Auf der Lauer: Union und FDP wollen Streikrecht angreifen

Jaqueline Katherina Singh, Neue International 281, April 2024

Alle Motoren stehen still, wenn die Gewerkschaft es nur will. Oder so ähnlich. Stillstanden in den letzten Wochen nämlich die unterschiedlichsten Verkehrsmittel, teilweise kam es zu Überschneidungen mehrerer Arbeitskämpfe. Gestreikt haben nämlich GDL, Cockpit und kommunale Verkehrsbetriebe. Höchste Zeit, könnte man angesichts der steigenden Preise der letzten Jahre meinen. Aber das sehen natürlich nicht alle so.

Mythos Streiknation

Begleitet wurden die Streiks von einem medialen Orchester, das – wie zu erwarten – die Töne nicht ganz traf. Gefühlt läuft es in diversen Redaktionen so ab: Streiks von der GdL, von Cockpit? Endlich mal wieder den eigenen Frust kompensieren, indem man über genervte Fahrgäste schreiben kann! Zwar gibt es auch moderate Berichterstattungen, aber der Grundton ist klar. Überraschend ist das wenig, bedenkt man die Hetzkampagnen gegen Weselsky in der Vergangenheit. Trotzdem ist eines auffällig: Es wird das Bild von massenhaften Streiks gezeichnet. Ob Tagessschau, Süddeutsche oder FAZ: Alle haben im letzten Monat attestiert, dass Deutschland ein Streikland ist.

Dass das eine Lüge ist, wird schon im europäischen Vergleich klar: 2020/21 wurde in Frankreich etwa 79 Tage im Jahr aufgrund von Streiks nicht gearbeitet, in Belgien waren es 57 Tage, in Spanien etwa 30 Tage. In Deutschland dagegen waren es nur etwa 13 Tage – 4 Tage weniger als im Zeitabschnitt von 2010 – 2019 laut dem Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI). Dies bezieht sich dabei auf den Jahresdurchschnitt der Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte und bezieht Streiks oder Aussperrungen mit ein. Doch nicht nur medial wird Stimmung gemacht. Dass Union und FDP da nicht lange auf sich warten lassen, ist klar. Insbesondere die Streiks von ver.di und der GDL haben es ihnen angetan.

Drohende Einschränkungen

Dabei ist sich Gitta Connemann, Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion nicht zu schade, in populistischer Manier gegen die Kampagne #wirfahrenzusammen zu wettern. So im Artikel „Braucht es andere Streikregeln?“ auf der Website der CDU: „Ver.di streikt. Fridays for Future streikt. Offiziell geht es um unser Klima. Doch stimmt das wirklich? […] Es geht nur sehr vordergründig um das Klima – und schon gar nicht um Gehälter oder Arbeitszeiten. Das sind politische Streiks. Diese aber sind unzulässig.“ Dass das nicht stimmt, ist klar. Doch diese Kampagne dient mehr war als Mittel, um einen anderen Vorstoß populär zu machen: weitere Einschränkungen des Streikrechts.

Die Töne Connemanns, kritische Infrastruktur müsse geschützt werden, stoßen auch in der FDP auf offene Ohren. Laut Generalsekretär Bijan Djir-Sarai müsse dafür gesorgt werden, „dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt und eine maßlose Streikgier, wie wir sie erlebt haben, in Zukunft unterbunden wird“. Dass die freiheitlichen Werte der Liberalen nur für die Arbeit„geber“:innen zählen, überrascht wenig. Doch was bedeutet das konkret? Ein Gesetzentwurf liegt noch nicht vor. Bisher heißt es, dass in der Zukunft eine Initiative im Bundestag geplant werden solle. Dabei vertritt die CSU die Ansicht, dass Streiks in Bereichen der kritischen Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge an Bedingungen geknüpft werden sollten:

  • ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vorab,
  • eine Mindestfrist für die Ankündigung eines Streiks,
  • verpflichtende Vereinbarungen der Tarifparteien zur Mindestversorgung und von Notdiensten.

Das soll nicht nur den Transportsektor treffen, sondern auch den Gesundheitsbereich, die Energie- und Wassersorgung. Als Inspiration dienen hierbei die Einschränkungen in Spanien, die dazu führen, dass zu Stoßzeiten 75 % (!) aller Züge fahren müssen und sonst 50 %, oder das italienische Streikrecht, was seit den 1990er Jahren besteht und massive Eingriffe und Verbote mit sich zieht. So wurde beispielsweise ein geplanter 24-stündiger Generalstreik im November 2023 auf  vier Stunden heruntergekürzt und teilweise ein Streikverbot ausgesprochen.

Was bedeutet das konkret?

Dass Deutschland – neben Großbritannien – bereits jetzt eine der restriktivsten Streikregelungen hat, spielt im Interesse der Arbeit„geber“:innen eine Nebenrolle. Hierzulande ist Streikrecht vor allem Richter:innenrecht – und da diese im Falle der EVG, aber auch GDL anscheinend zu lasch reagiert haben (also die Streiks nicht verboten haben), braucht es nun ein konkretes Gesetz. Den krassesten Angriff stellt dabei das verpflichtende Schlichtungsverfahren dar.

Die bremsende Rolle von Schlichtungsverfahren wurde zuletzt bei der TVöD-Runde 2023 deutlich. Hier trafen ver.di und der VKA eine Vereinbarung, die eine der beiden Seiten dazu verpflichtet, einer Schlichtung zuzustimmen, wenn es die andere wünscht. Wie schon bei der Konzertierten Aktion spielte diese in den Köpfen der ver.di-Verhandlungsführer:innen eine Rolle bei ihrer „Taktikfindung“. Gleichzeitig ermöglichte sie ihnen auch, sich rhetorisch bis zur Schlichtung kämpferischer darzustellen, um danach durch sie den sozialpartner:innenschaftlichen Kompromiss auszuhandeln. Da während des Zeitraums der Schlichtung keine Streiks stattfinden dürfen, kann diesen mit der Zeit die Luft ausgehen. Doch das Perfide am Vorstoß der CSU ist das obigatorische Element. Während die Schlichtungsverfahren aktuell durch vorauseilenden Gehorsam der Gewerkschaftsbürokratie zustande kommen – und theoretisch aufgekündigt werden können –, kann eine verpflichtende Schlichtung dazu führen, dass die Arbeit„geber“:innenseite die Verhandlungen auflaufen lassen kann – nur um dann in die Schlichtung gehen zu können.

Kein Zufall, sondern Klassenkampf von oben

Diese Vorstöße tragen einen klaren Charakter. Auch wenn sie nicht unmittelbar umgesetzt werden, zeigen sie die Linie klar auf, die sich ein Teil des deutschen Kapitals wünscht. Während in der Pandemie „wir alle zusammenhalten mussten“, sollen Reallohnverluste die dadurch, sowie durch die Inflation und gestiegenen Energiepreise entstanden sind, nicht wieder ausgeglichen werden.

Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage ist das nicht verwunderlich. Dabei sollte nicht davon ausgegangen werden, dass diese ein kurzes Intermezzo bleibt, sondern Teil einer globalen Entwicklung als Folge der Wirtschaftskrise nach der Pandemie ist. (Siehe den Artikel zur deutschen Wirtschaft in dieser Ausgabe der NI). Zentral ist, dass der Verteilungsrahmen insgesamt knapper wird – und das Modell der Sozialpartnerschaft, welches seit Jahrzehnten der SPD als Erfolgsrezept gilt, nicht für immer in der aktuellen Form aufrechterhalten werden kann. Dementsprechend braucht es andere Lösungen fürs Kapital.

Unzureichende Antworten

Angesichts dieser Situation braucht es eine klare Linie. Dass der DGB sich gegen weitere Einschränkung des Streikrechts ausspricht, ist positiv (und auch nicht selbstverständlich, wenn man seine Rolle beim Tarifeinheitsgesetz betrachtet). Doch die sonstige Linie Yasmin Fahimis lässt Schlimmeres befürchten. Es scheint so, dass die Augen davor verschlossen werden (sollen) in welcher politischen Situation man sich befindet. So betonte die DGB-Vorsitzende, in Deutschland gelte ein „restriktives Streikrecht“. Auch wenn dies eine Antwort auf Connemanns Unterstellung ist, dass die Kampagne #wirfahrenzusammen ein politischer Streik sei, so zeigt diese, womit man rechnen kann, wenn es zu Angriffen darauf kommt: „Politische Streiks wie in Frankreich sind bei uns ausgeschlossen“, sagte sie. „Wenn jetzt also das Streikrecht in Frage gestellt wird, ist das entweder reiner Populismus oder ein leichtfertiges Spiel mit Verfassungsrechten.“

Auch hier wird der vorauseilende Kotau deutlich. Statt klarer Kampfansagen gegen drohende Eingriffe gibt es vorab Beschwichtigung. Schließlich ist man selbst ja vernünftig – und die anderen eben nicht. Gegenüber tatsächlichen Angriffen bringt so eine Strategie letzen Endes nichts.

Politische Antwort notwendig

Deswegen braucht es zum einen klare Ablehnung, zum anderen aber auch erste Schritte zur Organisation der Gegenwehr. Hierbei müssen die aktuellen Angriffe aufs Streikrecht kollektiv diskutiert – und Gegenmaßnahmen koordiniert – werden. Denn was in Deutschland nun lose angekündigt worden ist, wurde letztes Jahr im Juli in Britannien unterm „Strikes (Minimum Service Level) Act“ teilweise umgesetzt. Proteste dagegen gibt es weiterhin und eine europäische Initiative nicht nur gegen diese Angriffe, sondern für Verbesserungen des Streikrechts. Alle fortschrittlichen Kräfte sollten sich in so einem Rahmen nicht nur für gemeinsame Aktionstage aussprechen und die vollständige Aufkündigung von Schlichtungsverfahren, sondern auch entschieden dafür eintreten, dass Streiks gegen diese Angriffe notwendig sind. Dies würde sie dann zu politischen Streiks machen, was an der Stelle nicht nur Fahimi nicht gefallen würde. Schließlich heißt es auch: Alle Gesetzentwürfe stehen still, wenn die Gewerkschaft es nur will.




Politischer Streik in Deutschland: Wie kommen wir dahin, am 8. März zu streiken?

Ramona Summ, Valentin Lambert, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

„Wenn wir streiken, steht die Welt still“. Dieser Slogan untermalte 2018 den feministischen Generalstreik in Spanien zum Internationalen Frauenkampftag. Die spanischen Frauen haben bezahlte und unbezahlte Arbeit niedergelegt und so ökonomischen und gesellschaftlichen Druck ausgeübt, indem hunderte Züge ausfielen, Straßen blockiert wurden und Schulen sowie Kitas geschlossen blieben. Auch in Deutschland ist diese Parole verwendet worden. Der Unterschied:  Hierzulande wird in der Regel die Arbeit nicht niedergelegt, sondern die Wut über die alltägliche sexistische Unterdrückung durch Demonstrationen und Kundgebungen an die Öffentlichkeit getragen. Diese Aktionen sind wichtig und zeigen, wie viele Menschen auch hierzulande für Frauenforderungen auf die Straße gehen. Doch es wirft auch die Frage auf: Wie kommen wir in Deutschland dazu, dass alles stillsteht? Denn Gründe zu streiken, gibt es allemal.

Was möglich wäre

Erinnern wir uns an die Coronapandemie: Während alle ihr Mitgefühl und Unterstützung durch Klatschen am Fenster oder auf dem Balkon kundtaten, musste das medizinische Personal massive Überstunden zu schlechten Arbeitsbedingungen schieben. Das Gesundheitssystem stand damals vor dem Kollaps und wird seitdem auch nur durch die Bereitschaft des existierenden Personals zusammengehalten. Von der miserablen Versorgung bezüglich Abtreibung sowie Häusern zum Schutz vor Gewalt ganz zu schweigen. Frauen sind die doppelten Krisenverliererinnen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hat sich weiter verschärft. Kurzum: Die Liste an Missständen ist ewig lang. Doch all das muss nicht so bleiben, sondern sind Dinge, die verändert werden könnten. Demos, Petitionen, vereinzelte Proteste reichen jedoch dafür nicht aus. Um den nötigen Druck zu erzeugen, für feministische Forderungen zu kämpfen, bedarf es eines ökonomischen Stillstandes. Denn erst wenn die Profite des kapitalistischen Systems nicht mehr fließen, wird eine politische Kraft ausgespielt, die die Kapitalistenklasse nicht mehr ignorieren kann.

Stellen wir uns jetzt vor, dass der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) mit seinen 5,6 Millionen Mitgliedern sich dazu entscheiden würde, für einen Streik einzutreten: Es gäbe in tausenden von Betrieben Vollversammlungen, wo man nicht nur über die Forderungen reden könnte, sondern auch Raum hätte, darüber zu diskutieren, wie und wo Sexismus im Betrieb sowie in der Gesellschaft stattfinden. Das würde nicht nur helfen, die Forderungen durchzusetzen, sondern auch einen Beitrag leisten, wie innerhalb der Gesellschaft über antisexistische Themen geredet wird. Wie also kommen wir dahin?

