Türkische Offensive gegen Afrin: Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte

Svenja Spunck, Infomail 983, 22. Januar 2018

Die kurdische Autonomieregion Rojava in Nordsyrien ist der türkischen AKP-Regierung ebenso ein Dorn im Auge wie die pro-kurdische Partei HDP, die Erdogans Truppen bei den letzten Wahlen fast um eine Mehrheit für seine autoritäre Verfassung gebracht hatte. Durch eine massive Verschärfung der staatlichen Repression, die nun mehr sechste Verlängerung des Ausnahmezustandes und die Inhaftierung tausender Oppositioneller hält er sich weiter an der Spitze des Regimes.

Türkei und KurdInnen

Zwar ist der Maulkorb, den er der kurdischen Bewegung in der Türkei aufgesetzt hat, bisher recht erfolgreich, über die Landesgrenzen hinaus gelang es Erdogan jedoch bisher nicht, Einfluss auf die Entwicklungen in Syrien zu nehmen – wie er es sich seit 2011 vorgestellt hatte. Obwohl die Türkei Waffen und Soldaten nach Syrien schickte und reaktionäre Verbände der FSA um sich schart, standen die Stadt Qamischli (kurdisch: Qamislo) und der Kanton Afrin (kursich: Efrîn), die von der kurdischen PYD regiert werden, kurz vor der Vereinigung. Mit dem Erstarken der PYD in Syrien, so die Furcht Erdogans, stände die Einheit mit den KurdInnen in der Türkei bevor und damit de facto die Grenzziehung des Nahen Ostens auf dem Spiel.

Da auch das Assad-Regime solch eine geographische Neudefinition um jeden Preis verhindern will, ließ sie dem türkischen Militär im Norden freie Hand und protestierte nicht gegen den Einmarsch türkischer Truppen. Diese liefern sich seit Monaten immer wieder Gefechte mit den Kräften der SDF, die maßgeblich von den USA finanziert werden. Seit dem 19. Januar bombardiert die türkische Armee aus der Luft die Stellungen der YPG/YPJ. Am 20. Januar startete der Einsatz von Bodentruppen. Obwohl Russland den Luftraum kontrolliert und das Assad-Regime verkündete, sämtliche türkische Flugzeuge vom Himmel zu schießen, konnte die türkische Armee bisher ungestört agieren.

Türkei, Bundesrepublik Deutschland und USA gegen Russland und Syrien?

Die Panzer, die über die syrische Grenze rollen, sind vom Typ Leopard II, made in Germany. Weitere Lieferungen an die Türkei wurden vor wenigen Tagen bekannt gegeben. Nachdem sich die Außenminister Gabriel und Çavusoglu bei Gabriel zu Hause in Goslar in einem privaten, gemütlichen Ambiente getroffen hatten, verkündeten sie beide ausdrücklich, wie eng sie auch durch eine persönliche Freundschaft verbunden seien. Im Interview mit derARD-Tagesschau rechtfertigte Gabriel die Lieferung an die Türkei (seit 10 Jahren übrigens), mit dem angeblichen Bündnis der NATO-Partner im Kampf gegen den sog. „Islamischen Staat“ (IS). Dabei ist seit langem bekannt, dass die Türkei nicht gegen den IS kämpft, sondern dessen Anhänger im Süden des Landes medizinisch versorgt und IS-Gruppen sich ungestört selbst in großen Städten der Türkei organisieren können, während die Grenze für zivile Geflüchtete aus Syrien durch eine Mauer abgeriegelt wird.

Während Erdogan schon angekündigt hat, demnächst auch die östlichen Kantone um die Stadt Manbidsch (kurdisch: Minbic) anzugreifen, um keinen „Terrorkorridor“ zuzulassen, ruft das Auswärtige Amt „alle Beteiligten auf, jetzt besonnen zu handeln und keine neue Gewalt aufkommen zu lassen.“

Hierbei wird unterschlagen, dass es sich um einen Angriffskrieg der Türkei auf die KurdInnen handelt. Zugleich wird eine Hintertür für einen gemeinsamen Kampf gegen „Terroristen“ offen gelassen. Denn auch in Deutschland nahmen die Angriffe auf sämtliche demokratische Rechte der kurdischen Bewegung in den letzten Wochen massiv zu, was sich durch Verhaftungen auf Demonstrationen, Hausdurchsuchungen und Einleitungen von Gerichtsverfahren ausdrückte. Die französische Regierung findet klarere Worte gegenüber der türkischen Regierung und fordert sie auf, die Offensive gegen die KurdInnen zu stoppen, man solle sich stattdessen eher auf den Kampf gegen die Terroristen des IS konzentrieren.

Besonders brisant in diesem Konflikt ist das Kräftemessen der zwei NATO-Partner Türkei und USA, die offensichtlich gegensätzliche Interessen verfolgen. Solange die Türkei jedoch noch keine großen Militärschläge vollzogen hatte, wurde der Konflikt auf den Nebenschauplätzen von Reisewarnungen und Visabeschränkungen geführt. Nachdem die USA angekündigt hatten, eine 30.000 Mann starke Truppe nach Nord-Syrien zu schicken, die dort gemeinsam mit der YPG/YPJ eine „Sicherheitszone“ errichten sollte, bereitete sich die türkische Armee auf den Einmarsch vor. Das Weiße Haus riet der türkischen Regierung mehrmals, von einem Angriff auf syrisch-kurdische Gebiete abzusehen.

Außenminister Tillerson leugnete jedoch auch, jemals den Aufbau der 30.000 Mann-Truppe in Nord-Syrien angekündigt zu haben. Allenfalls wäre die Presseerklärung falsch formuliert worden. Über dieses „Missverständnis“ wird sicherlich bei dem Treffen in den nächsten Tagen geredet werden, wenn die stellvertretende NATO-Generalsekretärin Rose Gottemoeller in die Türkei fährt. Für die AKP-Regierung ist es nicht hinzunehmen, dass die USA eventuell noch mehr Waffen an die KurdInnen in Syrien liefern würden, um sich ihr eigenes Einflussgebiet in Syrien auszubauen. Für Erdogan ist der Angriff auf Afrin ein heikles Unterfangen, obwohl dieser westliche Kanton abgeschnitten ist vom Rest der kurdischen Gebiete. Er geht das Risiko dennoch ein, denn er braucht auf Grund der innenpolitischen Lage außenpolitische Erfolge.

Während die Auswirkungen dieses Angriffs auf die türkisch-amerikanischen Beziehungen noch nicht sicher sind, ist bereits klar geworden, dass die USA die KurdInnen im Stich lassen. Schon während ihrer Allianz hatten sie die Hilfe für Rojava auf militärische Mittel beschränkt, die den USA dienten, und die Lieferung von Maschinen für den wirtschaftlichen Aufbau verweigert. Zweifellos stellt die Schwächung der KurdInnen auch einen Rückschlag für die USA dar, weil sie praktisch über keinen anderen einigermaßen verlässlichen Verbündeten in Syrien verfügen und somit nur wenig bei der Neuordnung des Landes „mitbestimmen“ können. Aber sie sind erst recht nicht bereit, eine weitere Verschlechterung der Beziehungen mit Ankara für die KurdInnen zu riskieren.

Sicherlich hat auch Russland den Angriff mit gemischten Gefühlen betrachtet. Aber es wurde klar, dass es diesen hinnehmen würde. Kurz vor dem Angriff auf Afrin wurden die dort stationierten Einheiten der russischen Armee zurückgezogen und auch das Flugverbot wird gegen türkische Kriegsflugzeuge nicht umgesetzt. Bereits vor einigen Tagen fand ein Treffen zwischen dem türkischen Geheimdienstchef, dem Generalstabschef und der russischen Regierung in Moskau statt, bei der wahrscheinlich das Vorgehen abgesprochen wurde. Hier ziehen zwei Kräfte am gleichen Strang, die sich somit der KurdInnen entledigen wollen und dadurch den einzigen zuverlässigen Partner der USA aus Syrien zunichtemachen würden.

Innenpolitische Gründe Erdogans

Aber hinter dem Angriff stecken auch wichtige innenpolitische Gründe. In der Türkei stehen 2019 stehen die wichtigsten Wahlen seit der Erdogan-Ära an. Spätestens im November werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahl gleichzeitig stattfinden. Dann treten die Verfassungsänderungen des Referendums von 2017 in Kraft. Wer diese Wahl gewinnt, wird demnach den Posten des neuen Staatsoberhaupts und auch des/r RegierungschefIn mit großer Macht bekleiden, da das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Die bisherigen Kandidaten sind Recep Tayyip Erdogan, der sich die Zustimmung der MHP bereits gesichert hat. Seine größte Rivalin ist Meral Aksener mit ihrer neu gegründeten Iyi Parti (GutePartei), einer Abspaltung von der MHP. Die Iyi erreicht in Umfragen bereits 20 Prozent und wäre damit nach der CHP die drittstärkste Partei im Parlament. Die MHP verliert momentan massiv an Stimmen und Mitgliedern und taugt höchstens noch als Steigbügelhalterin und Lückenfüllerin für die AKP.

Auch die HDP muss um ihren Einzug bangen, auch wenn sie in den Umfragen noch weit vor der MHP liegt. Der HDP droht jedoch das Verbot und ihre politischen FührerInnen befinden sich im Gefängnis. Da sich die AKP der misslichen Lage ihres einzigen Verbündeten, der MHP, im Klaren ist, wird momentan über eine Senkung der Hürde auf 5 % diskutiert. Ebenfalls als Vorbereitung auf die Wahl ist die Rücktrittswelle von AKP-BürgermeisterInnen zu sehen.

Prominentestes Beispiel ist der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, der nach 23 Jahren im Amt „freiwillig“ zurücktrat, nachdem beim Verfassungsreferendum 2017 das AKP Evet-Lager in Ankara knapp verloren hatte. So wie im Falle Gökçeks sollen die Posten nun durch erfolgversprechendere PolitikerInnen ausgetauscht werden.

