Verlag Neue Kritik KG, Frankfurt/M. 1971 (darin u. a. Aufsätze von H. Brandler, A. Thalheimer, Karl Berger, H. Lemann, A. Kleine, Max Albert, Ruth Fischer)

Jahrgang 7, 28. März 1924; in: Die Internationale, a. a. O., Band 5, S. 33 – 152 (darin u. a. Aufsätze von Sinowjew, Edwin Hörnle, Wilhelm Koenen, St. Stefan, A. Maslow, Ruth Fischer, Sommer, Heinrich Brandler, August Thalheimer

Die Kommunistische Internationale Nr. 31 – 32, 5. Jahrgang, Band 7, Reprint: POLITLADEN ERLANGEN, Gaiganz 1974, S. 143 – 232 (darin u. a. Aufsätze von H. Remmele, A. Maslow, G. Sinowjew)




Tarifrunde öffentlicher Dienst der Länder 2023: Wie erfolgreich kämpfen?

Helga Müller, Neue Internationale 278, November 2023

Am 26. Oktober 2023 fand die erste Verhandlungsrunde für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten der Länder im öffentlichen Dienst – davon rund 1,2 Millionen Tarifbeschäftigte und 1,3 Millionen Beamt:innen – statt. Dass die Verhandlungsführung der Länder nicht von einer normalen Tarifrunde ausgeht, hat sie bereits vor Beginn der ersten Verhandlung klar gemacht. Ihre Vertreter:innen faseln von leeren Kassen, für die Forderungen der Kolleg:innen nach 10,5 % bzw. 500 Euro sei kein Geld da. Wie immer seien sie maßlos überzogen.

Gab es in der Tarifrunde von Bund und Kommunen noch eine unerwartet hohe Mobilisierung – sogar höher als in der Tarifrunde von 1992 unter Ägide der ÖTV –, versuchen die Arbeit„geber“:innen jetzt die Gunst der Stunde zu nutzen, um in der Ländertarifrunde einen noch höheren Lohnverlust durchzusetzen als den bei Bund und Kommunen – wohl wissend, dass ver.di und die anderen Gewerkschaften in diesem Bereich über weniger Kampfkraft verfügen als dort.

Kampfansage

Das ist eine Kampfansage an ver.di, GEW und Belegschaften. Sie wollen in dieser Runde einen Einbruch in die Gehaltsstrukturen erreichen. Das ist nichts anderes, als die Kolleg:innen für die Kosten der Milliardenausgaben für die Unterstützung der Unternehmen während der Pandemie und für die Hochrüstung zahlen zu lassen. Dagegen reicht ein Jammern der ver.di-Verhandlungsführerin Christine Behle, dass die Arbeit„geber“:innen der Länder noch nicht verstanden hätten, wie dramatisch die Arbeitssituation der Kolleg:innen ist, nicht. Nein, liebe Christine, die wissen das sehr genau und Du weißt das auch! Sie wollen tatsächlich diese Tarifrunde nutzen, um hier einen größeren Einbruch in das Lohngefüge der Kolleg:innen zu erreichen. Und da hilft kein Hoffen auf die Einsicht bei den Arbeit„geber“:innen. Es geht nicht um „Sachargumente“ im luftleeren Raum, sondern gegensätzliche Klasseninteressen, die auch im öffentlichen Dienst ausgetragen werden.

Die Beschwörung der „Einheit“ aller im öffentlichen Dienst, von Arbeit„geber“:innen und Beschäftigten, hat nie zu einem Erfolg geführt – auch nicht in der letzten Tarifrunde bei Bund und Kommunen mit einer gigantischen Mobilisierung, auf die gestützt ein Durchsetzungsstreik möglich gewesen wäre.

Im Gegenteil, es müssen die Klassenfronten aufgezeigt werden: Wir müssen unsere Existenz – dazu gehören Einkommenserhöhungen, die die Inflation wirklich ausgleichen und die Verluste der letzten Jahre wettmachen –, in einer kollektiven harten Auseinandersetzung mit einer Vollmobilisierung und Massenstreiks durchsetzen!

Das wäre sicherlich auch ein Mittel, um Kolleg:innen, die noch zögern und meinen, man könne den Abschluss des TVöD einfach auf die Tarifrunde der Länder übertragen, davon zu überzeugen, dass konsequente Streiks notwendig sind, um die Forderungen durchzusetzen.

Das Geschwätz von den leeren Kassen

Das Geschwätz von den leeren Kassen muss durchbrochen werden. Der gesellschaftliche Reichtum ist vorhanden: Allein die Automobilindustrie, die am meisten von den Kurzarbeiter:innengeldern und anderen staatlichen Millionensubventionen während der Pandemie profitiert hat, liegt weiterhin auf Gewinnkurs. Im Jahr 2022 erzielten die deutschen Autobauer trotz Krise einen Nettogewinn von 50 Mrd. Euro (Zahlen nach ntv, 5.9.2023). Politische Forderungen wie eine Vermögensabgabe, die Wiedereinführung der Vermögensteuer und vor allem eine progressive Besteuerung von Kapitalgewinnen sind jetzt nötig.

Dies ist umso dringender, weil die Bundesregierung derzeit dabei ist, einen Sparhaushalt durchzusetzen, der 30 Milliarden Einsparungen vor allem im sozialen Bereich vorsieht. Das betrifft auch die Länderhaushalte, die noch weniger abkriegen werden – wie jetzt schon. Gleichzeitig werden die 100 Mrd. an Sondervermögen und jährlichen Ausgaben für den Wehretat von mindestens 2 % des BIP für die Aufrüstung der deutschen Bundeswehr nicht in Frage gestellt. Dieser Sparhaushalt ist nichts anderes als die Umsetzung dessen, dass die Regierungen die Arbeiter:innenklasse – Arbeitende und Arbeitslose – Jugendliche, Rentner:innen und Geflüchtete für die Krise zahlen lassen wollen. Dazu gehört auch das Geschwätz von den angeblich leeren Kassen!

Deswegen ist es dringend notwendig, in dieser Tarifrunde auch diesen politischen Zusammenhang aufzuzeigen und es zu nutzen, um gegen Aufrüstung und Sparhaushalte zu mobilisieren. Die notwendigen Forderungen nach 10,5 % bzw. 500 Euro mehr müssen voll durchgesetzt werden und dies ist nur möglich, wenn eine Perspektive aufgezeigt wird, wer die Verantwortung für Krise und Aufrüstung hat und wer dafür zahlen soll!

Vorbereitung und Mobilisierung

Darauf müssen die Kolleg:innen in den Einrichtungen, Schulen, Krankenhäusern und Betrieben jetzt vorbereitet werden. Dafür ist es essentiell, flächendeckend in den Kampf zu gehen. Ver.di sagt selber immer wieder, dass die Kolleg:innen im öffentlichen Dienst der Länder einen Nachholbedarf haben sowohl gegenüber denen in Bund und Kommunen als auch – und vor allem – gegenüber denen in der Privatwirtschaft.

Dass es möglich ist, auch Kolleg:innen in Bereichen, die bisher nicht so kampfstark waren, in einen unbefristeten Durchsetzungsstreik zu führen, haben die Krankenhausbewegungen für einen Tarifvertrag Entlastung in Berlin und NRW aufgezeigt. Gerade Pflegekräfte galten ja immer als die Belegschaftsteile, die sehr schwer zu Streiks zu bewegen seien, weil sie ihre Patient:innen nicht im Stich lassen wollen. Doch sie haben gezeigt, dass das nicht stimmt.

Dieses Beispiel gilt es, auch im Bereich der Länder aufzugreifen. Sicherlich wurden auch hier Tarifbotschafter:innen bestimmt. Diese müssen aber auch auf ihre Rolle als Träger:innen der Mobilisierung für Streiks und öffentliche Aktionen und vor allem als diejenigen, die auch über die Vorgehensweise zusammen mit den Kolleg:innen in den Dienststellen, Einrichtungen und Betrieben diskutieren und entscheiden, vorbereitet werden. Die Kolleg:innen müssen den Kampf unter ihre Kontrolle bekommen und z. B. auf Streikversammlungen über die Verhandlungen transparent und regelmäßig informiert werden. Vor allem aber brauchen sie die Entscheidung und nicht die Bundestarifkommission, wie der Kampf fortgeführt werden kann. Dafür sind der Aufbau von Streikkomitees, die Delegierte aus den Abteilungen umfassen, die auch jederzeit abwählbar sind, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllen, sinnvoll und notwendig.

Uns ist bewusst, dass es sehr schwer wird, die Forderungen im öffentlichen Dienst durchzusetzen. Warnstreiks und ein paar Verhandlungsrunden werden nicht ausreichen. Notwendig ist, dass wir unsere gesamte Kampfkraft in die Waagschale werden und so schnell wie möglich die Urabstimmung über einen Vollstreik einleiten. Gegen die mediale Hetze und das Märchen von den leeren Kassen müssen wir gemeinsame Aktionen mit anderen Gewerkschaften und Solidaritätskomitees im Kampf aufbauen. Wenn Geld für Kitas, Schulen, öffentliche Verwaltung angeblich nicht vorhanden ist, dann müssen wir es uns bei den Reichen, Großkonzernen und Banken holen.




Stimmen aus der Tarifrunde-Länder: Erwartungen drücken oder Perspektiven geben?

Ein ver.di-Mitglied aus Berlin, Neue Internationale 278, November 2023

Seit einigen Monaten bin ich als Tarifbeschäftigter im TV-L in der Vorbereitung der Tarifrunde der Länder aktiv. Ich gehe mit Kolleg:innen auf Veranstaltungen wie tarifpolitische Konferenzen, Branchenkonferenzen, regionale wie überregionale, Tarifbotschafter:innentreffen, Fachbereichskonferenzen und vieles mehr. Alle verlaufen nach einem gewissen Schema F., auch wenn diese partizipativer ablaufen mögen als viele andere Gewerkschaftsveranstaltungen, da mein Fachbereich in Berlin-Brandenburg, FB C, stark durch die Krankenhausbewegung geprägt wurde und Organizing hier beliebt ist. Das Schema F bleibt aber, um die Erwartungen auf einen erfolgreichen Arbeitskampf zu dämpfen.

Überall wird gesagt, dass wir zu schwach organisiert sind. Christine Behle, stellvertretende ver.di-Vorsitzende, sagte beim ersten bundesweiten Treffen der Tarifbotschafter:innen direkt, dass wir nicht sofort von tabellenwirksamen Entgelterhöhungen ausgehen dürfen. Frank Werneke setzte gleich noch nach und führte das neue Mantra ein, dass die Krise ausgeblieben sei. Was uns hiermit bedeutet werden soll, ist, dass wir schuld sind, wenn ein schlechtes Ergebnis herauskommt. Und dass die Teuerungen der letzten beiden Jahre, die im Durchschnitt bei über 14 % liegen, gar nicht so wild sind.

Nur eines fehlt mir bei diesen Analysen: die Perspektive! Es stimmt, wir brauchen eine bessere Streikfähigkeit. Es stimmt, die Länder sind wenig verhandlungswillig. Denn sie lügen sich die Taschen voll und damit die Kassen leer, während die Steuereinnahmen hochkorrigiert werden mussten. Und das stört mich. Ich erwarte, dass mir die Gewerkschaftsführung einen Plan vorlegt, wie die Schwäche gebrochen werden kann. Ich erwarte, dass ich in meiner Gewerkschaft einen Raum bekomme, gerne auch mit demokratischen Möglichkeiten, wo wir über eine Streikausrichtung diskutieren und beschließen können, die auch den Erfolg ermöglicht. So wäre die Bedingung von 12 Monaten Laufzeit des Vertrags eine, denn dann könnten wir im öffentlichen Dienst zusammen streiken mit den Tarifbeschäftigten des TVöD bei Bund und Kommunen oder auch mit den Kolleg:innen der GDL. Aber nein: Wer Verbündete wie den Gewerkschaftsapparat hat, braucht keine Gegner:innen.




Oktober 1923: Die Debatte um die Arbeiter:innenregierung und ihre Anwendung

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Wie ein roter Faden zog sich die Einheitsfrontpolitik als Leitgedanke durch die Tätigkeit der KPD und fand in dem Zusammenhang ihren Ausdruck in der besonderen Behandlung der Losung der Arbeiter:innenregierung. Ihre Bereicherung des taktischen Arsenals, aber auch ihre Grenzen kamen in der Situation der Aufstandsvorbereitung zum Vorschein.

Um diese taktische und strategische Kernfrage zu behandeln, kann nicht erst bei den Vorkommnissen des Jahres 1923 begonnen werden, sondern man muss weiter zurückgehen bis ins Jahr 1921, in dem die Thesen zur Taktik der Einheitsfront auf dem 3. Weltkongress der III. Internationale verabschiedet wurden.

Der Einheitsfrontgedanke entsprang der Situation, dass die kommunistischen Parteien sich bei ihrer Formierung außerhalb der Sowjetunion einer Mehrheit von reformistischen, in den meisten Ländern sozialdemokratischen Organisationen gegenübersahen, die entscheidenden Einfluss auf die Arbeiter:innenklasse ausübten. Sie mussten nach Wegen suchen, diesen Einfluss zurückzudrängen, um stärkeren Zugang zu den Massen zu finden. Dazu waren Angebote auch an andere Arbeiter:innenorganisationen zur Einheit in der Aktion als gemeinsame Front gegen die Klassenfeind:innen notwendig. Unumstrittene Grundbedingung für ein vereintes Handeln war allerdings die vollständige Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit und die Freiheit der Kritik an den Bündnispartner:innen. Die Einheitsfront als umfassendes taktisches Mittel konnte und sollte sich auch in verschiedenen Stufen ausdrücken, die in einer Form gipfelten, die in der kommunistischen Bewegung debattiert und entfaltet wurde: die Taktik der Arbeiter:innenregierung.

Die Jahre 1921 und 1922 waren prägend für die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der KPD in Bezug auf Einheitsfront und deren besondere Form der Arbeiter:innenregierung. Im Folgenden sollen wichtige Stationen auf dem Weg der Präzisierung der Losung und ihrer Anwendung nachgezeichnet werden.

Duldung von sozialdemokratischen Regierungen

Zunächst ging es im Herbst 1921 um die Politik gegenüber „sozialistischen“ (gemeint waren sozialdemokratisch geführte) Arbeiter:innenregierungen, zu denen das neu gewählte Politbüro der KPD eine elastischere Haltung einnehmen wollte, um die Aktionseinheit zu fördern. Im Mittelpunkt standen dabei Abstimmungen über die Steuerfrage, in der die KPD es von der politischen Situation abhängig machte, ob diese Regierungen gestützt oder gestürzt werden sollten. Die Mehrheit der Parteimitglieder sprach sich auf jeden Fall gegen einen Eintritt in solche Regierungen aus.

Die Partei richtete nach dem Jenaer Parteitag (22. – 26.8.1921) eine parlamentarische Zentralstelle als besondere Abteilung des Politbüros ein, deren erste Stellungnahme zur Bildung einer „sozialistischen“ Regierung nach den thüringischen Landtagswahlen vom 11.9.1921 erfolgte. Die KPD, die sich zum ersten Mal nach den Märzkämpfen den Wähler:innen stellte, gewann 6 Mandate. Es entstand im Landtag eine sozialdemokratisch-kommunistische Sitzmehrheit. Eine Mehrzahl der SPD und USPD-Abgeordneten trat für Verhandlungen mit der KPD über eine Regierungsbildung ein. Das Politbüro der KPD lehnte dies zwar ab, wollte aber die Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen von SPD bzw. USPD ermöglichen und die Regierung bei „konsequent proletarischer Politik“ unterstützen.

Gegen den Widerstand der thüringischen Parteiorganisation setzte die Zentrale durch, auch im Interesse der Bewegung im Reich nichts unternehmen zu wollen, „was der SPD erleichtern könnte, eine Koalition nach rechts einzugehen“.

Auf dem Parteitag der SPD (24.9.1921) stimmten nach der politischen rechtsradikalen Bedrohung auch gegen bürgerlich-liberale Kreise (Ermordung von Erzberger) über 70 % der Delegierten für eine Erweiterung der Reichsregierungskoalition nach rechts unter Einschluss der Deutschen Volkspartei. Hingegen wurde eine Einheitsfront mit den Kommunist:innen abgelehnt. Das neue Parteiprogramm sagte sich vom Klassenkampf los hin zur Klassenkollaboration.

Im November 1921 legte der Zentralausschuss der KPD Thesen über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den sogenannten sozialistischen Regierungen vor. Darin wurden die sozialdemokratischen Auffassungen von Arbeiter:innenregierungen als „Schutzwall der Bourgeoisie gegen die proletarischen Massen“ bezeichnet. Die Bildung solcher Regierungen ohne eigene Beteiligung sollte aber zugelassen werden, weil sie eine „revolutionierende“ Rolle „als klassische Schule zur Überwindung bürgerlich-demokratischer Illusionen“ spielen könnten. Aber die KPD sollte sich von solchen Regierungsbildungen fernhalten und stattdessen den Kampf für die Eroberung der Staatsmacht und Aufrichtung der proletarischen Diktatur durch die Räteordnung führen.

Erste Anzeichen veränderter Taktik

Die Erwartung einer Räterepublik in den Thesen wurde von Radek, dem Verbindungsmann zum EKKI, kritisiert, der die Arbeiter:innenregierung als derzeit günstigste Etappe bezeichnete. Da SPD und USPD nicht wirklich die Absicht hegten, eine „sozialistische“ Regierung zu bilden, müsse anders an die Sache herangegangen werden. Die Partei solle vielmehr die Massen für eine Arbeiter:innenregierung beeinflussen. Diese müsse auf parlamentarischem Wege „zum Ansatzpunkt zu neuen siegreichen revolutionären Kämpfen werden.“ Konkret könne eine Kampagne den Hebel bilden, die gemeinsame Forderung nach Erfassung der Sachwerte in Gold durchzusetzen und in einem Kampfabkommen die Massen gegen eine „Stinnes-Koalition“ (bürgerliche Rechtserweiterung) zu mobilisieren.

Der KPD-Zentralausschuss lehnte es ab, die Losung der Arbeiter:innenregierung in den Mittelpunkt einer Kampagne zu stellen, und hielt fest, dass die Aufstellung von sachlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielen geeigneter sei, den Kampf der Massen zu entfesseln. Bendler, der „Erfinder“ des Begriffs „sozialistische Regierung“ hatte sie nicht als Einheitsfrontlosung gedacht, sondern meinte, das Angebot an die sozialdemokratischen Parteiführer:innen wäre „das Gefährlichste in der ganzen Taktik der sozialistischen Regierung“ und würde „sie ihres revolutionären Massencharakters entkleiden und zu einem parlamentarischen Gaukelspiel werden lassen.“

Jedoch zeigten sich verschiedene Auffassungen in der Partei über die Frage der Taktik gegenüber der Sozialdemokratie auf politisch parlamentarischer Ebene. Die Opposition wandte sich auch gegen die Unterstützung der sozialdemokratischen Länderregierungen und forderte, Steuern in den Landtagen abzulehnen und damit Regierungen stürzen zu lassen. Böttcher, der Mehrheit zuzurechnen, meinte: „Wir werden die sozialistische Regierung unterstützen, parlamentarisch und außerparlamentarisch, wenn sie sich gegenüber der Bourgeoisie im Angriff befindet“.

Thalheimer hob hervor, dass günstige Möglichkeiten durch die am 15.November 1921 aufgestellten zehn Mindestforderungen der Gewerkschaften (ADGB und Angestelltenbund) zur Steuer- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden wären, worin sie ein Eingreifen der Regierung zur Kontrolle der Privatwirtschaft und Sozialisierung des Kohlebergbaus, Erfassung der Sachwerte, Exportdevisen und eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik forderten. Die Zentrale schlug vor, eigene weitergehende Forderungen zugunsten einer gemeinsamen Kampffront zurückzustellen.

Konkretisierung und Paradigmenwechsel

Noch im November 1921 berieten die Landtagsfraktionen von Sachsen, Thüringen und Braunschweig, wo  sich die KPD in Opposition zu von SPD und USPD geführten Regierungen befand, über ein abgestimmtes Vorgehen, z. B. Abstimmung gegen ein Misstrauensvotum aus dem reaktionären Lager, was letztlich von der Zentrale gebilligt wurde.

Im Dezember traf die Parteiführung eine weiter reichende Entscheidung, indem sie nunmehr feststellte: „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung finden, die den Koalitionsregierungen gegenüberzustellen ist. (…) Die KPD muss den Arbeiter:innen sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, in solch eine Regierung einzutreten, wenn sie die Gewähr haben wird, dass diese Regierung im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiter:innenschaft vertreten, die Sachwerte erfassen, die Kappverbrecher:innen verfolgen, die revolutionären Arbeiter:innen aus den Gefängnissen befreien wird …“. Alles sollte getan werden, um die linken Flügel der SPD und USPD, die sich gegen die Koalition (mit den bürgerlichen Parteien) wendeten, zu stärken.

Die Exekutive der KI riet der KPD, öffentlich ihre Bereitschaft zu erklären, in eine Arbeiter:innenregierung des Kampfes gegen die Bourgeoisie einzutreten, und verwies darauf, dass an einer Koalition der Arbeiter:innenorganisationen im Prinzip auch nichtsozialistische Parteien teilnehmen könnten. Die Terminologie müsse sich von „sozialistische Regierung“ in „Arbeiter:innenregierung“ ändern, um die sozialdemokratischen Parteien nicht fälschlicherweise als sozialistisch zu bezeichnen und zu zeigen, dass die ganze Klasse ohne Rücksicht auf politische und weltanschauliche Differenzen zusammengefasst werden sollte. 

Nach Einwänden wurde in den Brief eingefügt, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen nicht als unmittelbar bevorstehender Schritt zu betrachten sei.

Die Zentralausschusssitzung der KP im Januar 1922 dämpfte vorschnelle Erwartungen über die Herstellung einer Einheitsfront. In der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition KAG (Levi), die den Vorhutanspruch der Partei bestritt und in Gegensatz zum Einheitsfrontgedanken bringen wollte, wurde dies abgewiesen, denn erst die revolutionäre Partei könne der Einheitsfront die entscheidenden Kampfanstöße und -perspektiven verleihen.

Die linke Opposition bemängelte, dass die Einheitsfront zu starr und unbefristet ausgelegt werde, da sie als Taktik zu verstehen sei und ein Festhalten daran, wenn sich die Umstände ändern, eine ungünstige Wirkung haben könne und deshalb nicht zum Programm gemacht werden dürfe. Dies führe dazu, die revolutionären Ziele aufzugeben und das Hineinwachsen in den Reformismus zu fördern. Der Vorwurf ging auch an die Adresse des III. KI-Weltkongresses, der den Klärungsprozess in den Mitgliedschaften gehemmt habe. Die Linken stießen sich auch an dem Begriff „Arbeiter:innenregierung“ und wollten ihn durch „sozialistische Regierung“ ersetzt wissen. Rosenberg drückte die Position der Opposition so aus: „Der Begriff ‚Arbeiter:innenregierung‘ darf nicht mit der ‚rein sozialistischen‘ (d. h. sozialdemokratischen) vermengt werden. Unter ‚Arbeiter:innenregierung‘  verstehen wir eine solche Regierung von Vertrauensleuten des Proletariats, die sich nicht auf  eine parlamentarische Zufallsmehrheit, sondern auf die Arbeiterorganisationen außerhalb der Parlamente stützt.“ (zit. nach Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik – Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, Band II, S. 634)

Regierungseintritt als taktische Option

Aufgrund der Diskussionen in der Partei und Einlassungen der KI über den Charakter von Arbeiter:innenregierung und deren möglicher Dynamik zur Mobilisierung der Arbeiter:innenmassen wurde die Resolution „Zur politischen Lage und zur Politik der KPD“ im Punkt Arbeiter:innenregierung im Frühjahr 1922 nachgebessert und lautete nun: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiter:innenregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnes-Regierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet (z. B. durch Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionär:innen, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.), ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiter:innenregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten. Der Eintritt der Kommunist:innen in eine solche Arbeiter:innenregierung hängt ab von dem Kampfwillen der Arbeiter:innenmassen und der sich auf diese Massen stützenden Parteien sowie von den realen Möglichkeiten, die gegeben sind, um die Arbeiter:innenmacht zu befestigen und auszudehnen“.  Die Formulierung von der Arbeiter:innenregierung als Schutzwall der Bourgeoisie wurde fallengelassen.

Dieser Beschluss beseitigte jedoch nicht die Differenzen bei der konkreten Anwendung in den Landtagen, z. B. bei der Bewilligung von Haushaltsvorlagen. Im April 1922 musste eine weitere Parlamentarierbesprechung, diesmal aus dem ganzen Reich, einberufen werden, bei der „Richtlinien über ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit sozialistischen Regierungen, auch unter dem Gesichtswinkel der Schaffung eines roten Blocks gegenüber der reaktionären Reichspolitik und gegenüber Bayern“ erarbeitet wurden. Zur Haushaltsfrage einigte man sich lediglich auf „schärfstes Vorgehen gegen die Entstaatlichung der Betriebe“.

Als die rechtskonservative DNVP ein Volksbegehren zur Auflösung des sächsischen Landtages einleiten wollte, setzten sich einige Parteivertreter:innen für den bedingungslosen Eintritt der Kommunist:innen in die sächsische Regierung ein, um den reaktionären Streich zu stoppen. Dem widersprach das Politbüro und bezeichnete es als „opportunistische Haltung“ ebenso wie denjenigen, die sich prinzipiell gegen jede Regierungsbeteiligung aussprachen, was als KAPD-Tendenz betrachtet wurde.

Zu ersten Verhandlungen zwischen den  drei Arbeiter:innenorganisationen kam es Ende April 1922 auf Vorschlag der KPD, durch Neuwahlen Voraussetzungen für „eine einheitliche Klassenfront herzustellen“, die jedoch scheiterten, wie auch weitere Anläufe,

die die KPD stets an Grundbedingungen knüpfte, erst recht nach der Fusion von SPD und USPD. Auf der ergebnislosen Berliner Konferenz der drei Internationalen im Februar war bereits absehbar gewesen, dass es auf großer Bühne keine verbindlichen Abmachungen zur Einheitsfront geben würde.