Ein kurzer historischer Abriss

Während in vielen EU-Ländern politische Streiks rechtlich erlaubt sind und wir in den letzten Jahrzehnten Generalstreiks in Belgien oder Frankreich miterleben konnten, ist im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit verankert, dass hier keine politischen Streiks, geschweige denn Generalstreiks, möglich sind. Doch woran liegt das genau? Rechtlich ist ein Verbot von politischen Streiks nicht geregelt. Das Grundgesetz schützt das Recht zu streiken und auch historisch gab es in der deutschen Geschichte immer wieder politische Streiks – wenn auch deutlich weniger als in anderen Ländern. Beispiele dafür sind aus der Vergangenheit der Generalstreik für die Beendigung des 1. Weltkrieges 1918, welcher trotz Verbots Hunderttausende auf die Straßen brachte oder der 1948 für die Demokratisierung und Sozialisierung der Wirtschaft. Doch auch in der neueren Geschichte kam es zu Protesten: 1996 gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder 2007, als die IG Metall zu einer Arbeitsniederlegung aufgerufen hatte, um gegen die Rente mit 67 zu protestieren. 2023 sorgte der Schulterschluss zwischen ver.di und Fridays For Future (FFF) für hitzige Debatten, ob dies denn überhaupt legitim sei oder nicht schon ein politischer Streik. FFF unterstützte mit der Kampagne #wirfahrenzusammen insbesondere die Forderungen des ÖPNV in den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes und setzte auf Streikkundgebungen Akzente und Forderungen für eine nachhaltige Verkehrswende. Woher kommt also die Annahme, dass politische Streiks verboten sind?

Scheinbares Verbot und Angriffe auf das Streikrecht

Dies leitet sich aus einem Urteil des Freiburger Landgerichts von 1952 ab. Damals streikten Beschäftigte der Zeitungsbetriebe für mehr Rechte im Betriebsverfassungsgesetz. Das Gericht urteilte dabei, dass die Streiks rechtswidrig sind, unterstrich aber ausdrücklich, dass sie nicht verfassungswidrig sind: „Sollte durch vorübergehende Arbeitsniederlegung für die Freilassung von Kriegsgefangenen oder gegen hohe Besatzungskosten oder gegen hohe Preise demonstriert werden, dann könnte dieser politische Streik wohl kaum als verfassungswidrig angesehen werden.“

Das im Grundgesetz festgeschriebene Recht zu streiken ergibt sich aus dem Artikel 9 Absatz 3. Dort wird geregelt, dass Arbeitskämpfe „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ geführt werden können. Ein Grundrecht auf Streik, losgelöst von seiner funktionalen Bezugnahme auf die Tarifautonomie, gewährleistet der Artikel allerdings nicht. Darüber hinaus wurde in den vergangenen Jahrzehnten das Streikrecht immer weiter ausgehöhlt, während zeitgleich die Arbeitsbedingungen sich verschlechterten durch Privatisierung sowie Ausbau des Niedriglohnsektors. Beispiele dafür sind das Gesetz zur Tarifeinheit oder die diversen Schlichtungsvereinbarungen, die dazu genutzt werden, „Ruhepausen“ in Streiks zu erzwingen.

Kurzum: In Deutschland ist Streikrecht Richter:innenrecht. Ein politischer Streik ist faktisch möglich. Er ist nicht explizit verboten, bestehende Gesetze legalisieren jedoch nur Streiks für Tarifverträge. Diese Begrenztheit wird jedoch von der internationalen sowie europäischen Rechtsprechung kritisiert und Jurist:innen wie Theresa Tschenker meinen, dass die Grenzen des Legalen z. B. verschoben werden können. Zu Recht sieht sie in den Tarifkämpfen um Entlastung der Krankenhausbeschäftigten das Manko, dass sie nicht am Finanzierungssystem gerüttelt hätten. Dies ist sicher einer der Gründe, warum diese Bewegung dem Kahlschlag durch die jüngsten Lauterbach’schen Krankenhaus„reformen“ wehr- und hilflos gegenübersteht. Sie fordert: „Man müsste die Rechtsprechung zum Verbot des politischen Streiks herausfordern. Dazu bräuchte es einen bundesweiten Krankenhausstreik … Es müsste klar werden, dass alle Beschäftigten dafür streiken, dass die Finanzierung geändert wird …“ Auch die Beispiele nach 1952 machen deutlich, dass es eher eine Frage der Entschlossenheit bleibt als eine der Rechtslage. Hinzu kommt, dass, objektiv betrachtet, selbst ein existierendes Verbot nicht bedeutet, dass man dieses bei massenhaften Protesten nicht auch kippen könnte – schließlich ist der politische Streik ein notwendiges Mittel, um Druck auszuüben. Als Marxist:innen lassen wir uns nicht von den Gesetzen des bürgerlichen Staates begrenzen und die Rechtsprechung vertritt die Interessen des deutschen Staates und des Kapitals, indem durch Verbot eines Streiks keine Profiteinbußen auf Kosten der Kapitalist:innen anfallen. Natürlich könnten Konsequenzen drohen, aber im Falle einer Bewegung könnten Repressionen mit erneuten Streiks abgewehrt werden. Was also hindert uns daran zu streiken?

Der Unwillen der Gewerkschaften

Eines der häufigsten Argumente ist, dass die Gewerkschaften Schadenersatzforderungen befürchten, wenn sie zu einem Streik aufrufen, der nicht den rechtlichen Kriterien entspricht. Man sollte meinen, dass der DGB sich zu wehren wüsste und seine Mitgliedschaft tatkräftig dagegen mobilisieren könnte. Doch so einfach ist das nicht. Denn in der Realität sehen wir selbst bei bloßen Tarifrunden ein Anbiedern ans Kapital statt kämpferischer Streiks, wie die Beschäftigten bei den den Tarifverträgen TVöD, TV-L , der Post und Bahn am eigenen Leibe gespürt haben. Zehntausende Neueintritte zeigten die enorme Kampfkraft,  stattdessen kam es jedoch zu enttäuschenden Reallohnverlusten bei den Abschlüssen. Mit zahlreichen Trickser- und Zahlendrehereien wird versucht, diese als Erfolge zu verkaufen. Nullmonate und überlange Laufzeiten, die vorher kategorisch abgelehnt wurden, wurden auf einmal akzeptiert. Der Informationsfluss, wie der Abschluss denn zu bewerten sei, läuft einseitig und die Gewerkschaft behält sich hier ein Informationsmonopol vor. Möglichkeiten, sich über den Abschluss auszutauschen und gegebenenfalls weitere Schritte zu diskutieren, gibt es wenig. Der vermeintlich demokratische Prozess zur Befragung aller Gewerkschaftsmitglieder über das Ergebnis ist tatsächlich nicht rechtlich bindend. So verkommen die Tarifrunden zu reinen Ritualen und dienen lediglich der

Abwehr der schlimmsten Verelendung. Aber wieso? Die Verantwortlichen der Misere sind schnell gefunden. Es ist die Gewerkschaftsbürokratie und deren Programm der Sozialpartnerschaft.

Wurzeln der Bürokratie und Sozialpartnerschaft

Die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmer:innen sorgt für ein vermeintlich harmonisches Miteinander zwischen Arbeiter:inneninteressen und denen des Kapitals gemäß dem Sprichwort „zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig“ und basiert auf der Idee der kapitalistischen Mitverwaltung. Reformistische Politiker:innen in den Führungen der Gewerkschaften, der Betriebsräte in den Großkonzernen, der SPD, aber auch der Linkspartei setzen in ihrer Politik auf die Strategie der Zusammenarbeit mit vermeintlich „vernünftigen“ Teilen der herrschenden Klasse. Letzten Endes versprechen sie an der Regierung, „das größere Übel“, also noch mehr Entlassungen und Sozialabbau, zu verhindern – und bereiten damit nur ebendieses vor, indem sie die Klasse spalten und ihre Kampfkraft schwächen. Die Gewerkschaftsführungen und Betriebsräte spielen dasselbe Spiel in der Hoffnung, dass Lohnverzicht und Kurzarbeit Arbeitsplätze sichern. Doch zeigt es vor allem eins: dass sie Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen haben, wohingegen die objektiven Interessen der Beschäftigten dem diametral gegenüberstehen.

Diese  Politik wird von der Gewerkschaftsbürokratie getragen. Dabei gibt es Momente, in denen sie gezwungen ist, zu mobilisieren und radikal aufzutreten. Denn ihre Position ergibt sich eben daraus, dass sie als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital fungieren kann – im Interesse der Beschäftigten Verbesserungen erkämpfen, aber eben nur so viel, dass es dem Kapital nicht schadet, um „den eigenen Standort“ und die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu sichern. Dabei entwickelt sie als bürokratische Schicht selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Dass sie sich etablieren konnte, ist ein historischer Prozess, den wir an dieser Stelle nicht näher beleuchten können. Gefördert wird das aber durch die Extraprofite und Überausbeutung der halbkolonialen Welt. Auch wenn es sicher Individuen gibt, die es als Gewerkschaftssekretär:innen gut meinen – wir können nicht auf den guten Willen Einzelner  vertrauen – insbesondere nicht, wenn deren Position auf Überausbeitung von Kolleg:innen in anderen Ländern basiert.

Das wirft berechtigterweise die Frage auf: Kann man sein Vertrauen in solche Hände legen? Die klare Antwort lautet: Nein. Doch es hilft nicht, sich komplett von den existierenden Strukturen der Gewerkschaften abzuwenden. Schließlich zeigen die Beispiele aus anderen Ländern, was möglich sein könnte. Deswegen ist es notwendig, die existierenden Tarifkämpfe zu politisieren sowie systematisch gegen Gewerkschaftsbürokratie und Sozialpartnerschaft vorzugehen.

Klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen!

Es steht also an, den existierenden Interessenkonflikt offenzulegen und weiter zu politisieren. Das kann beispielsweiseweise bedeuten, konkret aufzuzeigen, dass unser Geld nicht weg, sondern schlichtweg nach oben umverteilt wurde, wie wir an den Abschlüssen von 2023 sehen. Das Geld, was dem öffentlichen Dienst fehlt, ist nämlich bei den Rüstungsausgaben der Bundesregierung zu finden. Gleiches gilt für antisexistische Forderungen. Doch was bedeutet das in der Praxis?

Während #wirfahrenzusammen zeigt, wie Teile der Umweltbewegung versuchen, ein Bündnis mit den Beschäftigten im ÖPNV zu schließen, bleibt es Aufgabe für die feministischen Strömungen, es ihnen gleichzutun und beispielsweise die Streiks im Caresektor wie der Krankenhausbewegung aktiv zu unterstützen. Bei all den positiven Momenten, wäre es jedoch wichtig, die Fehler der #wirfahrenzusammen-Kampagne nicht zu wiederholen. Das bedeutet, dass man sich nicht von Gewerkschaftsführung & Co abhängig machen darf, um auch klare Kritik üben zu können für den Fall, dass beispielsweise die Abschlüsse so enttäuschend ausfallen wie die 2023:

  • Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden! Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!
  • Streikleitung den Streikenden: Für flächendeckende Streikversammlungen bei Streiks in den jeweiligen Branchen, die bindend entscheiden, wie ihr Kampf geführt wird!

Doch es darf nicht dabei bleiben, Tarifkämpfe zu kommentieren. Auch innerhalb von Gewerkschaften kommt es zu Sexismus, Rassismus, sowie LGBTIA+-Unterdrückung. Deswegen muss auch  – neben dem Kampf zur Demokratisierung der Gewerkschaften an sich –  darauf eingegangen werden. Neben möglichen Quotierungen ist es essentiell, dafür einzustehen, dass es das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte gibt. Darüber hinaus müssen aktiv Mechanismen zum Umgang mit, aber auch zur Prävention von Übergriffen und diskriminierendem Verhalten erarbeitet werden – denn bloße Phrasen reichen an der Stelle nicht aus, um den gemeinsamen Kampf zu gewährleisten.

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen und eigene Strukturen ohne jede Bevormundung durch den Apparat für gesellschaftlich Unterdrückte: Frauen, Jugendliche, MigrantInnen, trans Personen, Schwule und Lesben! Für den aktiven Kampf zur Organisierung dieser Gruppen und gegen jede rassistische, sexistische oder homophobe Diskriminierung!
  • Für das Recht aller politischen und sozialen Gruppierungen (mit Ausnahme faschistischer und offen gewerkschaftsfeindlicher), sich in den Gewerkschaften zu versammeln, zu artikulieren und Fraktionen zu bilden!

Zusammengefasst bedeutet das, dass wir innerhalb der Gewerkschaften eine klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen müssen, die auch bereit ist, nicht nur als „linke Bürokrat:innen“ Entscheidungen zu treffen, sondern sich gegen die Bürokratie selbst richtet. Deswegen ist es auch zentral, dass man dafür eintritt, dass Streik- und Aktionskomittees in Betrieben, an Unis und Schulen gebildet werden. Diese helfen nicht nur, Proteste stärker im Alltag zu verankern, sie sowie weitere Aktionen zu planen, sondern sollten letzten Endes über die Forderungen des Streiks, die Durchführung dessen und den Fortgang der Bewegung an sich entscheiden, beispielsweise indem Delegierte gewählt werden, die rechenschaftspflichtig sowie wähl- und jederzeit abwählbar sind – anders als in bürokratisierten Gewerkschaften.

  • Für die Wählbarkeit und jederzeitige Abwählbarkeit der Funktionär:innen! Niemand darf mehr verdienen als ein durchschnittliches Facharbeiter:innengehalt!

Kämpfe verbinden und zuspitzen!

Kurzum: Auf den ersten Blick sind die Gewerkschaften nicht die liebsten Bündnispartnerinnen. Gleichzeitig können sie mächtige Kampforgane verkörpern, um die eigenen Ziele durchzusetzen, insbesondere wenn es darum geht, Bewegungen nicht nur anzustoßen, sondern zum Erfolg zu bringen und reale Verbesserungen zu erkämpfen. Das ist jedoch keine Zufälligkeit, nichts, was spontan aus dem Moment heraus passiert, sondern letzten Endes eine Frage der politischen Grundlage. Es ist also an uns, ob wir die Gewerkschaften in Instrumente verwandeln, die der Frauenstreikbewegung dienlich sind.