Auch die CHP rüstet auf und wählte vergangene Woche Canan Kaftancıoğlu zur Vorsitzenden der Istanbuler und damit größten Ortsgruppe der Partei. Dass keine 24 Stunden nach ihrem Amtsantritt ein Verfahren gegen sie wegen Terrorpropaganda für die PKK und DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), der Erniedrigung des türkischen Staates und Beleidigung des Präsidenten eröffnet wurde, macht sie auf den ersten Blick sympathisch. In der Tat gehört sie zum linken Flügel der Partei, unterstützt offen die Kämpfe um Frauenrechte, bezeichnet den Genozid an den ArmenierInnen als solchen und war solidarisch mit den Gezi-Protesten sowie den KurdInnen in Kobanê. Außerdem verurteilte sie scharf diejenigen, die in der Nacht des Putsches vom 15. Juli 2016 das AKP-Regime brutal verteidigten und propagiert eine Aktionseinheit zwischen CHP und HDP. Die Hoffnung, dass mit ihrer Wahl ein neuer Wind in die CHP einzieht, der einigen dort zumindest die Augen öffnet, die sich noch Illusionen in eine Kooperation mit der AKP machen, entpuppt sich jedoch gerade als eine Illusion. Der CHP-Vorsitzende Kiliçdaroglu stimmte in den Kriegsrausch der AKP mit ein und erklärte am 19. Januar: „Kein Land kann die Einnistung von Terrororganisationen an seinen Grenzen dulden. Unserer heldenhaften Armee gilt unser Vertrauen und der Operation Olivenzweig unsere Unterstützung.“

Die Illusion vieler Linker, man könnte gemeinsam mit der CHP eine demokratische Front gegen die AKP aufbauen, wurde damit wieder einmal als vollkommen falsch entlarvt. Wer sich wirklich als demokratisch und solidarisch mit dem Kampf der Kurdinnen versteht, muss diese chauvinistische, rassistische Partei verlassen.

Doch Erdogan steht auch unter Erfolgsdruck. Die schwierige innenpolitische Lage zeichnet sich nicht nur an der Parteienkonstellation ab, auch ökonomisch wird es für die AKP zunehmend härter, sich zu behaupten. Die Verkündung des Mindestlohnes von 1600 Lira zu Beginn des Jahres löste einen Sturm der Empörung zumindest in den sozialen Medien aus. Der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK meint, man müsse mindestens 2300 Lira monatlich verdienen, doch den Mindestlohn würden allein die Regierung und die Arbeit„geber“Innen festlegen. Die Jugendarbeitslosigkeit habe zwar in den letzten Monaten abgenommen, liegt jedoch immer noch bei 20 %. Betrachtet man genauer, wo diese Jugendlichen arbeiten, stößt man meist auf hochgefährliche Arbeitsplätze wie in der Baubranche, wo jährlich dutzende Menschen durch Unfälle ums Leben kommen. Nach dem Militärdienst, der viele junge Männer traumatisiert, fehlen vor allem der ländlichen Bevölkerung Arbeits- und Ausbildungsperspektiven. Diese und andere Probleme setzen sich momentan nicht in großen Protesten auf der Straße um, sondern drücken sich eher in einer riesigen Fluchtbewegung nach Europa aus – in erster Linie der Mittelschicht, die sich das leisten kann.

Obwohl Erdogan auch rhetorisch in alle Richtungen schießt und sich scheinbar unbeeindruckt und stark zeigt, ist deutlich zu erkennen, dass er außenpolitische Erfolge und den türkischen Nationalismus braucht, um seine Herrschaft zu halten. Der Unterstützung der USA im Kampf gegen die KurdInnen nicht mehr sicher, das Gefühl, in Syrien rinne ihm der mühevoll aufgebaute Einfluss durch die Hände, und innenpolitisch mit schwindender Macht, holt er nun außenpolitisch zum Gegenschlag aus.

Der Angriff rollt

Am Morgen des 19. Januar kursierten Bilder von großen weißen Bussen im Internet, die im Süden der Türkei über die syrische Grenze fuhren. Hierbei handelte es sich nicht um eine Klassenfahrt, sondern bei näherem Betrachten überquerten dort die Klischee-Salafisten vom Dienst bzw. von der Dschabhat Fatah asch-Scham die Demarkationslinie, um gemeinsam mit dem türkischen Militär die YPG/YPJ in Afrin anzugreifen. Kurz darauf folgten die ersten Berichte über starken Beschuss der kurdischen Stellungen und die PYD verkündete, dass sie die Angriffe nicht nur in Nordsyrien zurückschlagen, sondern ihren Kampf gegen Erdogan auch in die Türkei tragen werde.

Doch der Kampf zwischen dem türkischen Militär und der PYD ist kein Kampf von gleich oder nur ähnlich starken GegnerInnen. Die Türkei, einer der wichtigsten Staaten im Bunde der NATO, füllt trotz aller Differenzen eine Schlüsselrolle für die USA zwecks Kontrolle über die Region aus. Die PYD wiederum ist eine Kraft, die zwar momentan als Teil der SDF und politisch stärkste Kraft in Nord-Syrien als Vehikel dient, um die Präsenz der USA zu begründen, stellt jedoch eine nicht-staatliche Militäreinheit dar, welche die Grenzziehung in Frage stellt.

Die Geschichte der KurdInnen ist dafür bekannt, kurzzeitig im Machtkampf für einen der Imperialismen eingespannt zu werden und davon profitieren scheinen zu können, indem ihnen Autonomierechte oder gar eigene Staaten versprochen werden. Am Ende werden sie jedoch wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Nun droht ihnen ein ähnliches Schicksal, da die USA durch eine permanente Kooperation mit der PYD die Hinwendung der Türkei Richtung Russland riskieren würden.

Mit der Zerschlagung der KurdInnen im Norden Syriens wäre einer der größten Störfaktoren bei der Neuordnung Syriens aus dem Weg geschafft. Daran hat nicht nur die Türkei, sondern auch Assad ein großes Interesse.

Welche Position müssen RevolutionärInnen in dieser Situation einnehmen?

Der Angriff auf die KurdInnen in Syrien ist ein reaktionäres, verbrecherisches Vorhaben der Türkei, das von allen imperialistischen Mächten geduldet wird. RevolutionärInnen müssen deshalb für die Niederlage der türkischen Armee und das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen im gesamten Nahen Osten eintreten.

Deshalb muss ebenfalls der sofortige Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei gefordert werden sowie der Abzug der deutschen Bundeswehr aus der Region. Um den berechtigten Aufstand gegen Assad und die demokratische Revolution in Syrien im Keim zu ersticken, wurden reaktionäre Kräfte wie die al-Nusra-Front (heute: Dschabhat Fatah asch-Scham) und andere Salafisten finanziert, die nun Seite an Seite mit der türkischen Armee kämpfen.

Die Grenzen zwischen der Türkei und Syrien müssen nicht für diese Kräfte, sondern für die syrischen Geflüchteten geöffnet werden – nieder mit der Grenzmauer! Der Eingriff der ImperialistInnen in Syrien transformierte den berechtigten Kampf der Opposition in einen der tödlichsten Konflikte des 21. Jahrhunderts. Kampf der türkischen Invasion! Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf! Sofortiger Abzug aller imperialistischen Kräfte!




Frauenkampf in Westkurdistan: Gegen Repression, Patriarchat und Krieg

Nina Berger, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Nach Jahren der Gleichgültigkeit oder auch der Paralyse insbesondere linker Bewegungen und Parteien gegenüber dem revolutionären Aufbruch in Syrien gibt es seit Sommer 2014 eine erstaunliche Wendung. Sie gilt der Aufmerksamkeit für den Kampf des kurdischen Volkes in Rojava, Westkurdistan.

Die internationale kurdische Gemeinschaft initiiert eine breite Solidaritätsbewegung und der Widerstand der Kämpferinnen und Kämpfer in der westkurdischen Stadt Kobanê ist auf einmal weltweit das Symbol für Selbstbestimmung und Frauenrechte. Wie kam es dazu, was wurde erreicht und welche Perspektive bietet sich? Für die Beantwortung der Fragen werden wir eine Analyse der aktuellen Situation versuchen und dazu einige Spezifika des Lebens der kurdischen Frauen in einer historischen Dimension, in Verbindung mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der dahinterstehenden Ideologie darlegen.

Errungenschaften

Fest steht, dass der Befreiungskampf in Rojava schon jetzt zu enormen Errungenschaften für die Frauen geführt hat, die im Nahen und Mittleren Osten ihresgleichen suchen: So hat die Regierung des autonomen Kantons Cizîrê am 5. November 2014 mit dem Dekret Nr. 22 die Gleichheit von Frauen und Männern in Bezug auf Löhne, die berufliche Stellung, auf Erbrecht und auch auf Zeugenaussagen vor Gericht verkündet. Das Dekret verbietet gleichfalls die Verheiratung junger Frauen ohne deren Zustimmung und die Polygamie. Dieses Dekret und die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte können dazu beitragen, die gesellschaftliche Transformation in Rojava zu festigen und auf den Mittleren Osten ausstrahlen zu lassen.

Ohne die aktive Beteiligung tausender Frauen in den Selbstverteidigungskräften, in der YPJ, ohne die Bildung von Frauenräten und die Vertretung von Frauen auf allen Ebenen der politischen Gremien und des öffentlichen Lebens wäre diese Entwicklung unmöglich.

Hergang

Inmitten des syrischen Bürgerkrieges etablierten die KurdInnen in Rojava, Westkurdistan, im Sommer 2012 von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt ihr eigenes System. Sie übernahmen die Kontrolle über die Städte und Dörfer im kurdischen Norden Syriens entlang der Grenze zu den kurdischen Gebieten der Türkei in drei voneinander abgetrennten Kantonen (Verwaltungsbezirken), nämlich Efrin, Kobanê und Cizîrê.

Der syrische Bürgerkrieg, dem bis dahin schon Hunderttausende zum Opfer gefallen waren und der in den anderen Landesteilen tobte, blieb dem kurdischen Teil Syriens bis zum Sommer 2013 weitgehend fern. Dass es eine Art Übereinkunft mit dem Assad-Regime gab, wird von kurdischer Seite aus bestritten. Die offene Unterstützung der syrischen Revolution und der gegen Assad kämpfenden Freien Syrischen Armee (FSA) unterblieb. In Rojava sollte ein so genannter „Dritter Weg“ etabliert werden. Dieser beinhaltete auch, dass sich die kurdischen Verbände der Unterstützung des Kampfes demokratischer und fortschrittlicher Kräfte gegen das Assad-Regime enthielten. Dies war nicht nur gegenüber der syrischen Revolution höchst problematisch, sondern bleibt es auch für die Zukunft Rojavas. Sobald eine reaktionäre Kraft im syrischen Bürgerkrieg die Oberhand gewinnen wird – sei es das Assad-Regime oder der Islamische Staat – wird der Sieger seine Ansprüche auf das Gebiet geltend machen, ohne dass es inner-syrische Verbündete für die kurdische Sache gibt.