Aber die KP-Zentrale erklärte im Mai 1922: Der Schritt einer Regierungsbeteiligung, der in der ganzen Kommunistischen Internationale  noch nicht praktiziert worden war, sollte er umsetzbar sein, wäre dann auch wegweisend über Sachsen hinaus. Die Zentrale schlug deswegen vor, dass sich alle Länder mit Arbeiter:innenregierungen zu einem Block zusammenschließen, um gegen den reaktionären Kurs im Reich Stellung zu nehmen und ihn zu durchkreuzen. Die  Lösung der Aufgaben der proletarischen Revolution könne von einer Landesregierung nicht erwartet werden, sie könne aber ein Stützpunkt für die Revolution sein.

Internationale Diskussion

Vom 7. – 11.6.1922 trat die zweite Erweiterte Exekutive der Kommunistische Internationale mit Abordnungen aus allen Gliedsektionen zu Beratungen über Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung zusammen.. Neben Deutschland stand dies auch in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung. Die tschechoslowakische KP bejahte  nicht nur die Frage der Bereitschaft zur Unterstützung, nach Teilnahme an  einer Arbeiter:innenregierung, sondern zur Verantwortungsübernahme sogar im Falle der Möglichkeit einer Minderheitsregierung, bei gegebener Lage von Arbeitermassenmobilisierung. Ihr Abgeordneter Smeral sagte, dass zwischen den Alltagsforderungen, von denen die Aktion der Partei ausgehe, und dem Endziel der Machteroberung des Proletariats die Notwendigkeit eines Bindeglieds in Form der Losung der Arbeiter:innenregierung bestehe. Dies verfehlte nicht seinen Einfluss auf die Diskussion in der deutschen Sektion. Die Losung der Arbeiter:innenregierung wurde bis auf die italienische und Teile der französischen Delegation einvernehmlich als Krönung der Einheitsfront betrachtet.

Kennzeichen einer ungenügenden Wahrnehmung der Frage der Arbeiter:innenregierung war es jedoch, dass im November 1922 die Entscheidung über den Eintritt in die sächsische Landesregierung, ob dies von der KP-Bedingung, Gesetze einer Betriebsrätekonferenz vorzulegen, abhängig gemacht werden sollte oder nicht, von der Exekutive der KI bzw. der KPD-Parteizentrale wieder auf den sächsischen Landesparteitag zurückverwiesen worden war, der dann an der Bedingung festhielt. Das Politbüro billigte dessen Beschluss, aber die Landtagsfraktion sollte auf jeden Fall den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mitwählen.

Parteitag Januar 1923

Es herrschte weiter Uneinigkeit über die unterschiedlichen Konzeptionen in der Partei zur Einheitsfront und zur Arbeiter:innenregierung.  Der 8. Parteitag vom 28.1. – 1.2. 1923 war anberaumt worden, um eine Klärung herbeizuführen. In Brandlers Hauptreferat für den Parteivorstand über Einheitsfront wies er die Einheitsfront nur von unten als undialektisch zurück. Er erklärte: „Die Arbeiter:innenregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiter:innenpolitik zu treiben“. Zu den Anforderungen an eine Arbeiter:innenregierung gehörten neben wirtschaftlicher Existenzsicherung der arbeitenden Klassen auch die gewaltsame „Niederkämpfung der gesamten Widerstände der Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenregierung und ihr Programm. (…) In diesen Kämpfen (…) wird die Arbeiter:innenregierung gezwungen werden, den Rahmen der Demokratie zu überschreiten, zu diktatorischen Maßnahmen überzugehen“.

Auch die Beteiligung der Kommunist:innen an einer Arbeiter:innenregierung im Reich wurde prinzipiell bejaht. Länderregierungen sollten als Stützpunkte im Kampf darum dienen. Zur Arbeiter:innenregierung zählte er auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die bisher „der linke Flügel der Bourgeoisie war, jetzt der rechte Flügel der Arbeiter:innenregierung werden soll“.

Über diese Vorlage kam es zur Kampfabstimmung gegen die linke Opposition, die eine Arbeiter:innenregierung ohne vorherige Schaffung von ‚Räteorganen‘ und „ohne Aufrollen der Waffenfrage durch die Arbeiter:innenschaft“ verwarf. Die Abstimmung  ergab eine Zweidrittelmehrheit für den Thesenentwurf der Zentrale über die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter:innenregierung“.

Im März 1923  schienen sich die günstigen Vorzeichen für die Kommunist:innen zu mehren, als sich linkere sozialdemokratische Landesregierungen in Sachsen und Thüringen formierten, die auch bewaffnete Organe wie die proletarischen Hundertschaften zuließen. Der tatsächliche Regierungseintritt der KPD im Oktober folgte spät, aber nicht überraschend. Dies und das nicht einmal zweiwöchiges Dasein der Landesregierungen führten nach dem Eklat erneut zu heftigen Diskussionen in Partei und Internationale.

Opportunistische und sektiererische Konzepte über Einheitsfrontpolitik und die Vorstellung von Arbeiter:innenregierung waren aber schon lange vorher aufeinandergeprallt und gingen eine verhängnisvolle kontraproduktive Wechselwirkung ein. Auf der einen Seite verfestigte sich aus der Erkenntnis, dass die Klasse eine Regierung aus Arbeiter:innenparteien als Errungenschaft betrachtet, der Glaube, sie für deren Verteidigung mobilisieren zu können und damit die Basis zu legen für einen allgemeinen Aufstand, ohne jedoch die entsprechend zentralisierten Klassenorgane ins Feld führen zu können, zugleich aber die Vorbereitung auf den Entscheidungskampf gegen den Klassenfeind unter Ausschluss der Massen und im Geheimen durchzuführen. Es war somit kein Zufall, dass die entscheidende Phase der Ereignisse 1923 in der Frage der Arbeiter:innenregierung kulminierte und auf tragische Weise die Niederlage der Revolution besiegelte.




Der Krieg in der Ukraine

Resolution des LFI-Kongresses, 24. Juni 2023, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

1. Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der Antagonismus, der sich seit Jahren zwischen den „alten“ westlichen imperialistischen Mächten, allen voran den USA und ihren Verbündeten, und China und Russland als neuen imperialistischen Mächten und globalen Konkurrenten entwickelt, eröffnet eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

2. Dieser wird derzeit vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges durch das von den G7-Staaten initiierte Sanktionsregime ausgetragen. Der reaktionäre Einmarsch Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen Volkes, ja sogar die Leugnung seiner Existenz durch Putin sowie dessen barbarische Kriegsführung stellen zweifellos einen Akt imperialistischer Aggression dar, der das ukrainische Nationalbewusstsein gestärkt hat.

Der Charakter des Krieges

3. Isoliert betrachtet ist der Kampf gegen die russische Invasion also ein gerechtfertigter Krieg der nationalen Verteidigung – ungeachtet des reaktionären politischen Charakters des Kiewer Regimes, der sich in seiner Pro-NATO- und Pro-EU-Position ausdrückt. Aber für Marxist:innen ist der Charakter des politischen Regimes einer Halbkolonie, wenn sie angegriffen wird, nicht der entscheidende Faktor für die Charakterisierung eines Krieges. So war beispielsweise die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen eine imperialistische Invasion trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad und Kabul gerechtfertigt und unterstützenswert.

4. Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde jedoch ebenfalls zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form von beispielloser wirtschaftlicher und militärischer Hilfe daher gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

5. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass das Eingreifen der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als seinen imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons sind darin zu finden, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und seiner anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

6. Die Entwicklungen, die zum reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern dass auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Warum die Ukraine?

7. Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland um die Ukraine zugespitzt hat, ist kein Zufall. Vielmehr ist er selbst das Ergebnis der Entwicklungen seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, des Versuchs, eine neue Weltordnung zu etablieren, und des sich verschärfenden Konflikts mit Russland seit dessen Wiedererstarken als imperialistischer Macht unter Putin.

8. Die Eskalation um die Ukraine seit den 1990er Jahren ist nur in diesem Kontext zu verstehen. Wie der Balkan vor 1914 entwickelt sich dieser Konflikt seit langem zu einem Pulverfass für einen möglichen zwischenimperialistischen Krieg. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland befand sich die Ukraine nach 1991 zunächst in einer Abhängigkeit vom neu etablierten russischen Imperialismus, die sich auch in einem fragilen System west- und ostukrainischer politischer Kräfte und Oligarch:innen widerspiegelte.

9. Die Ukraine war wirtschaftlich und militärisch zu schwach, um selbst eine imperialistische Macht zu werden (insbesondere nachdem sie die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen der Sowjetunion aufgegeben hatte). Sie hatte die „Wahl“, entweder eine Halbkolonie Russlands oder der Europäischen Union und der USA zu werden. Unter dem Gesichtspunkt des Widerstands gegen die russische Vorherrschaft lag im Wunsch, der NATO ähnlich wie die anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten beizutreten, die sicherheitspolitische Seite dieser westlichen Orientierung. Zwei Jahrzehnte lang schwankte die Ukraine zwischen Regierungen, die die eine oder andere dieser Orientierungen verfolgten, was in der Maidan-Bewegung 2014 gipfelte.

10. Zu diesem Zeitpunkt war vor allem in der Westukraine eine starke nationalistische Bewegung entstanden, die eine „prowestliche“ Ausrichtung und einen Bruch mit der russischen Dominanz anstrebte. Sie hatte einen rechtsextremen und faschistischen Flügel, Swoboda/Rechter Sektor (Prawyj Sektor) usw. Dies führte schließlich zu einem Bürger:innenkrieg, als das Regime von Janukowytsch, das den früheren prorussischen Kompromiss vertrat, die Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen abbrach. Dies führte zunächst zur Euromaidan-Bewegung, die das Regime mit Gewalt niederzuschlagen versuchte. Doch als auf die Demonstrant:innen geschossen wurde, führten die rechten und faschistischen Kräfte auf dem Maidan einen Putsch an, durch den Janukowytsch gestürzt wurde. Die nationale Unterdrückung der russischsprachigen Minderheiten in der Ostukraine führte nach dem Umsturz auf dem Maidan 2014 faktisch zu einem Bürger:innenkrieg in der Ukraine. Auch diese Minderheiten haben ein legitimes Recht auf nationale Selbstbestimmung, was die nationale Frage in der heutigen Ukraine weiter verkompliziert. Die nationalen Gefühle der Menschen in diesen Regionen waren Teil der Rechtfertigung des russischen Imperialismus für diese reaktionäre Invasion.

11. Die russische Antwort darauf war die Annexion der Krim durch Putin. Dann vertrieben die Separatist:innen in Luhansk und Donezk die Kiewer Regierungstruppen und riefen autonome „Volksrepubliken“ aus. Während die EU-Führung um Deutschland und Frankreich versuchte, den Konflikt durch die Abkommen von Minsk 1 und 2 (2014 und 2015) zu entschärfen, wurde dies sowohl von Moskau als auch von Washington mit Hilfe der ukrainischen Nationalist:innen in der Rada sabotiert, die sich gegen jegliche Zugeständnisse (Autonomie, Sprachrechte) an die russischsprachige Minderheit wehrten. Putins Übernahme der „Republiken“ bedeutet, dass der Krieg seither mit mehr oder weniger Intensität weiterging.

Interessen der Westmächte

12. Warum entstand ein so offensichtlicher Unterschied zwischen den USA und Großbritannien auf der einen und Deutschland und Frankreich an der Spitze der EU auf der anderen Seite? Für Letztere war die Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotenzials und seiner militärischen Kapazitäten, immer eine strategische Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber dem schwächer werdenden US-Hegemon zu erlangen. Die Politik der EU zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt, ähnlich wie in Jugoslawien, auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einzufrieren, um die Spannungen mit Russland letztlich in Schach zu halten. Für die USA hingegen war die Ukraine ein strategischer Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie schon lange als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung identifiziert hatten. Die USA sehen in der Ukraine auch eine Möglichkeit, Russland von den europäischen Märkten zu isolieren und damit Russland zu schwächen, während sie die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Europas von ihnen selbst fördern.

13. Aufgrund des schlechten Abschneidens der ukrainischen Armee im Jahr 2014 begannen die USA und Großbritannien 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land, das seit 2015 praktisch bankrott ist, hoch verschuldet und unter einem Schuldenregime von IWF-Paketen schmachtet, gibt einen großen Teil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt zudem jährlich milliardenschwere Militärhilfe aus dem Westen (allein von Anfang 2022 bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Dies hat nicht nur die Verbreitung wichtiger Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr usw.) mit entsprechender Ausbildung ermöglicht, sondern auch eine unterstützende Infrastruktur geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis hin zur strategisch-taktischen Führung.

Auswirkungen der NATO-Beteiligung

14. Damit wird auch deutlich, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von den Kriegen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa der USA gegen den Irak oder des Vereinigten Königreichs gegen Argentinien, unterscheidet. Es handelt sich nicht um eine hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee, die einem militärisch tausendfach überlegenen Imperialismus gegenübersteht. Vielmehr handelt es sich um eine vom westlichen Imperialismus systematisch für diesen Krieg vorbereitete und ausgerüstete Armee, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Ausbruch des Krieges hat sich deren Unterstützung noch einmal vervielfacht. Und zwar nicht nur in Form von Waffenlieferungen, sondern auch in Form von Aufklärung, Ausbildung, strategischer Beratung und Wirtschaftshilfe.

15. Auch wenn die meisten NATO-Länder nicht offen Truppen entsenden, um sich an den Kämpfen zu beteiligen, sind sie doch seit langem als Waffenlieferanten, Ausbilder und Finanziers beteiligt. Eine große Einschränkung, die die NATO darauf beschränkt, die Ukraine als „Stellvertreterin“ einzusetzen, bereitet natürlich die Gefahr, dass sich der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland ausweitet, die auch den Einsatz von Atomwaffen beinhalten könnte. Russland wiederum hat mehrfach mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen gedroht, um die NATO zu einer Begrenzung ihres Engagements zu bewegen. Aus diesem Grund wurde der Krieg hauptsächlich auf ukrainischem Gebiet ausgetragen. In den letzten Wochen scheint sich dies jedoch zu ändern (Grenzüberfälle durch ukrainisch ausgerüstete russische Milizen, mysteriöse Drohnenangriffe in Moskau usw.). Die Reaktion der westlichen Regierungen fiel gemischt aus: Während der globale Hegemon (die USA) zur Vorsicht mahnte, erklärte zumindest eine unbedeutendere, aber wichtige Macht (das Vereinigte Königreich), die Ukraine habe „das Recht, ihre Kräfte über ihre Grenzen hinaus einzusetzen“.

16. Die Art und Weise, wie das vorherrschende „demokratische“ Kriegsnarrativ der NATO nun die Gefahr einer Ausweitung des Krieges und der Konfrontation der Blöcke herunterspielt, dient dazu, eine zunehmend offensive und direkte Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Allerdings ist auch der Übergang zu einem begrenzten zwischenimperialistischen Krieg nicht auszuschließen. Denn die Logik der Ausweitung der Kriegsführung ist dem aktuellen Konflikt unmittelbar inhärent. Auch in diesem Sinne kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

17. Neben der militärischen Eskalation des zwischenimperialistischen Konflikts enthält die Situation auch einen direkten wirtschaftlichen Aspekt. Die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen (Ausschluss von SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzung der Aktivitäten westlicher Unternehmen in Russland, weitreichende Handelsbeschränkungen usw.) sind in der Tat von einem in der Geschichte noch nie dagewesenen Ausmaß (auch nicht in den vorangegangenen Weltkriegen). Das Ausmaß der westlichen Unterstützung bildet also nicht nur eine Begleiterscheinung des Krieges, sondern ein wesentliches „Moment“, das für seinen Charakter entscheidend ist. Natürlich kommt es in zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis immer wieder zu einer Intervention einer konkurrierenden Macht auf der Seite der unterdrückten Nation. Aber dies trägt meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht verändert.

18. Dies ist jedoch keineswegs ein untergeordneter Aspekt eines jeden Krieges zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie. Am deutlichsten wird dies, wenn ein direkter zwischenimperialistischer Krieg ausbricht. Im Fall der Balkanländer im Ersten Weltkrieg beispielsweise bestand kein Zweifel daran, dass die ansonsten gerechtfertigte Landesverteidigung Serbiens gegen den Angriff Österreichs nach Ausbruch des Krieges ein untergeordnetes Moment wurde. Es wäre reaktionär gewesen, eine Position der Unterstützung für Serbiens Beschützer und Verbündete, die Entente-Mächte (Frankreich, Russland und Großbritannien), einzunehmen. Solange der imperialistische Krieg andauerte, war es nicht möglich, eine eigene Position der Unterstützung für Serbien einzunehmen.

19. Im Krieg um die Ukraine handelt es sich zwar nicht um einen offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten, aber die Westmächte, allen voran die USA, haben einen großen Einfluss auf die Führung und die Ziele des Krieges in der Ukraine. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass die NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land aktiv sind, zu schließen, dass ihr Eingreifen von untergeordneter Bedeutung ist. Für die Ukraine und ihre Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ist der Krieg jedoch in erster Linie einer der Selbstverteidigung gegen einen eindringenden Unterdrückerstaat. Außerhalb der Ukraine trägt der Konflikt zwischen Russland und der NATO einen reaktionären Charakter, dem sich Sozialist:innen entgegenstellen müssen.

20. So haben der Krieg und die massive „westliche“ Unterstützung für die Ukraine dem Konflikt einen multiplen Charakter verliehen – ein Angriffskrieg, der auf dem Territorium der Ukraine geführt wird, zu dem der Aspekt eines Stellvertreterkrieges zwischen den imperialistischen Mächten durch das Material und die strategischen Informationen der NATO sowie ein Kalter Krieg durch die Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland hinzugekommen sind. Der Verlauf des Krieges hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Ländern und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus

21. Russland ist eine imperialistische Macht, die direkt in den Versuch verwickelt ist, die Ukraine ganz oder teilweise zu besetzen. Daher gilt die Politik des revolutionären Defätismus hier in Russland am deutlichsten. Russlands Niederlage und Rückschläge können die Revolution beflügeln und Putins Herrschaft erschüttern. Das entscheidende Ziel stellt die Umwandlung des reaktionären Krieges in einen Klassenkampf für seinen Sturz und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung dar. Das steht in Russland unmittelbar auf dem Spiel:

  • Entlarvung des imperialistischen Charakters des Krieges und der Kriegsziele Russlands.
  • Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind unerlässlich, um eine Revolution gegen Putin oder ein anderes diktatorisches Regime vorzubereiten.
  • Gegen die Abwälzung der Kriegskosten auf die Massen (Kontrolle über die Warenverteilung, Enteignung von Unternehmen).
  • Rückzug der russischen Armee aus der Ukraine, der Wagner-Söldner:innen und ähnlicher Verbände.
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.
  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).
  • Aufbau einer Bewegung auf der Grundlage von Streiks und Aktionskomitees in Fabriken und Wohngebieten mit dem Ziel des Sturzes des Putin-Regimes und der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zur Durchsetzung von Arbeiter:innen- und demokratischen Rechten, des Kampfes für Arbeiter:innenkontrolle und eine Arbeiter:innenregierung auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten.
  • Unterstützung der Kriegsgegner:innen, insbesondere der Rolle der Frauen, einschließlich der Angehörigen der in die Ukraine entsandten Soldat:innen, und des Feministischen Antikriegs-Widerstands (FAS).
  • Ablehnung der Ablösung Putins entweder durch einen Palastputsch ultrareaktionärer Kräfte oder die Einsetzung einer „prowestlichen“ Regierung.

22. Putins Entscheidung, die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson mit Pseudoreferenden zu annektieren, zusammen mit der teilweisen Mobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland, ist ein reaktionärer Akt der Verzweiflung, der gleichzeitig seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

23. Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter eingesetzt werden sollen, und der prekären wirtschaftlichen Lage wird sich die Situation in Russland zuspitzen. Das hängt aber auch vom Ausmaß und Stärke der nationalistischen Propaganda ab bzw., ob sie durch politische, militärische und wirtschaftliche Umwälzungen in Frage gestellt wird. Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist unerlässlich, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Lande voranzutreiben.

24. Während unser übergreifendes Ziel in Russland der Sturz der russischen Regierung durch eine demokratische Antikriegsbewegung und der Aufbau einer breiteren sozialistischen Bewegung ist, die sich auf die Macht vorbereitet, sehen wir den Sturz Putins nicht als Vorbedingung für eine russische Niederlage. Vielmehr sind die Aussichten auf seinen Sturz umso größer, je schneller die russischen Streitkräfte militärisch besiegt werden. Im Zusammenhang mit dem Widerstand der Ukraine gegen die imperialistische Aggression sind wir für die militärische Niederlage der russischen Streitkräfte und ihren Rückzug aus dem ukrainischen Gebiet.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

25. Hier ist die Situation wahrscheinlich am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, als auch bezüglich der Taktik, weil einerseits der zwischenimperialistische Konflikt eine prägende Rolle spielt und andererseits auch das wichtige Element der realen nationalen Unterdrückung vorhanden ist. Das bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen auf Widerstand gegen die russische Besatzung verteidigen sollten, aber ohne die Selenskyj-Regierung in irgendeiner Form zu unterstützen und ohne Illusionen in die Motive der imperialistischen NATO-Mächte zu wecken. Tatsächlich besteht der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie in der Unterordnung des Landes unter den politisch-wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Apparat der EU und der USA. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im Wesentlichen mit denen des Westens und vor allem der USA übereinstimmen – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zu einem vollständigen imperialistischen Krieg in Kauf nimmt und sogar fordert.

26. In der Ukraine schließt diese Politik des Regimes jedoch keineswegs die Unterstützung des Kampfes gegen die Besatzung aus. Es wäre absurd, zu erklären, dass die Frage der russischen Panzer und Flugzeuge, die ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hat. Wir erkennen an, dass die Ukraine trotz ihrer bürgerlichen Führung und des westlichen Einflusses ein Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Besatzung besitzt. Dazu gehört auch, dass wir das Recht der Ukraine anerkennen, die dafür notwendigen Waffen zu erwerben.

27. Aber diese Unterstützung durch die westlichen Imperialist:innen erfolgt nicht gratis. Da die Ukraine bereits vor dem Krieg praktisch bankrott war, erhielt sie im ersten Kriegsjahr einen Betrag an militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung, der in etwa dem jährlichen BIP der Vorkriegszeit entsprach. Die Wirtschaftshilfe wurde in Form von Krediten gewährt, die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Für März 2023 hat der IWF ein neues Programm in Höhe von 15,6 Milliarden US-Dollar angekündigt (eines der größten in seiner Geschichte), das mit weitreichenden Forderungen für die Zukunft der Nachkriegsukraine verbunden ist. Westliche Kommentator:innen haben betont, dass die Beteiligung des IWF an der Ukrainehilfe unerlässlich ist, da er über „Erfahrung beim Wiederaufbau“ eines bankrotten Staates verfüge. Es ist ganz klar, dass diese Form der westlichen „Unterstützung“ die Vorbereitung einer halbkolonialen Zukunft der Ukraine mit schrecklichen Folgen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verkörpert. Präsident Selenskyj hielt bereits Reden vor Bänker:innen von JP Morgan, Goldman-Sachs und anderen, in denen er unbegrenzte Renditen für deren „großzügige Investitionen“ versprach. Gegen diesen zunehmenden Einfluss des westlichen Finanzkapitals auf die Ukraine muss unbedingt Widerstand geleistet werden, indem der Erlass der Schulden, die Ablehnung jeglicher „Wirtschaftsberater:innen“, die mit der westlichen Hilfe einhergehen, und die Entwicklung einer demokratischen Kontrolle über die bisher geleistete Hilfe gefordert werden. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, selbst Waffen zu erwerben und produzieren, ohne von westlichen Lieferungen abhängig zu sein – und der daraus folgenden Umwandlung in eine Halbkolonie des westlichen Imperialismus!

28. Andererseits dürfen fortschrittliche Kräfte in der Ukraine Selenskyjs Ziel der militärischen und wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den „Westen“ (NATO-Mitgliedschaft oder „Neutralität“ mit westlichen Sicherheitsgarantien) sowie die gewaltsame Integration der sogenannten Volksrepubliken und der Krim in eine „eine und unteilbare“ Ukraine um den Preis eines langwierigen Krieges nicht unterstützen. Diese Regionen müssen das Recht haben, ihre eigene Selbstbestimmung frei zum Ausdruck zu bringen, ohne die Anwesenheit von Besatzungstruppen aus Moskau oder Kiew.

29. In den Fabriken und an den Arbeitsplätzen bleibt es unerlässlich, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die gewerkschaftlichen und demokratischen Rechte der Lohnabhängigen zu verteidigen. Dies steht nicht im Gegensatz zur Verteidigung gegen die russischen Angreifer:innen. Vielmehr stärkt es die Widerstandskraft und die Moral der einfachen Menschen. Wir verteidigen ihre Rechte gegen die gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen Selenskyjs. Diese Verteidigung muss die Wahrung der Rechte der Freiwilligen in den Verteidigungseinheiten und den regulären Streitkräften gegen rechtsnationalistische und faschistische Kommandant:innen und Kräfte einschließen. Die letzten Monate haben die arbeiter:innenfeindliche und proimperialistische Natur des ukrainischen Regimes noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des Landes ihre Bedeutung verloren hat. Solange der nationale Kampf gegen die russische Invasion einen gerechten Charakter beibehält, wäre es für Revolutionär:innen selbstschädigend, diesen aufzugeben. Es würde bedeuten, eine mächtige Waffe zur Sammlung der Massen in den Händen der Bourgeoisie zu lassen. Revolutionär:innen müssen vielmehr die Unterstützung der nationalen Selbstverteidigung mit dem Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und der Aufdeckung der reaktionären Ausprägung des ukrainischen Regimes und seiner imperialistischen Hintermänner verbinden.