Gleichzeitig wollen wir als Marxist:innen nicht dabei stehen bleiben, Bewegungen aufzubauen, sondern glauben, dass Klassenbewusstsein nicht innerhalb des kapitalistischen Systems verbleiben darf. Ein Kleinkrieg gegen die Auswirkungen ist nicht ausreichend und wird soziale Unterdrückungen nicht beenden. Stattdessen muss gleichzeitig versucht werden, den Kapitalismus zu zerschlagen. Das ist auch vielen innerhalb der Frauenstreikbewegung klar. Wir treten deswegen  für Forderungen wie Kollektivierung der Sorge-/Carearbeit, finanziert durch die Enteignung der Reichen, ein – also solche, die das kapitalistische System an sich infrage stellen. Unserer Meinung nach kann  mit einem politischen Programm von Übergangsforderungen der Arbeiter:innenklasse eine Strategie und das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution vermittelt werden. Also lasst das Motto „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ auch hierzulande wahr werden! Lasst uns unsere Forderungen in die Frauen- und Bewegung anderer sozial Unterdrückter hineintragen und einen Frauenstreik organisieren, der nicht an Landesgrenzen haltmacht – mit dem Ziel, der Wurzel der Frauenunterdrückung – dem Kapitalismus – den Garaus zu machen!

Anhang: Beispielhaft Streiks

Beispiel 1: Der Kampf gegen die Streichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996

1996 verfolgte die Kohl-Regierung den Plan, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen.

Im Kampf dagegen nahmen die Beschäftigten der großen Automobilkonzerne eine Schlüsselrolle ein, indem sie gegenüber den ursprünglichen, zaghaften und halbherzigen Ansätzen der IG-Metall-Spitze vorpreschten und die Arbeit niederlegten. Neben der Wut und Entschlossenheit der Beschäftigten in diesen Betrieben war die Stärke gewerkschaftsoppositioneller Betriebsratsgruppierungen wie bei Daimler Mettingen oder im Bremer Mercedes-Werk wichtig, um diese Kampfbereitschaft zur Aktion zu bündeln und zu führen. Massenaktionen und wilde Streiks brachten das Gesetzesvorhaben schließlich zu Fall.

Beispiel 2: Frauenstreik am 8. März 2017 in Lateinamerika

2017 kam es in Lateinamerikas zu länderübergreifenden Frauenstreiks. Ursprung dieser Massenbewegung war die 2015 entstandene Kampagne „Ni una menos“ („Nicht eine weniger“), die sich gegen misogyne Gewalt, für das Recht auf Abtreibung und für Rechte Indigener Frauen einsetzte. Die Bewegung entstand in Argentinien und breitete sich in den folgenden Jahren in Lateinamerika und darüber hinaus aus. Einen Höhepunkt der Bewegung bildete der länderübergreifende Frauenstreik 2017. Er Streik wies eine breite gesellschaftliche Beteiligung von Akademikerinnen, Arbeiterinnen, Studentinnen und Erwerbslosen auf. Dadurch konnte in Argentinien Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt werden, so dass diese die Forderungen der Frauen übernahmen und zur Arbeitsniederlegung aufgerufen hatten. Aber auch in Mexiko, Chile und Uruguay gab es unter anderem große Streiks, wo Frauen die Arbeit niedergelegt haben. Dies zeigt uns, wie eine breite Beteiligung Druck auf Gewerkschaften ausüben kann, feministische Themen und antirassistische Themen zusammengebracht werden können und ein solcher Kampf auch über Ländergrenzen hinweg geführt werden kann.

Beispiel 3: Un Dia Sin Nosotras – Frauenstreik 2020 in Mexiko

Am 8. März 2020 streikten Frauen in Mexiko unter dem Motto „Un Dia Sin Nosotras“ (Ein Tag ohne uns) aufgrund der steigenden Geschlechtergewalt und Femi(ni)zide im Land. Frauen und Gewerkschaften riefen dazu auf, ihre berufliche und häusliche Arbeit an diesem Tag niederzulegen. Neben den Demonstrationen und Kundgebungen, gab es an dem Tag auch Versammlungen, Veranstaltungen und Diskussionsrunden, bei denen Frauen Ihre Forderungen äußern konnten, was zu einer Förderung des Bewusstseins und der Solidarität beigetragen hat. Durch den Streik zeigten die mexikanischen Frauen die Wichtigkeit ihrer Präsenz und ihrer Arbeit für die Gesellschaft und, wie sie in Form eines Streiks Druck auf den Staat ausüben können.




Nein zur Kündigung von Inés: Gewerkschaftlich gegen Union Busting organisieren!

REVOLUTION, ursprünglich veröffentlicht auf https://onesolutionrevolution.de, Infomail 1228, 20. Juli 2023

Inés ist Sozialarbeiterin an einer Berliner Schule und aktives Mitglied der GEW und jungen GEW. Am 10.07.2023 wurde sie seitens ihres Trägers Technische Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) außerordentlich und fristlos gekündigt. Grund dafür war die Tatsache, dass sie ihre Kolleg:innen über eine Kundgebung gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Neuköllner Sozialetat informiert hat.

Mit der rechtlich absolut haltlosen Kündigung versucht der Träger gewerkschaftliches und politisches Engagement im Betrieb zu verhindern und an Inés ein Exempel zu statuieren. Kolleg:innen sollen eingeschüchtert werden. Der Träger will uns zeigen, was uns droht, wenn wir den Mund aufmachen. Getroffen hat es Inés, aber gemeint sind wir alle, die sich unseren Betrieben, Schulen und Unis für bessere Arbeitsbedingungen und gegen sozialen Kahlschlag einsetzen. #WirsindInés

Umso wichtiger ist es nun, dass diese Gewerkschaftsfeinde nicht mit ihrer miesen Nummer durchkommen. Wir solidarisieren uns mit Inés und fordern die Rücknahme der Kündigung seitens der Geschäftsführung und Geschäftsführer Thomas Hänsgen!

Die junge GEW Berlin hat eine Petition zur Unterstützung ihrer Kollegin gestartet. Wir rufen euch dazu auf, diese zu unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLScZFsRwzEuusmSerFPma0t876gnrCjKP48nChprnrmO3C7T4Q/viewform

Die Petition hat bereits etliche Unterschriften bekommen und setzt den Träger vermutlich bereits stark unter Druck. Dennoch braucht es weitere Schritte. Wenn die GEW tatsächlich die Interessen der Angestellten gegenüber den Bossen vertreten will, muss sie sich als Ganzes mit Inés solidarisieren und öffentlichkeitswirksam hinter ihre Kollegin stellen. Es braucht Solidaritätsaktionen in unseren Schulen – und insbesondere in der Schule von Inés – zu der die GEW Berlin mit voller Stärker mobilisiert.

Auch in den kommenden Streiks für den Tarifvertrag Gesundheit und den Tarifvertrag der Länder muss sich gegen das gewerkschaftsfeindliche Handeln des Trägers ausgesprochen werden. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass der tjfbg mit seinem hinterhältigen Union Busting nicht durchkommt. Gemeinsam können wir die Erfahrung machen, dass unsere Solidarität stärker ist, als die Kündigungsversuche der Bosse. Gemeinsam können wir damit noch viel mehr Kolleg:innen ermutigen, sich für bessere Lern- und Lehrbedingungen in unseren Schulen einzusetzen!




Poststreik – die einzige Sprache, die sie kennen!

Helga Müller, Infomail 1215, 4. März 2023

Die Deutsche Post AG verweigert den Kolleg:innen einen Inflationsausgleich – trotz Milliardengewinnen. Daraufhin hat sich die ver.di-Tarifkommision für die Urabstimmung über einen Vollstreik entschieden. Die Abstimmung läuft bis zum 8. März. Mit einem klaren Ja ist zu rechnen – und damit steht die Tür offen, die Konzernleitung in die Knie zu zwingen: durch einen unbefristeten Durchsetzungsstreik gegen die Bedrohung der Post AG mit Auslagerung und der „Arbeitgeberverbände“ mit Verschärfung des Streikrechts!

Die Forderungen …

Wie bekannt hat sich die ver.di-Tarifkommission bei der Deutschen Post AG nach einer Mitgliederbefragung dazu entschieden, eine lineare Erhöhung der Gehälter von 15 %, eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung für Azubis und Student:innen in der dualen Ausbildung von 200 Euro und eine Verlängerung der Postzulage für die noch 20.000 Kolleg:innen mit Beamtenstatus zu fordern.

Begründet wird das zum einen mit der schlechten Bezahlung der überwiegenden Mehrheit der Kolleg:innen. Von den 160.000 Tarifbeschäftigten bei der Deutschen Post AG sind 140.000 in den Entgeltgruppen 1 bis 3 eingruppiert, was einem Monatsbruttogrundgehalt zwischen 2.108 und 3.090 Euro entspricht (Angaben nach ver.di). Zum anderen mit den schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen durch massiven Stellenabbau, ein drastisch ausgedünntes Filialnetz mit der Folge, dass die Kolleg:innen überbelastet sind durch die ständig wechselnden und größeren Zustellungsgebiete.

Die Inflation schlägt gerade bei diesen schlecht bezahlten Beschäftigten bei der Post – immerhin fast 90 % – besonders hart zu, denn diese müssen einen höheren Anteil ihres Gehalts für die höheren Preise bei Energie und Lebensmitteln ausgeben.

 … und Rekordgewinne

Auf der anderen Seite kann sich die Deutsche Post AG diese Erhöhung leicht leisten, da diese in zwei Jahren in Folge Rekordgewinne eingefahren hat: 2021 von 5,1 Milliarden und 2022 sogar 8,4 Milliarden Euro! Die Beschäftigten haben dies mit mieser Bezahlung – so betrug der Reallohnverlust laut ver.di allein im vergangenen Jahr 5,9 % (zit. nach nd-aktuell, 15.2.23: „Gewerkschaft Verdi im Superkampfjahr“) – und schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen bezahlen dürfen!

Nach 3 Verhandlungsrunden und Warnstreiks, an denen sich über 100.000 Beschäftigte in den Brief- und Paketzustellzentren punktuell beteiligten, hatte der Postvorstand die Forderungen zunächst als realitätsfern und nicht umsetzbar bezeichnet und dann in der dritten Runde ein Angebot vorgelegt, das nach Angaben von ver.di sehr komplex ist, da steuer- und abgabenfreie Zahlungen mit tabellenwirksamen Festbeträgen kombiniert werden und daher individuell sehr unterschiedliche Auswirkungen zeitigen (Details s. hier: https://psl.verdi.de/tarifrunde2023/angebot). Diese liegen weit entfernt von den ver.di-Forderungen nach einem Inflationsausgleich. Nach ver.di-Berechnungen würde das Angebot lediglich eine durchschnittliche Tariferhöhung von 9,9 Prozent betragen und das auf eine Laufzeit von 2 Jahren gerechnet (Zit. nach nd-aktuell, 15.2.23: „Gewerkschaft Verdi im Superkampfjahr“)!

Urabstimmung

Vollkommen zu Recht hat die Tarifkommission dieses Tarifergebnis als völlig unzureichend bezeichnet und ihre Mitglieder zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik aufgerufen. 75 % müssen sich nun bis zum 8. März für den unbefristeten Streik entscheiden, damit es zu Durchsetzungsstreiks kommt.

Die Bedingungen dafür sind gut: Zum einen ist die Wut über die arrogante Haltung des Postvorstandes angesichts der Rekordgewinne in den letzten beiden Jahren und der immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen groß. Zum anderen ist die Notwendigkeit, einen realen Inflationsausgleich durchzusetzen, aufgrund der schlechten Bezahlung, die durch die galoppierende Inflation schnell aufgefressen wird, bei den Postbeschäftigten besonders dringlich! Obendrauf kommt dann auch noch die Androhung des Postvorstandes inmitten des Urabstimmungsverfahrens, noch mehr Betriebe und Bereiche zu noch schlechteren Arbeitsbedingungen auszugliedern und damit die Tarifbindung zu unterlaufen. Gerade damit haben die Kolleg:innen in den letzten Jahren genügend Erfahrung gemacht. Das führt sicherlich zu noch mehr Wut und Ärger unter ihnen.

Gut organisiert

Zudem sind sie gut organisiert: Der Organisationsgrad liegt insgesamt im Durchschnitt bei 70 % bundesweit, wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Es gibt Bereiche, die bis zu 90 % organisiert sind, aber es gibt auch solche, wo der Organisationsgrad unter 50 % liegt – vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten. Alles in allem sind das aber gute Voraussetzungen, um auch einen Durchsetzungsstreik durchzuhalten.

Die Kampfkraft der 160.000 Beschäftigten bei der Post könnte zusätzlich verstärkt werden, da auch die 2,3 Millionen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen gerade in Tarifverhandlungen stehen. Die dritte und vorerst letzte Verhandlung findet dort vom 27. – 29. März statt. Auch wenn sich die Kolleg:innen im öffentlichen Dienst noch in der Warnstreikphase befinden, könnten gemeinsame Streiks und Protestkundgebungen erfolgen. Solche haben bereits vor der dritten Tarifrunde bei der Post in mehreren Städten stattgefunden, die auch von den Kolleg:innen aus den beiden Bereichen sehr positiv aufgenommen wurden, zudem sich auch die öffentlichen Arbeit„geber“:innen stur stellen!