Die KurdInnen bauten in Rojava ab Juli 2012 eine Selbstverwaltung auf. Sie begannen kurdisch-sprachige Schulen, in der Türkei immer noch von den türkischen Behörden mit massivem Polizeieinsatz verhindert, eine Universität, eine eigene Gerichtsbarkeit und vor allem Rätestrukturen aufzubauen, die als lokale und regionale Selbstverwaltungsorgane fungieren. Und das ist erst einmal absolut erstaunlich in Anbetracht eines kompletten Jahrhunderts der Unterdrückung und Verleugnung der kurdischen Identität durch alle Besatzungsmächte auf kurdischen Gebieten, sowohl in der Türkei, dem Iran, Irak als auch in Syrien und der Tatsache, dass dieser Landstrich von 2,5 Millionen KurdInnen, AraberInnen, TurkmenInnen, ArmenierInnen und TschetschenInnen bevölkert wird, die hier zusammen leben und nebenbei auch noch komplett unterschiedliche Glaubensrichtungen haben: Aramäer- und AssyrerInnen, ChaldäerInnen, EzidInnen und Muslime.

Die KurdInnen organisierten sich, schlossen sich in 16 kurdischen Parteien zusammen und gründeten den „Hohen Kurdischen Rat“ als Dachorganisation. Sie schafften es, 1,2 Millionen Menschen aus den umkämpften syrischen Städten wie Aleppo oder Damaskus und EzidInnen aus dem Irak, die in die sicheren kurdischen Kantone flohen, aufzunehmen und diese Flüchtlinge trotz der Embargopolitik seitens des türkischen Staates und der „Autonomen Republik Kurdistan“ (Irakisch-Kurdistan) an der Ostseite, in die Gesellschaft in Rojava auch politisch zu integrieren. Eine Leistung, die ihresgleichen sucht.

Selbstorganisation als Schlüssel

Die Frauen übernahmen dabei ähnlich den Frauen im arabischen Frühling eine Vorreiterinnenrolle der Revolution. In den kurdischen Gebieten und auch bei anderen nationalen Minderheiten wurden Räte organisiert, die jedoch nur bedingt die arabische Bevölkerung umfassten, die generell ökonomisch besser gestellt ist. Von den Kommunen als Stadtviertelräte bis hin zum Volksrat von Westkurdistan existieren diese Strukturen. Viele Berufsgruppen, Frauen- und Jugendverbände sowie ethnische und religiöse Minderheiten entsenden eigene Vertreter.

Es entstanden parallel dazu eigene Frauenräte. Die kurdischen Frauen zeigen, dass Selbstorganisierung nicht nur gegen die zunehmenden äußeren Angriffe schützt, sondern zugleich auch ein Mittel ist, sich gegen die patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft zu wehren. In ihren Versammlungen werden alle Arten von Frauenunterdrückung thematisiert und in die Gesellschaft zurückgetragen. Das Private wird politisch und der größte Teil der kurdischen Bevölkerung unterstützt dieses System.

Die politische Organisierung hatte zur Grundlage, dass die Thematik Frauenbefreiung für die politisch bewussten Frauen nie eine Angelegenheit war, die sich auf die Zeit nach der Revolution verschieben ließ. Die Frauenunterdrückung wird als Hauptwiderspruch und Haupthindernis für Demokratie in den politischen Programmen der PKK und ihrer Schwesterpartei, der PYD, verankert. Die Errungenschaften der Frauen in Rojava sind also nicht zu trennen vom politischen Kampf der kurdischen Frauen. „Die Revolution in Rojava ist zuallererst die Revolution der Frau“ steht in den programmatischen Ausführungen Öcalans.

Diese Errungenschaften sind bei allen kritischen Momenten, auf die wir später zurückkommen, schwer zu überschätzen. In einer permanenten Kriegssituation ist es für jede Partei, für jedes Volk unumgänglich, einen großen Teil der eigenen Ressourcen zur Verteidigung zu verwenden – geschätzt bis zu 70 Prozent in Rojava. Dies bedeutet aber auch, dass die reale quasi-staatliche Gewalt in den Kantonen bei den führenden politischen Kräften, v.a. der PYD und den Selbstverteidigungskräften, und eben nicht einfach bei „Räten“ und der „Basis“ liegt. Das ist ein Stück weit auch unvermeidbar. Wir stellen den Notwendigkeiten der militärischen Verteidigung Rojavas kein abstraktes „Demokratiemodell“ gegenüber. Aber es ist auch klar, dass der Programmatik der PYD/PKK als führender politischer Kraft eine zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, den Fortgang, aber auch für mögliche Grenzen der Frauenbefreiung und des Verständnisses der Revolution zukommt. Bevor wir uns damit beschäftigten, werden wir aber auch auf die Lage der Frauen, nicht nur die politischen Strukturen, sondern auch die tradierte gesellschaftliche Arbeitsteilung in Kurdistan, eingehen.

Frauenunterdrückung

Ebenso wie die Situation der Kurdinnen in den durch die Türkei kontrollierten Gebieten sind die syrischen Kurdinnen einer vielfachen Unterdrückung ausgesetzt. Umso stärker ist ihr Engagement und ihre aktive Rolle in der Organisierung der Strukturen zu bewerten. Sie kämpfen an der Front, in Kommandopositionen und nehmen an der Produktion teil. Es gibt de facto keinen Ort in Rojava, an dem keine Frauen zu sehen sind.

Frauen haben die gesellschaftlichen Aufbrüche des Mittleren Ostens von Anfang an mitgetragen. Doch während die Frauen in den übrigen Ländern nach der Machtübernahme durch radikalislamische oder reaktionäre bürgerliche Kräfte in eine noch viel prekärere Situation gerieten, konnten sich die Frauen in Rojava, abgesehen von den im Spätsommer 2014 erfolgten IS-Angriffen auf Kobanê, die den Großteil der Stadtbevölkerung zur Flucht in die Lager oder Elendsgebiete auf türkischer Seite zwangen, bisher davor schützen. Auch Frauen in Rojava, also Westkurdistan, den übrigen Siedlungsgebieten und den syrischen Städten waren bisher analog zu den Kurdinnen in der Türkei und den anderen besetzten kurdischen Siedlungsgebieten massiver Unterdrückung ausgesetzt. Diese erfolgte über den repressiven rassistischen Staat, der ihnen als KurdInnen die elementarsten Grundrechte, die eigene Muttersprache zu sprechen oder auch die Staatsbürgerschaft, verweigerte. KurdInnen waren und sind zudem gegenüber der arabischen Bevölkerung ökonomisch stark benachteiligt. Unabhängigkeitsbestrebungen wurden, nachdem sich das Assad-Regime nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem Westen zuwandte, mit aller Härte bekämpft. Dazu kommt aber auch noch die patriarchale Unterdrückung, von der sich die Kurdinnen unter den vorherrschenden Bedingungen nicht befreien konnten.

Zu den Spezifika der Situation der kurdischen Frauen gehören die noch aus vorkapitalistischen Zeiten, die in den PKK-Schriften als feudale Gesellschaften bezeichnet werden, die aber eher – wie das osmanische Reich auch –  eine Form der „asiatischen Produktionsweise“ darstellen, stammenden Familienstrukturen in einer politisch und ökonomisch unterentwickelten Region. Das Elend und die Machtlosigkeit in den kurdischen Gebieten waren der Aufrechterhaltung der vorherrschenden Strukturen enorm zuträglich. Dennoch waren und sind die Lebenssituationen der kurdischen Frauen sehr unterschiedlich und wie immer entscheidend von der Herkunft und der sozialen Schicht innerhalb der kurdischen Gesellschaften abhängig. Ob Stadt, ob Land, Kleinbäuerin oder Großgrundbesitzerin, generell die Klassenzugehörigkeit oder die Zugehörigkeit zur Gruppe der Binnenflüchtigen macht hinsichtlich der Arbeitsbelastung, der materiellen und finanziellen Bedingungen den entscheidenden Unterschied.

Zugleich sind nationale, rassistische, sexistische und politische Unterdrückung seitens der Besatzerstaaten für alle Kurdinnen ein Tatbestand. Dies verdichtet sich mit patriarchalen Verhältnissen zu einer teilweise grauenvollen Szenerie. Allgemein gilt sowohl in der kurdischen als auch in der arabischen Gesellschaft die strikte Trennung der Frauen- und Männerwelten. Dabei ist die Frau für die Haus-, Versorgungs- und Pflegearbeit zuständig, wohingegen der Mann sich um die Lohnarbeit, öffentliche Angelegenheiten und Kontakte nach außen kümmert. Dass dabei nicht von einer gerechten Trennung im Hinblick auf die Arbeitsbelastung ausgegangen werden kann, braucht nicht gesondert erläutert zu werden. Insbesondere in den landwirtschaftlichen Gebieten, in Abhängigkeit von Subsistenzwirtschaft, in Mangel und Armut haben vor allem Frauen die Hauptlasten zu tragen, sind oftmals völlig rechtlos und ohne eigene soziale Absicherung. Dabei wird überdeutlich, dass die vorherrschenden Strukturen eben nicht der körperlichen Konstitution der Frauen,  sondern ganz klar patriarchalen Mustern geschuldet sind.

Traditierte Wertvorstellung

Es hält sich hartnäckig das Muster, das Ansehen der Frau an der Anzahl ihrer Kinder festzumachen, was in Verbindung mit schlechter Gesundheitsvorsorge ein enormes Risiko birgt. Doch Frauen haben billig zu arbeiten und Kinder zu bekommen und auf jegliches Selbstbestimmungsrecht zu verzichten. Wie in allen Teilen Kurdistans und des Mittleren und Nahen Ostens werden Frauen traditionell sehr jung verheiratet, auch als Zweit- oder Drittfrau an einen viel älteren Mann. Die „Ehre“ des Mannes und der Familie manifestiert sich traditionell über die „Jungfräulichkeit und Reinheit“ der Frau. Darin drücken sich vorkapitalistische Strukturen der Frauenunterdrückung aus, worin diese nicht als freie Warenbesitzerin, sondern als Unfreie auftritt – was sich auch darin zeigt, dass sie einen Preis hat: den Brautpreis.