30. Die Liga für die Fünfte Internationale betonte von Anfang an zu Recht die Schlüsselrolle des zwischenimperialistischen Konflikts. Gleichzeitig erkannte sie an, dass die „berechtigte Antwort gegen die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, die Unterstützung der Revolutionär:innen verdient. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen“. Aber wir taten dies auf inkonsequente Weise, als wir das Recht der Ukrainer:innen, die Mittel für dieses Ziel zu erhalten, nicht anerkannten. Wir korrigieren diesen Fehler, der nicht nur die Selbstverteidigung der Volksmassen, sondern auch den Kampf um die Führung der und durch die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine geschwächt hätte.

31. Die Revolutionär:innen in der Ukraine müssen den Klassenkampf führen, auch wenn dieser heute vor allem einen politisch vorbereitenden Charakter innehat. Zentrale Elemente der revolutionären Politik müssen folgende sein:

  • Unterstützung für das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung.
  • Agitation, revolutionäre Propaganda, Aufdeckung des Charakters des Krieges, die nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.
  • Forderung nach wirksamem Schutz und Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.
  • Kampf um die Kontrolle über Waffen und knappe Gütern in Fabriken, Städten und Dörfern, wenn möglich auch Aufbau von Milizen.
  • Streichen der Schulden! Die Lohnabhängigen sollten sich für die Einrichtung einer Arbeiter:innenkontrolle über den Erhalt und die Produktion von Rüstungsgütern einsetzen.
  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation, die sich gegen die russischen Besatzungssoldat:innen richtet; Widerstand gegen die Konsolidierung der russischen Besatzung.
  • Kampf gegen die Einschränkung der demokratischen Rechte und die Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte durch das Kiewer Regime. Anerkennung der Rechte aller nicht-ukrainischsprachigen Minderheiten, gegen ihre kulturelle oder politische Unterdrückung.

32. Zu diesem letzten Punkt müssen wir ganz klar sagen, dass die Zukunft der sogenannten Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein. Gleichzeitig verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der Krim und der „Volksrepubliken“ (einschließlich ihres Rechts, sich Russland anzuschließen oder ein unabhängiger Staat zu werden). Allerdings kann nur eine sozialistische Föderation von Arbeiter:innenstaaten die verschiedenen nationalistischen herrschenden Klassen daran hindern, die Feindseligkeiten in ihrem eigenen Interesse zu schüren.

Keinen Fußbreit der NATO!

33. In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen gilt es, die weitere Eskalation des Konflikts zu einem offen erklärten zwischenimperialistischen Flächenbrand, eine Vertiefung des neuen Kalten Krieges zu verhindern und auch gegen die Verhängung eines globalen Sanktionsregimes zu kämpfen. Unser Ziel ist es, nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. aufzuwerfen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht die „Demokratie“ und die Menschenrechte verteidigen, sondern ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen.

34. Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Mobilisierung an den Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen oder „begrenzte“ Flugverbotszonen sind unbedingt abzulehnen. Der Hinweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, hinterlässt einen schlechten Beigeschmack, wenn die behaupteten Kriegsziele der NATO-Länder – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Deshalb müssen auch die Kriegsziele und der Klassencharakter der imperialistischen Politik offengelegt werden. Während die Existenz der NATO (bzw. ihre Expansion) auf dem Schlachtfeld in der Ukraine nicht in Frage gestellt werden, ist der Ausgang des Krieges von größter Bedeutung für das globale Kräfteverhältnis zwischen dem Westen und Russland (und China). In den Parlamenten müssen die Mitglieder der Arbeiter:innenparteien gegen alle Waffenlieferungen und militärische Unterstützung stimmen, weil diese – ob gewollt oder nicht – einer politischen Legitimation der Kriegsziele der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten gleichkämen.

35. Während wir eine Sabotage der ukrainischen Kriegsanstrengungen ablehnen, wozu auch gehört, dass wir uns Waffenlieferungen in die Ukraine nicht widersetzen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was die Mobilisierung der NATO an ihren Ostgrenzen sowie die Militarisierung (die in Osteuropa am stärksten ausgeprägt ist) und die sog. Ringtausche bedeuten. Angesichts der engen Verflechtung von Waffenlieferungen an die Ukraine mit der NATO-Aufrüstung, z B. über das System der Ringgeschäfte und den Ersatz alter Waffenbestände durch die Modernisierung der Armeebestände, müssen die Lohnabhängigen und Gewerkschaften die Offenlegung aller Lieferungen fordern. Wir kämpfen für die Arbeiter:innenkontrolle über den Transportsektor, damit unsere Klasse zwischen Waffentransporten in die Ukraine und solchen für die Truppenaufstellung, die Militarisierung und den Ringtausch unterscheiden und so beschließen kann, welche Transporte durchgelassen und welche gestoppt werden sollen.

36. Die West- und NATO-Mächte unterstützen die Ukraine nicht nur politisch, finanziell und militärisch, um ihre eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Sie haben auch einen Wirtschaftskrieg begonnen, um den russischen Imperialismus in die Schranken zu weisen. Wirtschaftssanktionen sind zu einem wichtigen Instrument der USA und anderer Mächte geworden, um ihre Ziele gegenüber anderen Ländern durchzusetzen. Dafür sind sie bereit, nicht nur die Arbeiter:innen ihres eigenen Landes für die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise und Inflation zahlen zu lassen, sondern auch die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen im globalen Süden.

37. Die westlichen Imperialist:innen führen nicht nur umfangreiche Aufrüstungs- und Waffenlieferungsprogramme sowie einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch eine große ideologische Kampagne. Nach dem „Krieg gegen den Terror“ befinden sich die westlichen Imperialist:innen nun in einem universellen „Krieg für die Demokratie“. Die NATO wird als eine neue Art von „Anti-Hitler“-Koalition präsentiert – und jede/r, die/der sich kritisch zu einer NATO-Erweiterung, Superaufrüstung oder einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland oder gar China äußert, wird entweder zur „Putin-Marionette“ oder bestenfalls zum/r naiven Beschwichtigungsidiot:in erklärt. Dies ist nicht nur eine mächtige ideologische Kampagne in den westlichen imperialistischen Ländern, sondern erstreckt sich auch auf den politischen Druck auf halbkoloniale Regierungen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen (und das wird dann auch mit wirtschaftlichem Druck kombiniert). Wie heuchlerisch diese demokratische Pose ist, zeigt die jüngste Aufhebung des Vetos des (nicht besonders demokratischen) NATO-Mitglieds Türkei gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens zum Militärbündnis im Gegenzug für eine formelle Zusammenarbeit mit der Erdogan-Regierung im Kampf gegen die kurdischen Oppositionellen der PKK und der YPG, die sie als terroristische Organisationen bezeichnet. Die gesamte Geschichte der NATO zeigt, dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Unterdrückung jeder demokratischen Bewegung ist, die sich gegen die Interessen der USA und ihrer wichtigsten Verbündeten richten könnte (siehe Spanien, Portugal, Griechenland usw.). Wir stehen fest in der Ablehnung der NATO und ähnlicher Institutionen des „demokratischen Imperialismus“, da die „Demokratie“, die sie verteidigen, die einer privilegierten Minderheit auf dem Globus ist, die letztendlich nur die Demokratie der 1 % der reichsten Personen in den „westlichen Demokratien“ verteidigt.

38. Zentrale Slogans in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen! Bekämpft die wirtschaftliche Kriegsführung! Bekämpft jeglichen politischen und wirtschaftlichen Druck auf jedes Land, den von den USA und der EU verhängten Sanktionen zu folgen!
  • Nein zu den massiven Aufrüstungsprogrammen der NATO-Staaten und Truppenverlegungen. In den Parlamenten müssen die Parteien und Abgeordneten der Arbeiter:innenbewegung gegen Waffenlieferungen und -genehmigungen stimmen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt aus ihr! Für die Auflösung der NATO!
  • Für die Auflösung der NATO und jeder anderen imperialistischen Allianz, die vorgibt, die „Demokratie“ zu verteidigen, in Wirklichkeit aber die bewaffnete Macht der bestehenden imperialistischen Weltordnung ist!
  • Keinen Mensch und keinen Cent für die imperialistische Politik! Überwälzung der Kosten, Preiserhöhungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Arbeitslose, Rentner:innen, Geringverdiener:innen, Übernahme der gestiegenen Wohnkosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Aufnahme aller Flüchtlinge, Bleiberecht und Staatsbürger:innenschaft für alle an dem Ort, an dem sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, Zulassung zu Gewerkschaften!
  • Unterstützung für die gerechten Kriegsziele des ukrainischen Widerstands: Abzug der russischen Truppen und Anerkennung der ukrainischen Souveränität!
  • Nein zu den westlichen Kriegszielen: Keine Ausplünderung der ukrainischen Wirtschaft durch das imperialistische Kapital! Streicht die Schulden der Ukraine!
  • Solidarität mit den Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen in der Ukraine, die wegen der Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen und ihrer internationalistischen Ansichten von der Regierung oder rechten Banden angegriffen werden!
  • Im Falle einer direkten Intervention (z B. Einrichtung von Flugverbotszonen, Entstehung neuer Krisenherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!
  • Ablehnung jeglicher Politik des Klassenfriedens!
  • Für eine massenhafte proletarische Antikriegsbewegung, die sich dem NATO-Aufbau in Osteuropa und international entgegenstellt, die Kriegsziele der imperialistischen Bourgeoisie entlarvt und vor der Gefahr einer Eskalation hin zu einem zwischenimperialistischen Konflikt warnt!

39. Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Ländern entscheidend. Gleichzeitig müssen die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie auch in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklungen

40. Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik in den kommenden Monaten, wenn nicht Jahren sein.

41. Dass die internationale wirtschaftliche Isolierung Russlands durch die NATO und die G7 auf massive Schwierigkeiten stößt und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos in vollem Umfang mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien viel schwächer, wenn sie überhaupt vorhanden ist. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens ist dort viel weniger wirksam. Zweitens ist das aber auch Ausdruck einer Erschütterung der US-Hegemonie und einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses. Deshalb könnten sich die Sanktionen gegen Russland vor allem für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang entwickeln. Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskrieges gegen Russland ist es jedoch trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten alles andere als sicher, dass eine der beiden Seiten einlenken und Kompromisse eingehen wird.

42. Andererseits machen der Krieg, die Sanktionen und die Tendenzen zur Zersplitterung des Weltmarktes eine tiefe Wirtschaftskrise in den kommenden Monaten sehr wahrscheinlich, die sich in Form von Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in einer drohenden Hungersnot äußern wird. Der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen und Wellen von Klassenkämpfen, vorrevolutionären und revolutionären Situationen hervorrufen. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

43. Es gibt mehrere Optionen für die weitere Entwicklung des Krieges:

  • Eine unmittelbar wahrscheinliche Entwicklung ist, dass beide Seiten ihre Kriegsanstrengungen weiter verstärken werden. Für die Ukraine würde dies mehr Rüstung und wirtschaftliche Unterstützung durch den Westen bedeuten. Dies würde Hand in Hand gehen mit einem massiven Ausbau der NATO und der Einführung von Elementen einer Kriegswirtschaft. Russland hat seine Wirtschaft bereits in diese Richtung umstrukturiert. Die Sanktionen des Westens und der Krieg haben die Schwäche des russischen Imperialismus offenbart, aber auch seine Abhängigkeit von China als dem wirtschaftlich und mit der Zeit auch militärisch stärkeren Imperialismus deutlich erhöht. China wiederum kann sich eine offene russische Niederlage nicht leisten.

  • Da es aber unwahrscheinlich ist, dass eine der beiden Seiten einen umfassenden militärischen Sieg erringt, würde dies entweder zu einem länger andauernden Stellungskrieg führen, der weiteren Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden das Leben kosten würde. Oder, sollte eine Seite hingegen verlieren, könnte dies zu weiteren verzweifelten Aktionen und einer Eskalation des Krieges über die Ukraine hinaus führen.

  • Er könnte aber auch zu einem anderen Szenario führen, in dem der imperialistische Krieg einem imperialistischen Frieden weicht. Der Krieg und seine wirtschaftlichen Auswirkungen haben nicht nur Russland betroffen, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Er hat die halbkoloniale Welt, aber auch die Westmächte getroffen. Während sie Russland eindämmen und isolieren wollen, ist ein Zusammenbruch und Zerfall des russischen Imperialismus nicht in ihrem Sinne, da dies die Welt instabil geraten lassen würde. Zweitens entstehen dem Westen auch massive wirtschaftliche und soziale Kosten, die in einer Zeit der globalen Krise und der zunehmenden Rivalität mit China statt mit Russland schwer zu verkraften sind.

  • Daher könnte es irgendwann im kommenden Jahr zu einem Einfrieren des Krieges kommen. Es würde wahrscheinlich die Form von imperialistisch aufgezwungenen Friedensgesprächen annehmen (möglicherweise unter dem Deckmantel der UNO oder unter Einbeziehung einiger der mächtigeren Halbkolonien wie Indien, Türkei oder Brasilien als „unabhängiger“ Kräfte). Ein solcher „Frieden“ würde in erster Linie auf Kosten der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen gehen. Er würde wahrscheinlich zu einer Spaltung des Landes führen, und er würde dazu führen, dass der Klassenkampf neue Formen annimmt.

Während die Arbeiter:innenklasse eindeutig kein Interesse an einem jahrelangen Zermürbungskrieg hegt, muss sie auch einen von den imperialistischen Mächten aufgezwungenen „Frieden“ aus mehreren Gründen ablehnen. Erstens könnte er einige Zugeständnisse in Bezug auf die territorialen Eroberungen Russlands beinhalten und nicht nur den Konflikt mit neuen erweiterten Grenzen einfrieren, sondern auch die tiefgreifende nationale Unterdrückung der Ukrainer:innen, ukrainisch und russischsprachig, die jetzt unter einer offenen, chauvinistischen Diktatur leben, die ihnen ihre Identität, ihre nationalen Rechte (Bildung, kulturelle Freiheit usw.) verweigert und Hunderttausende zur Flucht vor der Besatzung getrieben hat. Zweitens wird er, auch wenn er vielleicht von der ukrainischen Regierung und den Oligarch:innen unterstützt wird, für die Massen eine Katastrophe mit sich bringen – die Ukraine zu einer verarmten Halbkolonie der westlichen imperialistischen Mächte machen, die ihrerseits um ihren Anteil am Reichtum (sowohl an den natürlichen Ressourcen als auch an der Arbeitskraft) des Landes ringen werden.

Eine solche Entwicklung wird die Formen und Prioritäten des Klassenkampfes in allen Ländern verändern und den Kampf gegen einen aufgezwungenen, ungerechten Frieden zugunsten der Imperialist:innen und der ukrainischen herrschenden Klasse auf die Tagesordnung setzen. Es würde auch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen die Ausbeutung des Landes durch das globale Kapital und für eine vereinigte europäische Bewegung zum Widerstand dagegen auf die Tagesordnung setzen – eine Bewegung, die den Kampf für Selbstbestimmung und gegen kapitalistische Ausbeutung mit dem für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa verbinden müsste. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies in der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Vorwort der Redaktion

Als der hier neu übersetzte Artikel „Gramsci and the revolutionary Tradition“ vor 36 Jahren in der Zeitschrift „Permanent Revolution“ unserer Schwesterorganisation „Workers Power“ aus Anlass des 50. Todestages von Antonio Gramsci erschien, ging gerade eine der vielen „Gramsci-Wellen“ in der internationalen Linken ihrem Ende entgegen. Es sollten noch einige weitere bis zum heutigen Tage folgen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses historisch sehr genauen Artikels zum tatsächlichen politischen Wirken Gramscis ungemein, um seine politischen Ideen von den imaginären Zusätzen zu trennen, die sich inzwischen in den besagten Rezeptionswellen in Schlagwörtern wie „Hegemonie“, „Politik des Stellungskrieges“, „Zivilgesellschaft“, etc. niedergeschlagen haben.

Gramsci befand sich seit 1926 in faschistischer Haft, in der er – in vorsichtig verklausulierter Sprache – weiterhin politische Schriften verfasste, die „Gefängnishefte“. Die mehrdeutigen Ausdrücke, die er dabei benutzte, um Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“ oder „bürgerliche Ideologie“ zu vermeiden, wurden in diesen späteren Rezeptionen geradezu zu einer Neuerfindung des Marxismus hochstilisiert. Mit Begeisterung wurde darin eine „Modernisierung“ gesehen, die die verpönte „Sprache“ des „dogmatischen Traditionsmarxismus“ vermeidet. Wie weit dies von den tatsächlichen Intentionen Gramscis entfernt ist bzw. mit seinen tatsächlichen politischen Schwächen in Verbindung steht, wird in dem folgenden Artikel herausgearbeitet.

In den 1970er Jahren hatte die „Kommunistische Partei Italiens“ (KPI) ihren ehemaligen Vorsitzenden (1924 – 1927) einmal wieder neu „entdeckt“. Im Zuge der Integration der KPI in das politische Krisenregime der 1970er Jahre wurde das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten der Zielsetzung einer Umgestaltung Italiens unter „Hegemonie“ der KPI aufgegeben. Luciano Gruppis „Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats“ (1972 unter der Ägide des langjährigen Chefideologen Pietro Ingrao herausgegeben; auf Deutsch: 1977, VSA) ist Ausdruck des Versuchs der Parteiführung, ihren „Historischen Kompromiss“ mit der italienischen Bourgeoisie als Weiterentwicklung der bereits von Gramsci verfolgten „Überwindung“ der Fixierung der kommunistischen Parteien auf das Modell der Russischen Revolution darzustellen.

Schon in der Nachkriegszeit hatte die KPI-Führung um Togliatti den zunächst vergessenen Gramsci als Wegbereiter der Volksfrontpolitik „wiederentdeckt“. Wie der folgende Artikel zeigt, waren beide Vereinnahmungen Gramscis nicht berechtigt. Gramscis politische Revision (die er als Parteivorsitzender verfolgte) war tatsächlich die der „strategischen Einheitsfront“ zwischen Kommunist:innen und Reformist:innen mit dem Ziel einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung als erster Etappe der Diktatur des Proletariats. Er hegte im faschistischen Italien keinerlei Illusionen in Bündnisse mit der Bourgeoisie, allerdings ein illusorisches Verständnis der revolutionären Dynamik übergreifender Bündnisse „der Linken“ – und damit tatsächlich der Notwendigkeit, die Einheitsfront als Vehikel des Kampfes zum Bruch auch mit dem Reformismus und Zentrismus zu gestalten.

Einen anderen Interpretationsstrang von Gramsci findet man im „Neomarxismus“ der Nach-68er-Bewegung, z. B. begründet in der „strukturalistischen“ Marxexegese. So führte Luis Althusser (z. B. in „Für Marx“, 1968, Suhrkamp) Gramsci und das Hegemoniekonzept als Beleg dafür an, dass im „westlichen Marxismus“ schon früher die Unterschätzung der „Überbauphänomene“ erkannt wurde. In seinem Bestreben, Marx vom „Hegel’schen Objektivismus“ zu reinigen, ersetzte Althusser die Dialektik von Ökonomie und politisch-ideologischem Überbau durch ein System vielfältiger Widersprüche, in denen den Zusammenstößen im Überbau (den „ideologischen Staatsapparaten“) immer mehr Gewicht zukommt gegenüber den zusehends entpolitisierteren ökonomischen Klassenkämpfen. Von dort gibt es eine gerade Linie zur Transformationspolitik (im Gefolge von Poulantzas), die den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse durch „revolutionäre Realpolitik“ in den „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ die Rolle der vorantreibenden Kraft bis hin zum „revolutionären Bruch“ beim Übergang zum Sozialismus zuschreibt (zur näheren Kritik hierzu siehe den Artikel „Modell Oktoberrevolution“ im Revolutionären Marxismus 49).

So wenig man eine solche Bewertung von politischen und kulturellen Mikrokämpfen im „antikapitalistischen Stellungskrieg“ Gramsci direkt zuschreiben kann, so ist in seiner Konzeption der Hegemonie tatsächlich eine methodische Schwäche angelegt. Während bei Marx die Ideologiekritik und die daraus folgende Analyse von Überbauphänomenen materialistisch-dialektisch aus der Kritik der politischen Ökonomie abgeleitet wird, so ist dies bei Gramsci in den „Gefängnisheften“ wenig ausgeführt bzw. kann als „nur letztlich bestimmt“ verstanden werden. Wie im Artikel herausgearbeitet, kann es hier zu einer, von seinem idealistischen philosophischen Lehrmeister Benedetto Croce inspirierten Überbewertung des „subjektiven Faktors“ kommen, dem in den vielfältigen politischen Strukturen von Kultur, Wissenschaft, politischen Institutionen etc. eine weitgehende Selbstständigkeit eingeräumt wird.

Dies wird um so auffälliger, wenn man Gramscis Ideologiekritik mit der seines unmittelbaren Zeitgenossen und Kominterngenossen Georg Lukács vergleicht. Lukács hatte in den frühen 1920er Jahren mit der Theorie der „Verdinglichung“ dargelegt, wie die in der kapitalistischen Ökonomie (insbesondere in der Zirkulationssphäre) angelegten Denkmuster (Fetischformen) Politik und Alltag derartig durchdringen, dass jegliche „Alternativen“ oder „Gegenmachtansätze“ immer wieder in das herrschende bürgerliche System eingegliedert und zu systemstabilisierenden Faktoren umstrukturiert werden (Gramsci hatte im Konzept der „passiven Revolution“ übrigens eine ähnliche Bemerkung gemacht, diese stellt aber letztlich einen Fremdkörper in seiner Hegemoniekonzeption dar). Lukács’ zog die Schlussfolgerung (in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), dass nur vom Standpunkt des revolutionär organisierten Proletariats aus so etwas wie eine unabhängige, über die Kapitalreproduktion hinausgehende Gegenposition möglich ist. Nur ein revolutionäres Proletariat unter der Führung einer kommunistischen Partei kann auch die Antinomien und Rückführungsmechanismen des bürgerlichen Bewusstseins und seiner gewaltbewehrten Organe überwinden und einen wirklichen „revolutionären Bruch“ mit dem Bestehenden ermöglichen.

Auch wenn „Geschichte und Klassenbewusstsein“, wie Lukács selbstkritisch schon 1925/26 in „Chovstismus und Dialektik“ anmerkt, etliche Schwächen enthielt, so stellt es bis heute einen wichtigen Referenzpunkt der Kritik und Abgrenzung von sich auf Gramsci berufenden Gegenmachtkonzepten dar.

Mehr noch als vergangene Gramsci-Wellen ist die gegenwärtige von einer weitgehenden Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz, gegenüber Gramscis eigener politischer und theoretischer Entwicklung geprägt. Umso umstandsloser lassen sich auch daher seine Konzepte in aktuelle reformistische Strategien integrieren. Der folgende Artikel umfasst daher sowohl eine historische Einschätzung wie eine marxistische Kritik Gramscis, die sich einerseits gegen seine nicht-revolutionäre Vereinnahmung, andererseits aber auch gegen eine unkritische Übernahme seines Werkes richtet.

Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell

Es gilt, den italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu würdigen. 1926 wurde er von Mussolinis Faschisten verhaftet und zwei Jahre später nach einem Schauprozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung aus der Haft 1937 überlebte er, da er im Gefängnis schwer erkrankt war, nur kurz. Er starb im April desselben Jahres.

Das Gedenken an seinen Tod hat einmal wieder ganz verschiedenen Tendenzen auf der Linken die Gelegenheit verschafft, um sein Erbe zu streiten. Marxism Today (MT), die Zeitschrift der eurostalinistischen CPGB, erinnerte ihr Publikum in ihrer Aprilausgabe daran:

„Ohne Zweifel ist Gramsci der wichtigste einzelne theoretische Einfluss auf Marxism Today im Verlauf des letzten Jahrzehntes gewesen.“ (1)

Dieser Einfluss wurde durch die italienische kommunistische Partei gefiltert (KPI). Doch war die KPI nicht immer so bereit gewesen, Gramscis Beitrag zum Marxismus anzuerkennen. Es vergingen zehn Jahre nach Gramscis Tod, bevor die KPI sich entschied, eine Ausgabe von Gramsci Gefängnisnotizbüchern zu veröffentlichen, passend zensiert, um irgendwelche günstigen Verweise auf Trotzki oder Andeutungen von Opposition zu Stalins Politik in den 1930er Jahren zu entfernen.

Aber die Krise des Stalinismus nach 1956 schuf ein ideologisches Vakuum in den Reihen der westlichen stalinistischen Parteien. In Gramsci fand die KPI einen „italienischen Marxismus“, der der Erwartung gerecht werden konnte. Er konnte Kontinuität mit der Gründung der KPI beanspruchen, doch sich von den „Übertreibungen“ des Stalinismus in den 1930er Jahren distanzieren. Er konnte behaupten, in Gramscis Arbeit eine Kritik am „Dirigismus“ zu finden, mit deren Hilfe der monolithische Anspruch des Stalinismus abgelehnt werden konnte, ohne in Sozialdemokratismus zu verfallen oder der revolutionären (d. h. trotzkistischen) Kritik am Stalinismus Zugeständnisse zu gewähren.

Die KPI argumentierte, dass Gramscis Vorstellung von „Hegemonie“ ihre Politik in den 1970er Jahren für parlamentarische Unterstützung der arbeiter:innenfeindlichen Regierung der Christdemokratie (der „historische Kompromiss“) bekräftigte.

In den letzten paar Jahren aber hat die reformistische Laufbahn der KPI diese Partei dazu geführt, einen gewissen Abstand zwischen sich und Gramsci zu setzen. Anfang 1987 behauptete der KPI-Chef Natta, dass Gramsci auch „Fundamentalist“ war. Es ist daher keine Überraschung, dass Antistalinist:innen es zunehmend für normal halten, Gramscis Erbe für sich zu beanspruchen.