Diese Zusammenführung ist dringend nötig, denn zum einen werden voraussichtlich auch die Verhandlungsführer:innen aus Kommunen und Bund sich bis zur dritten und vorerst letzten Tarifverhandlung weigern, ein Angebot, das einen Inflationsausgleich beinhaltet, zu unterbreiten mit dem Hinweis auf angeblich leere Kassen – auch wenn mit einem Handstreich 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung lockergemacht wurden und es genügend Spielraum gäbe, die Gewinne von Unternehmen, die auch während der Pandemie und Energiekrise Profite eingefahren haben, abzuschöpfen. Dies wird den ver.di-Vorstand mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu nötigen, eine Urabstimmung abzuhalten – mit der Einschränkung, dass es hier vorher noch zu einem Schlichtungsverfahren zu kommen droht.

Streikrecht

Zum anderen droht nicht nur der Postvorstand mit neuen Angriffen. Die CDU-Mittelstandsvereinigung – also Unternehmerzusammenschlüsse – fordern bereits aufgrund der zweitägigen Warnstreiks bei mehreren Flughäfen eine Einschränkung des Streikrechts. „Das Streikrecht dürfe nicht missbraucht werden, um im ‚frühen Stadium von Tarifverhandlungen unverhältnismäßig Druck auszuüben und durch die Einbeziehung kritischer Infrastrukturen schweren Schaden auszurichten’, heißt es in einem Papier der Mittelstandsunion.“ (Zit. nach nd-aktuell, 20.2.23: „Das Kapital zeigt bei der Post & Co. seine Zähne gegen Streiks“)

Gegen diesen Angriff braucht es auch eine offensive Antwort von Seiten der Gewerkschaften! Die nach wie vor betriebene Sozialpartnerschaft mit Appellen an die Vernunft der Verhandlungsführer:innen durch die Gewerkschaftsführungen, die auch immer wieder bei den Verlautbarungen von ver.di sowohl bei der Tarifrunde Post als auch öffentlicher Dienst anklingen, wird die „Arbeitgeber:innen“ nicht weiter beeindrucken! Im Gegenteil, wenn wir uns nicht mit allen Mitteln gemeinsam wehren, droht das zu einer großen Niederlage der Gewerkschaftsbewegung zu führen. Nicht nur, dass dann viele enttäuschte Kolleg:innen, die für ihre Ziele gestreikt haben, die Gewerkschaftsbücher hinwerfen könnten, es würde auch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis noch weiter zugunsten des Kapitals verschieben!

Ein erster guter Ansatz, der mittlerweile in verschiedenen Bezirken – aber noch lange nicht in allen – existiert, sind gemeinsame Bezirkskampfleitungen, in denen die aktiven Kolleg:innen aus den verschiedenen Bereichen, die sich gerade in Tarifverhandlungen befinden, zusammenkommen und über gemeinsame Aktionen diskutieren. Diese müssen auch das Recht bekommen zu bestimmen, gemeinsame Streiks durchzuführen.

Konsequenzen aus den letzten Tarifrunden

Darüber hinaus müssen aber auch die Konsequenzen aus den letzten Tarifrunden gezogen werden, bei denen die Gewerkschaftsführungen auf unterschiedliche Art und Weise immer wieder faule Kompromisse mit den „Arbeitgebern:innen“ gefunden haben, weil sie nicht mit der Politik der Klassenzusammenarbeit brechen wollen und damit letztendlich den Wirtschaftsstandort Deutschland gegen die internationale Konkurrenz zu verteidigen versuchen.

Die streikenden Kolleg:innen, die ein wirkliches Interesse an der vollen Durchsetzung der Forderungen hegen, müssen die Entscheidung über den Fortgang der Kampfmaßnahmen erhalten. Dafür brauchen sie auch Einblick in den Stand der Verhandlungen und das Entscheidungsrecht darüber, wie der Streik fortgeführt wird. Einzelne Elemente der Streikdemokratie gab es in den beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und NRW: Z. B. wurden die Tarifdelegierten oder -botschafter:innen über die Ergebnisse der Verhandlungen zeitnah informiert und konnten über den Fortgang mitentscheiden. Auch die streikenden Kolleg:innen wurden z. B. in der NRW-Krankenhausbewegung in Streikversammlungen über das letzte Tarifergebnis informiert, konnten es diskutieren und darüber entscheiden. Es hatte sich zwar eine Mehrheit dafür ausgesprochen, aber z. B. die Kolleg:innen in Düsseldorf stimmten nach einer längeren Diskussion gegen das Ergebnis!

Aber all dies beruhte auf einer „freiwilligen“ Entscheidung der Tarifkommission, über das Verhandlungsergebnis nicht ohne Befragung und Abstimmung unter den streikenden Kolleg:innen zu entscheiden. Letztendlich hatten aber immer noch die Gewerkschaftsfunktionär:innen das letzte Wort, was sich z. B. im „verfrühten“ Abschluss bei der Charité und Vivantes niederschlug und dazu führte, dass die Kolleg:innen der ausgelagerten Tochtergesellschaften am Schluss allein für die Anerkennung des TVöD in den Töchtern kämpfen mussten. (S. a.: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/04/vorlaeufige-bilanz-des-berliner-klinikstreiks-vor-der-entscheidung/ und https://arbeiterinnenmacht.de/2022/06/18/nrw-unikliniken-in-der-8-streikwoche-licht-und-schatten/; https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/)

D. h. freiwillige Zusagen der Tarifkommissionen über eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung unter den streikenden Kolleg:innen sind zwar positiv zu bewerten, reichen aber nicht aus. Was es braucht, sind Streikkomitees – wie sie an der Uniklinik Essen aufgebaut und praktiziert wurden –, bestehend aus Delegierten verschiedener Bereiche, die jederzeit abwählbar sein müssen und die Aufgabe haben, die Diskussion und Abstimmung über die Fortführung der Tarifrunde auf Streikversammlungen mit den streikenden Kolleg:innen zu organisieren. Solche Streikkomitees, mit Hilfe derer die streikenden Kolleg:innen selbst demokratisch entscheiden können, sind überall in allen Betrieben, Dienststellen oder Büros, aber auch auf lokaler, regionaler und letztendlich auch auf Bundesebene nötig, damit sie selbst ihren Kampf unter ihre eigene Kontrolle bekommen und damit der Sozialpartnerschaftspolitik der Führung funktionierende Strukturen entgegensetzen können.




Britannien: Bilanz des Aktionstages vom 1. Februar

KD Tait, Infomail 1213, 8. Februar 2023

Am 1. Februar streikten Hunderttausende Lehrkräfte, Dozent:innen, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und Lokführer:innen im Rahmen des größten koordinierten Aktionstages seit vielen Jahren.

Allein in London zogen 50.000 Streikende durch die Straßen bei der größten Demonstration an einem Werktag seit dem Protest gegen den Besuch von Donald Trump im Jahr 2018. Weitere Zehntausende demonstrierten im ganzen Land.

Die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen, um der Krise bei den Lebenshaltungskosten zu begegnen. Inflationsraten von mehr als 11 % und ein Jahrzehnt des Einfrierens der Löhne und Gehälter bedeuten, dass ihr realer Wert für Millionen von Beschäftigten des öffentlichen Sektors niedriger ist als im Jahr 2010.

Mehr als Löhne

Aber bei diesen Streiks geht es um viel mehr als nur um die Löhne. Jede/r kann sehen, dass ein Jahrzehnt der Sparmaßnahmen, der Privatisierung und des wirtschaftlichen Rückschlags durch den Brexit die öffentlichen Dienste an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Für die regierenden Konservativen ist dies ein Schritt in Richtung Abschaffung der universellen, kostenlosen öffentlichen Dienstleistungen vor Ort. Für die Streikenden geht es bei dieser Aktion um den Schutz von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen. Sie kämpfen für vollständig finanzierte öffentliche Dienstleistungen, auf die wir alle angewiesen sind.

Die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens, die Verarmung und Bestrafung der Arbeitslosen, der katastrophale Zustand unseres öffentlichen Nahverkehrs, der Anachronismus von Arbeitsbedingungen, die so schlecht sind, dass Zehntausende von teuer ausgebildeten, neu qualifizierten Lehrer:innen und Krankenpfleger:innen innerhalb der ersten zwei Jahre kündigen – all das sind Gründe genug für einen Streik.

Aber das ist noch nicht alles. Die Regierung nutzt die Streiks, um noch drakonischere Antistreikgesetze zu verabschieden, die das Streikrecht im Gesundheits-, Verkehrs- und Bildungswesen sowie bei den Notdiensten faktisch abschaffen werden.

Es geht nicht nur um die Beschäftigten des öffentlichen Sektors. Die Löhne und Gehälter in der Privatwirtschaft bleiben weit hinter der Inflation zurück, aber die Lohnerhöhungen sind immer noch doppelt so hoch wie im öffentlichen Bereich. Die Regierung will die Löhne  dort  niedrig halten, um einen Maßstab für die Lohnsumme insgesamt zu setzen.

Es steht für alle viel auf dem Spiel: Löhne, Renten, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie das Streikrecht sind in Gefahr. Die Aktion am 1. Februar war beeindruckend. Um sie zu organisieren, waren nachhaltige Organisationsbemühungen in den Gewerkschaften erforderlich, die Zehntausende neuer Mitglieder und Hunderte von Vertreter:innen und Aktivist:innen rekrutiert haben. Die Demonstrationen spiegelten eine jüngere, vielfältigere Mitgliedschaft wider, die sich der politischen Implikationen und des Einsatzes bewusst ist.

Aber die zentrale Frage: „Wie geht es weiter?“ bedeutet, dass man sich fragen muss, ob die Strategie der Gewerkschaftsführer:innen funktioniert.

Rolle der Bürokratie

Erstens wurden die Streikenden am 1. Februar von der Gewerkschaft des Pflegepersonals (RCN) im Stich gelassen, deren Vorsitzende Pat Cullen darauf bestand, dass sie keine gemeinsamen Aktionen unterstützen würde, weil sie nur Pflegekräfte vertrete. Hinter diesem „Mandat“ verbirgt sich engstirniger Sektionalismus, der die Interessen einer Gruppe von Beschäftigten über kollektive Bemühungen stellt und damit alle schwächt.

Schlimmer noch: Geplante Verhandlungen mit den „Arbeitgeber:innen“ wurden von den Gewerkschaften im Kommunikations- (CWU) und Verkehrswesen (RMT), deren Führer Dave Ward und Mick Lynch die profiliertesten Befürworter einer koordinierten Aktion waren, als Vorwand benutzt, um sich von der Aktion fernzuhalten (mit Ausnahme einer kleinen Zahl von Lokführer:innen). In keiner der beiden Auseinandersetzungen hat die Seite der Bosse ein Angebot vorgelegt, das diese Entscheidung auch nur annähernd rechtfertigt. Sie schwächten damit ihren Arbeitskampf ebenso wie die Position aller anderen.

Die Regierungspartei der Tories spielt „Teile und herrsche“, und die Weigerung des Gewerkschaftsdachverbandes und der Führer:innen der wichtigsten Gewerkschaften, eine geschlossene Koalition zu bilden, die die Macht der Stärkeren nutzt, um die Forderungen der Schwächeren durchzusetzen, hilft ihnen dabei. Für diese Gewerkschaftsführung ist das Motto unserer Bewegung – „Einigkeit macht stark“ – nur ein leerer Slogan, gut für Reden und Transparente, aber aus dem Verhandlungssaal verbannt.

Zweitens, und verbunden mit dem vorrangigen Wunsch der Gewerkschaftsspitze, die Kontrolle über ihre eigenen Auseinandersetzungen zu behalten und zu vermeiden, dass sie sich zu einer politischen Offensive ausweiten, die ihre eigenen Forderungen durchsetzt, ist die Strategie eine von gelegentlichen ein- oder zweitägigen Streiks, gefolgt von langen Verhandlungsperioden, deren Ziele und Verlauf die Mitglieder, die Lohneinbußen hinnehmen müssen, weder mitbestimmen noch kennen.

Der Beweis ist eindeutig: Gegen eine Regierung, die entschlossen ist, die Profite der Bosse zu stützen und das Vermögen der Reichen zu verteidigen, indem sie die Löhne niedrig hält, reichen eintägige Streiks nicht aus, um zu gewinnen. Bestenfalls werden sie bescheidene Zugeständnisse für einige wie Pflegekräfte und Bahnbeschäftigte bringen, die Bewegung spalten und andere Teile isoliert zurücklassen, die sich mit weniger zufrieden geben müssen.

Die Universitäts- und Hochschulgewerkschaft UCU hat für Februar und März 18 Streiktage angekündigt, während die Bildungsgewerkschaft NEU zu regionalen Streiks übergeht. Eine Eskalation, die so schnell wie möglich vonstattengeht, ist die einzige Alternative zu einer langwierigen Kampagne, die die Initiative und die Macht der Regierung überlässt, die  einfach länger abwarten kann.

Strategiewechsel ist nötig

Drittens: Streiks sind zwar die wirksamste Waffe der organisierten Arbeiter:innen, um für ihre Interessen zu kämpfen, aber die allgemeine soziale Krise, die den Lebensstandard drückt, erfordert die Mobilisierung der gesamten Arbeiter:innenklasse und nicht nur bestimmter Gewerkschaften. In jeder Gemeinde brauchen wir eine soziale und politische Kraft, die sich für Maßnahmen gegen Energierechnungen, Mieten und die ungezügelte Profitmacherei der großen Banken und Energieunternehmen einsetzt. Lasst uns Aktivist:innen aus Mieter:innenkampagnen, Umweltgruppen, Schwarzen- und Frauenorganisationen mit Gewerkschafter:innen zusammenbringen, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.

In den Gewerkschaften müssen die Aktivist:innen der Basis, die die Notwendigkeit eines Strategiewechsels erkannt haben, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zusammenkommen, um einen Aktionsplan auszuarbeiten, mit dem sie die Kontrolle über die Streiks und Verhandlungen übernehmen können.