Mädchen wurden gehindert, die Schule zu besuchen oder einen Beruf zu erlernen; einzig die Heirat war die Perspektive. Zwangs- und arrangierte Ehen sind an der Tagesordnung, ebenso Gewalt. Und diese insbesondere in der Familie durch Väter und Männer. Die ökonomische und politische Unterdrückung der KurdInnen wurde nicht selten durch die Männer an die eigene Familie, an die Frauen und Kinder weitergegeben, statt sich gegen die Unterdrücker zur Wehr zu setzen. Die übrige Gesellschaft unterstützt in großen Teilen immer noch obendrein die Annahme, dass die Familienehre  hauptsächlich von der Kontrolle über Frau und Kinder abhinge.

Dieses Phänomen ist nicht nur in der islamischen Welt weit verbreitet, sondern hat seinen Hintergrund in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft, den Strukturen und den daraus erwachsenden Abhängigkeiten. Es auf die Religion zurückzuführen, blendet in der Regel die dahinterliegenden Faktoren aus und führt nicht selten zu antimuslimischen Ressentiments. Den Frauen einer traditionellen kurdischen Familie ist es verboten, Beziehungen mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann einzugehen. Verstößt eine Frau gegen diese Regel, verletzt sie damit die Ehre ihrer Familie und diese gilt als befleckt. Dabei hat es keinerlei Bedeutung, ob die Frau mit dem z.B. sexuellen Kontakt einverstanden ist oder ob eine Vergewaltigung erfolgte – was bekanntermaßen gerade in der Türkei nach sexueller Gewalt durch den türkischen Staat an kurdischen Frauen zu katastrophalen Situationen geführt hat, welche die kurdischen Frauen erst nach langen Kämpfen sichtbar machen und sich dagegen wehren konnten. Es kann indes immer noch dazu führen, dass männliche Familienmitglieder, um die Ehre wieder herzustellen und den eigenen sozialen Tod zu verhindern, die Frau töten, wogegen auch verschärfte Gesetze wenig ausrichten konnten.

In Anbetracht dieser Bedingungen ist es erstaunlich, dass Frauen aus diesem schweren Schatten heraustraten und den mutigen Schritt hin zur Selbstorganisation bis hin zur Etablierung von Frauenräten vollziehen konnten. In Gesellschaften, in denen der Ehrbegriff wesentlich stärker über die Existenz wegen des Rückhaltes in den traditionellen Strukturen entscheidet, kann diese Entscheidung nur aufgrund der Entwicklung einer politischen, gesellschaftlichen Kraft gesehen werden, die die Frauen als Kämpferinnen organisiert und ihr politisches Selbstbewusstsein stärkt. Die PKK und die PYD boten den Frauen nicht nur eine gegen das Patriarchat gerichtete Ideologie an, sondern auch eine Alternative zur Existenz als Unterdrückte im Haushalt.

Die Entscheidung, dass die Frauen im öffentlichen Raum agieren, setzt zumindest voraus, dass die ursprüngliche Zwangsbestimmung der Frau für Heim und Küche an irgendeinem Punkt aufgebrochen wurde. In den kurdischen Gebieten in der Türkei manifestierte sich dies in den Ergebnissen des Kampfes gegen das türkische Militär, das viele Frauen aufgrund von Verhaftung oder Tod des Ehemanns zur Alleinversorgerin machte und eine außerhäusliche Arbeit und öffentliches Leben erzwang. Ebenfalls brachte der politische Kampf in der kurdischen Befreiungsbewegung die Frage der Frauenbefreiung zentral auf die Tagesordnung.

Es ist zu folgern, dass ähnliche Bedingungen auch für die Kurdinnen in den syrischen Gebieten vorherrschen mussten. Die Unterdrückung durch das Assad-Regime hatte zwar einen anderen Hintergrund als die Angriffe der türkischen Regierung auf Nordkurdistan, dennoch fürchtete auch Assad die Unabhängigkeitsbestrebungen der KurdInnen und überzog sie mit massiver Repression. Allein die Tausende von Frauen, die sich auch aus Westkurdistan der PKK-Guerilla angeschlossen haben, zeugen von Familienstrukturen, vor denen massenhaft in die Guerilla geflüchtet wurde, aber insbesondere nach politischen Kämpfen wie dem Serhildan oder dem Südkrieg von mehr und mehr politischem Kampfeswillen der Frauen.

Ideologie

In der PKK wurde zwar von Beginn an die Frage der nationalen Befreiung mit der Frauenbefreiung verknüpft. In den ersten Jahren wurde sie jedoch wie jede andere politische oder soziale Frage vollständig dem „Hauptwiderspruch“, der Lösung der nationalen Frage, untergeordnet.

Später löste die Frauenfrage die nationale Unterdrückung als Hauptwiderspruch ab. Dafür wurde eine Ideologie entworfen und weiterentwickelt, die nicht allein aus der Feder Öcalans, sondern auch von den Guerillakommandantinnen stammt und die eine absolut frauenspezifische Legitimation in Rahmen des Befreiungskampfes des kurdischen Volkes darstellt, dessen Ziel nicht nur die Integration der Frauen in den Kampf war, sondern klar definiert, dass ohne die Frau der Kampf gar nicht möglich ist.

Dazu wurde eine die Existenz eines Matriarchats im antiken Mesopotamien, also auf kurdischem Gebiet, konstatiert (1), das durch die Herausbildung eines gesellschaftlichen Mehrproduktes und dessen privatisierter Aneignung durch die Männer, also die Entstehung des Patriarchats, entmachtet wurde. Die Versklavung der Frau und alle negativen Eigenschaften wie Egoismus, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit werden auf die Entstehung des Patriarchats zurückgeführt und sind wie auch die Entstehung von Staaten und der Charakter des Kapitalismus durchweg männlich negativ konnotiert.

Weibliche Werte?

Der Frau werden in dieser Sichtweise die klassischen weiblichen Werte attestiert und soziale Kompetenzen daraus abgeleitet. Frauen seien demzufolge aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit für konstruktive Harmonie, Frieden, Freiheit und Demokratie. Sie wären aufgrund ihrer herausragenden Rolle in der matriarchalen Vergangenheit die natürlichen Trägerinnen des „Sozialismus“. Die Machtübernahme durch das Patriarchat führte zur Unterdrückung der Frauen, ja letztlich des gesamten kurdischen Volkes.

Die vorherige Periode der Frauengesellschaft wird als das goldene Zeitalter dargestellt, das die Schlüsselrolle bei einer Wiedererweckung der kurdischen Nation spielen soll. Die „neolithische Dorfrevolution“ sei die Ursache der heutigen Sehnsucht der Menschheit nach einem natürlichen und freien Leben. Dieser Mythos, der sich organisch mit dem Wesen der Frauen verbinde, die aufgrund ihrer Gebärfähigkeit und der damit einhergehenden Verbundenheit mit der Natur über die Geheimnisse des Lebens verfügen, wird zur zentralen Figur in zahlreichen Texten Öcalans und der kurdischen Frauenbewegung.

Die Diskussionüber Matriarchat und Frauen wird stark biologisiert geführt. Quasi naturgegebene Eigenschaften werden sowohl Männern als auch Frauen attestiert. Darin liegt auch die besondere Verantwortung der Frauen für die Kinder, die die Männer erst noch erlernen müssen. Frauen wird Pazifismus unterstellt, während der Mann als kriegerisch kategorisiert wird. Ebenso verfügen Frauen über bessere Konfliktlösungsstrategien und das nicht, weil sie diese gegebenenfalls unter Druck der vorherrschenden Verhältnisse besser trainiert haben, sondern via biologischer Eigenschaft.

Da die kurdische Gesellschaft, so Öcalan, insgesamt zu den Wurzeln des alten Mesopotamien, also zum Matriarchat zurückkehren möchte, ist die Rolle der Frauen im Kampf auch so zentral. Die Unterdrückung des kurdischen Volkes und der kurdischen Frau kann also nur durch eine Befreiungsperspektive überwunden werden, in der beide Faktoren gegenseitig voneinander abhängig sind. Ohne das Erwachen der Frau keine Befreiung Kurdistans. Damit wird die bisher völlig erniedrigte Rolle der kurdischen Frau über alle Maßen erhöht und ihre Vorreiterinnenrolle maßgeblich begründet.

Der radikale Bruch mit dem bisher rassistisch, durch die Besatzungsstaaten in Verbindung mit Clanstrukturen und einer die Unterdrückungsverhältnisse rechtfertigenden und stabilisierenden Religion konstruierten Bild der kurdischen Frau und ihre nun erfolgte extreme Erhöhung führt aber zu einem tief sitzenden inneren Widerspruch, der weitreichende Folgen für die Frauenbewegung hat. Einerseits ist er eng mit einer enormen Bereitschaft zur Organisierung verbunden – andererseits bindet er die Frauen ungewollt an ihre traditionelle Rolle.

Aus kritischer Perspektive ist der mythische Bezug natürlich nicht zu teilen. Weiter ist herauszustellen, dass, so wichtig die maßgebliche Rolle der Frauen für den Kampf um die Befreiung ist, diese Zuschreibungen ihnen enorme Lasten aufbürden. Nicht nur eine weitere Fixierung und Festlegung auf ein Frauenbild ist kritikwürdig. Z.B. könnte ein etwaiges Versagen im Befreiungskampf bzw. die Zuspitzung äußerer Faktoren durch übermächtige Gegner einer mangelnden patriotischen Bereitschaft der Frauen zugeschrieben werden. Andere objektive Faktoren, die bei der Demokratisierung der Gesellschaft – von Sozialismus ist im Frauenbefreiungskampf der PKK/PYD keine Rede mehr – eine Rolle spielen könnten, werden nicht erwähnt.

Fehlende Klassenanalyse

Es findet sich weder eine Analyse der kurdischen Gesellschaften noch die Einordnung ihres Kampfes in den bestehenden Staaten in die weltpolitische Lage. Gerade aber die syrische Revolution war die Wegbereiterin und Katalysatorin für das Projekt Rojava. Und jede Veränderung in der politischen Gemengelage wird sich auf die Situation Rojavas auswirken. Und es fragt sich obendrein, warum der Sozialismus, wenn er schon der Frau innewohnend konstatiert wird (2), nicht auf der politischen Agenda im Sinne der Frauenbefreiung ganz oben steht. Hier zeigt sich eine enorme und, falls sie nicht überwunden wird, fatale Schwäche des Programm der PKK/PYD. Ihr Verständnis von Sozialismus ist letztlich der „Vision“ eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus entnommen, wobei im „Sozialismus“ der PKK die Genossenschaften und nicht wie im traditionellen sozialdemokratischen Reformismus die Staatsintervention und Verstaatlichung die Schlüsselrolle spielen. Eine Gesellschaft jenseits der Marktwirtschaft oder gar eine demokratische Planwirtschaft taucht in der Programmatik nicht auf, ja, wird oberflächlich mit der Kritik am Stalinismus (Staatssozialismus) gleich mit entsorgt.