Vor fünfzig Jahren sagte der italienische Trotzkist Pietro Tresso in einem Nachruf auf Gramsci, dass es lebenswichtig war, den Stalinist:innen nicht zu erlauben, „Gramscis Persönlichkeit für ihre eigenen Zwecke auszunutzen“ (2). Dies gilt weiterhin. Aber der moderne Zentrismus versucht, weiter zu gehen. Einer der Führer:innen des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Livio Maitan, versucht bspw. mit seiner Würdigung des Lebens des italienischen Revolutionärs im mandelistischen Rückblick zu begründen, dass es einen „vollkommen revolutionären Kern“ in Gramscis Arbeit gibt, und dass „revolutionäre Marxist:innen das Recht und die Pflicht haben, das Erbe Antonio Gramscis zu beanspruchen“. (3)

Zwar zieht die Sozialistische Arbeiter:innenpartei (SWP/GB) den Stalinismus korrekt zur Rechenschaft für den Versuch, Gramsci als Reformisten zu schildern, doch sie ist wie Maitan gänzlich damit gescheitert, aus dem Leben des italienischen Revolutionärs eine kommunistische Bewertung seines Beitrages zum Marxismus zu verallgemeinern. John Molyneux sagt von den Jahren 1922 – 1926:

„Selbst ein ungezwungener flüchtiger Blick auf Gramscis Schriften dieser Periode zeigt, dass er fest auf dem Terrain der Revolution bleibt.“ (4)

Chris Harmans Pamphlet für die SWP – Gramsci gegen den Reformismus – bezieht eine ähnlich einseitige Sicht auf Gramsci. Für Harman reicht es aus, dass Gramsci an Revolution, nicht Reform glaubte, nie die Straße zum Aufstand verließ und beides anerkannte – die Notwendigkeit für eine Partei bolschewistischen Typs wie die Samenkörner für einen  Arbeiter:innenstaat, die innerhalb der Fabrikrätebewegung angelegt waren.

Im Wesen legen Harman, Molyneux und Maitan nur einen umgekehrten Fehler zu den Stalinisten an den Tag. In ihrer Darstellung ist Gramscis Beitrag zur KPI bis zu seiner Verhaftung unproblematisch und zeigt ihn ehrlich auf dem Boden der revolutionären Komintern stehend. Die „Lyon-Thesen“ von 1926 werden als Gipfel seiner politischen Arbeit gewertet. Seine Arbeit nach dieser Zeit, wie in den Gefängnisnotizbüchern vorgefunden, enthält zwar gewisse Irrtümer, stellt ihrer Meinung nach jedoch keinen Bruch mit dem revolutionären Gramsci dar. Für Maitan gibt es „eine unleugbare Kontinuität in Gramscis Denken und Herangehensweise seit seinen Schriften in den Jahren der Russischen Revolution bis zu den Notizen von 1935, als die Notizbücher endeten.“ (5). Gemäß Harmans Sicht haben die Faschisten „ … ihn daran gehindert, das Potenzial seines Marxismus, das er in L’Ordine Nuovo und den ,Lyon-Thesen’ zeigte, voll zu verwirklichen.“ (6)

Praktisch dienen diese Resümees nur dazu, die Wahrheit von Trotzkis Sprichwort zu unterstreichen, dass es für Zentrist:innen sehr schwierig ist, Zentrismus in anderen zu erkennen. Es ist notwendig, die Dinge tiefer zu analysieren. Genau weil die gegenwärtige SWP oder das VS der IV. Internationale Sachverhalte aus einer Reihe revolutionärer Prinzipien heraus beurteilen, statt ihre eigenen (oder andere) Beiträge mit dem Maßstab des Programms zu messen, scheitern sie daran, Gramscis politische Theorie und Praxis vor dem Hintergrund von Führung und Politik der Komintern in der Periode 1919 – 26 zu bewerten.

Aus dieser Perspektive analysiert, ist es möglich zu zeigen, dass Gramsci zwar nie Reformist war, sich seine Politik dennoch in ernsthaftem Maße von Praxis und Theorie Lenins und Trotzkis unterschied, während diese in der Leitung der Komintern waren. Kurz, es kann gesehen werden, dass Gramsci in der Tat eine klassische zentristische Entwicklung durchlief, in seinem Fall vom Ultralinkstum zum Rechtszentrismus.

Gramsci 1915 – 21

In Ales auf der Insel Sardinien geboren, ging Gramsci 1911 nach Turin, um an der Universität zu studieren. Dort sollte er in Kontakt mit der mächtigen Turiner Arbeiter:innenbewegung kommen, deren Schwerkraftzentrum in den FIAT-Autobetrieben und verwandten Industrien zu finden war. 1913 trat er der Sozialistischen Partei (PSI) bei.

Immer mehr in die Arbeit der Partei eingebunden, gab Gramsci im November 1915 sein Studium auf, um sich dem Redaktionsstab der PSI-Zeitung Il Grido del Popolo (Der Schrei des Volkes) anzuschließen. Innerhalb von Monaten schrieb er für die Turiner Ausgabe der offiziellen PSI-Tageszeitung Avanti!. In diesen Jahren als aktiver Kämpfer, aber bevor die Russische Revolution von 1917 die Fundamente der europäischen Sozialdemokratie erschütterte, war Gramscis Politik beträchtlich entfernt von jener Lenins und der Bolschewiki trotz der Tatsache, dass sich für Italien und Russland sehr ähnliche strategische und taktische Aufgaben stellten. Zu der Zeit, als Gramsci ein bewusster Revolutionär wurde, 1915, waren die Bolschewiken durch die Erfahrung von einer Revolution und Gegenrevolution gegangen und  hatten in deren Verlauf ihre Positionen zur revolutionären Partei und der Agrarfrage eindeutig formuliert. Die Bedeutungen dieser Positionen entgingen den Linken in der PSI bis 1921. Um 1915 begriff Lenin die Gründe für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale angesichts des imperialistischen Kriegs und die Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs. Gramsci und die Linke in der PSI missachteten Lenins Einstellung zu diesen Ereignissen.

Gramscis eigene politische Lehrzeit war merklich anders als Lenins gewesen. Es war nicht die klassisch „orthodoxe“ marxistische Tradition von Kautsky und der deutschen SPD oder Plechanow, die Gramscis Hintergrund bildeten, sondern eher eine besondere, italienisierte Version von Marxismus, der seinen Weg zu Gramsci durch die Arbeiten von Croce, Labriola und Gentile fand. An diese Personen wandte sich Gramsci, um nach einem Heilmittel für die Schwächen zu suchen, die er in Praxis und Theorie der Politik der Rechten in der  Zweiten Internationale und der PSI wahrnahm. Gramsci glaubte, dass die Passivität und der Fatalismus dieser Strömung mit einem ursprünglichen Mangel im historischen Materialismus von Marx und Engels zusammenhingen. Er war der Ansicht, dass Marxens Kritik der politischen Ökonomie, wie im Kapital zu finden, in der Tat mechanischer Materialismus war, der die Rolle und die Macht des subjektiven Faktors (die arbeitende Klasse) ignorierte, sich ihrer eigenen Ausbeutung bewusst zu werden und zum Umsturz eines Systems ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Bedingungen zu erheben. So sah er den Materialismus des Marxismus als ungenügend und eine Rückkehr zu Hegel als notwendig an, die Croce befürwortete, um der Theorie eine Dosis Idealismus zu injizieren und eine adäquate Einschätzung des subjektiven politischen Faktors in revolutionärer Politik zu leisten.

Lenins und Trotzkis Ansätze zu den Problemen der russischen Revolution waren im Vergleich damit sehr verschieden. Bereits 1899 argumentierte Lenin in Polemiken mit den Narodniki (Volkstümlerrichtung) gegen ihre mechanistische Auslegung von Marxens Politökonomie. Sie führte die Narodniki zur Schlussfolgerung, dass die Rückständigkeit von Russlands innerem Markt bedeutete, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland könne vermieden werden. Schon 1905 umriss Trotzki in seiner Theorie der „permanenten Revolution“, dass der russische Kapitalismus im Kontext der ungleichen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab verstanden werden musste. Im Bündnis mit dem europäischen, besonders dem französischen, Kapitalismus hatte die zaristische Autokratie die schnelle Ausbreitung des Kapitalismus in Russland beaufsichtigt. Genau deswegen bestritten Lenin wie auch Trotzki die damals vorherrschende Sichtweise des Marxismus, die darauf bestand, dass wegen dieser Entwicklung der russischen Bourgeoisie die Führung der bürgerlichen Revolution gegen den Zaren zufalle.

Sie bewiesen, dass die Schwäche einer einheimischen russischen Bourgeoisie sie dazu bringen würde, einen Block mit der Reaktion gegen die Arbeiter:innenklasse einzugehen, angesichts des gesellschaftlichen Gewichts des Proletariats und eines wirklichen Kampfes um bürgerlich-demokratische Forderungen.

Während für Gramsci die Revolution im rückständigen Italien trotz seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen Willensakt durchgeführt werden musste, würde für Lenin und Trotzki die Revolution im rückständigen Russland genau wegen der Widersprüche in der materiellen  Struktur des russischen Kapitalismus geschehen. Die Fehler in Gramscis methodologischem Begriff von Marxismus verrieten eine wirkliche Schwäche in seinem Verständnis vom historischen Materialismus. Für eine Weile wurde in den 1920er Jahren, als Gramsci zu den Positionen der revolutionären Komintern hingetrieben wurde, die Bedeutung dieser Schwächen verdeckt. Deren volle Bedeutung sollte erst vollständig in den Gefängnisnotizbüchern in seiner Diskussion über „Zivilgesellschaft“ und den „Staat“ enthüllt werden.

Gramsci und die Russische Revolution

Mit dieser Methode begrüßte Gramsci die Russische Revolution von 1917. Während er sie willkommen hieß als eine „proletarische Tat …  welche natürlich in einem sozialistischen Regime resultieren muss“ (7), betrachtete er sie als Bestätigung für seine eigene Sichtweise von Marxismus. Er sah sie als eine „Revolution gegen ,Das Kapital’“ und erblickte in der Arbeit der Bolschewiki „die Fortsetzung italienischen und deutschen idealistischen Gedankenguts, welches bei Marx von positivistischen und naturalistischen Verkrustungen verunreinigt wurde.“ (8)

Doch trotz dieses Angriffes auf den „Marxismus“ richtete er sich methodologisch in Wahrheit gegen die menschewistische Strategie, die glaubte, es existiere eine: „ … schicksalhafte Notwendigkeit für die Bildung einer Bourgeoisie in Russland, für den Beginn einer kapitalistische Ära, bevor das Proletariat an das Aufgreifen eigener Klassenforderungen, oder sogar an die Durchführung seiner eigenen Revolution denken könnte.“ (9)

In Lenin sah er die Art von Anführer:in, die das Geschichtstempo durch eine Tat organisierten Willens eher beschleunigen konnte, als jemand, der/die die sozialen Widersprüche in der russischen Gesellschaft bewusst zum Ausdruck bringen konnte.

Als sich die revolutionäre Krise in Italien in den Jahren nach der Russischen Revolution vertiefte, hatte Gramsci Gelegenheit, weiter über die Lektionen nachzudenken, die von Lenin gelernt werden konnten. Im August 1917 führten  Arbeiter:innen in Turin einen Aufstand gegen die örtliche Staatsgewalt, der von einem allgemeinen Streik in der ganzen Region Piemont unterstützt wurde. Obwohl schließlich der Aufstand um den Preis von 500 Toten und weiteren 2.000 Versehrten niedergeschlagen wurde, verweigerten sich die Turiner Arbeiter:innen ihrer Unterwerfung . Die Arbeiter:innenbewegung erhob sich wieder in einer beispiellosen Art während der Jahre 1919 – 1920. In diesen Jahren wuchs die PSI von 81.000 1919 auf 216.000 Mitglieder 1920. Der Gewerkschaftsverband unter der Leitung der PSI – die GCL – wuchs explosionsartig von 320.000 auf 2,3 Millionen zwischen 1914 und 1920.

Im April 1919 gründete Gramsci mit anderen die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung). Sehr schnell steuerte Gramsci sie weg von einer einfachen Kost abstrakten Propagandismus‘ mit einer starken Betonung auf kulturellen Themen zu einer Zeitschrift, die die wachsende Bewegung von Fabrikausschüssen angelehnt an die Sowjets in Russland umzugestalten suchte. Im Juni schrieb er über den Arbeiter:innenstaat:

„Dieser Staat entspringt nicht durch Zauber: die Bolschewiki arbeiteten acht Monate daran, ihre Slogans zu verbreiten und zu verfeinern: alle Macht den Sowjets; die Sowjets waren den russischen Arbeiter:innenn schon 1905 bekannt. Italienische Kommunist:innen müssen die russische Erfahrung schätzen lernen und so Zeit und Mühe sparen.“ (10)

Im Oktober 1919 gliederte die PSI sich der Komintern an und im folgenden Monat bestritt sie eine allgemeine Wahl auf einem Programm, das die Gewaltherrschaft des Proletariates forderte. Sie gewann den größten Block von Sitzen im neuen Parlament – 156 Sitze von 508. Anfang 1920 schickte die PSI sich an, die Kontrolle in über der Hälfte der Stadträte zu gewinnen. Ohne Frage suchten die italienischen Arbeiter:innen den Pfad der Revolution.

Bis zum Frühling 1920 hatte sich der Kampf in den Fabriken zu einem höheren Stadium mit der Bildung der Innenausschüsse aufgeschwungen, die den Arbeiter:innen ermöglichten, ganze Bereiche der Fabrik zu kontrollieren. Den ganzen Sommer 1920 lang waren weit mehr als eine halbe Million Arbeiter:innen in die Ausschüsse und Räte eingebunden. Gramsci begriff das, was auf dem Spiel stand, genau:

„Unter den Kapitalist:innen war die Fabrik ein Miniaturstaat, regiert durch einen despotischen Stab. Heute, nach den Arbeiter:innenbesetzungen, ist diese despotische Macht in den Fabriken zerschlagen worden; das Recht zu wählen ging in die Hände der arbeitenden Klasse über. Jede Fabrik, die über Industrieexekutiven verfügt, ist ein illegaler Staat, eine proletarische Republik, die von Tag zu Tag lebt, in Erwartung des Ausgangs der Ereignisse.“ (11)

Aber dieses war der Kern der Sache: Wie den „Ausgang der Ereignisse“ lenken? Wie Doppelmacht in den Fabriken in eine Kampfansage gegen die nationale Staatsmacht verwandeln? Hier wurden Gramscis Schwächen in der Parteifrage grausam freigelegt.

Bestimmt war die maximalistische Führung um Serrati schuld an der Ablehnung, die Verantwortung für die Organisierung der arbeitenden Klasse durch die Partei auf sich zu nehmen, um sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorzubereiten. Aber Gramsci hatte immer versäumt, sich um eine revolutionäre kommunistische Partei zu bemühen. Sogar nach dem Anschluss an die Komintern widerstrebte es Gramsci, den reformistischen Turati-Flügel bis zum Bruchpunkt von Ausschlüssen zu bekämpfen. Er teilte sogar nicht Bordigas Einsicht ins Erfordernis, sich zu organisieren, um für seine fraktionellen Ansichten im nationalen Maßstab innerhalb der PSI zu streiten.

Es ist dann eine bemerkenswerte Tatsache, dass Harman in seinem Pamphlet über die Schwächen Gramscis und der Partei hinweggleitet und in Bezug auf die Rolle marxistischen Eingreifens im Klassenkampf sagt:

„Seine eigene Aktivität 1919 – 20 und 1924 – 26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht perfektes) Beispiel für eine solche Intervention.“ (12)

Lenin und Trotzki waren bezüglich des Versagens aller Teile der PSI viel härter. Trotzki sagte über die PSI: „Die Partei betrieb Agitation für die Sowjets, für Hammer und Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiter:innenklasse nahm dies massenhaft ernst und betrat die Straße offenen revolutionären Kampfes. Aber genau im Moment, als die Partei zu allen praktischen und politischen Schlüssen aus ihrer eigenen Agitation gekommen sein sollte, erschrak sie vor ihrer Verantwortung und lief feige weg, ließ dabei die rückwärtigen Reihen des Proletariates ungeschützt.“ (13)

Lenin war ebenso barsch: „Zeigte ein/e einzelne/r Kommunist:in, was in ihm/r steckt, als die Arbeiter:innen die Fabriken in Italien eroberten? Nein. Damals gab es als noch keinen Kommunismus in Italien.“ (14)

In der Tat urteilte Gramsci rückblickend auf sich viel härter, als Harman dies tun will. 1924 schrieb er:

„1919/20 machten wir äußerst schwere Fehler, für die wir schließlich heute zahlen. Aus Angst,  Emporkömmlinge und Karrierist;innen gerufen zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten diese überall in Italien nicht. Wir waren nicht bereit, den Turiner Räten ein autonomes Direktivzentrum zu geben, das einen riesigen Einfluss überall im Land ausgeübt haben könnte, aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften und, vorzeitig aus der Sozialistischen Partei ausgestoßen zu werden.“ (15)

Diese  Qualität von Selbstkritik – unbedeutend, wie eng persönlich mit den Ereignissen verbunden und als wie kostspielig sich die Fehler erwiesen –, eine Güte, die allen großen Revolutionär:innen zukommt, befähigte Gramsci, sich zur Komintern zu wenden.

Die Gründung der KPI

Der Misserfolg der PSI in der revolutionären Situation in Italien 1920 zwang wenigstens die Linke in der Partei, schließlich mit der reformistischen Führung zu brechen. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde dann im Januar 1921 in Livorno gebildet. Sie wurde in einer Periode der Ebbe im internationalen Klassenkampf geschaffen, in Italiens Fall einer Periode erstarkender Reaktion und des Wachstums des Faschismus.

Auf ihrer Gründungskonferenz hatte die KPI zwischen 40.000 und 60.000 Mitglieder. Zur Zeit von Mussolinis Marsch auf Rom (ein faschistischer Putsch) im Oktober 1922 war die Partei auf 25.000 geschrumpft. Unter der Auswirkung der ersten Runde von Unterdrückung, die folgte, sank die Mitgliedschaft auf ungefähr 5.000 Anfang 1923.

In diesen schwierigen Jahren befand sich die Führung der KPI in Konflikt mit der der Komintern, als sie versuchte, ihre Perspektiven für die frühen 1920er Jahre zu entwickeln. Zur Zeit der Formation der KPI hatte es schon zwei Kominternkongresse gegeben (1919, 1920). Die Perspektiven und die Taktiken, die auf diesen umrissen wurden, waren entworfen worden, um vollen Vorteil aus der Krise des Bürgertums in Europa und der Schwäche der Sozialdemokratie zu ziehen. Es war eine Zeit entschiedener Brüche mit dem Reformismus und der Entstehung kommunistischer Parteien, die sich auf die Machtergreifung vorbereiteten.

Um die Zeit des Gründungskongresses der KPI und Dritten Kongresses der Komintern im Juni/Juli 1921 veränderte sich die Situation. Gelegenheiten waren versäumt worden, die Bourgeoisie hatte das Schlimmste ertragen und überlebte. Sie gewann Zuversicht und ging zurück in die Offensive. Die Sozialdemokratie war trotz ihrer verräterischen Hilfe für die herrschende Klasse gestärkt worden. Eine Neueinschätzung von Perspektiven und Taktiken war wesentlich.

Diese Neubeurteilung erfolgte am klarsten um die Frage der Einheitsfronttaktik herum. Diese Taktik, von den Bolschewiki in den Jahren angewandt, die bis zur Revolution führten, wurde auf den Dritten und Vierten Kongressen der Komintern 1921 und 1922 in ein System gebracht und verallgemeinert. Eher mit Reformismus als Kommunismus in einflussreicherer Position war es wesentlich, die arbeitende Klasse von reformistischen und zentristischen Organisationen zu brechen.

Die Resolution zur Taktik auf dem Vierten Kongress stellte fest:

„Die systematisch organisierte internationale kapitalistische Offensive gegen alle Gewinne der arbeitenden Klasse ist über die Welt wie ein Wirbelwind gefegt … zwingt die arbeitende Klasse, sich zu verteidigen.

Es gibt infolgedessen ein offensichtliches Bedürfnis für die Einheitsfronttaktik. Die Losung des Dritten Kongresses – heran an die Massen! – ist jetzt relevanter denn je … Die Anwendung der Einheitsfronttaktik bedeutet, dass die kommunistische Vorhut an der vorderen Front des Tageskampfs der breiten Massen für ihre lebenswichtigsten Interessen steht. Um der Sache dieses Kampfes willen sind Kommunist:innen sogar bereit, mit den Streikbrecherfunktionär:innen der Sozialdemokratie zu verhandeln.“ (16)

Natürlich war eine erbarmungslose Kritik an den Mängeln und dem Verrat der Spitzen von reformistischen Parteien und Gewerkschaften zwingend notwendig, wenn diese gemeinsame Handlung zur Verstärkung der kommunistischen Partei führen sollte.

Die PSI lehnte diese Einstellung ab. Überdies gab es 1921 kaum einen wägbaren Unterschied zwischen der politischen Perspektive von Gramsci und der ultralinken Führung, die um Amadeo Bordiga gruppiert war. Beide widersetzten sich Versuchen, die Linie der Dritten und Vierten Kominternkongresse vollständig auszuführen, und wurden stattdessen zu den ultralinken Positionen Bucharins hingezogen, der in Trotzkis Worten:

„ … gegen die Politik der Einheitsfront und der Übergangsforderungen stritt und mit seinem mechanischen Verständnis von der Dauerhaftigkeit des revolutionären Prozesses fortfuhr.“ (17)

Im Dezember 1921 erstellte der Leitende Ausschuss der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Dokument, das seine Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften umriss. Im Januar 1922 veröffentlichte die Komintern einen Aufruf an die internationale Arbeiter:innenschaft, der darauf aufbaute. Ein Monat später fand eine Versammlung des erweiterten EKKI mit anwesenden Vertreter:innen der KPI statt, um die Frage der Einheitsfront zu diskutieren, bei der die KPI-Delegierten mit ihrer Meinung in einer Minderheit waren.

Zur gleichen Zeit wie diese Ereignisse entwarfen die KPI-Führer:innen einschließlich Gramsci Thesen für den bevorstehenden Kongress der KPI in Rom. Sie wurden im Januar 1922 veröffentlicht und enthüllten, wie weit sich eigentlich die KPI von der Denkweise der Komintern entfernt befand.

Einerseits akzeptierten die „Thesen von Rom“, es gebe keinen Widerspruch zwischen:

„ … Teilnahme an den Kämpfen für eingeschränkte und begrenzte Ziele und der Vorbereitung des letztendlichen und allgemeinen revolutionären Kampfes.“ (18)

Zu diesem Zweck stimmte die KPI auch zu:

„ … am Organisationsleben in allen Formen von wirtschaftlicher Organisation des Proletariats, die offen für Arbeiter:innen aller politischen Überzeugungsrichtungen sind … (teilzunehmen), … was bedeutet, sich in die intensivsten Kampfhandlungen zu begeben und den Arbeiter:innen zu helfen, die nützlichsten Erfahrungen daraus herzuleiten.“ (19)

Aber die KPI lehnte es ab, Abmachungen für gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen politischen Parteien trotz der Tatsache ins Auge zu fassen, dass die Mehrheit der Arbeiter:innenvorhut in Italien weiterhin der PSI die Treue hielt, wohingegen die KPI eher:

„die Forderungen (unterstützen würde), die von den linken Parteien vorgeschlagen werden … von solcher Art, die geeignet sind, ans Proletariat zu appellieren, direkt zu mobilisieren, sie auszuführen …  die kommunistische Partei wird sie als Ziele für eine Koalition aus Gewerkschaftsorganen vorschlagen und vermeiden, Ausschüsse zu bilden, um den Kampf und die Agitation zu lenken, in denen die kommunistische Partei neben anderen politischen Parteien vertreten und tätig wäre.“ (20)

Sie glaubte, nur so bliebe die KPI: „ … frei  von irgendeinem Anteil an Verantwortung für die Aktivität der Parteien, die mündlich Unterstützung für die Sache des Proletariates durch Opportunismus und mit gegenrevolutionären Absichten ausdrücken.“ (21)

Dieser Unterschied zwischen Gewerkschaft und politischen Blockgebilden war ein künstlicher, geht man von einem korrekten Verständnis der Einheitsfront aus. Ein solcher Ansatz geht davon aus, sich für beschränkte politische oder wirtschaftliche Forderungen abzumühen, wenn es breite Schichten in einem Kampf um diese Forderungen mobilisieren kann und ihre Durchsetzung ein begrenzter Gewinn für die Arbeiter:innenklasse wäre und außerdem ihre politische Unabhängigkeit und Organisation stärken und das Proletariat weiter so auf den Revolutionspfad bringen würde. Die Kommunist:innen übernehmen keine Verantwortung für den Misserfolg der Sozialist:innen weder in der wirtschaftlichen noch der politischen Sphäre.

Die Gefahr des KPI-Ansatzes ist, dass er Opportunismus in Verbindung zur gewerkschaftlichen Einheitsfront in sich birgt, nur um von einem starren Sektierertum auf politischem Gebiet aus Furcht vor den Folgen solchen Opportunismus’ für die kommunistische Partei, also mit einem anderen Fehler begleitet zu werden. Zum Beispiel gaben die römischen Thesen an:

„Kommunist:innen, die an Kämpfen in proletarischen wirtschaftlichen Körperschaften teilnehmen, die von Sozialist:innen, Syndikalist:innen oder Anarchist:innen geführt sind, werden sich nicht weigern, ihren Handlungen zu folgen, außer wenn die Massen als Ganzes in einer spontanen Bewegung dagegen rebellieren sollten.“ (22)

Es ist diese Einstellung zur Spontaneität, eingemauert in den Grundsteinen von Gramscis Politik, die das Ultralinkstum der KPI anstiftete. Jahre später gab Gramsci zu, dass solche Positionen ‚m Grunde durch Croces Philosophie inspiriert‘ wurden (23). Spontane wirtschaftliche oder Gewerkschaftskämpfe sind an und für sich gut und ihnen kann unkritisch gefolgt werden. Politische Kämpfe außer unter der Führung der KPI sind es nicht. Aber „bittere Polemiken“ und Prophezeiungen vom Verrat werden die Massen schließlich dahin führen, mit der PSI zu brechen. Das war die KPI-Methode.