Der nächste Aktionstag ist erst am 15. März, dem Tag der Verabschiedung des Haushalts, vorgesehen – also in sechs Wochen. Diese Wochen werden einen entscheidenden Wendepunkt im Kampf darstellen. Was wir brauchen, ist ein gezieltes Eingreifen in die Bewegung, um die Organisation und Kontrolle der Basis und die Einheit der sozialen Kampagnen wie People’s Assembly (Volksversammlung) und Enough is Enough (Genug ist Genug) aufzubauen. Für diese Strategie, die Organisation von Aktivist:innen hinter einem Aktionsprogramm, um unsere Bewegung kampffähig zu machen, kämpfen die Mitglieder von Workers Power. Wenn ihr einverstanden seid, schließt euch uns an!




Streiks in Britannien: Wie können wir gewinnen?

Workers Power Britannien, Infomail 1213, 7. Februar 2023

Die derzeitige Streikwelle ist der größte und am weitesten verbreitete Widerstand gegen das Kapital seit den 1980er Jahren, mit bis zu 3 Millionen Streiktagen zwischen Juni 2022 und Anfang dieses Monats.

Die Bahn, die Post, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Hochschulen und der öffentliche Dienst haben Streiks durchgeführt oder angekündigt. Lokale Streiks, wie bei Abellio-Bussen in London, haben zu dem allgemeinen Gefühl beigetragen, dass sich eine Klasse wehrt.

Die Feuerwehrleute haben gerade ihre Urabstimmung mit 88 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 73 % gewonnen und werden sich sicherlich dem Kampf anschließen, ebenso wie die Ärzt:innen in der Ausbildung, die derzeit ihre Stimme abgeben. Der gemeinsame Streik vom 1. Februar, der von jungen Lehrer:innen vor Ort angeführt wurde, war die erste koordinierte Aktion mit einer halben Million Streikenden und die größte Arbeitsniederlegung seit 12 Jahren.

Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir verlieren, wenn die Gewerkschaftsführer:innen sich mit der Art von Vereinbarung zufrieden geben, die angeboten wird, nämlich 4,5 % in diesem Jahr und 4,5 % für 2023-24, wie sie beim Schienenverkehr angepriesen wird, dann würde die Arbeiter:innenklasse eine große Niederlage erleiden, einen Rückgang des Realeinkommens um 12-15 %. Vor diesem Hintergrund wäre es schwer vorstellbar, dass die Gewerkschaften mobilisieren, um das neue Antistreikgesetz zu verhindern.

Wenn wir andererseits inflationsgleiche Lohnerhöhungen oder mehr durchsetzen, dann stellt sich die Frage, ob wir diese Errungenschaften dauerhaft machen können.

Das macht die aktuelle Situation zu einem potenziellen Wendepunkt für den Klassenkampf in Großbritannien. Und nicht nur hier, denn Arbeiter:innen in ganz Europa und Nordamerika beobachten Großbritannien als Land, in dem die weltweite Offensive der Bosse gebrochen werden könnte.

Streikwelle

Die vorherrschende Gewerkschaftsstrategie besteht in ein- oder zweitägigen Streiks, die manchmal kurz hintereinander stattfinden, gefolgt von langen Perioden, in denen geheime Verhandlungen geführt werden.

Das funktioniert nicht. Das einzige, was hilft, ist die Entschlossenheit, auf der vollen Forderung zu bestehen und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen – und das muss von den Gewerkschaftsführungen eingefordert werden, auch von den Linken wie Mick Lynch (RMT, Schienen-, Wasser- Straßentransport) und Pat Cullen (RCN, Pflegepersonal). Wenn isolierte, nicht eskalierende Warnstreiks Erfolg versprächen, hätten sie das schon längst getan.

Die Gefahr besteht darin, dass die Belegschaft durch die Strategie „Wir machen das so lange, wie es nötig ist“ schneller zermürbt wird als die Regierung oder die „Arbeitgeber:innen“ des privaten Sektors. Es droht dann, eine „Wir nehmen alles an, was uns angeboten wird“- Haltung stärker wird oder die Zahl der Nichtstreikenden wächst.

Jetzt gibt es jedoch immer noch eine starke Begeisterung für die Streiks, sowohl unter der Basis als auch in den Unterstützungsgruppen, die in etwa der Hälfte der Londoner Stadtbezirke und über „Enough is Enough“ („Genug ist Genug“) im Süden Manchesters entstanden sind.

Auf nationaler Ebene sind „Enough is Enough“ und People’s Assembly (Volksversammlung) gescheitert, weil die Gewerkschaftsbürokrat:innen (oder ihre politischen Wasser:innen im Falle der People’s Assembly) die Entwicklung eines Klassenkampfes im realen und nicht nur rhetorischen Sinne des Wortes fürchten. Sie wollen die Hände frei haben, um sich bei der ersten Gelegenheit zu einigen. Eine breite, organisierte Militanz in der Arbeiter:innenbewegung könnte sie nämlich zwingen, weiter zu kämpfen und weiterzugehen, als sie wollen.

Die Basis

Der Schlüssel zur aktuellen Streikwelle liegt in der Organisierung der Basis, und zwar sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch – was ebenso wichtig ist – gewerkschaftsübergreifend. Mit „Basis“ meinen wir die Aktivist:innen am Arbeitsplatz, die sich an den Streiks und Urabstimmungen beteiligt oder sie unterstützt haben. Die war deutlich sichtbar bei den Schulkontingenten der NEU (Nationale Gewerkschaft Bildungswesen) am 1. Februar. Andere Gewerkschaften sollten es ihnen gleichtun und in den Betrieben den alten Slogan „Educate, Agitate, Organise (Aufklären, Agitieren, Organisieren)“ befolgen.

Die Aktivist:innen müssen auf lokaler Ebene über bestehende Solidaritätsnetze oder durch den Aufbau eines solchen Netzes sowie auf nationaler Ebene miteinander in Kontakt gebracht werden, damit sie ihre Führung kontrollieren und zur Rechenschaft ziehen können.

Es geht aber nicht nur darum, Erfahrungen auszutauschen, moralische und sogar finanzielle Unterstützung zu gewähren und Streikposten nicht zu übertreten, sondern auch Aktionen zu organisieren. Es gibt z. B. hunderte Vorfälle, von Maßregelungen örtlicher Militanter. Wir brauchen sofortige Streiks, wilde oder inoffizielle, wenn es sein muss, um zu verhindern, dass die Bosse führende Aktivist:innen herausgreifen und unter Druck setzen.

Es sollte nicht unterschätzt werden, wie die Streikwelle – bei der Stimmabgabe, der Organisation von Streikposten und Demos, beim Streik und bei der Teilnahme an Streikposten – beiträgt, neue Gewerkschaftsaktivist:innen zu gewinnen und bestehende zu verändern und politisch weiterzuentwickeln. Das Bewusstsein der Gewerkschaften ist jetzt auf einem Höhepunkt, und das muss zu dauerhaften Ergebnissen führen. Generalsekretär Kevin Courtney berichtet, dass die Bildungsgewerkschaft NEU (National Education Union) in den zwei Wochen seit Ankündigung der Streiks 40.000 neue Mitglieder rekrutiert hat.

Generalstreik

Die NEU hat für den 15. März zum nächsten landesweiten Streik aufgerufen. Mark Serwotka (Vorsitzender der PCS; Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Handel) hat den Aufruf unterstützt und andere Gewerkschaften dazu aufgerufen, sich anzuschließen. Um den Schwung zu steigern, muss der Streik größer geraten als am 1. Februar, eine Million oder mehr.

Die Basis der Gewerkschaften, Solidaritätsgruppen und Sozialist:innen müssen sich auf dieses Datum vorbereiten, indem sie von ihrer Führung verlangen, dem Aufruf Folge zu leisten, und indem sie inoffizielle Aktionen organisieren, falls sie dies nicht tun. Das bedeutet die Bildung von Aktionsräten mit Delegierten aus lokalen Betrieben, Gewerkschaftszweigen und anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse, um für den Tag zu mobilisieren und zu planen.

Die objektive Situation, einschließlich, aber nicht ausschließlich, des neuen Antistreikgesetzes, wirft sicherlich die Frage nach einem Generalstreik auf. Einige Linke haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen, und insofern dies den Willen zur Einheit widerspiegelt, ist dies verständlich. In der Tat sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den 15. März zu einem solchen zu machen. Dann käme es darauf an, was am Tag danach passiert. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass die Kundgebungen einen Aufruf zu unbefristeten Massenstreiks beinhalten, so dass die Gewerkschaftsführer:innen ihn nicht ignorieren können.

Es ist klar, dass der Sieg über die Bosse und ihre Regierung nicht durch einen eintägigen Proteststreik errungen werden kann, egal wie groß er auch ausfallen mag.  Was wir mehr als alles andere brauchen, ist, die Gewerkschaften dazu zu zwingen, zu stark eskalierenden Maßnahmen bis hin zu einem Generalstreik aufzurufen.




Britanniens Winter der Unzufriedenheit

Dave Stockton, Infomail 1208, 23. Dezember 2022

Großbritannien steht ein „Winter der Unzufriedenheit“ in Form der größten Streikwelle seit vielen Jahren bevor. Und das, obwohl es ernsthafte rechtliche Hindernisse und restriktive Urabstimmungsregeln für Arbeitskampfmaßnahmen gibt und sogar ein neues Gesetz droht, das während eines Streiks ein Mindestdienstniveau vorschreibt.

Die Streikwelle begann mit einer Welle eintägiger Aktionen der Eisenbahner:innen im Sommer und nahm im Herbst zu. Das nationale Statistikamt berichtet, dass im Oktober 417.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gingen, der höchste Monatswert seit November 2011. Zwischen Juni und Oktober fielen mehr als 1,1 Millionen Arbeitstage aus, der Höchststand  innerhalb eines Fünfmonatszeitraums seit Anfang 1990.

Das Spektrum der Streikenden reichte von Eisenbahner:Innen über Lehrer:innen und Dozent:innen, Postbedienstete bis hin zu Beamt:innen, Grenzschutzbediensteten und Rechtsanwält:innen, Busfahrer:innen und Hafenarbeiter:innen. Kein Wunder, denn die Inflation erreichte im Oktober mit 11,1 % einen 41-Jahres-Höchststand, und die meisten dieser Beschäftigten mussten sich seit Jahren mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate begnügen. Hohe Lohnforderungen lagen auf der Hand. Aber sie stoßen auf den hartnäckigen Widerstand einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, die zur Bekämpfung des Covidvirus aufgewendeten Summen von den Massen zurückzufordern.

Die Eisenbahner:innen machen den Anfang

Die Eisenbahner:innen übernahmen im Juni die Führung der Streikbewegung, als sie ihre Kampagne unter dem Slogan „Bust the Transport Workers‘ Pay Freeze“ (Sprengt das Einfrieren der Löhne für die Transportarbeiter:innen!) mit einer Reihe von eintägigen Streiks von 40.000 Bahnbeschäftigten starteten. Erste Kundgebungen, auf denen Generalsekretär Mick Lynch erklärte, die Gewerkschaft befinde sich in einem Klassenkampf, und andere Beschäftigte und Gewerkschaften aufforderte, sich ihr anzuschließen, begannen sich zu einer Bewegung zu entwickeln.

Danach kam es zu einer Art Pause, als die Gewerkschaft in Verhandlungen eintrat, obwohl die von ihr angestrebte Einigung von etwa 8 % immer noch eine Kürzung der Reallöhne bedeutet hätte. Aber das Unternehmen Network Rail und Transport for London (Netzwerk Schiene und Verkehr für London) blieb hartnäckig. Nachdem die RMT-(Gewerkschaft für Eisenbahn, Gewässer und Transport)-Mitglieder die letzten Lohnangebote abgelehnt hatten, schwor die Gewerkschaft, weiter zu kämpfen. Häufigere Arbeitsniederlegungen werden das britische Schienennetz in der Vorweihnachtszeit zum Stillstand bringen, was zu Protesten der Einzelhändler:innen führt, die befürchten, dass ihr gewohntes Geschäft gestört werden könnte.

Die separierte Lokführer:innengewerkschaft ASLEF ruft zu einem Streik auf, um die Einführung neuer Dienstpläne bei Avanti West Coast zu verhindern, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, dass es die vertraglich vorgeschriebenen Leistungen nicht erbringen kann, weil es nicht genügend Lokführer:innen beschäftigt.

Postangestellte nehmen den Fehdehandschuh auf

Die Beschäftigten der Royal Mail (Post) streikten am 13. Dezember zum 14. Mal, nachdem sie in der Woche zuvor eine Kundgebung und einen Marsch mit 20.000 Teilnehmer:innen im Zentrum Londons organisiert hatten. Die CWU-(Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen)Mitglieder sehen darin einen Kampf um ihre Arbeitsplätze gegen den Vorstandsvorsitzenden Simon Thompson, der entschlossen ist, die Belegschaft zu dezimieren, zu prekarisieren und auf einen Paketdienst zu reduzieren. Die Unternehmensleitung hat zunächst Streikbrecher:innen eingesetzt und 100 Gewerkschaftsangehörige und -vertreter:innen während des Streiks suspendiert.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der CWU-Führung und den Bossen von Royal Mail wird es im Dezember und im neuen Jahr zu einer neuen Reihe von Streiks kommen. Der Grund für das Scheitern ist, dass die Chef:innen entschlossen sind, Royal Mail in eine Gelegenheitsbelegschaft umzuwandeln und damit die gewerkschaftliche Vertretung auf betrieblicher Ebene zu brechen. Die Gewerkschaftsführer Dave Ward und Andy Furey boten fälschlicherweise an, für die Gespräche auf Streiks zu verzichten, und erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und die Beibehaltung der morgendlichen Zustellung ein Lohnangebot von 9 Prozent über 18 Monate zu akzeptieren – eine reale Lohnkürzung. Die Geschäftsführung hat sie vor die Tür gesetzt.