Die Zuschreibung sozialer Eigenschaften legt Frauen weiterhin auf ihre Rolle als Mutter fest. Sie ist die Erzieherin und Persönlichkeitsbildnerin der Kinder, die Übermittlerin von Kultur durch die Weitergabe von Sprache, Musik, Essgewohnheiten, von Moral und Werten. Trotz der Unterdrückung des kurdischen Lebens ist die zugeschriebene Bindung der Frau an die Tradition zweischneidig. Wenn die Weitergabe der Kultur gefordert wird, ist es aktuell die patriarchale Kultur, in der die Frau die Sklavinnenrolle und die damit verbundene Mentalität weitergibt. Kann sie sich dieser einzig durch die Übernahme einer neuen Ideologie entledigen?

Kultur und Nation

Neben der wissenschaftlich nicht begründeten Zuschreibung von biologischen Charaktereigenschaften ist die Aufgabenzuteilung an die Frauen eine weitere Festlegung, die zwar ihre Begründung in dem Erhalt der kurdischen Kultur gegenüber den Unterdrückerstaaten hat, doch gerade die Zuweisung der Verantwortung an die Frauen, die zuerst die Unterordnung unter den Mann abtrainieren müssen, ohne bisher dafür vielfach eine ausreichende ökonomische Grundlage zu besitzen, ist das eine Festlegung auf tradierte Rollen. Eine ausschließlich ideologische Transformation wird nicht stattfinden bzw. wird, wenn sie nicht ökonomisch auf der Unabhängigkeit der Frauen fußt, von jeder Reaktion wieder einkassiert. Aber die Ideologie der PKK/PYD hat sich neben dem Stalinismus auch vielfach der marxistischen Analyse entledigt und erscheint bei unserer bisherigen Untersuchung als ein über weite Strecken doch recht idealistisches Konstrukt mit Versatzstücken unterschiedlicher Weltanschauungen plus einer gehörigen Portion Mystizismus, das Stringenz oftmals vermissen lässt.

Ähnliches Verständnis gilt für die Familie, die sowohl als „hauptsächliche und standhafteste Festung des Mannes“ (3), als „kleinste Zelle in der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur“ und als das „Grab der Frau“, „Schacht ohne Boden“ (4) erfrischend scharf kritisiert, aber eben gleichermaßen auch als Hort kurdischer, bewahrenswerter Kultur definiert wird. Die Rolle der heutigen Familienstrukturen wird nicht grundlegend in ihrer Funktion zur Aufrechterhaltung patriarchaler und kapitalistischer Verhältnisse und als Ort der privaten, unentgeltlichen, meist weiblichen Hausarbeit analysiert. Die Rolle der Familie für ein neues Kurdistan wird vielmehr neu interpretiert und soll Reformen erfahren, wird im Kern aber nicht infrage gestellt, geschweige denn eine darüber hinausweisende Perspektive entwickelt.

Familie und Lohnarbeit

Also keine Fragestellung danach, was Frauen und auch Männer real benötigen, um die verkrusteten unterdrückenden Familienstrukturen hinter sich lassen zu können. Auch nicht danach, welche ökonomischen Grundlagen und welche Übernahmen „hausfraulicher“ Tätigkeiten gesellschaftlich neu organisiert werden müssen. Es finden sich weder konkrete Vorstellungen von neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens noch ein Hinweis auf die ökonomische Basis, die das freie Zusammenleben aller mit allen ermöglicht. Die Befreiung und Überwindung der bisherigen Geschlechterrollen kann nicht diktatorisch erfolgen, wenn dies nicht mit Perspektiven, Forderungen und Übergangsszenarien verbunden wird. Bleibt man bei den mit dem Kapitalismus verbundenen Lebensverhältnissen stehen, zieht auf jeden Fall bekanntermaßen die Frau wieder den Kürzeren. Frauenunterdrückung würde nicht aufgehoben, sondern den Erfordernissen angepasst.

Öcalan, die PKK und die PYD haben offensichtlich auch kein Konzept für die Befreiung der Lohnarbeiterinnen, dem Herzstück der marxistischen Theorie der Befreiung der Frau. Obwohl die „Hausfrauisierung“ durch den Kapitalismus als die brutalste Methode des Ausschlusses der Frauen aus der Wirtschaft angeprangert wird, fehlt ein Szenario, ein Programm oder auch nur Forderungen, wie sich die kurdische Arbeiterin aus ihrem Dilemma befreien kann. Denn Beteiligung am öffentlichen Leben, allen voran die Teilnahme am Produktionsprozess ist neben der Aufhebung der Familie die „zweite Säule“ weiblichen selbstbestimmten Lebens.

Trotz der fehlenden Analyse und Programmatik entwickeln sich in Rojava viele Frauenkooperativen, die sich das Ziel, die Frauen effektiv in die Wirtschaft einzubinden, so dass sie sich auch finanziell emanzipieren können, gesteckt haben. Kooperativen in Wirtschaftsbereichen wie Mehl-, Milch-, Käse- oder Textilproduktion und landwirtschaftlichen Erzeugnissen vergrößern sich. Private Großbetriebe gibt es fast keine, private Unternehmen haben nicht mehr als 15 – 20 Lohnabhängige. Die wenigen Großunternehmen wanderten ab oder sind mit dem syrischen Bürgerkrieg geflohen. Dazu ist zu erwähnen, dass die Großgrundbesitzer in Rojava ca. 20 % des Landes kontrollieren, es viele Kleinbauern und Dörfer gibt und die kurdische Oligarchie kein ausschlaggebender Faktor in der politischen Landschaft zu sein scheint. Mehrere tausende Hektar zuvor staatlichen Landes wurden an Besitzlose kostenlos vergeben. Die notwendigen Geräte und Maschinen wurden gratis bereit gestellt. Viele dieser neuen LandbesitzerInnen bearbeiten ihr Land als Kooperativen.

Die Tatsache, dass die Entwicklung in Rojava nur im Rahmen der syrischen Revolution und in den anderen, angrenzenden Ländern eine Perspektive hat, verdeutlicht aber auch, dass die relative Schwäche von Großgrundbesitzern und Kapitalisten nur eine Momentaufnahme ist, die sich bei einem Fortschreiten der Konterrevolution oder einer „demokratischen“ Befriedung von oben rasch ändern kann.

Strategische Ausrichtung

Grundsätzlich kann die Kooperative oder GenossInnenschaft zwar ein Mittel sein, Frauen stärker und dauerhaft in die Produktion zu integrieren wie auch die Bevölkerung im Land für eine sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft zu gewinnen. Aber das ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die Kooperative, der selbstverwaltete Betrieb ist noch immer eine Form des Privateigentum an Produktionsmitteln, die für einen Markt produziert. Zu einer Form des Übergangs zu einer anderen Gesellschaft kann sie nur werden, wenn sie in eine Strategie der Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung eingebettet ist, wenn die demokratische Revolution, als die die arabische Revolution wie die Entwicklung in Rojava begonnen hat, permanent gemacht, konsequent durchgeführt und mit den Aufgaben einer sozialistischen Umwälzung verbunden wird. Nur im Rahmen einer solchen Strategie und Programmatik ist letztlich auch die Befreiung der Frauen möglich.

Insgesamt haben das Projekt Rojava und vor allem die Verbesserungen für die Frauen einen revolutionären, vorbildlichen Charakter, auch wenn sie bisher zuerst auf die Ebene demokratischer Reformen und Institutionen bezogen sind, die ökonomische Emanzipation hinterherzieht und die Eigentumsfrage womöglich auch aufgrund der Embargo- und Kriegslage hintenan gestellt wird. Die ideologischen Begründungen, die hinter dem Projekt Rojava und damit der Frauenfrage stehen, sind aber trotzdem für uns sehr  widersprüchlich und müssen auch einer marxistischen Kritik unterzogen werden. Das trifft nicht nur auf die Herleitung der Frauenunterdrückung zu, sondern auch auf die widersprüchliche Kritik der Familie. Vor allem betrifft es, dass jedes Programm einer sozialen Befreiung der Arbeiterin, jedes Programm einer Vergesellschaftung der Hausarbeit und damit einer wirklichen Unterminierung der Familie als „Grab der Frau“ fehlt.

Trotzdem hat die Entwicklung in Rojava eine enorme Stärkung der Frau gebracht. Die Geschlechterfrage ist aufgrund der sehr guten Organisationsstrukturen der Frauen allgegenwärtig, was sich auch in den Selbstverteidigungsorganisationen und Frauenkooperativen ausdrückt. Damit ist eine Grundlage geschaffen, die patriarchalen Strukturen kompromisslos zu bekämpfen.

Das weitere Schicksal der Frauenbefreiung in Rojava wird insbesondere davon abhängen, ob die errungene Selbstverwaltung gegen den Islamischen Staat und das Assad-Regime behauptet werden kann, also letztlich vom Schicksal der syrischen Revolution. Sie wird zweitens davon abhängen, ob die demokratischen Fortschritte mit einer grundlegenden sozialen Umwälzung in Rojava, in den anderen kurdischen Gebieten und im ganzen Nahen Osten verbunden werden, um so auch die gesellschaftlichen Wurzeln der Frauenunterdrückung zu beseitigen. Dafür braucht es die weitere unbedingte solidarische Unterstützung des Frauenkampfes, des Projektes Rojava und der syrischen Revolution.

Endnoten

(1) Vgl. PJA (Partiya Jina Azad), Partei der Freien Frau, Programm, S. 66 f.

(2) Ebd., S. 14

(3) Ebd., S. 30

(4) Ebd., S. 71




Syrien: Der Charakter des Assad-Regimes

Peter Lenz, Neue Internationale 181, Juli/August 2013

In den letzten Wochen hat sich der Bürgerkrieg in Syrien zugunsten des Regimes entwickelt. Freilich können nur naive oder zynische Gemüter daraus schließen, dass die Masse der Bevölkerung auf Seiten des Regimes übergegangen sei. Vielmehr ist die Offensive Assads der  massiven Hilfe durch den russischen Imperialismus u.a. reaktionärer Verbündeter des Regimes geschuldet sowie der Hisbollah, dem gewissermaßen letzten Aufgebot Assads, das als zuverlässiger gilt als Teile der regulären Streitkräfte.