Die doppelten Gefahren von Opportunismus und Sektierertum kommen eindeutig in einer Passage der Thesen durch, die die Methode der Einheitsfront ganz falsch auf die Reihe bringt:

„Sie [die KPI] kann keine Taktik mit einem gelegentlichen und vorübergehenden Kriterium vorschlagen und  damit rechnen, dass sie anschließend dazu in der Lage sein wird, im Moment, wenn so eine Taktik nicht mehr anwendbar ist, eine abrupte Kehrtwende und einen Frontwechsel auszuführen, indem sie ihre Verbündeten von gestern zu Feind:innen stempelt. Wenn man nicht wünscht, seine Verknüpfung mit den Massen und ihre Verstärkung genau in dem Moment zu kompromittieren, wenn es gerade darauf ankommt, dass diese in den Vordergrund treten, wird es notwendig sein, in öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Haltungen eine Kontinuität von Methode und Absicht, die mit der ununterbrochenen Propaganda und der Vorbereitung für den letzten Kampf genau übereinstimmt, zu verfolgen.“ (24)

Für Lenin und Trotzki stellt das Abschließen prinzipienfester Übereinkünfte und deren Bruch, wenn die „Verbündeten“ – wegen deren Unentschlossenheit oder Verrats während der Umsetzung dieser Abmachungen – sich in „Feind:innen“ verwandeln, gerade eine „Kontinuität“ in der Methode dar, die den Weg zum „Endkampf“ vorbereitet.

Gramsci stand zu dieser KPI-Position während 1922 und des Vierten Weltkongresses und setzte seinen Block mit den Bordigist:innen auf dem Junitreffen der Erweiterten Exekutive der Komintern-Führung 1923 fort. Diese Versammlung, bei der Trotzki und Sinowjew den Vorsitz einer vereinten Exekutivdelegation führten, sah die KPI-Mehrheit (einschließlich Gramsci) und die Minderheit um Tasca ihre Unterschiede ausdebattieren. Trotzki unterstützte Tascas Minderheitsbericht, der die Bilanz der KP- Führung kritisierte.

Dieser Bericht umriss, wie die KPI den Beschluss des Vierten Kongresses, die Verschmelzung zwischen der KPI und der PSI anzustreben, durch Aufzwingen von Ultimaten blockiert hatte. Während die KPI die Öffentlichkeitsarbeit für den Fusionsaufruf gering hielt, veröffentlichte sie  einen Leitartikel, der die PSI als ,Leiche’ charakterisierte, was natürlich Vereinigungsgegner:innen in der PSI in die Hände spielte. Diese konnten den „Patriotismus“ von Arbeiter:innen ausnutzen, die eine Anhänglichkeit an ihre Partei spüren (25). Die KPI zeigte gerade, wie wenig sie die Einheitsfronttaktik Lenins und Trotzkis angenommen hatte, als sie im Mai 1923  weiter in Il Lavoratore (Der Arbeiter) schrieb:

„Wir betrachten die Taktik der Blöcke und Einheitsfront als ein Mittel, den Kampf gegen jene auf einem neuen Niveau zu verfolgen, die das Proletariat verraten … Darum haben wir sie vorgeschlagen.“ (26)

Wie Tasca und die Kominternführung über Gramsci und die KPI-Mehrheit die Schlüsse zogen:

„Die Vorstellung, die diese Genoss:innen von der Partei und ihren Verbindungen mit den Massen haben, ist vollkommen geeignet, die ,Sekten’mentalität beizubehalten, einen der ernstesten Mängel unserer Organisation.“ (27)

Gramscis Einwände

Über seine falsche Einstellung zur Spontaneität hinaus gab es andere Gründe hinter Gramscis Opposition gegen die Politik der Komintern. Auf konjunkturell-taktischer Ebene widersetzte er sich ihr, weil er fühlte, die rechte Minderheit in der KPI um Tasca, die die Kominternthesen unterstützte, würde gestärkt. Sie stellte für ihn eine liquidatorische Tendenz in der KPI dar, die nicht völlig mit der PSI-Politik gebrochen hatte und sich der notwendigen Neuorientierung auf illegale Arbeit unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung widersetzte. Im Juni 1923 sagte er, dass:

„Die Einstellung der Komintern und die Aktivität ihrer Vertreter:innen bringen Uneinigkeit und Korruption in die kommunistischen Reihen. Wir sind fest entschlossen, gegen die Elemente anzugehen, die unsere Partei liquidieren würden.“ (28)

Gramsci glaubte, Blockbildungen mit den Befürworter:innen der Wahlenthaltung um Bordiga trotz der Unterschiede zu ihnen seien nötig, um den verspäteten Bruch mit Reformismus und Zentrismus in der Periode 1921/22 zu vervollkommnen. Eine gewisse Bestätigung dessen findet sich in einem Brief, den er im Februar 1924 an die KPI-Chef:innen innerhalb Italiens schrieb. Er argumentierte, dass er die „Rom-Thesen“ der KPI über Taktiken guthieß:

„ … nur aus beschränkten Motiven von Parteiorganisation und sprach mich zugunsten einer Einheitsfront geradewegs bis zu ihrer normalen Konsequenz in einer Arbeiter:innenregierung aus.“ (29)

In der Tat existiert keine Aufzeichnung so einer ablehnenden Position zu dieser Zeit. Dieser Brief wurde geschrieben, nachdem Gramsci seine Position zu den Beschlüssen des Vierten Kominternkongresses verändert und sich entschieden hatte, mit Bordiga zu brechen. Wenn wahr, wäre eine prinzipienlose Position bezogen worden und eine, die nur dazu diente, die Kristallisation einer wirklich bolschewistischen KPI weiterhin unglückselig aufzuschieben.

Aber es gibt einen weit tieferen Grund für Gramscis unversöhnliche Einstellung zur Politik von Lenin und Trotzki in diesen Jahren. Sie beruhte auf einer Vorstellung unterschiedlicher Strategien für „Ost“ und „West“ in Europa. Nur wenn wir diese Vorstellung Gramscis verstehen, können wir begreifen, wie und warum er seine Einstellung zu den Beschlüssen des Vierten Kongresses ändern sollte, ohne zur gleichen Zeit seine falsche politische Methodik zu korrigieren.

Die Idee von „Ost“ und „West“ war weniger eine Frage der Geographie und mehr eine Sache politischer Ökonomie. Für Gramsci bestand der „Osten“ aus der „rückständigen“ kapitalistischen Welt, wohingegen der „Westen“ die fortgeschrittene Welt Westeuropas war. Diese Trennungslinie war für Gramscis Opposition zur Komintern wesentlich. Er schrieb:

„In Deutschland stützt sich die Bewegung, die zur Einsetzung einer sozialdemokratischen Regierung tendiert, auf die Massen der Arbeiter:innenklasse; aber die Taktik der Einheitsfront hat keinen Wert außer für Industrieländer, wo die rückständigen Arbeiter:innen hoffen können, eine Verteidigungsanstrengung durch das Erobern einer parlamentarischen Mehrheit fortsetzen zu können. Hier [in Italien] ist die Situation anders … Wenn wir die Parole einer Arbeiter:innenregierung aufstellten und umzusetzen versuchten, würden wir zur sozialistischen Zweideutigkeit zurückkommen, als die Partei zu Inaktivität verdammt wurde, weil sie sich nicht entscheiden konnte, einzig und allein eine Partei von Arbeiter:innen zu sein oder einzig und allein eine Partei von Bauern/Bäuerinnen … Die Gewerkschaftsfront hat dazu im Gegensatz ein Ziel, das von primärer Wichtigkeit für den politischen Kampf in Italien ist …

Wenn man von einer politischen Einheitsfront spricht und daher von einer Arbeiter:innenregierung, muss man darunter eine ,Einheitsfront’ zwischen Parteien verstehen, deren gesellschaftliche Basis nur aus Industrie- und Landarbeiter:innen besteht, und nicht aus Bauern/Bäuerinnen … 

In Italien existieren nicht wie in Deutschland ausschließlich Arbeiter:innenparteien, zwischen denen eine politische Einheitsfront auch denkbar ist. In Italien ist die einzige Partei mit solchem Charakter die kommunistische Partei.“ (30)

Nachdem er mit Bordiga gebrochen hatte, beschrieb Gramsci Bordigas Ablehnung solcher Taktiken und begründete dies so:

„Weil die Arbeiter:innenklasse in der italienischen arbeitenden Bevölkerung in einer Minderheit ist, gibt es eine dauernde Gefahr, dass ihre Partei vom Eindringen anderer Klassen verdorben wird, insbesondere vom Kleinbürgertum.“ (31)

An erster Stelle war diese Sicht gründlich uneins mit dem Konzept eines internationalen Programms, Perspektiven und Taktiken. Die Einheitsfront ist eine Taktik, konzipiert, um die Einheit der arbeitenden Klasse in einem Ringen gegen die Bosse und ihren Staat zu maximieren. Aber die Arbeiter:innenklasse findet sich mit diesen Aufgaben weltweit konfrontiert, wo immer sie existiert. Der internationale Charakter dieser Schlachten bedeutet, dass die Taktik nicht entweder auf „Ost“ oder „West“ begrenzt werden kann.

In der Tat, in jenen Ländern, wo die Bauern-/Bäuerinnenschaft eine große Klasse ist und der Imperialismus die Probleme von Landhunger vervielfacht hat – so wie in Italien –, findet die „politische“ Einheitsfront häufiger Anwendung. Dies ist so, weil sie als kleinbürgerliche Schicht Parteien außerhalb der kommunistischen oder sozialistischen Parteien hervorbringt, mit denen es im Anrennen gegen das vereinigte Lager aus Industriekapital und Großgrundbesitz möglich ist, Blöcke einzugehen. Das war der Fall in Italien.

Eine solche Möglichkeit lag dem Block der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären nach Oktober 1917 zugrunde. Die Tatsache, dass in Italien PSI und KPI weniger gut in der Bauern-/Bäuerinnenschaft Süditaliens verankert waren, als sie hätten sein sollen, hat nur geheißen, dass die Taktik der Einheitsfront mehr und nicht weniger dringlich war.

Eine Positionsänderung?

Im Verlaufe von 1923/24 hatte die Kominternführung einen gewissen Erfolg damit, einen Keil zwischen Gramsci und Bordiga zu treiben. Obwohl sie einen Block innerhalb der KPI bildeten, war deren Politik nie gleich. Die Unterschiede in ihrer Haltung zu den Fabrikräten 1920 waren symptomatisch. Die Politik von Passivität und Enthaltung war Kennzeichen Bordigas. Worin auch immer sein Ultralinkstum bestand, dies war Gramsci total fremd, der die Notwendigkeit sah, über passiven Propagandismus hinauszugehen, der wesentliche Wahrheiten bloß feststellte und auf den für ihn unvermeidlichen Prozess an Enttäuschung unter den Arbeiter:innen zum Nutzen der KPI wartete. Nach dem Vierten Weltkongress 1922 wurde Bordiga immer kompromissloser und nach innen orientiert. Bordigas Fraktion lehnte es ab, in den leitenden Ausschüssen der KPI wegen ihrer Divergenzen mit der Komintern zu arbeiten. Gramsci spürte, dass dies dazu führen musste, die KPI in die Hände der Minderheit um Tasca auszuliefern, der, wie Gramsci merkte, Opportunist gegenüber den Gewerkschaftsbonzen war.

Ereignisse in Italien überzeugten auch Gramsci, dass Passivität die KPI daran hinderte, in der Krise des faschistischen Regimes einzuschreiten. Im Frühling 1923 brachen wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Volkspartei aus, die bisher Mussolinis Herrschaft fest unterstützt hatte. Bedeutende Unzufriedenheit mit dieser Unterstützung begann sich sowohl in der Volkspartei (welche eine große Bauern./Bäuerinnengefolgschaft aufwies) wie zunehmend innerhalb der städtischen republikanischen Kleinbourgeoisie im Verlaufe von 1923 und 1924 zu regen. Die KPI brauchte Taktiken, zugeschnitten auf diese Unzufriedenheit und so angelegt, dass sie die republikanische Bourgeoisie und Sozialdemokratie daran hindern würden, die Nutznießerinnen der Krise zu sein.

Also kam Gramsci gegen Ende 1923 zur Auffassung, dass es unmöglich sei, irgendwelche Zugeständnisse an Bordiga zu machen. Ein vollständiger Bruch mit ihm und die Schaffung einer neuen Führung des „Zentrums“ war wesentlich, wenn die Partei sich der Massenarbeit widmen und den antifaschistischen Widerstand lenken wollte.

Zusammen genommen trieben diese Überlegungen Gramsci hin zur Komintern. Im September 1923 gab er seinen Widerstand gegen die „politische“ Einheitsfront in Italien auf und drängte die KPI, den Aufruf für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung in Italien anzunehmen. Für all diese Absichten und  Zwecke hatte Gramsci sich mit den Positionen von Lenin und Trotzki versöhnt. Im Januar 1924 schrieb er: „Ich glaube absolut nicht, dass die Taktiken, die vom erweiterten EKKI-Plenum und dem Vierten Kongress entwickelt worden sind, sich irren.“ (32)

Er betonte in diesem Brief an Scoccimarro, eine Auseinandersetzung für die Umorientierung der KPI anfachen zu wollen. Dabei würde er: „ … Doktrin und Taktiken der Komintern als Basis für ein Aktionsprogramm für zukünftige Aktivitäten annehmen.“ (33)

Gramsci artikulierte seinen Positionswechsel in einer Art, die mit den Argumenten Lenins und Trotzkis identisch war. In einem Brief an Togliatti, im Februar 1924 aus Wien geschrieben, äußerte er, dass er Bordiga nicht mehr zur Einheitsfront beipflichten könne:

„Erstens, weil das politische Konzept der russischen Kommunist:innen auf internationalem und nicht einem nationalen Terrain geformt wurde. Zweitens, weil in Mittel- und Westeuropa die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die Bildung breiter proletarischer Schichten geprägt hat, sondern auch – und als eine Konsequenz – die höheren Schichten, die Arbeiter:innenaristokratie, mit ihren Anhängseln in der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen Gruppen. Die Entschlossenheit, die in Russland greifbar war und die Massen auf die Straßen zu einem revolutionären Aufstand trieb, wird in Mittel- und Westeuropa von allen diese politischen Überbauten kompliziert, die durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus erzeugt wurden. Dies macht die Handlung der Massen langsamer und umsichtiger und erfordert deshalb von der revolutionären Partei eine Strategie und komplexere und längerfristige Taktiken als diejenigen, die in der Periode zwischen März und November 1917 für die Bolschewisten notwendig waren.“ (34)

Dies war ein echter Schritt vorwärts für Gramsci und ein wichtiger Bruch mit der Methodik und theoretischen Rechtfertigung für seine vorausgegangene Position.

Vorher hatte Gramsci analysiert, dass Italien Teil des „Ostens“ war, in dem die Einheitsfront ungültig sei. Nun jedoch übergibt er Italien nicht einfach nur dem „Westen“, sondern vielmehr und viel wichtiger stellt er fest, dass die Taktik internationale Relevanz hat. Die Möglichkeit, ultralinke Züge im „Osten“ und Opportunismus im „Westen“ zu vermeiden, hat zumindest eine Änderung der Analyse zur Vorbedingung.

Aber die praktischen Folgen dieser Änderung für die KPI 1924 waren weniger klar zu sehen. Im Januar 1924 schlug die KPI den anderen Arbeiter:innenparteien einen Wahlblock für die Wahlen im April 1924 vor. Aber die Bedingungen dieses Paktes wurden so frisiert, um auf Ablehnung zu stoßen. Togliatti – der die Partei in Italien in Gramscis Abwesenheit leitete – schrieb an die Kominternexekutive über den Grundstock für die Propaganda dieses Paktes:

„Der Faschismus hatte eine Periode der permanenten Revolution für das Proletariat eröffnet, und eine proletarische Partei, die diesen Punkt vergisst und hilft, die Illusion unter den Arbeiter:innen zu nähren, es sei möglich, die gegenwärtige Situation zu verändern, während man auf dem Gebiet der liberalen und verfassungsmäßigen Opposition verbleibt, wird in letzter Analyse den Feind:innen der italienischen Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft Unterstützung geben.“ (35)

Als praktizierende Reformist:innen und Verfassungsanhänger:innen wurden die Mitglieder der PSI aufgefordert, ihre Daseinsberechtigung aufzugeben, um Teil des Blocks zu sein. Das konnte natürlich kaum von ihnen erwartet werden.

Gerade als er mit dem Ultimatismus Bordigas brach, (Ablehnung der Einheitsfront aus Prinzip) traten Ereignisse in der Kominternführung ein, die es verhinderten, dass Gramsci  seinen Weg zu den Positionen von Lenin und Trotzki vollendete. Darin liegt Gramscis Tragik.

Der Aufstieg des Stalinismus

Veränderungen innerhalb der Komintern am Ende von 1923 und ihre Rückwirkungen in der russischen Partei sollten Gramscis positive Entwicklung beschneiden. Es war die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923, welche dem Stalinismus Auftrieb verlieh. Trotzki war der Meinung, dass mit dieser Niederlage der Kapitalismus für sich eine Periode verhältnismäßiger wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung gesichert hatte. Diese unvorteilhafte Verschiebung im internationalen Gleichgewicht von Klassenkräften forderte von der Komintern und ihren Sektionen die Erkenntnis, dass beträchtliche vorbereitende Arbeit gebraucht wurde, um die Massen wieder zu gewinnen. Er legte deshalb die Betonung fest auf die Einheitsfronttaktik.

Andererseits weigerten sich Sinowjew und Stalin zuzugeben, dass die revolutionäre Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hatte. Im Gegenteil bestanden sie darauf, dass die Komintern besonders in Deutschland mit einer nahe bevorstehenden revolutionären Situation konfrontiert war.

Im Juni 1924 verlieh der Fünfte Kominternkongress dieser ultralinken Sicht Rückhalt. Im gleichen Monat nahm Stalin die Feder in die Hand, um Trotzkis Auffassung zu bestreiten, die bürgerliche Stabilisierung zeige sich auch in einer Stärkung der Sozialdemokratie in Europa. Stalin lehnte dieses ab und behauptete, die Sozialdemokratie sei eine Form des Faschismus:

„Es wäre deshalb ein Fehler zu denken, dass ,Pazifismus’ die Auslöschung des Faschismus bedeutet. In der gegenwärtigen Situation ist der ,Pazifismus’ die Kräftigung des Faschismus durch seinen gemäßigten, sozialdemokratischen Flügel, der in den Vordergrund geschoben wird.“ (36)

„Und da Faschismus und Sozialdemokratie einander nicht verneinen, sondern ergänzen, sind sie keine Gegenpole, sie sind Zwillinge“. (37) Eine Einheitsfront mit den Spitzen solcher Parteien kam deshalb nicht in Frage. Sie schlossen die Anwendung der Einheitsfronttaktik außer „von unten“ aus, ohne die Häupter der reformistischen und zentristischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Fünfte Kongress erklärte:

„Die Taktiken der Einheitsfront von unten sind die wichtigsten, das bedeutet: eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die für Kommunist:innen, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter:innen in Fabrik, Betriebsrat, Gewerkschaft gilt.“ (38)

In Kürze war es wenig mehr als ein an die Arbeiter:innenmitgliedschaft in diesen Organisationen gestelltes Ultimatum, ihre Parteien bedingungslos zu verlassen. Weil diese Arbeiter:innen an ihre Vorstände glaubten, konnte es von ihnen nur als ein Trick betrachtet werden. Dieses Einheitsfrontdiktat konnte in der Tat nur helfen, die Sozialdemokratie zu stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade als Gramsci die unbestrittene Führung der KPI erlangt hatte und sich in Richtung der Positionen des Vierten Kominternkongresses bewegte, machte sich die Komintern praktisch auf, Gramscis eigenes Ultralinkstum einzuholen. Während des Herbstes 1924 – Gramsci war zurück in Italien – startete die KPI eine Kampagne für Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenausschüsse und den Bauern-/Bäuerinnenverteidigungsverband, den die KPI organisierte. Er wurde dem sozialistisch gesteuerten Bauern-/Bäuerinnengewerkschaftsverband entgegengesetzt.

Außerdem stellte die KPI während 1924 und 1925 Agitationskomitees Proletarischer Einheit auf, unter ihrer Führung, aber in offenem Konflikt mit den Gewerkschaften des Allgemeinen Arbeiter:innenverbands (CGL). Während Gramsci die Anwendbarkeit der Einheitsfront für Italien befürwortete, wurde sie in der Form des Fünften Kominternkongresses ausgeführt. Zwar bewegte er sich im Prinzip weg von Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, steuerte aber zugleich auf einen Standpunkt der Einheitsfront von unten zu.

In der Tat sind die Beschlüsse des Fünften Kongresses zu Taktiken und Perspektiven für ein Verständnis von Gramscis Werdegang von 1924 bis zu den Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern entscheidend. Während Ultralinkstum seit der deutschen Niederlage Einfluss erlangt hatte, wurden die Perspektiven vor dem Kongress abgemildert, nicht zuletzt wenigstens, weil Trotzki gegen sie stritt. In Teil 13 der „Thesen zur Taktik“ mit der Überschrift  „Zwei Perspektiven“ umriss Sinowjew alternative Entwicklungsmöglichkeiten:

„Die Epoche internationaler Revolution hat begonnen. Der Entwicklungsgrad als Ganzes oder teilweise, die Entwicklungsrate revolutionärer Ereignisse auf irgendeinem besonderen Kontinent oder in irgendeinem besonderen Land können nicht mit Genauigkeit vorausgesagt werden. Die ganze Situation ist so, dass zwei Perspektiven offenstehen: (a) eine mögliche langsame und anhaltende Entwicklung der proletarischen Revolution und (b) andererseits, dass der Boden unterm Kapitalismus in so einem Ausmaß vermint ist und sich die Widersprüche im Kapitalismus als ein Ganzes so schnell entwickelt haben, dass die Lösung in einem Land oder einem weiteren vielleicht in nicht so entfernter Zukunft kommt.“ (39)

Dies war eine sehr vage und flexible Perspektive. Auf der einen Seite gab sie dem damals machtvollen Ultralinkstum Raum und doch konnte sie auch dazu herhalten, wenn notwendig, eine rechtsopportunistische Wende zu rechtfertigen. Natürlich kehrte sich Mitte 1925 die Politik um. Auf dem Sechsten Plenum des EKKI Anfang 1926 nutzte Sinowjew den Beschluss des Fünften Kongresses, sie zu verteidigen.

Die rechtszentristische Kehrtwende von 1925 gründete auf einer verspäteten Anerkennung, dass Stabilität in Europa eingetreten war. Angesichts dessen und des stalinistischen Konzepts, der Sozialismus könne in der Sowjetunion aufgebaut werden, falls Eingriffe von außerhalb verhindert werden konnten, fing die Kominternleitung die Suche nach Bündnissen in den europäischen Ländern an, die helfen könnten, solche Übergriffe zu verhindern. In Britannien wurde das Anglo-Russische Komitee 1925 zwischen den russischen und britischen Gewerkschaften mit diesem Hintergedanken etabliert.

Wie wirkte sich dieser Rechtsschwenk auf Gramscis Verständnis der Einheitsfront aus? Auf einer Ebene vermochte Gramsci das Problem von Strategie und Taktiken auf formell korrekte Art zu formulieren. So warf Gramsci das Problem in den „Lyon-Thesen“ für den Dritten KPI-Kongress im Januar 1926 auf folgende Weise auf:

„Die Taktik der Einheitsfront, als politische Aktivität (Manöver) gestaltet, um sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen zu demaskieren, die eine Massenbasis haben, hängt eng mit dem Problem zusammen, wie die kommunistische Partei die Massen führen und wie sie eine Mehrheit gewinnen sollte. In der Form, in der sie von den Weltkongressen definiert worden ist, ist sie in allen Fällen anwendbar, in denen wegen der Massenunterstützung für gegnerischen Gruppen eine frontale Auseinandersetzung mit ihnen nicht genügt, uns schnelle und weitreichende Ergebnisse zu liefern … In Italien muss die Einheitsfronttaktik weiterhin von der Partei insoweit gebraucht werden, als sie noch weit weg davon ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Lohnarbeiter:innenschaft und die werktätige Bevölkerung gewonnen zu haben.“ (40)

In einer Beziehung ist diese Stellungnahme korrekt und eine Wiederholung der Erklärung von Anfang 1924. Aber zusammen mit anderen Schriften Gramscis 1926 betrachtet kann man den Einfluss des rechtszentristischen Kurses in der Komintern entdecken, den wir verstärkt in den Gefängnisnotizbüchern vorfinden. In einem Bericht an die Parteiexekutive vom August 1926 zur italienischen Situation zeichnete Gramsci einmal wieder einen Unterschied zwischen „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“ (England und Deutschland) und „peripheren Staaten“ wie Italien. In der ersten Gruppe „besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven“. Das bedeutet, dass ¡sogar die schlimmsten Wirtschaftskrisen keine unmittelbaren Rückwirkungen auf die politische Sphäre haben“, weil der „Staatsapparat weit immuner ist, als oft geglaubt werden kann.“ (41)

In Ländern wie Italien „sind die Staatsmächte weniger tüchtig“. Aber Gramsci sagt nicht weiter, wie in der Auseinandersetzung mit Bordiga in den frühen 1920er Jahren, dass die Einheitsfront nur im ersten Fall anwendbar ist, aber nicht im zweiten. Im Gegenteil behält er bei, dass die Taktik in beiden Fällen einsetzbar ist.