Die CWU steht nun vor einem Kampf auf Leben und Tod, den nur ein Flächenstreik zusammen mit den zahlreichen anderen Beschäftigten, die Aktionen durchführen oder planen, gewinnen und somit das Überleben dieser öffentlichen Dienste und der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sichern kann.

Pflegepersonal startet historische Aktion

Am 15. Dezember traten die Krankenschwestern und -pfleger des britischen National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst), Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) (Krankenpflegeschule), zum ersten Mal in ihrer 106-jährigen Geschichte in einen landesweiten Streik. Das RCN organisierte eine weitere Arbeitsniederlegung für den 20. Dezember und plant Folgeaktionen im neuen Jahr. Schätzungsweise 100.000 Krankenschwestern und -pfleger streikten in 76 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Am 21. Dezember legten mehr als 10.000 Mitarbeiter des Rettungsdienstes die Arbeit nieder.

Die Gewerkschaft fordert 19 Prozent und weist darauf hin, dass erfahrene Krankenschwestern und -pfleger trotz der diesjährigen Gehaltserhöhung von 1.400 Pfund real um 20 Prozent schlechter gestellt sind, weil die Gehaltsanstiege seit 2010 wiederholt unter der Inflationsrate lagen. Die niedrige Bezahlung hat zu einem zunehmenden Personalmangel und einer unsicheren Versorgung der Patient:innen geführt.

Die Regierung hat ihnen 4,5 Prozent angeboten, was einen Rückgang der Reallöhne um 6 Prozent im kommenden Jahr bedeuten würde. Sie behauptet, der NHS-Haushalt könne sich eine solche Erhöhung nicht leisten, doch die Weigerung, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, der ausreicht, um Ärzt:innen und Pflegepersonal anzuziehen und zu halten, bedeutet, dass riesige Summen für Leiharbeiter:innen ausgegeben werden. Krankenhäuser in England haben Ärzt:innen bis zu 5.200 Pfund pro Schicht gezahlt. Dies ist bestenfalls Misswirtschaft, aber in Wirklichkeit ist es Teil der heimlichen Übergabe des gesamten Gesundheitswesens an private Unternehmen und Agenturen.

Trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaft eine umfassende Notfallversorgung eingerichtet und die Intensivstation sowie andere Abteilungen wie Chemotherapie und Dialyse ausgenommen hat, hat der Tory-Gesundheitsminister Steve Barclay den Streik als ernsthafte Gefahr für die Patient:innen bezeichnet. Die RCN-Führer:innen boten sogar an, die Streiks über Weihnachten und Neujahr auszusetzen, wenn die Regierung verhandeln würde – eine törichte Zurschaustellung von Schwäche, die die Regierung jedoch ablehnte.

Bisher hat sie sich hartnäckig geweigert, über die Gehälter zu sprechen, mit der Begründung, dass die „Belohnung“ (1.400 Pfund) von einem unabhängigen Gremium stammt, dessen Mitglieder von der Regierung handverlesen werden und nur zufällig das vorlegen, was sich das Gesundheitsministerium nach eigenen Angaben leisten kann. In der Zwischenzeit hat die Regionalregierung in Schottland einen Streik der Krankenschwestern und -pfleger gerade dadurch vermieden, dass sie Gespräche über die Gehälter geführt hat, obwohl die Gewerkschaft GMB, die das Hilfspersonal organisiert, ihr Angebot von 7,5 Prozent abgelehnt hat.

Umfragen im Vorfeld des Streiks ergaben, dass 52 Prozent der Öffentlichkeit die Aktion „stark“ unterstützen. Die Regierung wird natürlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um dies zu ändern, aber sie hat keinen guten Start erwischt, wie die rechtsgerichtete Daily Express mit der Schlagzeile „Gebt den Krankenpfleger:innen einen Vertrag und beendet diesen Wahnsinn“ zeigt. Die stets zuverlässig regierungstreue Daily Mail hingegen titelt: „Streikwoche hält Großbritannien in Geiselhaft!“

Und andere … folgen dem Beispiel

Unite-Mitglieder, die auf 59 Buslinien für das Busunternehmen Abellio im Süden und Westen Londons arbeiten, streiken im Dezember. In der Zwischenzeit haben mehr als 2.000 Busfahrer:innen der Metrolinie in London den Arbeitskampf abgebrochen, nachdem sie eine 11-prozentige Lohnerhöhung und eine 10-prozentige Lohnnachzahlung akzeptiert hatten. Ursprünglich war ihnen am 8. Dezember 2022 eine Erhöhung um 4 Prozent angeboten worden.

Tausende von Universitätsbeschäftigten, die der Gewerkschaft UCU angehören, streikten am 24., 25. und 30. November. Sie taten dies gemeinsam mit 4.000 Gewerkschaftsmitgliedern der National Education Union (Bildungsgewerkschaft NEU) an Oberstufenzentren. Am letztgenannten Tag nahmen sie gemeinsam mit Studierenden und anderen Gewerkschafter:innen an einer militanten Massenkundgebung vor dem Bahnhof King’s Cross teil, bevor sie sich auf einen Marsch ins Zentrum von London begaben. Es war der dritte Tag der Streiks von 70.000 Mitgliedern der Gewerkschaft UCU an Universitäten in ganz Großbritannien im Kampf um Renten, Löhne und Gehälter, Minderung von Arbeitsbelastung und Gleichberechtigung und gegen Prekarisierung.

Koordinieren und eskalieren

Eine ganze Reihe von Gewerkschaften, darunter auch Teile von Unison und Unite, den beiden größten Gewerkschaften des Landes, rufen für das neue Jahr zu Urabstimmungen auf. In dem Maße, in dem sich die Streikpostenketten vervielfacht und andere Gewerkschaftsmitglieder, Student:innen und Aktivist:innen sich ihnen angeschlossen haben, in dem Maße, in dem die Demonstrationen und Kundgebungen größer geworden sind, wächst die Möglichkeit, dass alle getrennten Lohnkämpfe zusammengeführt werden. Obwohl die Gewerkschaftsführer:innen auf ihren Rednerbühnen die Parole „koordinieren und eskalieren“ ausgeben, haben sie wenig getan, um dies zu gewährleisten.

Die Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist Genug) und die Volksversammlung (People’s Assembly) schienen dies tun zu können. Aber ihre unerklärliche Rivalität und unnötige Doppelarbeit scheinen dieses frühe Versprechen zunichtegemacht zu haben, obwohl die Volksversammlung im Januar eine Konferenz abhalten wird. Die Gefahr besteht darin, dass die rivalisierenden Gewerkschaftsführungen und politischen Gruppierungen befürchten, die Kontrolle an demokratische Versammlungen von Delegierten aus lokalen und Basisorganisationen zu verlieren, die über alternative Vorgehensweisen entscheiden könnten. Kämpfer:innen aus den verschiedenen Konflikten, die sich an den Streikpostenketten treffen, können und müssen solide Verbindungen zueinander knüpfen. Sie müssen lokale Koordinierungsgremien an der Basis aufbauen.

Eine weitere dunkle Wolke zeichnet sich am Horizont ab: Premierminister Rishi Sunaks Drohung, ein weiteres gewerkschaftsfeindliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das das Streikrecht von Pflegepersonal, Postangestellten und Bahnbeschäftigten gleichermaßen aushebeln würde. Sobald dieses Gesetz vorgelegt wird, müssen wir eine massive Kampagne zur Verteidigung unserer Gewerkschaften starten. Diese muss darauf abzielen, direkte Aktionen, d. h. Streiks, zu mobilisieren, um den Gesetzentwurf zu Fall zu bringen, wie es unsere Großeltern in den 1970er Jahren getan haben. Ihr Ziel sollte es sein, nicht nur zu verhindern, dass uns diese neuen Ketten angelegt werden, sondern alle anderen, die bis in die Zeit von Thatcher, der ehemaligen Premierministerin, zurückreichen, zu durchbrechen.

All diese Themen – Bekämpfung der Inflation mit Lohnerhöhungen, die Punkt für Punkt mit ihrem Anstieg übereinstimmen; die „Arbeitgeber:innen“ dazu zu bringen, sie aus ihren gigantischen Gewinnen zu bezahlen; die Verteidigung und Wiederherstellung des staatlichen Gesundheitsdienstes; die Wiederverstaatlichung der Bahn und anderer Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe sowie die Befreiung unserer Gewerkschaften von vierzig Jahren gewerkschaftsfeindlicher Gesetze – werden politische Massenstreiks erfordern. Um dies in die Wege zu leiten, nützt es nichts, auf die linken oder rechten Gewerkschaftsführer:innen zu warten. Wir müssen Aktionsräte mit Delegierten aus den Betrieben, den Gemeinden und der Jugend bilden. Wenn wir dies tun, können wir sowohl Sunak wie die mit ihm verfeindeten Tories ein für alle Mal von der Macht vertreiben.




GDL: Nach dem Streik ist vor dem Streik!

Martin Suchanek, Neue Internationale 258, September 2021

Die beiden Streiks der EisenbahnerInnen machen eines deutlich: Die GDL und ihre Mitglieder sind kampfbereit und -fähig. Die Urabstimmung, an der rund 70 % der GDLerInnen teilnahmen, erbrachte ein klares Votum: 95 % für den Streik. Dementsprechend wirksam waren die Arbeitsniederlegungen.

Mit dem befristeten Streiks vom 10. – 13. bzw. vom 22. – 25. August legten die Beschäftigten rund 60 % des Regionalverkehrs der Deutschen Bahn und 75 % des Fernverkehrs lahm. Auch im Güterverkehr kam es zu massiven Ausfällen, auch wenn das Management versuchte, diesen durch Umstellen auf eigene LKW-Transporte (DB-Schenker) und durch andere Frachtunternehmen abzufedern.

Der Streik machte auch deutlich, dass die GdL dabei ist, von einer berufsständischen LokführerInnengewerkschaft zu einer Organisation zu werden, die alle Beschäftigtengruppen bei der DB AG umfasst. So legten nicht „nur“ LokführerInnen die Arbeit nieder, sondern auch Beschäftigte im Infrastrukturbereich des Unternehmens, darunter 6 Stellwerken und Teilen einzelner Werkstätten und Verwaltungen. Auch unter den ZugbegleiterInnen konnte die GDL ihre Mitgliederzahlen ausbauen.

Hetze vom Kapital

Wie nicht weiter verwunderlich brandmarken Kapital und Kabinett, bürgerliche Presse und allerlei „ExpertInnen“ den GDL-Streik als Anschlag auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, als Gefahr für die Erholung der deutschen Wirtschaft und sogar als Gefährdung der Gesundheit. Schließlich würden Fahrgäste in den wenigen fahrenden Zügen nur eng gedrängt Platz finden – und das in Coronazeiten. Manche HetzerInnen sprechen auch schon davon, dass während einer Pandemie am besten überhaupt nicht gestreikt werden dürfe.

Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Laschet positioniert sich ausnahmsweise klar und deutlich – gegen die GDL. Der Streik verstoße „gegen alle Regeln der Verhältnismäßigkeit“. Die Gewerkschaft nehme „Millionen in Haftung.“

Die AfD lässt zwar Verständnis für die GDL durchblicken – den Streik solle sie aber gefälligst verschieben.

Auch FPD, Grüne, SPD stellen sich gegen den Streik. Die Linkspartei verteidigt zwar das Streikrecht, zu einer bedingungslosen Unterstützung des Streiks mag sie sich aber auch nicht durchringen, da sich die GDL-Führung gegenüber der DGB-Gewerkschaft EVG unsolidarisch verhalte.

Schärfere Töne schlägt die DB AG selbst an. Deren Personalvorstand Seiler bezeichnete den Streikbeschluss als „Attacke auf unser Land“ – nicht nur auf die DB AG. „Völlig überzogen und völlig unangemessen“ wäre der Arbeitskampf gewesen. Außerdem hätte die GDL den Streik total kurzfristig angekündigt, so dass das arme Unternehmen überraschend getroffen worden wäre, das zudem ein tolles Angebot vorgelegt hätte.

Die Offerte der Bahn

Die Offerte der DB AG sieht eine stufenweise Lohnerhöhung von 3,2 % vor – mit einer Laufzeit von 40 Monaten (bis zum 30. Juni 2024). In diesem Jahr wäre eine Nullrunde vorgesehen. Zum 1. Januar 2022 soll eine erste Erhöhung um 1,5 % erfolgen, am 1. März 2023 sollen die Entgelte um weitere 1,7 % angehoben werden.

Faktisch bedeutet das Angebot einer Nullrunde für 2021 angesichts steigender Preise und Inflationsrate einen Reallohnverlust für die gesamte Laufzeit.

Als die zweite Streikwelle anlief, zauberte der Bahnvorstand rasch eine kosmetische Nachbesserung des Angebots aus dem Hut. Eine Coronaprämie würde das Unternehmen jetzt auch anstreben. Wie unverbindlich und wenig ernstzunehmend dieses Anbot ist, offenbart die Tatsache, dass die Bahn AG keinen Betrag nennen wollte. Zu Recht lehnte die GDL dieses durchsichtige Manöver ab, das nur darauf abzielte, den laufenden Streik zu beenden.