Auf der anderen Seite fehlt es der Opposition weiter an elementaren Mitteln, den Kampf effektiv zu führen. Während Britannien, Frankreich und die USA zwar erklärt haben, das Embargo gegen die Opposition offiziell zu beenden und diese mit Waffen zu unterstützen, so sind die Auswirkungen davon kaum spürbar.

Das ist kein Wunder. Das Ziel des westlichen Imperialismus besteht keineswegs darin, der syrischen Revolution zum Sieg zu verhelfen, sondern – letztlich in Absprach mit Russland – eine Übergangsregierung zu installieren, bei dem der syrische Staatsapparat wesentlich intakt bleibt.

Gesellschaftliche Verhältnisse

Weiten Teilen der deutschen Linken erscheint die Sache freilich ganz anders: In Syrien würde das Regime den Fortschritt vertreten, während die Opposition und eine revolutionäre Massenbewegung als Marionetten des Westens, der Türkei und Golfstaaten denunziert werden. Das Regime Assads würde einen „anti-imperialistischen“ Kampf führen und ein fortschrittliches gesellschaftliches Regime vertreten.

Assad war, nachdem er die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, seit langem dabei, staatliche Betriebe zu privatisieren, wovon sowohl seine einheimische bürgerlich-kapitalistische Klientel als auch diverse imperialistische und regionale Kapitalgruppen profitierten. Dazu gibt es beweiskräftige Dokumente.

So wurden die kollektivistischen agrarischen Staatsbetriebe in der Euphrat-Region in den letzten zwei Jahrzehnten privatisiert. Nutznießer waren ehemalige Grundbesitzer oder Leute aus dem Klientel Assad. (vgl. dazu: EUI Working papers, Privatisation in Syria: State Farms and the Case of the Euphrates Project, Myriam Abbsa).

Wieweit die Zusammenarbeit Assads mit IWF und EU schon fortgeschritten war, lässt sich aus Analysen der IWF (IMF Country Report No. 05/355) und Weltbank (National Indicative Programme 2007-10, Strategy Paper 2007-13) ersehen. Lobend werden hier auch die Aufweichung der Außenhandelskontrolle und die Bewegungsfreiheit für Banken sowie alle Freiheiten für den Geldverkehr erwähnt.

Mit der Freiheit der Arbeiterklasse – immerhin arbeiten 16% der Erwerbstätigen in der Industrie – war es indes nicht so gut bestellt.

Das Proletariat in den Industriebetrieben und in der Landwirtschaft hatte keinerlei Möglichkeit, eine eigene Organisation und Führung aufzubauen. Das hat natürlich Auswirkungen auf den aktuellen Verlauf der politischen und militärischen Kämpfe.

Es gab und gibt für das Industrieproletariat wie auch alle anderen Schichten der Lohnabhängigen in Syrien kaum wirkliche Rechte. Die Gewerkschaften waren staatlich kontrolliert, in ihrer internen Struktur alles andere als demokratisch. Im Grunde ähnlich wie in Ägypten, nur weitaus straffer und totaler kontrolliert. So haben sich in Syrien kaum oppositionelle Strukturen organisieren können.

Arbeiterwiderstand hat sich nur sehr klandestin organisieren können.

Die Kollaboration der KP Syriens  als Systemstütze der Assad-Dynastie hat es so aussehen lassen, dass es eine systemloyale Arbeiterschaft gebe. Das ist auch Teil der Regierungs-Propaganda. So hat sich der Präsident auch wieder am 1. Mai 2013 in einem Industriebetrieb feiern lassen.

Der Internationale Gewerkschaftsdachverband ITUC führte in seinem Jahresbericht 2012 aus: „Ausländische Arbeitskräfte können der für ihre Berufsgruppe zuständigen Gewerkschaft beitreten, jedoch nicht für ein Gewerkschaftsamt kandidieren.

Das Tarifverhandlungsrecht wird im Arbeitsgesetz von 2010 anerkannt, aber das Arbeits- und Sozialministerium verfügt über weitreichende Befugnisse, um die Eintragung eines abgeschlossenen Tarifvertrages zu beanstanden oder abzulehnen. Streiks sind zwar nicht verboten, aber das Streikrecht unterliegt angesichts drohender Strafen und Bußgelder erheblichen Beschränkungen. In bestimmten Branchen, einschließlich des Verkehrswesens und der Telekommunikationsbranche, werden Streiks von mehr als 20 Beschäftigten mit Bußgeldern und sogar Haftstrafen geahndet. Dasselbe gilt für Streiks auf öffentlichen Straßen oder Plätzen bzw. wenn Gebäude besetzt werden. Staatsbedienstete, die die Arbeit des öffentlichen Dienstes behindern, können ihre Bürgerrechte verlieren. Jede Person, die dem allgemeinen Produktionsplan schadet, kann mit Zwangsarbeit bestraft werden.“ (http://survey.ituc-csi.org/Syria.html? lang=de).

Die syrische KP

Ebenso tragen die syrische KP und deren Abspaltungen eine entscheidende Verantwortung für die heute fehlende Führung der Arbeiterklasse. Das Programm der stalinistischen KP hat ihr langjähriger Vorsitzender Bagdash zusammengefasst:

„Unserer Meinung nach besteht das Problem nicht darin, im Libanon oder in Syrien den Sozialismus aufzubauen. Alles, was wir fordern, und alles, wofür unsere wenigen Abgeordneten im syrischen und libanesischen Parlament kämpfen werden, sind einige demokratische Reformen, die von allen angestrebt werden und über die Konsens herrscht (…) Wir beteuern den Bodenbesitzern und Inhabern von Privateigentum, dass wir im Parlament die Verstaatlichung ihres Bodens und Eigentums nicht fordern und nie fordern werden. Im Gegenteil: wir wollen ihnen dadurch helfen, dass wir Bewässerungsprojekte, Düngemittelimporte und maschinelle Ausstattung verlangen. Als Gegenleistung dafür erwarten wir Gutherzigkeit den Bauern gegenüber; erwarten wir, dass ihnen geholfen wird, aus ihrem Elend und ihrer Ignoranz herauszukommen, indem das Unterrichts- und das Gesundheitswesen in das Dorf getragen werden. Wir beteuern den Großhändlern, dass wir die Konfiszierung ihrer Handelsgeschäfte, wie groß sie auch sein mögen, nicht verlangen werden. Im Gegenteil: wir wollen die Handelsbeziehungen zwischen den arabischen Ländern und ihren Nachbarn erleichtern (…) Der große Organisator und der Erbauer des Sozialismus auf einem Sechstel unseres Planeten hat stets vor der Vernachlässigung der objektiven Faktoren gewarnt (…) Wir syrischen und libanesischen Kommunisten wollen keine isolierte Fraktion sein (…) Wir lassen uns von den großen Führern des wissenschaftlichen Sozialismus und von dem größten unter ihnen, von ihrem Vervollkommner Stalin, inspirieren.“ (Bagdash, Sekretär der KP Syrien zit. n. Bassam Tibi: Die arabische Welt Frankfurt 1969, S. 23f)

Das ist genauso meilenweit von einer revolutionären Auffassung entfernt, wie sie Lenin  bezüglich revolutionärer Bewegungen in Europa und in den Halbkolonien ausgeführt hat:

„Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben, heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: „Wir sind für den Sozialismus“, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: „Wir sind für den Imperialismus“, und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen „Putsch“ zu schimpfen.

Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.

Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den wildesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, gab es Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, gab es Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewußten Arbeitern geführt.(…)

Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewußte Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhaßten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken „entledigen“ wird.“ (Lenin, “Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“, Werke Bd. 22S. 363/S.364)

Konflikte

Es ist kein Zufall, dass die syrische Revolution – noch bevor sie zu einem bewaffneten Kampf wurde – nicht von den Schichten des Industrieproletariats getragen und vorangetrieben wurde, sondern vielfach von jüngeren, nachdrängenden Schichten.

Es war ein Aufstand gegen die etablierten Schichten der Bürokratie, gegen familiäre und klientilistische Schichten der Machtstruktur in Syrien, gegen neoliberale Politik und Despotie. Nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 verschärften sich die sozialen Spannungen erheblich, doch jede Art von Widerstand wurde von Anfang an brutal unterdrückt.

Ein Teil der sogenannten Linken hat per se die Möglichkeit von Opposition gegen Assad ausgeschlossen, da dieser angeblich ja Teil des antiimperialistischen Lagers sei.

Hinter dieser Charakterisierung als „anti-imperialistisch“ wurde der Klassencharakter des syrischen Regimes zur Nebensache – als ob es in einem halb-kolonialen Land eine Nebensache sei, welche Klasse herrscht (und welche brutal unterdrückt wird), solange das Land nur geostrategisch auf der „richtigen“ Seite steht.

Hinzu kommt, dass der „Anti-Imperialismus“ Assads selbst massiv zurechtgebogen wurde. Dass das syrische Regime längst ein Bestandteil der imperialistischen Ordnung im Nahen Osten geworden war, dass z.B. die Grenze zu Israel als „befriedet“ angesehen wurde – all das tat der Charakterisierung Assads als „anti-imperialistisch“ keinen Abbruch.

Die Struktur des Widerstands

Viele Linke lehnen die syrische Revolution ab, weil sie islamistisch geprägt sei, weil die Massen viele reaktionäre Vorurteile und obendrein Hoffnungen in die westlichen Imperialisten haben. Hinzu kommt, dass unter den syrischen RebellInnen tw. reaktionäre Kräfte den Ton angeben.

Doch: wen wundert das? Nach Jahrzehnten haben sich Millionen erhoben, die von einem reaktionären Regime unterdrückt wurden. Angesichts des Fehlens von Demokratie, der Unterdrückung jeder Opposition ist es fast normal, dass viele rückständige Ideen „kultiviert“ wurden, wo umgekehrt jede Form der Entwicklung fortschrittlicher Organisationen nur sehr marginal sein kann.

Doch heißt das, dass diese ArbeiterInnen, Bauern, Jugendlichen kein Recht haben, sich gegen Tyrannei zu erheben, nur weil ihr Bewusstsein noch nicht „fortschrittlich“ genug ist?! Wie stellen sich eigentlich solche Linke die Entwicklung politischen Bewusstseins der Massen unter einer Diktatur vor? Sollen sie in den Schulen des Regimes zu „DemokratInnen“ oder gar „SozialistInnen“ ausgebildet werden?