Der Zweck, diese Unterscheidung zu machen, ist ein anderer. In den „peripheren Staaten“ gibt es zwischen Proletariat und Bourgeoisie viele dazwischenliegende Klassen. Diese Klassen im Europa Mitte der 1920er Jahre werden in so einem Ausmaß radikalisiert, dass die verschiedenen Aufgaben von Partei und Klasse jene „zwischen der politischen und technischen Vorbereitung der Revolution sind“. In Italien zu dieser Zeit bedeutete das eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die auf einer Perspektive vom nahe bevorstehenden Abgang Mussolinis aufgebaut war. In den fortgeschrittenen Ländern aber ‚besteht das Problem noch in „politischer Vorbereitung“.

Die Darlegung dieser Unterscheidung ist keine müßige Sache für Gramsci, denn in jedem Fall will er ein „wesentliches Problem“ anpacken, nämlich:

„ … das Problem vom Übergang von der Einheitsfronttaktik, verstanden in einem allgemeinen Sinn, zu einer bestimmten Taktik, die die konkreten Probleme nationalen Lebens angeht und auf der Basis der Volkskräfte operiert, wie sie geschichtlich geformt sind.“ (42)

Im Fall von England argumentiert Gramsci, die Gewerkschaften seien die konkrete Form, in der die „Volkskräfte“ agierten. An diesem Punkt bemerken wir die rechtszentristische Auslegung, die Gramsci der Einheitsfront verlieh, wo lange politische Vorbereitung notwendig ist. Trotz der Erfahrung mit dem Verrat des Generalstreiks von 1926, einschließlich durch die Linken im TUC, glaubte Gramsci, dass:

„der Anglo-Russische Ausschuss beibehalten werden sollte, weil es das beste Terrain ist, um nicht nur die englische Gewerkschaftswelt zu revolutionieren, sondern auch die Amsterdamer Gewerkschaften. Bei nur einem Ereignis sollte dort ein Bruch zwischen den Kommunist:innen und der englischen Linken stattfinden: wenn England am Vorabend der proletarischen Revolution steht und unsere Partei stark genug isti, den Aufstand allein zu führen.“ (43)

Dies stand in scharfem Kontrast zur revolutionären Einschätzung von der Rolle des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees, wie von Trotzki nach dem Generalstreik ausgedrückt:

„ … die Politbüromehrheit hat eine grundlegend falsche Politik in der Frage des Anglo-Russischen Ausschusses verfolgt. Der Punkt, an dem die arbeitenden Massen Britanniens die größte gegnerische Macht zum Generalrat (des britischen Gewerkschaftsbundes TUC; Red.) ausübten, war, als der Generalstreik gebrochen wurde. Was notwendig war, war, Schritt mit den aktivsten Kräften des britischen Proletariates zu halten und in diesem Moment mit dem Generalrat als Verräter des Generalstreiks zu brechen … ohne dieses droht der Kampf für die Massen immer, sich in einen opportunistischen Kotau vor der Spontaneität zu verwandeln … Die Linie der Politbüromehrheit in der Frage des Anglo-Russischen Komitees war eindeutig ein Verstoß in Hinsicht auf den revolutionären Gehalt der Einheitsfrontpolitik.“ (44)

Auf Gramscis Seite ist all dies eine Abkehr weg von der internationalen Anwendung der Einheitsfront, für die er zu Beginn 1924 eintrat, und zurück zu einem unterschiedlichen Gebrauch, der schließlich auf der falschen Trennung zwischen „Ost“ und „West“ beruht. So wie er sich mit England auseinandersetzt, fällt er zur gleichen Zeit auf eine rechte, opportunistische Variante dieser Taktik zurück. Gramsci nutzte gewissermaßen die Positionen des Fünften Kongresses für seine eigenen doppelten Perspektiven für „Ost“ und „West“ aus. Seine Haltung zum Anglo-Russischen Ausschuss ist ein konkreter Ausdruck von Sinowjews Perspektive der „langsamen und anhaltenden Entwicklung der proletarischen Revolution“.

Dennoch gab es einen beträchtlichen Abstand zwischen Gramscis strategischen und taktischen Rezepten und denjenigen, die in der Komintern unter Stalin im Einsatz waren. Es war genau 1926, als Stalin darauf bestand, dass in China die kommunistische Partei sich in die Kuomintang auflöst, und unter der Losung der „demokratische(n) Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ die leninistische Position zur anführenden und lenkenden Rolle des Proletariats verließ.

Gramsci erkannte auf dem Lyoner Kongress im Januar 1926, dass:

„das Proletariat sich abmühen muss, die Bauern/Bäuerinnen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und sie unter seine eigene politische Leitung stellen muss.“ (45)

Angesichts dessen, dass sich die schwache italienische Bourgeoisie für ihre Macht auf die Bauern./Bäuerinnenschaft stützte, bestand Gramsci für die KPI darauf, diese Frage sei „der zentrale Punkt der politischen Probleme, die die Partei in unmittelbarer Zukunft lösen muss“. (46)

Er erkannte, dass die Losung der „Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung“ ein Weg sei, um das Bauern-/Bäuerinnentum hinter die Lohnarbeiter:innenschaft zu ziehen, „das Mittel, sie auf den Boden der fortgeschrittenen proletarischen Vorhut zu transportieren (Kampf für die Diktatur des Proletariates).“ (47)

Anders als Stalin fand er nicht, das Regierungsbündnis zwischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen sei eine unterscheidbare Etappe, getrennt zum und vorausgehend dem Kampf für Sozialismus, sondern Gramsci argumentierte:

„ … die Partei kann  sich nicht eine Verwirklichung dieses Schlachtziels außer als Anfang eines direkten revolutionären Kampfes vorstellen: eines Bürgerkriegs, der vom Proletariat im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft mit dem Ziel geführt wird, die Macht zu erheischen. Die Partei könnte in ernste Abweichungen von ihrer Aufgabe als Kopf der Revolution geführt werden, wenn sie die Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung so interpretieren sollte, als entspreche sie einer wirklichen Phase in der Entwicklung des Ringens um die Macht: mit anderen Worten, wenn sie es so einschätzt, dass mit dieser Parole die Möglichkeit gegeben sei, das Problem des Staates im Interesse der Lohnabhängigen auf irgendeine andere Weise zu lösen als durch die Diktatur des Proletariats“. (48)

Gramscis Formulierungen zeigen bis zu seiner Inhaftierung einen Schwenk in Richtung Ultralinkstum.

Gefangene Gedanken

Gramcis Nachdenken über Probleme von Strategie und Taktik in den Gefängnisnotizbüchern setzt seinen Bruch mit ultralinken Einstellungen fort. Aber an seiner Stelle entwickelte er die Vorstellung weiter, die dem rechtszentristischen Kurswechsel von 1925 – 27 ihren Ursprung verdankt. Der letztendliche Triumph des Faschismus 1926 bewog Gramsci, seine Anschauungen über die Stabilität und Stärke von bürgerlichem Regime im Westen einschließlich Italiens neu zu bewerten. In den Gefängnisnotizbüchern stellt er fest:

„Es scheint mir, dass Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit eines Wandels vom Manöverkrieg, der siegreich im Osten 1917 angewandt wurde, zu einem Stellungskrieg verstand, der die einzig mögliche Form im Westen war – wenn, wie Krasnow bemerkt, Armeen endlose Mengen von Nachschub schnell ansammeln und wo die gesellschaftlichen Strukturen noch von sich aus zu schwer bewaffneten Befestigungen werden konnten. Dies scheint mir die Bedeutung der Formel von der ,Einheitsfront’ zu sein, und sie entspricht dem Konzept einer einheitlichen Front für die Entente unter dem alleinigen Befehl von Foch (französischer Oberbefehlshaber).“ (49)

Hier hat Gramsci die Idee der Einheitsfront als Kriegsmanöver von 1928 aufgegeben und verwandelte sie in einen Stellungskrieg im Westen; d. h., er hat die Einheitsfront in eine langfristige Strategie verwandelt, durch welche Partei und Klasse erfolgreich Stützpunkte in der Gesellschaft erobern und dadurch allmählich den Staat umzingeln und belagern können. Dies ist die Antithese zur revolutionären Nutzung der Einheitsfront, wie in der Komintern unter der Führung von Lenin und Trotzki ausgearbeitet und praktiziert.

Zu ein und der gleichen Zeit skizziert Gramsci in den Gefängnisnotizen eine vereinfachte, einseitige Sicht der russischen Revolution mit seinem absurden Hinweis, die Einheitsfront habe im bolschewistischen taktischen Arsenal gefehlt und Lenin hätte einen ununterbrochenen „revolutionären Angriff“ gegen einen unbefestigten zaristischen Staat geführt. Doch andererseits hält er eine zu opportunistische strategische Sichtweise im Westen aufrecht, die eine nahtlose Einheitsfront aus Kommunist:innen und Reformist:innen (und sogar liberalen/bürgerlich-demokratischen Kräften) regelrecht bis zur Machtergreifung in Aktion sieht. Gramsci scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sich Zwecke und Mittel in dieser Betrachtung widersprechen. Die Machteroberung hängt vom zunehmenden Einfluss der kommunistischen Partei ab, und der kann im Gegenzug nur auf Kosten von und im Kampf gegen Reformist:innen und Zentrist:innen erzielt werden. Dies kann nur geschehen, wenn gemeinsame Fronten für bestimmte begrenzte Handlungen mit rücksichtsloser Kritik an den Beschränktheiten der Bündnispartner:innen im Kampf kombiniert werden und deren Halbherzigkeit und Schwankungen zusammen mit den Beschränkungen ihrer eigenen Rezepte enthüllen.

Lief all dies bereits auf Reformismus hinaus, worauf die Eurostalinist:innen beharren? Nicht ein bisschen! Gramsci hat vielleicht eine Taktik in eine Strategie verwandelt, aber dies ist nicht das Gleiche wie das Verdrehen von Revolution in Reform. Zum Teil war Gramscis rechtszentristische Vorstellung in den Gefängnisnotizbüchern eine undialektische Antwort auf die Konfrontationsstellung, die er zur ultralinken Wende Stalins 1928/29 beibehielt, als er anfing, seine Notizbücher zu schreiben. Es ist eher eine bucharinistische rechte Kritik an der Dritten Periode, die wir in Gramscis Notizbüchern finden. Dies betont die Distanz zwischen ihm und Trotzki, aber es dient auch dazu, die Kluft zu verdeutlichen, die Gramsci von Stalin scheidet.

Diese Lücke wird offensichtlicher durch die Berichte von Diskussionen mit einem Mithäftling, Athos Lisa, von 1930. Beauftragt und dann unterschlagen von Togliatti, unterstreichen sie, dass Gramsci sich der Dritten Periode widersetzte, dem Rauswurf von Oppositionellen aus der KPI nicht zustimmen konnte, und dass er seinen Glauben an die Notwendigkeit eines Aufstands behielt:

„Die gewaltsame Machteroberung erfordert die Schaffung einer Organisation militärischen Typus‘ durch die Partei der Arbeiter:innenklasse, die in jeden Zweig der bürgerlichen Staatsmaschinerie durchdringend eingeimpft wird und fähig ist, ihr im entscheidenden Kampfmoment Wunden und ernste Schläge zuzufügen.“ (50)

Gramsci sollte 1935, im Jahr des definitiven Übergangs der stalinistischen Komintern von bürokratischem Zentrismus zu Gegenrevolution und Reformismus, zum Schreiben nicht mehr gesund genug sein. Die Unterschrift unter den Stalin-Laval-Pakt in diesem Jahr gab grünes Licht für die französischen Stalinist:innen, sich dem Patriotismus mit voller Unterstützung des Kreml an den Hals zu werfen. Es gibt nichts in Gramscis Leben oder Arbeit, das heutigen Eurostalinist:innen erlauben würde, Gramsci in den Schutzheiligen der Volksfront zu verwandeln.

Ganz im Gegenteil. In ein paar bemerkenswerten Abschnitten von 1926 polemisiert Gramsci ausdrücklich gegen eine Volksfront, die den Faschismus besiegen soll, auf eine Weise, die die entschuldigenden Argumente Togliattis, die er fast zehn Jahren später für die stalinistische Politik im spanischen Bürgerkrieg gebraucht hat, vorwegnimmt. Er bestreitet die Einlassungen der Bourgeoisie, die: „ … ein Interesse daran hegt, zu behaupten, Faschismus sei ein vordemokratisches Regime: dieser Faschismus wird auf eine beginnende und noch rückständige Phase des Kapitalismus verwiesen.“ (51)

Dies führt zur Ansicht:

„Wenn nicht ein wirklicher bürgerlich-proletarischer Block für die verfassungsmäßige Beseitigung des Faschismus, wäre das beste taktische Ziel wenigstens eine Passivität der revolutionären Vorhut, eine Nichteinmischung der kommunistischen Partei in den unmittelbaren politischen Kampf, was der Bourgeoisie so gestattet, das Proletariat als Wahltruppe gegen den Faschismus zu benutzen.“ (52)

Wohingegen:

„Für uns Kommunist:innen ist das faschistische Regime Ausdruck der entwickeltsten Etappe kapitalistischer Gesellschaft. Es dient genau dazu zu demonstrieren, wie alle Eroberungen und alle Institutionen, die die werktätigen Klassen erfolgreich realisieren … zur Vernichtung verdammt sind, wenn in einem gegebenen Moment die Arbeiter:innenklasse nicht die staatliche Macht mit revolutionären Mitteln an sich reißt.“ (53)

„Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“?

Es gibt noch einen Weg, Gramscis Werdegang zu beurteilen: Was war seine Einstellung zur theoretischen Untermauerung des Zentrismus in der Komintern – „Sozialismus in einem Land“ – und zu seiner revolutionären Kritik – „permanente Revolution“?

Seine Kapitel in den Gefängnisnotizen zu diesen Fragen geben den Argumenten keine Nahrung, die wie Perry Anderson eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen Gramscis und Trotzkis in ihren jeweiligen Kritiken am Ultralinkskurs Stalins nach 1928 sehen.

Die Wahrheit ist, dass Gramsci von Mitte 1924 an ein heftiger Kritiker von Trotzkis Theorie ist. Der letzte wohlwollende Hinweis auf Trotzki kommt bei Gramsci im Februar 1924 vor. Er verfolgt die Angriffe der Opposition auf die Bürokratie in der UdSSR mit Sympathie und sagt weiter:

„Es ist gut bekannt, dass Trotzki schon 1905 dachte, eine sozialistische und Arbeiter:innenrevolution könne in Russland stattfinden, während die Bolschewiki nur anstrebten, eine politische Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu schaffen, die als ein Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus dienen würde, der nicht in seinen ökonomischen Fundamenten berührt werden würde. Es ist wohlbekannt, dass Lenin im November 1917 … und die Mehrheit der Partei sich Trotzkis Sicht angeschlossen hatten und beabsichtigten, nicht bloß die politische Macht zu übernehmen, sondern auch die wirtschaftliche.“ (54)

Doch innerhalb von sechs Monaten, um die Zeit des Fünften Weltkongresses, hatte Gramsci diesen Standpunkt verlassen und war zur Fraktion der Stalin/Sinowjew/Kamenew-Troika übergelaufen. Der unmittelbare Antrieb dazu ist Gramscis Einstellung zu fraktioneller Aktivität:

„Trotzkis Vorstellungen … stellen eine Gefahr dar, wenn die Einheit der Partei in einem Land fehlt, in dem es nur eine Partei gibt, dies Risse im Staat erzeugt. Dies produziert eine konterrevolutionäre Bewegung; es bedeutet aber nicht, dass Trotzki ein Gegenrevolutionär ist, denn in diesem Fall würden wir für seinen Ausschluss plädieren.

Schließlich sollten aus der Trotzkifrage Lehren für unsere Partei gezogen werden. Vor den letzten disziplinarischen Maßnahmen war Trotzki in der gleichen Position wie Bordiga gegenwärtig in unserer Partei.“ (55)

Dieser tragische Fehler, nämlich eine rechtsopportunistische Gleichsetzung des Marxismus mit Ultralinkstum, wird wiederholt und oft in den Gefängnisnotizbüchern verstärkt. In der Hitze seines eigenen Bruches 1924 mit Bordiga war er nur zu willig, die Mehrheit in der KPdSU in der Bolschewisierungskampagne zu unterstützen, die auf dem Fünften Kongress lanciert wurde. Dies war in der Tat der erste Schritt zur Erdrosselung des innerparteilichen Lebens in den kommunistischen Parteien und führte Gramsci zum Widerstand gegen alle Fraktionstätigkeit.

Während Gramsci bis Oktober 1926 noch bereit war, sich für disziplinarische Nachsicht in Hinsicht auf die Vereinte Opposition einzusetzen, so argumentierte er in den frühen 1930er Jahren wie folgt:

„Die Tendenz, die von Leo Dawidowitsch [Trotzki] vertreten wird, war eng mit dieser Reihe von Problemen verbunden … ein übermäßig resoluter (und deshalb unvernünftiger) Wille, Industrie und industriellen Methoden eine Vormachtstellung im nationalem Leben zu geben, durch Zwang von außerhalb die Steigerung von Produktionsdisziplin und -ordnung zu beschleunigen und Gewohnheiten an die Arbeitserfordernisse anzupassen. Angesichts der allgemeinen Form, in der alle mit dieser Tendenz zusammenhängenden Probleme wahrgenommen wurden, endete das schicksalhaft notwendig in Bonapartismus. Daher rührt die erbarmungslose Notwendigkeit, sie zu zermalmen.“ (56)

Bei dieser Haltung und Einschätzung war es nicht überraschend, dass Gramsci seine Einstellung von 1924 zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überprüfen würde:

„Bronstein [Trotzki] erinnert in seinen Memoiren daran, und wir bekommen das noch einmal erzählt, dass seine Theorie sich als wahr erwiesen habe … fünfzehn Jahre später … In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder fünfzehn Jahre früher gut noch fünfzehn Jahre später. Wie es bei Sturköpfen vorkommt … riet er mehr oder weniger korrekt. Er hatte in seiner allgemeineren Prophezeiung recht. Es ist, als ob man prophezeien sollte, dass ein kleines vier Jahre altes Mädchen Mutter würde, und als sie um zwanzig es tatsächlich wurde und man dann sagte: ,Ich erriet, dass sie Mutter werden würde’. Dabei übersieht man aber die Tatsache, dass man das Mädchen mit vier Jahren zu vergewaltigen versucht hatte, im Glauben, dass sie sogar damals Mutter würde.“ (57)

Diese Ablehnung dessen, was er als Trotzkis Theorie versteht, steckt im Kern seiner gesamten strategischen und taktischen Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern wie z. B.:

 „ … das politische Konzept der sogenannten permanente(n) Revolution, welches vor 1848 entstand als wissenschaftlich entwickelter Ausdruck des jakobinischen Experiments von 1789 bis zum Thermidor. Die Formel gehört zu einer historischen Periode, in der die große Masse der politischen Parteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Gesichtspunkten sich noch sozusagen in einem Flüssigzustand befand: größere Rückständigkeit des Dorfes und fast vollständiges Monopol politischer und staatlicher Macht bei wenigen Städten oder sogar nur einer einzelnen (Paris im Fall von Frankreich); ein relativ rudimentärer staatlicher Apparat und größere Unabhängigkeit ziviler Gesellschaft von staatlicher Aktivität; ein bestimmtes System militärischer Macht und von nationalen bewaffneten Diensten; größere Autonomie der Nationalökonomien von den wirtschaftlichen Verbindungen des Weltmarktes usw. In der Periode nach 1870, mit der kolonialen Ausdehnung Europas, verändern sich alle diese Elemente, die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates werden komplexer und dichter, und die 1848er Formel von der ,permanenten Revolution’ wird erweitert und in der Politologie in die Formel von ,ziviler Hegemonie’ überführt. Die gleiche Sache passiert in der Politikkunst wie in militärischer Raffinesse: Bewegungskrieg wird zunehmend Stellungskrieg, und es kann gesagt werden, dass ein Staat einen Krieg gewinnen wird, sofern er sich ganz akkurat und technisch darauf in Friedenszeiten vorbereitet.“ (58)

Deshalb wird Trotzki bezichtigt, hinsichtlich der Strategie für den fortschrittlichen Westen hinter der Zeit zurückgeblieben zu sein. Er klagt Trotzki an, „der politische Theoretiker des Frontalangriffes in einer Periode zu sein, wenn er nur zu Niederlagen führt.“ ( 59)

Solch eine Vorstellung bildet die Basis der Kritik am Trotzkismus seitens des Eurostalinismus. Zunächst einmal muss dagegen eingewendet werden, dass Gramscis Darlegung, die die „permanente Revolution“ mit frontalem Angriff oder Bewegungskrieg gleichsetzt, nichts mit Trotzkis Theorie zu schaffen hat. Trotzki nahm zu seinem Ausgangspunkt den kombinierten, ununterbrochenen Charakter von bürgerlichen und proletarischen Revolutionen in bestimmten Situationen. Deshalb konnte Trotzki nicht diesen Aspekt seiner Theorie auf den „Westen“ anwenden, wo die Bürgerrevolution in allen wichtigen Grundfesten vollständig war, und machte es auch nicht.

Wenn auf jemanden zutrifft, was Gramsci Trotzki vorwirft, dann ist es Bucharin auf dem Dritten und Vierten Kongress der Komintern: „der an seinem Standpunkt von der Dauerhaftigkeit sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Revolution als Ganzes scholastisch festhielt.“ (60)

Gramsci stimmte Bucharin zu der Zeit zu. Es könnte auch eine Konzeption sein, die  Sinowjew und Stalin auf dem Fünften Kongress zuzuordnen war, von der wieder Gramsci nicht abwich.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass Gramsci zwischen 1922 und 1924 auf einem Standpunkt beharrte, der sich nicht von dem unterschied, den er hier kritisiert. Er argumentierte, dass der Kollaps des faschistischen Regimes nahe bevorstehe, zugleich aber keinem Übergangsregime bürgerlicher Demokratie Platz machen könne. Im Januar 1924 behauptete er:

„ … in Wirklichkeit hat der Faschismus ein sehr rohes, scharfes Dilemma in Italien erzeugt: das der permanenten Revolution und der Unmöglichkeit, nicht nur die Staatsform, sondern sogar die Regierung anders als durch bewaffnete Gewalt zu verändern.“ (61)

Nachdem seine ultralinken Illusionen durch seinen Bruch mit Bordiga geschwächt waren und mit dem endgültigen Triumph Mussolinis 1926 ein für allemal zerbrachen, änderte Gramsci seinen Strategieentwurf nach rechts; aber während er Trotzkis Theorie angriff, focht er in Wirklichkeit seine eigene ultralinke Vergangenheit an.

Gramscis Identifikation seiner eigenen vorherigen Haltung mit der Trotzkis kann nur mit damit erklärt werden, dass er die stalinistischen Lügen über  den „Trotzkismus“, die nach 1923 in der Komintern Einzug hielten, ganz bejahend aufnahm. Wenn Trotzki tatsächlich, wie die Stalinist:innen behaupteten, befürwortet hätte, das bürgerliche Stadium der Russischen Revolution zu überspringen, wenn Trotzki tatsächlich „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ unterschätzt hätte, worauf seine Gegner:innen immer wieder herumritten, und der russischen Revolution so einen rein „sozialistischen“ (Arbeiter:innen-)Klassencharakter verliehen hätte, dann hätten Gramscis Sticheleien vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt gehabt. Aber diese Unterstellungen waren haltlos. Wenn überhaupt, war es Gramsci, der „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ in seiner ultralinken Periode unterschätzte.

Ein nationaler Weg

Noch blieb Gramsci in der anderen Frage, die zwischen Trotzki und Stalin auf dem Spiel stand, schweigsam während seines Gefängnisaufenthaltes. Er schrieb mehrere Passagen zu den methodologischen anstehenden Fragen im Streit über „Sozialismus in einem Land“, der gründlich mit dem Problem der ununterbrochenen Revolution zusammenhängt. Er überlegte wie folgt:

„Gehen internationale Verbindungen voraus oder folgen sie (logisch) grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es kann keinen Zweifel geben, dass sie folgen. Irgendeine endogene Neuerung in der Gesellschaftsstruktur modifiziert organisch absolute und relative Verhältnisse auch auf internationaler Ebene durch ihre technisch-militärische Auswirkung. Sogar die geographische Position eines Nationalstaates geht nicht voraus, sondern folgt (logisch) strukturellen Änderungen, obwohl sie auch in gewissem Maße auf die Verhältnisse zurückwirkt (in genau dem Maß, zu dem Überbauten auf die Struktur reagieren, Politik auf Wirtschaft usw.).“ (62)

Gramsci stellt alles auf den Kopf. Mit „wesentlichen Gesellschaftsverhältnissen’“meint er kapitalistische Produktionsverhältnisse. Er stellt diese „internationalen Verhältnissen“ gegenüber und tritt somit stillschweigend dafür ein, dass Kapitalismus national definiert ist. Nach dieser Definition ist es dann möglich, argumentiert Gramsci, die Verhältnisse zwischen den nationalen und den internationalen Belangen zu untersuchen. Mittels Analogie sind die internationalen Verhältnisse die „Überbauten“ und ist das Nationale der „Unterbau“. Dies ist der Ausgangspunkt für Stalins „Sozialismus in einem Land“.

Der Marxismus denkt in entgegengesetzter Weise. Er geht von der Tatsache aus, dass Kapitalismus ein Weltganzes ist und seine Verhältnisse den Globus umspannen. Nationalökononomien können in diesem Licht untersucht und bestimmt werden.