Dass die GDL und Tausende ihrer Mitglieder die Offerten der Bahn AG als Affront abgewiesen haben, spricht für und nicht gegen sie. Dass die größere DGB-Gewerkschaft bei der Bahn, die EVG, ein ähnliches Angebot im Austausch für Kündigungsschutz annahm (angesichts des Personalmangels stehen im betrieblichen Bereich sowieso keine betriebsbedingten Kündigungen an), stellt ihr ein vernichtendes Urteil aus. Nicht zu kämpfen bereit, immer am Puls des Bahnvorstandes, verkauft die EVG-Bürokratie seit Jahren die Beschäftigten bei der Bahn AG. Nun wirft sie der GDL aggressives Abwerben von Mitgliedern vor – und stellt sich gegen den Arbeitskampf der KollegInnen! Ein solches Verhalten läuft faktisch auf Streikbruch hinaus und die Unterstützung der Unternehmensführung gegen die KollegInnen. Es ist ein gewerkschaftliches No-Go. Was immer man von der GDL sonst auch halten mag, ihre tariflichen Forderungen sind legitim. Ihr Recht auf Streik muss von allen kämpferischen GewerkschafterInnen ohne Wenn und Aber verteidigt werden. Ansonsten verkommt jede, für sich auch noch so berechtigte Kritik an der GDL zu einem bloßen Vorwand, den KollegInnen in den Rücken zu fallen, sich faktisch auf die Seite des Kapitals zu stellen.

Und die GDL?

Die GDL oder genauer deren Vorstand ist sicher kein gewerkschaftspolitisches Vorzeigeprojekt. Jahrzehntelang war sie eigentlich die willfährigere Standesgewerkschaft. Bis heute ist sie Teil des berufsständisch-reaktionären Beamtenbundes, der trotz allem noch immer deutlich rechts vom DGB steht. Die GDL-Spitze tritt reaktionären, vor allem rassistischen oder sexistischen Einstellungen und Verhaltensweisen in den eigenen Reihen kaum entgegen, sie toleriert sie vielmehr. Auch GDL-Chef Weselsky, seit Jahren CDU-Mitglied, fiel in der Vergangenheit mit behindertenfeindlichen Sprüchen, mit Opportunismus gegenüber der AfD und Populismus auf. Zudem lehnt die GDL den immer mehr um sich greifenden Wettbewerb und Privatisierungen auf der Schiene nicht grundsätzlich ab, sondern will diese allenfalls „gerecht“ ausgestaltet wissen.

Die GDL unterstützt im Gleichklang mit den Grünen die Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn. In dieser Hinsicht steht sie politisch rechts von der EVG, auch wenn diese über Jahre den Kurs der Umstrukturierung der Bahn auf ein profitorientiertes Unternehmen mitgetragen hat.

Anders als die BürokratInnen in den Vorstandsetagen der DGB-Gewerkschaften, die oft aus Verwaltungen kommen und akademische Berufe erlernt haben, gibt Weselsky den polternden Funktionär und Vertreter der Beschäftigten, der sich für seine Leute einsetzt – und das mit einer gewissen Glaubwürdigkeit. Den Lokführer, den Bahner muss er nicht spielen. Er fuhr selbst Züge. Auch wenn er seit gut drei Jahrzehnten freigestellter Funktionär der GDL ist, spricht er den KollegInnen aus dem Herzen, ist er „einer von ihnen“ geblieben.

Natürlich sollte niemand die Radikalität der GDL-Spitze übertreiben. So wenig kompromissbereit, wie die Bahn AG tut, ist sie natürlich nicht.

Die ursprüngliche Tarifforderung, die unter anderem eine Gehaltserhöhung von 4,8 % und eine Coronaprämie von 1300 Euro vorsah, zog die GDL selbst zurück. Sie orientierte ihre Forderungen bei den letzten Verhandlungen am Abschluss im öffentlichen Dienst 2021: 3,2 % Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von 32 Monaten und eine einmalige Coronaprämie von 600 Euro. Außerdem sollte ein erster Schritt der Lohnerhöhung schon für 2021 gelten, also keine Nullrunde in diesem Jahr stattfinden. Die Bahn AG wies diese schon reduzierten Forderungen zurück – und auch die EVG erklärte sie als „überzogen“. Schließlich hatte sie schon einen schlechteren Vertrag abgeschlossen und fürchtet, weiter Mitglieder an die GDL zu verlieren, falls diese erfolgreich sein sollte.

Warum wird der Kampf so heftig geführt?

Dass die GDL den Tarifkampf so heftig führt, hat zwei wesentliche Ursachen. Erstens stellt der Streik eine Reaktion auf den Druck aus der Basis dar, aus der eigenen Mitgliedschaft. Wer diese einfache Tatsache nicht akzeptieren will, musste nur an Versammlungen der Streikenden teilnehmen. Empörung und Kampfbereitschaft lagen dabei förmlich in der Luft.

Zum anderen fürchtete die GDL zu Recht, durch das Gesetz der sog. Tarifeinheit bei der DB AG an die Wand gedrückt zu werden. Dieses sieht vor, dass in jedem Betrieb nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft ein Recht auf Abschluss eines Tarifvertrags hat und auch entsprechend nur diese das Streikrecht wahrnehmen darf. Das Gesetz wurde, so erklärte die schwarz-rote Bundesregierung 2015, kurz nach dem letzten landesweiten GDL-Streik offen, notwendig, damit kleine Spartengewerkschaften das Land nicht mehr lahmlegen könnten. Die sog. Tarifeinheit kommt also einer Einschränkung des Streikrechts gleich – und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wichtige DGB-Gewerkschaften, allen voran die IG Metall und die EVG, diese unterstützten, ja regelrecht forderten, weil sie sich davon die Sicherung ihrer Stellung in zentralen Betrieben und die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz erhofften. Neben den Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD stimmte damals auch die FDP mehrheitlich für das Gesetz, Grüne und Linkspartei lehnten es ab.

Seine Umsetzung wurde bei der Bahn über mehrere Jahre gestreckt, nun soll es kommen. Erschwert wird dabei die rechtliche Lage ironischer Weise durch die neoliberalen Bahnreformen und Umstrukturierungen des Unternehmens selbst.

Da dieses in viele Betriebsteile und Teilunternehmen untergliedert ist, gibt es natürlich auch Bereiche, wo die GDL über eine Mehrheit verfügt. In den meisten Fällen ist zwar (noch) die EVG die Mehrheitsgewerkschaft, in etlichen sind die Verhältnisse aber umstritten. Das heißt, ein Arbeitskampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen inkludiert nicht nur eine Konkurrenz zwischen beiden Gewerkschaften bei der Bahn, er steht immer auch auf der Kippe zur Illegalisierung, und es sind letztlich immer die bürgerlichen Gerichte, die im Streitfall entscheiden, welche Gewerkschaft tarif- und damit streikfähig ist.

Angriffe in den Betrieb getragen

Dabei tritt der reaktionäre Charakter des Tarifeinheitsgesetzes offen zutage. Ein Angriff auf die gesamte ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung wird zur Zeit durchgezogen. Sollte die GDL verlieren, so würde das letztlich auch auf die Durchsetzung der Tarifeinheit bei der Bahn und die Demontage einer kleineren, in letzten Jahren kämpferischer gewordenen Gewerkschaft hinauslaufen.

Hoch problematisch für den Kampf ist freilich, dass es der DB-Geschäftsführung und der bürgerlichen Politik bis zu einem gewissen Grad gelungen ist, den Streik und den politischen Konflikt auch zu einer Konfrontation innerhalb der Belegschaft zu machen, diese effektiv zu spalten. Daran haben in den letzten Jahren sowohl die EVG-Bürokratie, aber auch die GDL-Führung tatkräftig mitgewirkt. Beiden geht es letztlich darum, vor allem ihren eigenen Laden, „ihre“ Gewerkschaft zu halten und zu profilieren. Und dabei scheuen beide nicht vor Fakes und stetiger Demagogie gegen die andere Gewerkschaft zurück. Letztlich wollen beide mehr vom Trog der SozialpartnerInnenschaft und von den Pfründen der Mitbestimmung bekommen.

Aber anders als die EVG-Führung sieht sich die GDL zur Zeit aufgrund des Drucks von unten und aufgrund ihrer prekären Lage gezwungen, zum Streik zu greifen, um ihre Interessen durchzusetzen – und das macht sie, ob gewollt oder nicht, zur Staatsfeindin, zum Konjunkturschädling und zur Spaßbremse für Urlaubsreisende.

Streikperspektive und GDL-Spitze

Der GDL-Vorstand hat mit dem Arbeitskampf eine Konfrontation begonnen, deren Gesamtdimension er selbst nur erahnt. Hinter der rein tariflichen, gewerkschaftlichen Auseinandersetzung um höhere Entgelte verbirgt sich eine größere politische Auseinandersetzung. Die Führung der Gewerkschaft will aber den Kampf so führen, als wäre er letztlich nur eine ganz normale Tarifrunde. Das mag ihr bis zu einem gewissen Grad auch gelingen, da ihre Mitglieder über eine beachtliche Streikfähigkeit verfügen, also wirklich wirtschaftlichen Druck ausüben können.

Die Taktik hat jedoch eine Schwäche. Was passiert, wenn der Bahnvorstand nicht nachgibt, wenn er die Konfrontation sucht, wenn er von der GDL fordert, alle ihre Karten auf den Tisch zu legen?

Hier zeigen sich die Grenzen dieses Vorgehens. Da die GDL die Konfrontation im Grunde rein betrieblich begreift, kümmert sie die öffentliche Meinung nicht oder nur wenig. In einer bestimmten Hinsicht stellt das zwar auch eine Stärke dar – nämlich insofern sie sich von der Hetze der bürgerlichen Presse und von PolitikerInnen wenig beeindruckt zeigt.

Doch das darf uns gegenüber der enormen Schwäche dieser Politik nicht blind machen. Der GDL-Führung ist im Grund nämlich auch egal, was andere Lohnabhängige von ihrem Arbeitskampf denken. So gab es beim Streik (und auch bei früheren Streiks) keine Flugblätter, keine Öffentlichkeitsarbeit, um PendlerInnen und Reisende anzusprechen, um deren Verständnis und Solidarität zu werben und die Lügen und Halbwahrheiten der Boulevardblätter und der sog. Qualitätspresse zu kontern.

Auch gegenüber den Bahnbeschäftigten, die nicht bei der GDL sind, also insbesondere gegenüber den EVG-Mitgliedern, nimmt die GDL-Spitze eine politisch passive Haltung ein. Natürlich freut sich die kleinere Gewerkschaft über jeden Übertritt. Sie versucht aber überhaupt nicht, die Basismitglieder der EVG und kämpferische Mitglieder, die auch von Bürokratie und SozialpartnerInnenschaft die Schnauze voll haben, anzusprechen und so in die EVG hinein zu wirken.

Dazu müsste die GDL nämlich selbst eine Politik verfolgen, die darauf zielt, die Kampfeinheit aller Beschäftigten herzustellen, und nicht nur hoffen, dass sich ihr Apparat als attraktiver erweist als jener der EVG. Diese Politik hat jedoch dazu geführt, dass beide Bürokratien die eigenen Reihen recht dicht geschlossen halten konnten. Zahlreiche EVGlerInnen – auch an der Basis – hassen die GDL und die GDLerInnen die EVG. Das hilft den Spitzen der jeweiligen Gewerkschaft. Vor allem aber hilft es dem Bahnvorstand, der sich immer als verhandlungsbereit präsentiert und genüsslich die beiden Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Wie weiter?

Diese Beschränkungen und der rein gewerkschaftliche Charakter der Politik der GDL-Führung ändern nichts daran, dass alle GewerkschafterInnen – auch alle EVG-Mitglieder – den Arbeitskampf unterstützen müssen! Kritik an Weselsky und Co. ist gut und wichtig – aber das darf nicht zum Vorwand werden, sie nicht zu unterstützen, wenn sie einen Schritt in die richtige Richtung machen.

Zugleich braucht es aber auch eine Politisierung des Arbeitskampfes, weil wir damit rechnen müssen, dass er sich früher oder später zu einem politischen Kampf entwickelt (oder in einem Kompromiss endet, der die entscheidende Konfrontation allenfalls aufschiebt).

Wir treten daher dafür ein, Nägel mit Köpfen zu machen. Die großartige Streikbeteiligung hat gezeigt, dass der Kampf geführt und länger gehalten werden kann. Zugleich muss er politisiert werden, in die Reihen der gesamten Belegschaft und ArbeiterInnenklasse getragen werden.

Das heißt für alle Kräfte der ArbeiterInnenbewegung, für die Mitglieder von Linkspartei und SPD, aber auch für die „radikale“ Linke oder die Umweltbewegung, dass sie diesen Arbeitskampf ohne Wenn und Aber unterstützen müssen. Damit ein Streik der GDLerInnen siegen, damit die Gewerkschaft in einer politischen Konfrontation erfolgreich sein kann, können und müssen wir auch die Initiative ergreifen und Solidaritätskomitees aufbauen.

  • Unterstützt den Streik der GDL! Volle Mobilisierung und unbefristeter Streik für die Forderungen – keine weitere Rücknahmen und Zugeständnisse!
  • Kein Einsatz von BeamtInnen und anderen Beschäftigten als StreikbrecherInnen!
  • Regelmäßige Streikversammlungen zur Koordinierung, Ausweitung und demokratischen Kontrolle des Kampfes!
  • Aufbau von Solidaritätskomitees in allen Gewerkschaften und allen Städten! Unterstützung dieser Komitees durch Linkspartei und SPD-Gliederungen!
  • Nein zum Tarifeinheitsgesetz und allen Einschränkungen des Streikrechts!
  • Kursumkehr in allen DGB-Gewerkschaften und Unterstützung des GDL-Streiks! Aufbau einer Basis- und Solidaritätsbewegung, die dies erzwingt!



Tarifverhandlungen DB AG: Die letzte Schlacht der GDL?