In Wirklichkeit ist es doch umgekehrt. Die Revolution in Syrien, der bewaffnete Widerstand gegen das Regime sind Ausdruck tiefer politischer Veränderungen unter Millionen, die in Bewegung geraten sind. Diese Veränderungen bringen natürlich auch reaktionäre Ideen und Vorurteile in besonders scharfer Form nach oben, die von reaktionären Kräften wie den Dschihadisten ausgenutzt werden.

Ein solcher Kampf um die Führung einer Revolution ist letztlich in jedem Massenaufstand unumgänglich. Die Tatsache, dass dschihadistische Kräfte wie Al Nursa an Einfluss unter den Aufständischen gewinnen, bedeutet noch lange nicht, dass sie zur dominierenden Kraft unter ihnen oder in der Freien Syrischen Armee geworden wären. Seriöse Schätzungen gehen von etwa 10-20 Prozent dschihadistischen Kräften im bewaffneten Anti-Assad-Widerstand aus.

Unterstützt die kämpfende Linke Syriens!

All das bedeutet, dass die internationale Linke die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte im Widerstand gegen Assad unterstützen muss, die innerhalb der Bewegung um Hegemonie kämpfen. So endet die Erklärung der linken Kräfte, die am Weltsozialforum teilnehmen, zur syrischen Revolution“, die u.a. vom „Bündnis der Syrischen Linken”, dem “Komitee der Syrischen Kommunisten”, der “Demokratischen Kurdischen Partei (PYD)” und der “Strömung der Revolutionären Linken” unterzeichnet wurde, wie folgt:

„Der Charakter der syrischen Revolution muss klargestellt werden, um zu versuchen, die Position derjenigen zu verändern, die unter dem Vorwand, es sei ‚antiimperialistisch‘, ein mafiöses und verbrecherisches Regime unterstützen. Die Linke muss eine wirklich revolutionäre Position der Unterstützung der syrischen Revolution als integralem Bestandteil der Revolutionen in den arabischen Ländern als Ausgangspunkt für eine Zuspitzung des Klassenkampfs und ein Auslösen von neuen Revolutionen in Europa, Asien und vielleicht der übrigen Teile der Welt unter den Auswirkungen der kapitalistischen Krise beziehen. Folglich müssen wir eine Kampagne zur Unterstützung der syrischen Revolution führen; wir müssen daran arbeiten, ihre Bedingungen, ihre Schwierigkeiten und ihren im wesentlichen revolutionären Charakter gegen die mafiösen Regimes und gegen den Kapitalismus klarzustellen, dessen Überwindung wir anstreben. In diesem Sinne können wir mit einem Tag der Solidarität mit der syrischen Revolution beginnen, der in der ersten Woche des Mai 2013 von den Kräften der Linken in jedem einzelnen unserer Länder organisiert wird. Ein Vorbereitungskomitee wird hier in Tunis einen Kongress zur Unterstützung der syrischen Revolution durch die internationale Linke organisieren, wahrscheinlich im Juni 2013. Ein ständiges Koordinationskomitee, das aus dem Kongress hervorgeht, wird dafür sorgen, dass die Unterstützung für die syrische Linke und die Linkskräfte weitergeht und das Verständnis der Revolution seitens der internationalen Linken vertieft wird.“ (http://nao-prozess.de/erklaerung-der-linken-kraefte-die-am-weltsozialforum-teilnehmen-zur-syrischen-revolution/ #more-2087)




Syrien: Sieg der Revolution! Nein zur US-Intervention!

Martin Suchanek, Neue Internationale 175, Dezember 2012/Januar 2013

Während sich der Bürgerkrieg weiter zuspitzt, tritt die Frage der zukünftigen „Neuordnung“ Syriens stärker in den Vordergrund.

Wie in anderen arabischen Ländern bemühen sich alle imperialistischen und Regionalmächte darum, eine revolutionäre Massenbewegung von der Spitze her in den Griff zu bekommen. Je näher der Sturz des alten Regimes rückt, je mehr es politisch, wirtschaftlich und militärisch in die Enge getrieben wird, umso geschäftiger wird das Treiben.

Nur die russischen und chinesischen Imperialisten und der Iran halten noch mehr oder weniger verzweifelt an Assad fest – verzweifelt, weil sich auch Moskau, Peking oder Teheran die Frage stellen, ob man nicht auf das falsche Pferd setzt, ob es nicht mehr Sinn macht, auf eine „Verhandlungslösung“ zu setzen, um nach dem Fall Assads weiter Einfluss zu behalten.

Die Doha-Runde

Politisch gewichtiger sind jedoch die Versuche der USA, der EU, der Arabischen Liga (v.a. Saudi-Arabiens und Qatars) sowie der Türkei, eine „einheitliche“ politische Alternative zu Assad aufzubauen. Vor dem Treffen hatten v.a. die USA durch  Außenministerin Clinton die in sich zerstrittenen VertreterInnen der islamischen und liberalen Exil-Opposition wissen lassen, dass sie sich zusammenschließen müssten, um Aussicht zu haben, als künftige legitime Vertretung Syriens anerkannt zu werden.

Das ist nun Anfang November in Doha geschehen. Der „Syrian National Council“ (Syischer Nationalrat; SNC) mutierte zur „Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“.

Welchen Einfluss diese Helden und Führer der Opposition in Syrien selbst und unter den Aufständischen haben, ist fraglich. Auch wenn – wie im SNC – „lokale Koordinierungskomitees“ der Revolution, ein heterogener Zusammenschluss von Selbstverwaltungsorganen der von Assad befreiten Teile des Landes sowie auch einzelner Teile der „Freien Syrischen Armee“ vertreten sind oder sein sollen, so handelt es sich eher um eine Mariottengruppierung pro-imperialistischer und islamischer Kräfte, deren Hauptbasis weniger in Syrien als in den Beziehungen zu einzelnen westlichen Staaten oder – wie im Fall der Moslembrüder – v.a. zur Türkei und Qatar liegt.

Teile der Bewegung in Syrien, darunter viele lokale Komitees, aber auch die erz-reaktionäre „Al Nusra-Front“, eine militärisch starke Rebellengruppierung um Aleppo, die einen islamischen Staat errichten will, denunzierten die Doha-Runde als „verschwörerisches Projekt“.

Darin tritt die „Nationale Koalition“ allerdings die Nachfolge des SNC an. Beide sind Werkzeuge, um die syrische Revolution politisch zu enthaupten und nach dem Sturz Assads ein neues bürgerliches, pro-westliches Regime zu errichten. Will die Revolution siegen, ist ein Bruch mit der „Führung“ unter der Nationalen Koalition, wie mit allen reaktionären und bürgerlichen Kräften notwendig.

Nein zu jeder imperialistischen Intervention!

In diesem Kontext müssen auch die Drohungen mit offener Intervention durch die USA und die NATO gesehen werden. Wie immer wieder in solchen Fällen werden sog. „rote Linien“ gezogen, die dann als Vorwand für eine Militärintervention dienen – im Fall Syriens geht es dabei umchemische Waffen und deren Einsatz gegen Bevölkerung.

Natürlich kann niemand auf die Aussagen des syrischen Regimes vertrauen, das nie zu tun. Doch darum geht es nicht.

Alle diese Szenarien dienen letztlich auch nicht dem Schutz der Zivilbevölkerung, sondern dazu einen „humanitären Grund“ vorweisen zu können, um gegebenenfalls militärisch einzugreifen.

Die Zusammenziehung von Truppen der Türkei an der Grenze sowie die Stationierung von Patriot-Raketen durch USA und BRD dienen im Grunde  nur dazu, auf eine solche mögliche Option einzustimmen und diese, wenn nötig, auch rasch umsetzen zu können.

Für die syrische Revolution wäre das kein Fortschritt, sondern eine Katastrophe. Jeder Einfluss des Imperialismus muss daher bekämpft und zurückgewiesen werden.

Eine westliche Verschwörung?

Das syrische Regime wie alle Assad-Freunde in Russland, China, aber auch im Westen betrachten die Gründung dieser „Oppositionsblöcke“ als Beweis dafür, dass die syrische Revolution von außen gesteuert, wenn nicht überhaupt von Beginn an inszeniert worden wäre.

Dabei zeigt schon allein die Frage nach der realen Basis von SNC und der „Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“, dass diese eben keineswegs „die Führung“ der kämpfenden Aufstandsbewegung ausmachen. Ihr Einfluss im Land ist in den letzten Monaten oft eher zurückgegangen, weil sie als korrupt und willfährig gegenüber den ausländischen Mächten gelten. Neben seiner reaktionären Haltung zu einer imperialistischen Intervention hat der SNC in der Vergangenheit auch politische Zugeständnisse bei anderen wichtigen Fragen, z.B. in der Frage der von Israel besetzten Golan-Höhen gemacht, die nun nicht mehr befreit, sondern über „Verhandlungen mit der internationalen Gemeinschaft“, also am St. Nimmerleinstag wiedererlangt werden sollen.

In den letzten Monaten sind zudem auch größere Risse zwischen dem SNC und den „Lokalen Koordinierungskomitees“ aufgetreten. Diese – eher ein Dachverband verschiedener Selbstverwaltungsstrukturen als eine einheitliche Gruppierung – nehmen gegenüber der offiziellen Opposition eine zwiespältige Haltung ein. Einerseits kritisieren sie diese und haben eine Reihe von Sitzungen sabotiert, andererseits brechen sie auch nicht mit ihr.

Führungsschwäche und Krise der syrischen Revolution

Das verdeutlicht eine generelle Führungsschwäche der syrischen Revolution. Während gerade in den vom Regime befreiten Gebieten Koordinierungskomitees und zahlreiche lokale Komitees zur Organisation der sozialen, politischen und sonstigen Bedürfnisse entstanden, ist deren politische Perspektive in der Regel sehr verschwommen und allgemein.

Was für die lokalen Strukturen gilt, gilt natürlich auch für die KämpferInnen im Bürgerkrieg. Die „Freie Syrische Armee“ (FSA) ist trotz verschiedener Versuche, sie unter einem Kommando zu vereinheitlichen, ein heterogener Block lokaler KämpferInnen, von Deserteuren, Jugendlichen und weltanschaulich bestimmten Milizen.

Das spiegelt das Fehlen größere politischer Parteien, die im Land verwurzelt wären, v.a. aber das Fehlen einer Arbeiterpartei wider, die der Revolution gegen Assad eine gesellschaftliche, soziale Perspektive weisen könnte.