Für Gramsci spielte der Beginn mit der „nationalen“ Ebene die gleiche Rolle wie der Ausgangspunkt vom „ungleichen“ Charakter der Weltwirtschaft statt des „ungleichen und kombinierten“ wie Trotzki. Gramsci glaubte wie Stalin, dies sei der einzige Weg einzuschätzen, was „einmalig“ und „besonders“ in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war:

„In Wirklichkeit sind die inneren Verhältnisse irgendeiner Nation das Ergebnis einer Kombination, die ,ursprünglich’ und (in einem bestimmten Sinn) einmalig sind: diese Verhältnisse müssen in ihrer Originalität und Einmaligkeit verstanden und gedacht werden, wenn man wünscht, sie zu dominieren und lenken. Sicher, die Entwicklungslinie richtet sich zum Internationalismus hin, aber der Ausgangspunkt ist ,national’ – und von diesem Startpunkt muss man anfangen. Doch ist die Perspektive international und kann nicht anders sein. …  Die führende Klasse ist in der Tat nur eine solche, wenn sie diese Kombination – von der sie selbst ein Bestandteil ist – minutiös interpretiert und genau als solche fähig ist, dem Moment eine bestimmte Richtung innerhalb bestimmter Perspektiven zu verleihen. Es ist meiner Meinung nach dieser Punkt,  um den die wesentliche Uneinigkeit zwischen Leo Dawidowitsch [Trotzki] und Wissarionowitsch [Stalin] als Interpreten der Mehrheitsbewegung [Bolschewismus] sich wirklich dreht. Die Vorwürfe von Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man den Kampf der Mehrheitler:innen von 1902 bis 1917 studiert, kann man sehen, dass seine Originalität in der Säuberung des Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen (im herabsetzenden Sinn) Element bestand, um ihm einen realistischen politischen Inhalt zu geben. In diesem Hegemoniekonzept sind jene dringlichen Erfordernisse, die von nationalem Charakter sind, zusammen verknotet.“ (63)

So war für Gramsci Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ herrschaftsfähig und national, während die Theorie der „permanenten Revolution“ unfähig war, die konkrete Wirklichkeit der russischen Gesellschaft zu begreifen bzw. damit umzugehen.

Natürlich hat Trotzki genau das getan, was Gramsci ihm als nicht erfüllt vorhält. Trotzkis Analyse Russlands war auf einer ausführlichen Untersuchung seiner Geschichte und besonderen Gesellschaftsverhältnisse gegründet. In seiner Arbeit „Ergebnisse und Perspektiven“ von 1906 vergleicht Trotzki und stellt einander gegenüber das Russland von 1905 mit Frankreich von 1870 und Deutschland von 1848 auf der Basis der Nachzeichnung der Entwicklung internationaler Ereignisse. Damit war er fähig, in einer bemerkenswerten Art die bestimmten Merkmale zu umreißen, die im zaristischem Russland gegenwärtig waren und es dazu bestimmten, eine sozialistische Revolution vor den „fortgeschrittenen“ und „reifen“ Ländern zu erleben und doch nicht in der Lage zu sein, sie ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten.

Weil die nationale Eigenheit  eine bestimmte Kombination der internationalen Trends ist, ist es genau unmöglich, die nationalen Besonderheiten wirklich zu begreifen, ohne zuerst die internationalen Zusammenhänge zu verstehen.

Die Verbindung zwischen Gramscis Sicht der Beziehung zwischen nationalen und internationalen Verhältnissen und den strategischen und taktischen Aufgaben der arbeitenden Klasse wird vollständig enthüllt. Nur das Nationale ist bestimmt und hegemoniefähig; was Länder trennt, ist wichtiger als das, was sie verbindet. Obwohl Italien und England in einer Periode sehr verschiedene Arten von Nation und dann später im gleichen Lager sein können, ist es daher Tatsache, dass verschiedene Einheitsfronttypen anwendbar sind, je nach dem, mit welchem Typ Land wir es zu tun haben; Einheitsfront von unten und Kriegszüge in „rück- oder randständigen“ Staaten, eine strategische Einheitsfront und ein Stellungskrieg in den vorangeschrittenen kapitalistischen Ländern. Kurz nur, Anfang 1924, nachdem er sich entschieden hatte, politisch mit Bordiga zu brechen, warf Gramsci das Problem korrekt auf. Aber diese Einsichten wurden nicht durchgehalten, und Gramsci ergab sich einer Rechtsentwicklung.

Schlussfolgerungen

Der Staatsanwalt bei Gramscis Gerichtsverfahren forderte, dass jedes Urteil „dieses Gehirn für zwanzig Jahre zu arbeiten abhält“. Sie scheiterten. Aber es hat jetzt fünfzig Jahre lang aufgehört zu arbeiten. Viele sind begierig, ihn als ihr Eigentum zu beanspruchen. Diese legendenbildnerische Einstellung zum größten italienischer Revolutionär hätte Gramsci entsetzt. Wir gehen an Gramscis politisches Leben kritisch heran. Beim Bruch mit  Bordigas Ultralinkstum 1923 – 24 setzte Gramsci sich das bewusste Projekt, die junge und unterdrückte KPI zwischen dem ultralinken Kurs Bordigas und dem Opportunismus Tascas hindurchzusteuern. Dabei war sein Ziel, zu den Positionen der revolutionären Komintern Lenins zurückzukehren.

Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, war Gramsci für einen beträchtlichen Beitrag an scharfsichtiger Arbeit über die Fehler des Bordigismus, über Geschichte, Klassenstruktur und strategische Probleme der italienischen Gesellschaft verantwortlich. Jede/r revolutionäre Kämpfer:in heute wird viel in seiner Arbeit finden, was wertvoll und inspirierend ist.

Aber Gramsci versagte dabei, den Bolschewismus in Italien aufzubauen, genau deshalb, weil die bürokratisch-zentristische „Bolschewisierung“ Stalins und Sinowjews seinen Werdegang durchschnitt. In der Periode bis zu seiner Verhaftung bedeutete dies, dass die KPI unter Gramscis Leitung eine mildere Form von ultralinker Politik in Italien und eine Neigung zum zunehmenden Rechtsopportunismus im „Westen“ nicht ausmerzen konnte. Im Gefängnis führten seine weiteren,  auf einer einseitigen Ablehnung seines eigenen Ultralinkstums basierenden und vom Mythos der Stalinist:innen über Trotzki genährten Reflexionen Gramsci weiter ins Camp des rechten Zentrismus‘. Gramsci dehnte nicht so sehr die Grenzen des Marxismus aus, sondern engte eher dessen Horizont ein. Seine Einblicke waren oft nicht eigenständig, sobald sie die Grenzen von italienischer Geschichte und Gesellschaft überschritten und oft übermäßig abstrakt und sogar zweideutig. In der historischen Periode, die mit der Degeneration der UdSSR beginnt, ist es der Trotzkismus, nicht der Gramscianismus, der auf den Schultern des Leninismus steht und den Marxismus um einen Kopf größer macht.

Trotzdem können wir während dieses fünfzigsten Jahres seit Gramscis grausamem und schmerzhaftem Tod Anregungen in seinem Leben und Kampf finden. Wir können nur hoffen, ihn vor dem Zugriff seiner „Freund:innen“ zu bewahren.

Endnoten

1 Marxism Today, April 1987

2 O. Blasco [Tresso], „Ein großartiger Kämpfer ist gestorben … Gramsci, La Lutte Ouvrière Nr. 44, 14. Mai 1937

3 L. Maitan, „The Legacy of Antonio Gramsci“ [Das Vermächtnis Antonio Gramscis], in: International Marxist Review, Sommer 1987

 4 Socialist Worker Review, April 1987

 5 Maitan, a. a. O., S. 35

 6 C. Harman, Gramsci versus Reformism, S. 28

 7 Zitiert in: A. Davidson, „Gramsci and Lenin, 1919-22“, Socialist Register 1974, S. 131

 8 A. Gramsci, Selections from the Political Writings [Ausgewählte politische Schriften], Vol. 1 (SPW1), S. 34 (London 1977)

 9 Ebda.

 10 a. a. O., S. 68

 11 Ebda.

 12 Harman, a. a. O., S. 16

 13 L. D. Trotzki, Speech to the General Party Membership in Moscow [Rede an die allgemeine Parteimitgliederversammlung in Moskau]

 14 Lenin, Collected Works, Vol. 32, S. 465 (Moscow) [Gesammelte Werke (Moskau)]

 15 A. Gramsci, Selections from the Political Writings, Vol. 2 (SPW2) S. 189 (London 1978)

 16 Theses, Resolutions and Manifestoes of the First Four Congresses of The Communist International, S. 391 – 396 (London 1980) [Thesen, Resolutionen und Manifeste der ersten 4 Kongresse der Kommunistischen Internationale]

 17 L. D. Trotzki,The Third International After Lenin, S. 90 (New York 1970) [Die 3. Internationale nach Lenin]

 18 SPW2, S. 96

 19 a. a. O., S. 97

 20 a. a. O., S. 107 – 108

 21 a. a. O., S. 108

 22 a. a. O., S. 99

 23 a. a. O., S. 392

 24 a. a. O., S. 105

 25 a. a. O., S. 148

 26 a. a. O., S. 146

 27 a. a. O., S. 153

 28 a. a. O., S. 155

 29 a. a. O., S. 196

 30 a. a. O., S. 121 – 124

 31 a. a. O., S. 359

 32 a. a. O., S. 174 –175

 33 Ebda.

 34 a. a. O., S. 199 – 200

 35 a. a. O., S. 489

 36 J. W. Stalin, Concerning the International Situation, Collected Works, Vol. 6, S. 295 [Über die internationale Lage, Gesammelte Werke]

 37 Ebda.

 38 „Theses on tactics“, in: Resolutions and Theses of the Fifth Congress, (London 1924) [„Thesen zur Taktik“, in: Resolutionen und Thesen des 5. Kongresses]

 39 Ebda.

 40 SPW2, S. 373

 41 a. a. O., S. 410

 42 Ebda.

 43 a. a. O., S. 411

 44 L. D. Trotzki, On Britain, S. 253 – 255 (New York 1972) [Über Britannien]

 45 SPW2, S. 331

 46 Ebda.

 47 Ebda.

 48 a. a. O., S. 75

 49 A. Gramsci, Selection from the Prison Notebooks (SPN), S. 237 – 278 (London 1971) [Auswahl aus den Gefängnisbüchern]

 50 Zitiert in Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, New Left Review No100, S. 72 [Die Widersprüche Antonio Gramscis]

 51 SPW2, S. 414

 52 a. a. O., S. 359

 53 a. a. O., S. 414

 54 a. a. O., S. 192

 55 a. a. O., S, 284

 56 SPN, S. 301

 57 Ebda., S. 237

 58 a. a. O., S. 242 – 243

 59 a. a. O., S. 238

 60 Trotsky, The Third International After Lenin, a. a. O., S. 90

 61 SPW2, S. 176

 62 SPN, S. 176

 63 a. a. O., S. 240 – 241




Abschlusserklärung der Konferenz für einen revolutionären Bruch mit der Linkspartei und Solid

Infomail 1211, 19. Januar 2023

Bis 150 Menschen diskutierten auf der Konferenz „15 Jahre Solid und Linkspartei – Welche Organisation für den Klassenkampf?“ über die Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit der Linkspartei und dem Reformismus. Im Folgenden veröffentlichen wir die Abschlusserklärung der Konferenz, die von einer Mehrheit von zwei Dritteln der Anwesenden angenommen wurde, und die Minderheitsresolution. Die Mehrheitsresolution basiert auf einem Entwurf der Revolutionären Internationalistischen Organisation / Klasse Gegen Klasse. Die Minderheitsposition wurde von vier Genoss:innen einbracht wurde und von der Gruppe Arbeiter:innenmacht und von REVOLUTION unterstützt.

Abschlusserklärung der Konferenz für einen revolutionären Bruch mit der Linkspartei und Solid

Gegen die Logik des geringeren Übels: Für den Aufbau einer von Staat und Kapital unabhängigen revolutionären sozialistischen Kraft der Arbeiter:innen, der Jugend, der Frauen, LGBTQIA+ und Migrant:innen!

1. Die Partei DIE LINKE und ihre Jugendorganisationen, die Linksjugend [’solid] und Die Linke.SDS, sind gescheitert. Seit 15 Jahren vertiefen sie stetig ihre Perspektive der Mitverwaltung des kapitalistischen Elends. In 13 Regierungsbeteiligungen haben sie Abschiebungen, Zwangsräumungen, Privatisierungen, Polizeigewalt und vieles mehr mitverantwortet. Die Partei, all ihre Hauptströmungen – egal ob der “Reformer”-Flügel um Dietmar Bartsch, die Bewegungslinke oder der Wagenknecht-Flügel – und ihr gesamter Apparat sind fest in den deutschen Staat verankert. Angesichts der Verschärfung der Klimakatastrophe, angesichts von Krieg und Aufrüstung, angesichts von fortgesetzter Inflation und Wirtschaftskrise, angesichts der Stärkung der AfD und der extremen Rechten sagen wir: Nur eine sozialistische Perspektive, die die Interessen des Kapitals wirksam angreift, kann eine Antwort auf die Probleme der Ausgebeuteten und Unterdrückten geben. Deshalb brechen wir mit der Strategie der Linkspartei und ihrer Jugendorganisationen und erklären unseren Austritt.

2. Das Scheitern der Linkspartei ist kein Zufall oder Produkt widriger Umstände, sondern eine Konsequenz ihrer gesamten Strategie. Sie ist eine strategisch auf Wahlen und Parlamentssitze ausgerichtete Partei, um auf diesem Weg an die Regierung des bürgerlichen Staates zu gelangen. Jegliche Veränderung geht laut dieser Strategie von Regierungs- und Parlamentsposten aus. Daran ändert auch nichts, dass eine kleine Minderheit der Partei Regierungsbeteiligungen “kritisch” sieht, ebenso wenig einzelne “linkere” Ortsgruppen ihres Jugendverbands. “Rebellisch regieren”, wie es die Bewegungslinke immer wieder vorschlägt, ist nur eine linkere Rhetorik für denselben Vorschlag. Die Mobilisierung und Organisierung auf der Straße oder in den Betrieben, Schulen und Universitäten ist in dieser Sichtweise nur ein Druckmittel, um parlamentarische Mehrheiten zu erlangen. Unsere Perspektive ist dem radikal entgegengesetzt: Das strategische Zentrum für die Veränderung der Gesellschaft – d. h. für die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung in der Perspektive einer weltweiten sozialistischen Revolution – ist der Klassenkampf; parlamentarische Positionen können diesen lediglich unterstützen, nicht ersetzen. Gegen die Unterordnung unter die Interessen des Kapitals setzen wir die Notwendigkeit der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse vom Kapital, von der Regierung und von den Bürokratien der Gewerkschaften und der NGOs, die sie stützen.

3. Wir stellen uns gegen den deutschen Imperialismus und gegen die Ampelregierung, die die größte militärische Aufrüstung seit Jahrzehnten vorantreibt. Sie erkauft im Bündnis mit den Gewerkschaftsbürokratien und den Bossen mit kleinen Zugeständnissen das Stillhalten der Massen angesichts der Krise – in der Perspektive werden aber die Ausgebeuteten und Unterdrückten nicht nur hierzulande, sondern auch international für die militärische “Zeitenwende” zahlen müssen. Die Militarisierung nach außen geht auch einher mit einer Stärkung des Repressionsapparats nach innen, wie nicht zuletzt die Razzien und Präventivhaft gegen die “Letzte Generation” zeigen. In diesem Kontext lässt die Regierung auch den letzten Anschein von Klimaschutz fallen, wie die anstehende Räumung von Lützerath im Interesse des Energiekonzerns RWE zeigt – ein weiterer Beweis dafür, dass der “grüne Kapitalismus” unmöglich ist.

4. Während­dessen stärkt sich die extreme Rechte, insbe­sondere im Innern der staatlichen Institutionen (Militär, Polizei, Justiz usw.). Der rechte Terror im Inneren ist ein Widerhall des erstarkenden Imperialismus nach außen. Die Ampel-Regierung verstärkt den staatlichen Rassismus, baut die Polizei weiter aus, schiebt Menschen in Kriegsgebiete ab und ist für den Massenmord an Außengrenzen der EU verantwortlich – und setzt somit die Politik um, die von der AfD und der extremen Rechten gefordert werden. Daher kann der Auf­stieg der Rechten nicht mit einer Logik des “ge­ringeren Übels” der Unterstützung von “linken” oder “fortschrittlichen” Regierungen bekämpft werden. Die herrschende Klasse und rechte Kräfte machen durch die bürgerlichen Medien die migrantischen Teile unserer Klasse für die Wirtschaftskrise verantwortlich. Nicht zuletzt bei der rassistischen Hetzkampagne um Silvester haben wir gesehen, dass die Medien die Abschiebung von vermeintlich “nicht-integrierbaren” migrantischen Kindern und Jugendlichen forderten.Die Reihen der multiethnischen Arbeiter:innenklasse in Deutschland sollen durch den anti-muslimischen Rassismus gespaltn werden. Es ist eine dringlichere Aufgabe denn je zuvor, sich dagegen zur Wehr zu setzen – unter anderem auch gegen die Politik der Rot-Rot-Grünen Regierung in Berlin, an der die LINKE beteiligt ist, die aus Razzien in Schischa-Bars, Racial Profiling in migrantischen Kiezen sowie Hexenjagden auf Jugendliche besteht. Wir müssen für die Abschaffung der Geflüchtetenlager und das Recht auf eine eigene und bezahlbare Wohnung kämpfen. Abschiebungen müssen gestoppt und Asylanträge anerkannt werden.Schluss mit unterschiedlichen Behandlung von Geflüchteten je nach Herkunftsland. Gegen die Logik der Spaltung von Geflüchteten durch besonders qualifizierten oder unqualifizierten Teile. Arbeitsrechte und volle Staatsbürger:innenrechte für alle Menschen, die hier leben. Auch wenn wir bei den Abgeordnetenwahlen keine unterstützenswerte Partei erkennen, kämpfen wir für das Wahlrecht aller Menschen, die hier leben. Es braucht Kampagnen in Gewerkschaften für antirassistische Forderungen und für den Ausschluss der GdP aus dem DGB, was wir als eine der Aufgaben der antibürokratischen und klassenkämpferischen Strömung sehen, die wir in den Gewerkschaften aufbauen wollen.

5. Die Kapitalist:innen und ihre Regierungen haben der Jugend nur eine Perspektive des Verzichts, des Militarismus und der Klimakatastrophe anzubieten. Wir schulden ihnen nichts! Anstelle der Logik des geringeren Übels oder der politischen Resignation wollen wir eine Jugend aufbauen, die für eine ganz andere Zukunft kämpft: Eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, die die Ressourcen dieses Planeten nachhaltig nutzt und statt hirnloser und gesundheitsschädigender Lohnarbeit die freie Entfaltung all unserer schöpferischen und kreativen Potenziale ermöglicht. Wenn deshalb die Regierenden von einer „Zeitenwende“ sprechen und uns auf künftige Kriege im Dienste des Kapitals vorbereiten wollen, sagen wir: Kein Cent, kein Mensch dem Militarismus! Gerade im imperialistischen Deutschland ist es unsere Aufgabe, eine revolutionäre, antiimperialistische Jugend an der Seite der Arbeiter:innen und aller Unterdrückten aufzubauen, die sich weder dem imperialistischen Kriegsgetrommel der „Heimatfront“ und der NATO anpasst noch reaktionäre Führungen wie Putin unterstützt oder entschuldigt.

6. Wir sind der Meinung, dass die einzige Kraft, die nicht nur einen Kampf gegen die imperialistische Politik der Regierung führen, sondern tatsächlich ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung erkämpfen kann, die Arbeiter:innenklasse ist. Aber nicht als gesichtslose Masse ohne Ansehen von Sexismus-, Homophobie- und Rassismuserfahrung(en), sondern im Gegenteil als Klasse, die insbesondere in einem Land wie Deutschland auch sehr migrantisch ist und immer weiblicher und offen queerer wird. Sie kann aufgrund ihrer Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess nicht nur die zentralen Hebel der Wirtschaft lahmlegen. Sondern sie kann die Gesamtheit aller unterdrückten Teile der Bevölkerung im Kampf gegen Staat und Kapital anführen. Dafür muss sie sich deren Forderungen zu eigen machen und sich selbst an die Spitze der Kämpfe gegen Sexismus, Rassismus und jegliche Form von Unterdrückung stellen, anstatt nur eine von vielen gleichrangig getrennt voneinander agierenden Bewegungen zu bilden, wie es beispielsweise die Bewegungslinke propagiert.

7. Die Trennung von Fragen der Unterdrückung (Sexismus, Rassismus, LGBTQIA+-Feindlichkeit usw.) vom Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zementiert die Spaltung der Arbeiter:innenklasse. Diese ist für das Kapital funktional und wird vom Staat und den Bürokratien in der Arbeiter:innenbewegung aufrecht erhalten, die stets versuchen, ökonomische von sozialen und politischen Kämpfen zu trennen. Sie steht auch der Perspektive des Kampfes für eine Gesellschaft, die frei von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung ist, unmittelbar entgegen. Deshalb haben wir nichts gemeinsam mit der populistischen Perspektive von Sahra Wagenknecht, die unter dem Vorwand einer Rückkehr zu mehr “Klassenpolitik” die Fragen der Unterdrückung herunterspielt. Die Strategie von Wagenknecht, ebenso wie die ihres französischen Pendants Jean-Luc Mélenchon und La France Insoumise ist darauf ausgelegt, die Interessen der “weißen Arbeiterklasse” mit den Interessen der imperialistischen Bourgeoisie zu vereinen. Ihre links klingenden Phrasen sind in Wahrheit nichts anderes als die Verteidigung des Standortnationalismus der Konzerne. Anstatt den Rechten das Wasser abzugraben, überlässt sie ihnen mit dieser Strategie das Feld.

8. Ihre Perspektive teilt die Linkspartei auch mit „neo-reformistischen“ oder linkspopulistischen Projekten der vergangenen Jahre wie Syriza in Griechenland, Podemos im Spanischen Staat oder La France Insoumise in Frankreich. Sie sind keine Ausdrücke des Klassenkampfes. Im Gegenteil: Sie lenken den Klassenkampf in staatstragende Bahnen um. Podemos hat ihre Opposition zur Monarchie abgelegt und setzt als Teil der spanischen Regierung derzeit die Aufrüstung und die Abschottungspolitik gegen Migrant:innen und die Zusammenarbeit mit Marokko zur kolonialen Unterdrückung der Westsahara fort. Die linksreformistische Wahlfront Syriza setzte 2015 an der griechischen Regierung die Spardiktate von IWF, EZB und EU um, obwohl sie sich vorher ausdrücklich dagegen positioniert hatte. In Griechenland zeigte sich auch, dass die EU ein imperialistischer Block ist, der den Interessen vor allem des deutschen Kapitals dient. Sozialist:innen müssen die EU als imperialistisches Projekt ablehnen, aber ohne die Perspektive der Rückkehr zum Nationalstaat – wie es beispielsweise Sahra Wagenknecht oder Jean-Luc Mélenchon vorschlagen –, sondern in der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

9. Der Stalinismus hat die revolutionäre Tradition weltweit, aber gerade auch in Deutschland zutiefst beschädigt. Denjenigen, die heute aus der Krise der Linkspartei Schlussfolgerungen ziehen wollen, raten wir dringend, auch aus dem Erbe des Stalinismus die nötigen Lehren zu ziehen. Die Bürokratisierung der Arbeiter:innenstaaten – nicht zuletzt der DDR –, die Unterordnung von Fragen der Unterdrückung, die Unterstützung für bürgerliche Parteien im Namen der nationalen Befreiung (sowohl linkerer Varianten wie die des frühen Chavismus als auch die Unterstützung für reaktionäre Anführer wie Assad in Syrien im Namen des „Antiimperialismus“), die offene oder verdeckte Sabotage unzähliger revolutionärer Prozesse, und die absolute Geringschätzung der selbstorganisierten Demokratie der Arbeiter:innen sind nur einige Elemente, die uns dazu veranlassen zu sagen: Das ist nicht unser Sozialismus. Im Gegenteil: Eine revolutionäre Kraft in Deutschland kann nur entstehen, wenn sie dieses Erbe hinter sich lässt.

10. Angesichts der Verschärfung der Klimakatastrophe, angesichts von Krieg und Aufrüstung, angesichts von fortgesetzter Inflation und Wirtschaftskrise braucht es eine konsequente Opposition in den Betrieben, Schulen und Universitäten und auf der Straße. Sie muss für ein soziales Notfallprogramm kämpfen, das die kapitalistischen Profitinteressen angreift und angesichts von Krise, Krieg und Klimakatastrophe eine sozialistische Perspektive aufwirft. Für sofortige Preisstopps, für die automatische Angleichung von Löhnen, Renten, Sozialleistungen, Bafög etc. an die Inflation, für hohe Gewinn- und Vermögenssteuern, für die Enteignung von Immobilien- und Energiekonzernen in der Perspektive der entschädigungslosen Enteignung aller Großunternehmen unter Kontrolle der Arbeiter:innen, für einen sozialen und ökologischen Umbau des Energiesystems und der gesamten Wirtschaft, gegen den Krieg, Sanktionen und Waffenlieferungen, gegen die 100-Milliarden-Aufrüstung. Weder Putin noch die NATO, und gegen den Militarismus des deutschen Imperialismus.

11. Um ein solches Programm umzusetzen, müssen wir in den Betrieben, Schulen und Universitäten und auf der Straße eine Einheitsfront für den Kampf gegen die Regierung und das Kapital aufbauen. Dazu ist es notwendig, die bremsende Rolle der Bürokratien der SPD, der Gewerkschaften und NGOs zu überwinden und ihr eine Perspektive der Selbstorganisation und der Koordinierung der Kämpfe gegenüberzustellen –  für klassenkämpferische Gewerkschaften und für die Selbstorganisation der Arbeiter:innen. Nicht nur in vereinzelten Kämpfen, sondern auch als Perspektive einer politischen Alternative jenseits kapitalistischer Regierungen. Denn die Führungen unserer Gewerkschaften zeigen aktuell wieder mit der Konzertierten Aktion (regelmäßige Treffen, bei denen sie sich mit Politik, Unternehmensverbänden und der Deutschen Bank abstimmen), dass sie lieber mit der Regierung und den Kapitalist:innen schlechte Kompromisse aushandeln. Den Preis dafür zahlen wir heute als Arbeiter:innen und als Jugendliche. Aber auch die Ausweitung befristeter Verträge wurde von unseren Gewerkschaftsführungen mit unterschrieben. Gegen diese sozialpartnerschaftliche Politik versuchen wir in Streiks, Kämpfe und Bewegungen Instanzen der Selbstorganisation und der breitestmöglichen Demokratie der Kämpfenden zu entwickeln, wie beispielsweise Streikversammlungen, imperative Mandate und die jederzeitige Abwählbarkeit von Vertreter:innen. Wir wollen schon heute durch ein Bewusstsein erzeugen, dass Leute zu dem Schluss kommen: “Die Bosse und die Herrschenden brauchen wir nicht, wir nehmen die Wirtschaft selbst in die Hand und wollen den Staat stürzen.”

12. Dies kann nur der erste Schritt hin zum Aufbau einer unabhängigen revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse sein. Denn mit dem Bruch mit der Linkspartei fängt unsere Aufgabe erst an: eine Organisation aufzubauen, die die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter:innenklasse, der Jugend, der Frauen und LGBTQIA+, der Migrant:innen im Kampf für den Sturz des Kapitalismus und für die sozialistische Revolution anführen kann. Zu diesem Zweck haben wir bei dieser Konferenz begonnen, Debatten über strategische Lehren aus dem Scheitern der Linkspartei und über die Strategie für die Revolution zu führen. Diese Debatten wollen wir fortführen:

a. Als Alternative zur Anpassung an den Reformismus hat sich vor über zehn Jahren in Frankreich die Neue Antikapitalistische Partei gebildet, als Prototyp einer „breiten antikapitalistischen Partei“, die alle Strömungen links vom Reformismus, die sich als antikapitalistisch verstanden, sammeln wollte. Im Dezember 2022 hat sich die NPA infolge der Anpassung der Leitungsmehrheit an den Reformismus/Linkspopulismus gespalten. So hat sich gezeigt, dass die „breite antikapitalistische Partei“ ohne klare strategische Abgrenzung und ohne strategisches Zentrum im Klassenkampf problematisch ist. Für den Aufbau einer revolutionären Organisation ist es wichtig, daraus die korrekten Lehren zu ziehen. Das wollen wir in weiteren Diskussionen vertiefen.

b. Die Anwesenden sind sich einig, dass eine gemeinsame Intervention auf der Grundlage der in dieser Erklärung vorgelegten Eckpunkte in kommende Kämpfe möglich und nötig ist. Wir wollen:

  • in die kommende Tarifrunde des öffentlichen Dienstes (TVöD) mit einem Programm intervenieren, das die Forderung nach einem realen Inflationsausgleich erhebt und mit einem weitergehenden Programm gegen Krise, Krieg und Klimakatastrophe verbindet; die ver.di Kampagne um die TVöD-Runde mitaufbauen, gemeinsam mit der VKG in die Betriebsgruppen intervenieren und auf das Organisieren von politischen Demonstrationen an Streiktagen hinarbeiten, die ein solches Programm erheben:
  • Inflationsausgleich für alle, Anpassung aller Sozialleistungen an die Inflation, Erlass eines Mietenstopps, DWE durchsetzen.
  • Milliarden Investitionen in Gesundheit, Bildung und Klima statt 100 Milliarden in Aufrüstung, Einführung von Vermögenssteuern und Abgaben,
  • Vergesellschaftung der Energieversorgung unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der Bevölkerung etc.,
  • Gegen die rassistische Hetze gegen unsere Kolleg:innen mit Flucht und Migrationserfahrungen und für Arbeits-und Studienerlaubnis für alle, Stopp aller Abschiebungen.
  • Solidarität mit Gewerkschaften und Arbeiter:innen anderer Länder, die unter Krise und Krieg leiden. Internationale Solidarität zwischen Arbeiter:innen, die unter gegenseitigen Sanktionen leiden.
  • in allen Kämpfen die Selbstorganisation der Arbeiter:innen unterstützen, wie bspw. aktuell in Kampf der Hebammen in Neuperlach gegen die Schließung ihres Kreißsaals.
  • angefangen mit dem Widerstand in Lützerath, mit einem sozialistischem Programm in die Klimabewegung intervenieren und Initiativen aus der Arbeiter:innenbewegung vorbereiten, um die Arbeiter:innenklasse als politisches Subjekt im Kampf gegen die Klimakatastrophe und eine demokratisch-ökologische Planwirtschaft aufzuzeigen.
  • uns an allen Mobilisierungen gegen den staatlichen Rassismus, Polizeigewalt, Abschiebungen und extremen/faschistischen Rechten beteiligen. An allen Orten besonders gegen die aktuelle rassistische Stigmatisierung von migrantischen Jugendlichen stellen.
  • uns an den Mobilisierungen um den 8.März beteiligen, darauf hinarbeiten, dass bundesweite Streikaktionen unterschiedlicher Bewegungen an diesem Tag mit einem feministischen Programm stattfinden.
  • uns an allen weiteren Mobilisierungen gegen Militarisierung und Krieg beteiligen, mit einer Perspektive der internationalen Solidarität der Arbeiter:innenklasse gegen die Agression der kapitalistischen Regierungen, für die Notwendigkeit des Kampfes der Arbeiter:innenklasse in Deutschland gegen ihre imperialistische Regierung.
  • Uns an Mobilisierungen gegen Kolonialismus zu beteiligen, mit einer bedingungslosen Solidarität mit dem Kampf der kolonisierten Völker wie in Kurdistan und Palästina für ihre Befreiung, die vom deutschen Staat insbesondere bekämpft werden. Wir treten für die Entkriminalisierung ihrer Widerstandsorganisationen und für den Stopp aller deutschen Waffenlieferungen an die Türkei, Israel, sowie anderer Länder ein.
  • angesichts des Verrats der Linkspartei am Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen, tausenden Abschiebungen, Ausbau des rassistischen Polizeiapparates, weiterer Kürzungspolitik in Gesundheit und Bildung usw. lehnen wir eine Wahlunterstützung für die Linkspartei bei der Wiederho­lung der Abgeordnetenhauswahl ab. Dagegen betonen wir die Notwendigkeit der revolutionär-sozialistischen Kandidaturen abseits der reformistischen Parteien, organisieren gemeinsam mit allen Interessierten eine Kampagne gegen die erneuten Regierungsbeteiligungen der LINKEN an RRG und setzen uns für erneute Mobilisierungen für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne durchführen.

c. Über die konkrete Intervention in Streiks und Kämpfe hinaus wollen wir eine politische Kraft aufbauen, die den Reformismus auf allen Ebenen – auch auf der Ebene der Wahlen – konfrontieren kann. Wir wollen dabei keine prinzipienlose Fusion verschiedener Organisationen mit unterschiedlichen Strategien oder eine breite Sammlung von antikapitalistischen Aktivist:innen ohne strategische Klarheit. Der Weg zu einer größeren programmatischen und strategischen Klarheit besteht darin, in gemeinsamen Kämpfen Positionen auszutesten und Übereinkünften weiterzuentwickeln – aber auch darin, beispielsweise gemeinsame Antritte bei Wahlen mit einem Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse anzustreben. Deshalb rufen die Unterzeichner:innen alle Organisationen, die dem Inhalt dieser Erklärung zustimmen, dazu auf, Schritte für den Aufbau einer gemeinsamen revolutionären Front zu gehen. Diese Front muss basieren auf gemeinsamen Erfahrungen im Klassenkampf und der politischen Intervention in Streiks, sozialen Kämpfen sowie perspektivisch Wahlen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene. Mit den Lehren der Erfahrungen von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind wir der Meinung, dass ein Bruch der Revolutionär:innen mit den sozialdemokratischen Verwalter:innen des Kapitalismus nicht nur notwendig, sondern unumgänglich ist.




Programm in der Praxis: eine Skizze

Jaqueline Katherina Singh, Debattenbeitrag zur Konferenz „Für einen revolutionären Bruch“, Infomail 1209, 10. Januar 2023

In unserem ersten Beitrag haben wir versucht, kurz herzuleiten, warum wir glauben, dass ein revolutionäres Programm die Grundlage für einen Bruch mit dem Reformismus darstellt. Im Folgenden wollen wir skizzieren, was die Kernelemente eines solchen sein könnten. Dabei ist uns bewusst, dass es im Kampf gegen die Inflation sowie gegen die Umweltzerstörungen viele Gemeinsamkeiten mit anderen, auf der Konferenz anwesenden Organisationen gibt. Wie bereits in der Vergangenheit sind wir auch in der Zukunft bereit, gemeinsam in Bündnissen dafür zu kämpfen. Zeitgleich gibt es jedoch viele Unterschiede. Wer das reale Interesse verfolgt, eine revolutionäre Organisation aufzubauen oder beispielweise eine Umgruppierung zu initiieren, muss deswegen nicht nur gemeinsame Aktionen fördern, sondern auch bereit sein, öffentlich über die existierenden Differenzen zu diskutieren. Anders können bestehende Unterschiede nicht aufgelöst werden und es droht entweder eine Einheit ohne Klarheit oder eine Abschottung, die der eigenen Mitgliedschaft suggeriert, dass Taktiken, die eine revolutionäre Organisation propagiert oder anwendet, nur durch die unmittelbaren Aufbaubedürfnisse und nicht durch die Interessen der Gesamtklasse bestimmt werden. Deswegen bieten wir allen Interessierten und beteiligten Kräften an, die aufgeführten Punkte vertieft weiter zu diskutieren und zu schauen, wo wir diese gemeinsam in der Praxis überprüfen können. Nun aber zum Wesentlichen:

A) Einschätzung der objektiven Lage selbst

Ein revolutionäres Programm – und auch ein Aktionsprogramm für Deutschland – muss von der Weltlage ausgehen. Ansonsten ist es nicht internationalistisch, sondern letztlich nationalzentriert. Dies beinhaltet eine klare Einschätzung der aktuellen Krisen (ökonomische, ökologische, Kampf um Neuaufteilung der Welt) und ihrer inneren Verbindung. Wir gehen davon aus, dass die aktuelle Weltlage vom Gegensatz zwischen den USA und China als den wichtigsten imperialistischen Mächten bestimmt wird, auch wenn die aktuell schärfste Konfrontation in Europa, an den Grenzen zwischen den imperialistischen EU-Mächten und dem imperialistischen Russland stattfindet. Den Gesamtcharakter des Kriegs um die Ukraine bestimmen wir als Konflikt zwischen zwei sich formierenden (und in sich durchaus gegensätzlichen) imperialistischen Blöcken. Daher treten wir in Russland und im Westen für eine Politik des revolutionären Defaitismus ein. Wir verteidigen zugleich aber auch das Recht der ukrainischen Massen, sich gegen die russische Invasion zu verteidigen.

Die Charakterisierung Russlands und Chinas als imperialistische Großmächte inkludiert aber auch weitere wichtige programmatische Konsequenzen. So stellen den Hauptfeind der Arbeiter:innenklasse in Russland oder China deren eigene herrschende Klassen dar (während hingegen bei einer Charakterisierung diese Länder als nichtimperialistisch die Frage zumindest offen bleibt, wer eigentlich ihn in diesen Ländern darstellt). Ohne eine klare Antwort darauf kann aber von einem internationalen revolutionären Programm keine Rede sein.

Wer sich weigert, China als imperialistisch zu charakterisieren, verkennt nicht nur einen der zentralen kommenden Konflikte um die globale Hegemonie, sondern die Ausbeutung von Millionen von Menschen in Afrika und Asien durch eine der größten imperialistischen Mächte und kann diesen nicht mit voller Schärfe führen. Ebenso droht Gefahr, im Zuge eines Krieges eine falsche Position einzunehmen, wie es bspw. Teile der aktuellen Friedensbewegung tun und sich auf die Seite des russischen Imperialismus stellen. Vor allem ist es aber ein Anzeichen für ein falsches Verständnis des Imperialismus als Weltsystem.

Wir gehen außerdem davon aus, dass eine Reihe von Niederlagen und der Rechtsruck der letzten Jahrzehnte auch zu einer Zerstörung proletarischen Klassenbewusstseins geführt haben. Das heißt, dass viele der Kämpfe, in die wir in den kommenden Jahren eintreten werden, als defensive Kämpfe beginnen dürften. Zugleich werden diese jedoch aufgrund der objektiven Lage sehr viel stärker zu Konfrontationen grundlegenden Charakters treiben, weil selbst die Durchsetzung umfassender Reformen Mittel des proletarischen Massenkampfes (Massenstreiks, Besetzungen) erfordert und gerade in den halbkolonialen Ländern auch viel rascher Formen des Aufstandes annehmen kann (Sri Lanka, Iran).

B) Kampf gegen Krieg und Krise

In Deutschland wird der Kampf gegen die Inflation und die kommende Rezession sicherlich im Zentrum der kommenden Monate, wenn nicht Jahre stehen. Anders als viele andere Länder verfügt der deutsche Imperialismus jedoch über gewisse Reserven zur Abfederung, was der Entstehung einer Antikrisenbewegung auch entgegenwirkt und einen gewissen Spielraum für faule sozialpartnerschaftliche Kompromisse bietet (Metall- und Elektroindustrie, Bergbau, Chemie, Energie. Ein solches Szenario könnte auch im öffentlichen Dienst drohen, auch wenn es dort schwerer durchzusetzen ist).

Es ist daher unbedingt notwendig für die subjektiv revolutionäre Linke, für den Aufbau einer bundesweiten, vor allem gewerkschaftlich orientierten Antikrisenbewegung zu agitieren. Diese darf sich jedoch nicht auf die „radikale“ Linke beschränken, weil diese allein letztlich nichts durchsetzen kann. Es muss vielmehr beständig Druck auf die bestehenden, bürokratisch geführten Massenorganisationen (Gewerkschaften, aber auch Linkspartei und SPD, insb. deren „linke“ Teile) ausgeübt werden. Es braucht eine aktive Politik der Einheitsfront, diese Organisationen – die Basis wie die Führung – zum Handeln aufzufordern. Dabei sollten sich solche Aufforderungen auf wenige Losungen und konkrete Absprachen zur gemeinsamen Aktion und zu Kampf- und Mobilisierungsstrukturen beschränken. Es geht nicht darum, gemeinsame „Programme“ zu entwickeln, sondern vor allem zur Massenaktion zu kommen.

Diese Herangehensweise betrifft nicht nur die Frage der Krise, sondern auch jene der Aufrüstung und Kriegstreiberei in politischer und ökonomischer Hinsicht.

Als Revolutionär:innen müssen wir darüber hinaus ein Aktionsprogramm gegen Krieg und Krise vorlegen, das einen Übergangscharakter hat, also unsere unmittelbaren Forderungen gegen die Inflation, für eine gleitende Skala der Löhne mit jenen nach Arbeiter:innenkontrolle und Enteignung des Großkapitals verbindet.

Als Revolutionär:innen muss es unser Ziel sein, in den Gewerkschaften das System der Bürokratie zu brechen. Dies passiert nicht, indem wir einfach nur solidarisch Arbeitskämpfe unterstützen oder uns als Organizer:innen „verstecken“. Wir müssen offen für den Aufbau einer basisdemokratischen, klassenkämpferischen Gewerkschaftsopposition kämpfen. Konkret heißt dies, nicht nur dafür einzustehen, dass linke Aktivist:innen Positionen im Gewerkschaftsapparat einnehmen, sondern diesen zu ersetzen durch rechenschaftspflichtige, wähl- und abwählbare Delegierte, die nicht mehr verdienen als der Durchschnittslohn von Arbeitenden. Das fällt jedoch nicht vom Himmel, sondern bedarf kontinuierlicher Arbeit – im Betrieb, aber auch in Gewerkschaftsstrukturen. Realistisch müssen wir uns auch darüber klar sein, dass die materielle Basis der Gewerkschaftsbürokratie (wie der Arbeiter:innenbürokratie überhaupt) nicht zu brechen sein wird ohne vorhergehende reale Erschütterungen ihrer Macht durch heftige Klassenkämpfe und eine allgemeine Krise der Gesellschaft selbst.

C) Das vorherrschende Bewusstsein in der Klasse

Der Aufbau einer revolutionären Organisation muss von einer nüchternen und realistischen Einschätzung der Lage der gesamten Klasse, nicht nur des kleinen Teils ausgehen, mit dem wir direkt in Kontakt stehen. Während in Deutschland rund 2/3 der Bevölkerung der Arbeiter:innenklasse zuzuordnen sind, ist davon nur ein Bruchteil organisiert. Rund 6 Millionen sind in einer DGB-Gewerkschaft aktiv, ein noch geringerer Teil in den reformistischen, bürgerlichen Arbeiter:innenparteien, wie wir an den rund 57.000 Mitgliedern der Linkspartei sehen. An dieser Stelle ist es nicht möglich, eine ausführliche Skizze der Entwicklung aller Organisationen der Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahren zu entwerfen – auch wenn dies sicherlich hilfreich für die Diskussion auf der Konferenz wäre.

Kurz gefasst kann man jedoch sagen, dass diese Kräfte über die Jahre betrachtet kontinuierlich an Verankerung in der Klasse verloren haben – oder wie im Falle der Linkspartei diese nur rudimentär ausbauen konnten. Dies liegt vor allem am ausbleibenden Erfolge der Antikrisenproteste und der stattdessen fortwährenden Sozialpartner:innenschaft. Die folgende Desillusionierung brachte Austritte und einen Gewinn innerhalb der Wähler:innenschaft für die AfD mit sich.

Im Falle der Linkspartei kommt das fehlerhafte Verständnis hinzu, was „Bewegungspartei“ eigentlich heißt. Natürlich ist es wichtig, soziale Proteste zu unterstützen. Aber einfach nur darauf zu warten, dass was passiert, oder davor zu scheuen, Proteste zuzuspitzen, damit „Bewegungen“ ihre Kämpfe auch erfolgreich gewinnen, bringt einem/r nicht viel, wie die Coronapandemie oder auch die wenig sichtbare Intervention in die Klimabewegung zeigen.

Reicht das aber, um den Reformismus nun in die Geschichtsbücher als erledigt niederzuschreiben? Schön wäre es. Zum einen liegt dies an der Tatsache, wie revolutionäres Bewusstsein in unserer Gesellschaft entsteht (ausgeführt im ersten Beitrag), zum anderen aber auch am Charakter der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien selbst.

Was also tun? Sicher, es stimmt, dass es einen großen Schritt für Linke in Deutschland bedeutete, wenn sich beispielsweise die linken Kräfte der Linkspartei und links davon in Deutschland zusammenschließen würden, um gemeinsam aktiv zu werden – auch wenn damit die Frage der politischen Ausrichtung einer solchen Strömung und möglichen politischen Organisation längst nicht gelöst, sondern nur gestellt wäre.

Zeitgleich ist es ein Fehlschluss, daraus abzuleiten, dass selbst dann die Stunde des Reformismus geschlagen hätte. Denn wer sich die reale Verankerung der Gewerkschaftsbürokratie ansieht, wird feststellen, dass man sich mit einer – ebenfalls oftmals für tot erklärten – SPD herumschlagen muss. Klar, politisch ist mittlerweile recht einfach die lange Liste mit deren Vergehen auszupacken und vorzulesen. Praktisch sorgt es aber nicht dafür, dass die Illusionen in solche Parteien gebrochen werden, wie man auch beispielsweise an der Verräterei der Berliner Linkspartei sehen kann.

Dies liegt am Charakter der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien selbst. Denn für Marxist:innen wird der politische Charakter, das Wesen einer Partei dadurch bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse sie verteidigt – nicht einfach durch eine soziologische Bestimmung ihrer Parteimitgliedschaft. In diesem Sinne bleibt sie bürgerlich, was ihr praktisches Agieren anbelangt, das v. a. auf Wahlen, Parlamentsarbeit und die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen setzt anstatt auf Klassenkampf und Mobilisierungen. Ihr bürgerlicher Charakter zeigt sich auch im inneren Regime, wo ein bürokratischer Apparat (inkl. der parlamentarischen und exekutiven Vertretungen) das Parteileben und die eher inaktive Mitgliederbasis bestimmt. Obzwar sie sich also politisch nicht wesentlich von „normalen“ bürgerlichen Parteien unterscheidet, so grenzt sie sich von den „traditionellen“ bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, aber auch den Grünen hinsichtlich ihres historischen und organisatorischen Verhältnisses zur Arbeiterklasse (wie überhaupt zu den Klassen der Gesellschaft) wesentlich ab, weil sie diesbezüglich eben eine Arbeiter:innenpartei ist. Historisch stützt sie sich zunehmend auf die besser gestellten Schichten der Lohnabhängigen, auf die Arbeiter:innenaristokratie – also jene Teile der Klasse, für die eine Politik der graduellen Verbesserung jedenfalls in bestimmten Perioden Sinn zu machen scheint.

Das heißt, dass der Kapitalismus, zumal in einem imperialistischen Land auch eine materielle Basis für Reformismus in der Arbeiter:innenklasse hervorbringt – eine Basis, die nur über einen langwierigen Kampf gebrochen werden kann. Das damit verbundene Problem der Einheitsfront und aller Taktiken, um Arbeiter:innen vom Reformismus zu brechen, wird sich dabei, wie alle historischen Erfahrungen zeigen, bis zur revolutionären Machtergreifung (in gewisse Weise auch darüber hinaus) stellen. Eine korrektes Verständnis der Einheitsfronttaktik stellt daher eine Voraussetzung für den Aufbau jeder revolutionären Organisation dar.

D) Die drohende ökologische Katastrophe

Die „Umweltfrage“ ist längst zu einer der entscheidenden Zukunfts- und Menschheitsfragen geworden. Die ökonomische Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese weiter zuspitzen, also noch drängender auf die Tagesordnung setzen.

Zugleich ist nicht nur die reformistische Klassenmehrheit, sondern auch ein großer Teil der „radikalen“ Linken von der Umweltbewegung eher isoliert oder steht ihr vorsichtig, abwartend oder gar passiv gegenüber. Dies wird nur dazu führen, dass sich kleinbürgerliche Ideologien in einer solchen Bewegung ausbreiten und Skepsis gegenüber der Arbeiter:innenklasse wächst, obwohl zur Zeit ein, wenn auch widersprüchlicher Diskussions- und Klärungsprozess in der Bewegung stattfindet. In diesen müssen wir aktiv eingreifen ebenso wie in die Arbeiter:innenklasse, weil die aktuelle soziale und ökonomische Krise gerade auch von Entlassungen und Kürzungen bedrohte Belegschaften dazu zu treiben droht, den Schulterschluss mit „ihrem“ Kapital auf Kosten ökologischer Nachhaltigkeit zu suchen.

Sie treibt zur Zeit einen größeren Keil zwischen Arbeiter:innenklasse und Umweltbewegung, wenn wir dem nicht bewusst entgegenwirken – und das erfordert nicht nur allgemeine Appelle zu einem gemeinsamen Kampf, sondern vor allem auch ein antikapitalistisches Programm zur Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion der Gesellschaft im Interesse der Arbeitenden wie ökologischer Nachhaltigkeit. Dies wird auch eine Veränderung von Produktionssystemen und des Konsums implizieren – einschließlich der Einstellung überflüssiger und gesellschaftlich schädlicher Produktion. Damit dies im Interesse der Lohnabhängigen stattfinden kann, sind Enteignung, Arbeiter:innen- und Konsument:innenkontrolle und gesellschaftliche Planung unerlässlich – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern letztlich im globalen Maßstab.

E) Bewusster Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung

Das Verhältnis von sozialer Unterdrückung (Rassismus, Frauenunterdrückung, LGBTIAQ-Unterdrückung, Jugend) und kapitalistischer Ausbeutung bildet eine weitere wichtige Aufgabe programmatische Konkretion. Entscheidend ist auch dabei, dass es nicht nur eine allgemeine Einheit gehen darf, sondern konkrete Übereinstimmung in Schlüsselfragen notwendig ist, was zentrale Forderungen betrifft wie z.B. jene nach offenen Grenzen,  Staatsbürger:innenrechten für Alle oder Vergesellschaftung der Hausarbeit. Ansonsten bleibt die Positionierung gegen diese Unterdrückungen nur reine Lippenbekenntnisse. Dasselbe trifft auch beispielsweise die Frage der bedingungslosen Unterstützung von Halbkolonien im Krieg gegen den Imperialismus zu. Darüber hinaus reicht es aber nicht nur abstrakt richtige Forderungen aufzuwerfen. Es ist Aufgabe von Revolutionär:innen, wenn sie können, diese in aktuelle Kämpfe der Klasse hereinzutragen um so Verbindungen zwischen den Ausgebeuteten und Unterdrückten zu schaffen. Beispielsweise bedeutet der Kampf für bezahlbaren Wohnraum, dass wir dort wo wir dafür kämpfen auch hereintragen, gegen die Unterbringung in Lagern einzustehen, und die Vergesellschaftung für Wohnraum bedeutet, diese für alle nutzbar zu machen, unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel. Darüber hinaus müssen wir anerkennen, dass es wir unterdrückten Gruppen auch die Möglichkeit geben, sich mit dieser in unseren Reihen auseinanderzusetzen. Deswegen halten wir es für notwendig, nicht nur in der revolutionären Organisationen, sondern in allen Organisation der Arbeiter:innenklasse für Schutzräume, beispielsweise in Form von Caucussen (das Recht sich gesondert zu treffen) einzutreten. Dies ermöglicht Betroffenen von Unterdrückung, sich über Erlebnisse innerhalb, aber auch außerhalb der Organisationen auszutauschen und diese  wieder in die Organisation hereinzutragen.

Wir haben hier nur einige wichtige Themenfelder für eine programmatische Klärung benannt, sollte die Konferenz den Schritt zur Inszenierung eine größeren Diskussion zwischen bestehenden subjektiv revolutionären Organisationen beginnen wollen. Ohne die systematische und organisierte programmatische Debatte obiger und zweifellos etlicher anderer Themen ist eine revolutionäre Einheit eine Utopie oder bloßer Schein.

Revolutionäre Einheit erfordert die Klärung solcher und andere Differenzen. Sie erfordert einen organisierten Rahmen der programmatischen Diskussion. Wir sind dafür bereit und freuen uns auf weitere Beiträge.

Empfehlung

Zur grundlegenden Bedeutung des Programms verweisen wir auf den Diskussionsbetrag „Revolutionäre Organisation braucht revolutionäres Programm“.