Dieses Fehlen von größeren linken und proletarischen Organisationen wiederum ist die eigentliche Basis der Stärke der „Exilpolitiker“ in der Opposition. Sie sind nicht in erster Linie Ausdruck einer tradierten, fest verwurzelten politischen Meinung im Land, sondern nützen auch ein politisches Vakuum aus, das nicht zuletzt selbst die Folge von Jahrzehnten der Diktatur Assads ist.

Natürlich versuchen Imperialisten, Islamisten, Regionalmächte und deren jeweilige Gefolgsleute nun, dieses Vakuum zu füllen. Das tun sie nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch, indem sie versuchen, dass „ihre“ militärischen Strukturen besser ausgerüstet sind als andere. Während ein großer Teil der Milizen der FSA weiter nur mit leichten Waffen kämpft, die aus Beständen der syrischen Armee oder über den Schwarzmarkt aus dem Libanon oder Irak gekauft werden, so versuchen Moslembruderschaft und Salafisten sicherzustellen, dass nur ihre KämpferInnen bessere Waffen und Ausrüstung erhalten – und somit nicht nur mehr Kampfmittel in ihren Händen konzentrieren, sondern auch ihr Prestige als „beste Soldaten“ erhöhen können.

In dieser Situation ist es die Aufgabe der linken, fortschrittlichen, aus der Arbeiterbewegung kommenden Kräfte, ihrerseits eine politische Kraft aufzubauen, die die Revolution vorantreiben und um die Führung der Bewegung kämpfen kann. Auch wenn die syrische Linke schwach ist, so gibt es sehr wohl Strukturen, in die mit einer solchen Perspektive interveniert werden kann. Beispiele dafür sind die „Nationale Sammlung der Kräfte und Koordinationen der Revolution“, die v.a. AktivistInnen der Regionen Hama, Deraa und Dir Ezzor umfasst; die Koalition Watan, die mehrere linke, kämpferische Gruppen umfasst, sowie Gruppierungen wie die „Koordination syrischer Kommunisten“, die sich v.a. auf Jugendliche stützen dürfte, und die Gruppe „Linke Perspektive“ (vergleiche dazu auch den Artikel von „Ghayath Naissé: Kritische Anmerkungen zur syrischen Opposition, in SoZ, 3.11.12).

Ursachen und Charakter der syrischen Revolution

Um die Aufgaben und Möglichkeiten von RevolutionärInnen in Syrien zu verstehen, ist es notwendig, den Charakter der syrischen Revolution selbst zu begreifen.

Gerade in der deutschen Linken gilt vielen die Revolution als Kampf von „Islamisten“ und/oder des Westens gegen ein anti-westliches Regime. Im Extremfall wird Assad zu einem Bollwerk gegen Imperialismus und Neo-Liberalismus verklärt, von realitäts-näheren Linken als eine von zwei reaktionären Alternativen betrachtet, bei der sich die Linke neutral verhalten sollte.

Dass das Assad-Regime „anti-imperialistisch“ wäre, ist einfach ein Mythos, der leicht widerlegbar ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich Syrien rasch Richtung USA orientiert. Der Krieg gegen den Irak wurde unterstützt und Assad reihte sich in die „Koalition der Willigen“ unter US-Führung ein. Diese Zusammenarbeit war keineswegs nur eine „Geste“, sondern zeigt sich z.B. ganz unmittelbar bei der Zusammenarbeit von CIA und syrischem Geheimdienst bei der illegalen Verschleppung und Folterung vermeintlicher „Terroristen“.

Die von Israel besetzen Golan-Höhen sind die „friedlichsten“ Außengrenzen des zionistischen Staates. Längst hat sich der „Anti-Zionismus“ Assads als das entpuppt, was er immer schon war, als leere Hülle zur eigenen Legitimation. Das haben auch die PalästinenserInnen in den Flüchtlingslagern in Syrien längst durchschaut, die sich daher mit der Revolution gegen Assad solidarisieren.

Auch das kurdische Volk wurde vom syrischen Regime unterdrückt und jahrzehntelang nicht als nationale Minderheit anerkannt. Die Revolution brachte den KurdInnen „plötzlich“ diese Anerkennung und mehr Autonomie, als sie je hatten. Aber nur ein Dummkopf könnte davon träumen, dass diese Bestand hätte, sollte sich Assad doch noch retten können.

Noch vor dem Ausbruch der Massenbewegung galt Syrien als enger Verbündeter der Türkei – was die relativ Regime-freundliche Haltung der Türkei in den ersten Monaten der Protestbewegung verständlich macht.

So wie andere Verbündete rückte Ankara von Assad ab, als klar wurde, dass sein Regime nicht mehr zu halten sein wird. Nur so sehen sie, dass ihre geopolitischen Interessen gesichert werden können und zugleich verhindert werden kann, dass keine „unkontrollierbaren“ Zustände nach dem Sturz von Assad entstehen.

Umgekehrt macht Assads Konflikt mit den westlichen Mächten aus ihm noch lange keinen „Anti-Imperialisten“. Erstens ist er ja noch immer mit anderen Imperialisten eng verbunden, ja sein Überleben hängt am Bündnis mit Russland und China.

Zweitens ist der ganze Inhalt seines „Anti-Imperialismus“ eben kein Kampf gegen eine imperialistische Besatzung (wie es der Kampf in Afghanistan oder im Irak von Beginn an war), sondern der eigentliche Inhalt ist die Sicherung der Klassenherrschaft der syrischen Bourgeoisie und ihres klientelistischen Staates. Der eigentliche Inhalt des Kampfes ist es, die Herrschaft über die Arbeiterklasse, die Bauern, die städtischen Armut und auch große Teile des Kleinbürgertums wieder zu errichten.

Dazu hat das Regime Assad zu Mitteln der Repression gegriffen, die an Barbarei kaum zu überbieten sind. Bis heute sind 40-50.000 Menschen seit Beginn der Massenbewegung gegen das Regime 2011 getötet worden. Rund eine halbe Million wurde zu Flüchtlingen, die Zahl wird wahrscheinlich weiter drastisch steigen.

Gegen dieses Regime war es nicht nur legitim, sondern einfach unverzichtbar, sich bewaffnet zur Wehr zu setzen. Alles andere ist leeres Gerede. Schon sehr früh hatte Assad nicht nur auf Massendemonstrationen, sondern selbst auf Leichenzüge schießen lassen. Ohne die Schaffung der FSA, ohne Deserteure, die sich bewaffnet zur Wehr setzen, wäre die Bewegung einfach tot gewesen – sie hätte kampflos kapitulieren müssen.

Soziale Frage

Dass Assad so brutal reagierte, war natürlich nicht bloß Ausdruck besonderer Skrupellosigkeit. Der Sturz Mubaraks und Ben Alis hatte ihm und seiner Führungsschicht vor Augen geführt, dass ein „Reformprozess“ sein Ende hätte einläuten können.

Mehr als den Assad-Freunden war ihm eben klar, dass die Masse der Bevölkerung durch einen riesigen Apparat aus Armee, Paramilitärs und Geheimdiensten brutal unterdrückt wurde – insgesamt gut eine halbe Million stark in einem Land von 20 Millionen EinwohnerInnen!

Ihm war nur zu bewusst, wie sich die soziale Lage in Syrien aufgrund eines Jahrzehnts des Neoliberalismus massiv verschärft hatte. Von 2000 bis 2010 stieg der Anteil der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, von 11 auf 33 Prozent – rund 7 Millionen Menschen! Die Arbeitslosenrate lag zwischen 20 und 25 Prozent, bei Menschen unter 25 bei 55 Prozent.

Schon 2007 galten 2 Millionen (also rund 10 Prozent) der Bevölkerung als „besonders arm“, d.h. sie hatten nicht genug Einkommen, um ausreichend Nahrung zu kaufen. Besonders hart davon betroffen war die Land-Bevölkerung (62 Prozent). Das war die „soziale“ Seite der neoliberalen Politik, von der umgekehrt die Stützen des Regimes Assad, die Staatsbürokratie und großstädtische Bourgeoisie massiv profitierten.

Schon vor Ausbruch der Revolution 2011 kam es seit dem Mai 2006 immer wieder zu Protesten von ArbeiterInnen, Jugendlichen und BewohnerInnen der Armenviertel mit der Polizei.

Dass die Revolution stark in der sunnitischen Bevölkerung verwurzelt ist, hat daher im Grunde keine religiösen, sondern soziale Ursachen – auch wenn das Regime im Grunde den Bürgerkrieg zu einem religiösen Krieg pervertieren will.

Hier liegen die eigentlichen Wurzeln der syrischen Revolution – und hier liegt auch ihre Lösung. Was als demokratische Revolution, als Kampf für Freiheit und demokratische Rechte begann, hat seinen Ursprung nicht nur im der despotischen Unterdrückung, sondern auch in der Ausbeutung und Verelendung der Arbeiterklasse, der Bauern, ja selbst größerer Teile des städtischen Kleinbürgertums.

Die syrische Revolution kann daher ihre eigentlichen Ziele nur erreichen, wenn sie zu einer sozialistischen wird, wenn die Arbeiterklasse zur führenden Kraft wird. Nur die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die den syrischen Staats- und Repressionsapparat, auf den sich das Regime stützt, vollständig zerschlägt und durch Arbeiter-, Bauern und Soldatenräte und eine bewaffnet Miliz ersetzt, die diesen Räten untergeordnet ist, kann die politische Voraussetzung für eine Reorganisation des Landes schaffen. Unter diesem Regime werden nicht nur die Massen von politischer Unterdrückung befreit, auch die nationalen Minderheiten – allen voran die KurdInnen – würden ihr Selbstbestimmungsrecht bis hin zum Recht auf staatliche Unabhängigkeit erhalten.

Nur eine Arbeiter- und Bauernregierung kann die Basis legen für eine Verbesserung der sozialen Lage der Massen durch die entschädigungslose Enteignung der Kapitalisten, der imperialistischen Investoren und der Großgrundbesitzer, durch ein revolutionäres Agrarprogramm und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft zur Reorganisation der syrischen Wirtschaft. Eine solche Regierung würde zugleich mit aller Macht den Kampf gegen den Imperialismus, den Zionismus und die reaktionären Regime der Region unterstützen, um so den Kampf für die Errichtung Vereinigter sozialistischer Staaten des Nahen Ostens voranzubringen.