Mattis Molde / Leo Drais, Neue Internationale 254, April 2021

Sie hatte die deutsche Gewerkschaftslandschaft belebt und offensive bundesweite Streiks organisiert. Jetzt geht’s für die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ums Ganze. Grund ist das sogenannte Tarifeinheitsgesetz (TEG), welches 2015 verabschiedet wurde und jetzt erstmals seine ganze Dynamik entfaltet. Wir erinnern uns: Die Medien schäumten und versuchten, die Fahrgäste gegen die Streiks zu mobilisieren. Die DGB-Gewerkschaften verweigerten jede Solidarität und beschimpften die GDL als Spalterin. Die Regierung der Großen Koalition  veranlasste eine Gesetzesänderung, um diesem – im internationalen Vergleich dennoch moderaten – Ausbruch von Streikbewegung einen dauerhaften Riegel vorzuschieben. Das Gesetz zur „Tarifeinheit“ stellt einen historischen Angriff auf das Streikrecht in Deutschland dar. Ein wichtiger Sieg des deutschen Großkapitals mit williger Beihilfe der DGB-Bürokratie. Es war unter anderem der EVG-Vorstandsmitglied Martin Burkert, der als SPDler im Bundestag für das TEG stimmte. Dieser Schandfleck wird immer bleiben.

Das Gesetz mit irreführendem Namen legt fest, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten darf und nur die mitgliederstärkste Vereinigung das Recht hat, einen solchen abzuschließen. Für eine Minderheitsgewerkschaft bleibt nur die Möglichkeit, sich dem bereits abgeschlossenen Vertrag anzuschließen. Da in Deutschland nur eine anerkannte Gewerkschaft streiken darf (also nicht Belegschaften) und nur für Forderungen, die tariflich abgebildet werden können und nicht in einem gültigen anderen Vertrag geregelt sind, verliert eine Minderheitsgewerkschaft jede Wirkmächtigkeit.

Und da sind wir nun: Der Tarifvertrag der GDL ist ausgelaufen, die Konkurrenzgewerkschaft unter dem Dach des DGB, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat schon vergangenes Jahr einen mit der DB AG abgeschlossen. Die GDL kann diesen nun akzeptieren und sich damit selbst als überflüssig erklären. Oder sie kämpft – gegen das Gesetz oder für eine Mitgliedermehrheit. Ersteres hatte sie zusammen mit ver.di nach Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes rechtlich vor dem Bundesverfassungsgericht versucht – und verloren. Letzteres versucht die GDL offensiv seit dem vergangenen Winter, als sie über ihre bisherige Konzentration auf Zugpersonale (TriebfahrzeugführerInnen, ZugbegleiterInnen, Bordgastronomie, … ) hinausging und sich für alle Berufsgruppen im Bahnbetrieb öffnete (also auch FahrdienstleiterInnen, InstandhalterInnen, Werkstattpersonale, Aufsichten, … ).

Staat, DB und EVG vs. GDL

Die GDL tritt für einen Eisenbahn-Flächentarifvertrag (EFTV) für das Zugpersonal und die Beschäftigten der Fahrzeuginstandhaltung, des Netzbetriebs und der Fahrweginstandhaltung ein. Eckpunkte: 4,8 Prozent mehr Lohn, 1.300 Euro Corona-Prämie, Ballungsraumzulage sowie grundsätzliche Regelungen zu Arbeitszeit, Urlaub, Schichtdienstzuschlägen. Den EFTV will die GDL nicht nur auf die Deutsche Bahn anwenden, sondern bei allen Eisenbahninfrastruktur- und -verkehrsunternehmen vorbringen.

Die Deutsche Bahn AG hat indessen angekündigt, ab 1. April das Tarifeinheitsgesetz anwenden zu wollen. Das bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, denn es setzt für die DB voraus herauszufinden, in welchem der 300 DB-Betriebe welche Gewerkschaft die Mehrheit hat, und die Beschäftigten nach ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit zu fragen, ist verboten. Geschätzt wird, dass in 16 von 71 fraglichen Betrieben die GDL die Mehrheit hat, in den anderen 55 die EVG. Im Zweifel hat ein Gericht darüber zu entscheiden. Welch Glück für den DB-Personalvorstand Seiler, dass er auf eine altbekannte Gehilfin des DB-Konzerns zählen kann: die EVG. Diese hat sich willens erklärt, ihre Mitgliederzahlen notariell bestätigen zu lassen.

Überhaupt, kommen wir mal zur EVG … Dass der Staat als Eigentümer und die DB AG selbst keine Fans der GDL sind, ist immerhin bekannt.

Oft genug wird die EVG von EisenbahnerInnen als verlängerter Arm des DB-Vorstandes begriffen, und das nicht von ungefähr. So hat ihre Vorläuferin GdED (Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands) einst zur Mehrdorn-Ära fleißig Angriffe mitgetragen, indem, anstatt das hohe Niveau der LokführerInnen auf alle auszudehnen, diese besonders hart beschnitten wurden, um den anderen Berufsgruppen kleine Zugeständnisse zu bescheren. Die Folge war eine Hinwendung der LokführerInnen zur GDL, welche sich von einer gelben zu einer kämpferischen Gewerkschaft gewandelt hatte. Vergangenes Jahr wiederum hat die EVG einen Tarifvertrag mit dem DB-Konzern beschlossen, im Grunde völlig an ihren Mitgliedern vorbei, der dank Inflation wohl auf einen Reallohnverlust hinauslaufen wird, bei gleichzeitiger Zustimmung zu Manager-Boni.

Es ist zu erwarten, dass die GDL und die DB AG sich nicht einig werden. Streiks in einer Intensität wie 2015 sind zu erwarten. Die EVG-Bürokratie um Hommel und Loroch wird dann wohl wieder nicht zögern, in die Hetze von Staat, Medien und Konzern einzustimmen. Bahn-Vorstand Seiler warf der GDL jüngst vor, ihre Forderung gefährde die Mobilitätswende – ein lächerlicher Vorwurf angesichts der Tatsachen, dass in den letzten 30 Jahren Tausende Kilometer Gleis verschwanden, die Bahn mit chronischer Unpünktlichkeit kämpft und der vergangene Wintereinbruch wieder völlig überraschend kam.

Andererseits formuliert die GDL selbst zwar zum Teil gute Vorschläge zur Stärkung des Eisenbahnsystems, aber ihre Zustimmung zum Vorstoß der Grünen zur Zerschlagung der DB, der Trennung von Netz- und Zugbetrieb in Verbindung mit einer Wettbewerbsausweitung auf der Schiene ist fatal und würde bei Umsetzung das System Eisenbahn lähmen, nicht zuletzt auf Kosten der Beschäftigten. Das Chaos, das die Zerschlagung eines einheitlichen Netzbetriebs hinterließ, kann z. B. man gut an der britischen Bahnreform studieren und wird es demnächst an der Berliner S-Bahn können, wo die Vorschläge der grünen Verkehrssenatorin Regine Günther in ähnliche Richtung zielen.

Solidarität mit den KollegInnen!

Was es braucht, ist eine Kampagne unter Fahrgästen und anderen GewerkschafterInnen, die den Hintergrund der Auseinandersetzung aufklärt und die Verbindung zur Klimafrage und Verkehrswende knüpft. Wer eine funktionierende Eisenbahn will, darf beim Personal nicht sparen. Angesichts steigender Mieten und Corona-Krise sind die Forderungen der GDL mehr als berechtigt.

Im Schatten des TEG geht es aber um noch mehr, nämlich darum, ob Staat, Kapital und DGB-Bürokratie es schaffen, ein Exempel an einer kämpferischen Spartengewerkschaft zu statuieren, das auch Cockpit oder UFO treffen könnte. Freilich verdient auch die GDL Kritik. Am Ende des Tages bleibt der Konflikt zwischen EVG und GDL um Mitgliedermehrheiten immer noch ein Clinch zweier Gewerkschaftsbürokratien, auch wenn wir zur Verteidigung der GDL gegen den Angriff von Bahn und EVG aufrufen, der für die GDL je nach Entwicklung der nächsten Monate existenzgefährdend sein kann. Alle Linken und GewerkschafterInnen sollten daher ihre Solidarität mit der GDL zeigen, EVGlerInnen dafür eintreten, keinen Streikbruch zu begehen.

Abschließend zeigt der Kampf der GDL zweierlei:

  • Um Angriffen wie dem TEG entgegenzutreten, müssen GewerkschafterInnen den politischen Streik und das Recht darauf auf die Tagesordnung setzen, denn die mögliche Illegalisierung des GDL-Kampfes stellt letztlich die Frage: Illegal streiken und sich durchsetzen oder Hinnahme des Genickbruchs?

  • Das Neben- und Gegeneinander von EVG-, GDL- und im Bezug auf den Nahverkehr auch ver.di-Bürokratie führt zu fortwährendem Streikbruch und Lohnkonkurrenz. Daher schlagen wir den Kampf für eine einheitliche, allumfassende Transportgewerkschaft im Rahmen einer nach Wertschöpfungsketten erneuerten Branchenstruktur der DGB-Gewerkschaften, die UFO, Cockpit & Co. ein Fusionsangebot unterbreiten sollen, vor, die nicht nur den Eisenbahnsektor, sondern die gesamte Logistik zu Lande, zu Wasser und in der Luft umfasst, die demokratisch von ihren Mitgliedern kontrolliert wird, eine jederzeit wähl- und abwählbare, rechenschaftspflichtige Führung hat und dadurch ihre Kämpfe und Forderungen vereinheitlicht und koordiniert. So nämlich geht eine Spaltungsüberwindung im Interesse der TransportarbeiterInnen selbst … und nicht indem eine Bürokratie eigennützig der anderen den Kopf vom Halse schlägt. Ja richtig, du bist gemeint, EVG-Vorstand!



Corona-Pandemie: Streik als Soforthilfe der ArbeiterInnenklasse

Alex Zora, Infomail 1096, 21. März 2020

Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt, insbesondere Europa fest im Griff. Täglich werden mehr und mehr Infizierte gemeldet, die Zahl der Opfer steigt mit einer ähnlichen Geschwindigkeit. Das normale Leben ist in den meisten europäischen Ländern stark eingeschränkt. Versammlungen wurden verboten, Schulen und Universitäten sind geschlossen und weitreichende Befugnisse für die Organe des bürgerlichen Staates wurden beschlossen.

Doch ein Bereich ist von den Maßnahmen bisher wenig betroffen: Die Produktionsstätten. In den meisten Ländern sind Zusammenkünfte von mehr als ein paar dutzend Menschen verboten, Kontakte mit Menschen, die nicht im selben Haushalt leben, sollen weitgehend vermieden werden und trotzdem scheint es kaum ein Problem zu sein, dass Betriebe mit hunderten oder sogar tausenden Beschäftigten ohne große Einschränkungen weiter produzieren können. Wieder einmal zeigt der Kapitalismus, dass Profite wichtiger sind als Menschenleben.

Arbeitsniederlegungen und die Rolle der Apparate

Doch vielerorts lassen sich die ArbeiterInnen das nicht so einfach gefallen. Schon vor einer Woche kam es in Italien zu einer regelrechten Streikwelle als von SchiffsbauerInnen im nördlichen Ligurien bis zu StahlarbeiterInnen im südlichen Apulien viele ArbeiterInnen spontan ihre Arbeit niederlegten, weil die Unternehmen ihnen keine Schutzmaßnahmen in den Arbeitsstätten zur Verfügung stellten. Eine Vertreterin der MetallerInnen-Gewerkschaft FIOM-CGIL meinte dazu: „Fabrikarbeiter sind nicht Bürger vierundzwanzig Stunden minus acht. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie ihr tägliches Leben durch viele Regeln geschützt und garantiert sehen, aber sobald sie durch die Fabriktore gehen, sich im Niemandsland befinden.“

Durch die weitgehend spontanen und weit
verbreiteten Arbeitsniederlegungen sah sich die Regierung in Italien gezwungen,
in die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Unternehmen einzugreifen.
Nach Verhandlungen wurde von Gewerkschaften (CGIL, CSIL, UIL) und
Unternehmensverbänden (Confindustria, Confapi) eine Übereinkunft unterzeichnet,
die die Arbeit in vielen Bereichen reduzieren soll. Ein Produktionsstopp in
allen nicht systemrelevanten Bereichen wurde aber nicht erreicht.

Dass diese Übereinkunft bei weitem nicht
ausreichend war, zeigt sich auch daran, dass die Streiks nach der getroffenen
Übereinkunft weiter gehen. So streikten Anfang dieser Woche Amazon
Lager-ArbeiterInnen in der Nähe von Mailand.

Auch in Spanien, dem am zweitstärksten betroffenen Land in Europa, kam es zu etlichen spontanen Arbeiterniederlegungen, z.B. von den Mercedes ArbeiterInnen in Vitoria. Auch hier wurde gegen die unverantwortliche Firmenpolitik protestiert, die die Aufrechterhaltung der Produktion vor den Schutz der Beschäftigten stellt.

Die (wilden) Streiks anlässlich von Corona verbreiten sich aktuell parallel zu dem Virus selbst. Am Montag kam es offenbar auch in Linz (Österreich) zur spontanen Verzögerung des Schichtbeginns um 2 Stunden, weil die KollegInnen gegen das „unverantwortliche Verhalten der Firmenleitung“ protestieren. Erst unter Mitwirkung des Betriebsrats war es dem Unternehmen möglich, die Produktion wieder aufzunehmen.

Alle diese Beispiele zeigen, dass es auch in Zeiten von Versammlungsverbot und „sozialer Isolierung“ möglich und notwendig ist, kollektive Arbeitsverweigerung zum Schutz von sich und seinen KollegInnen durchzuführen. Die Beschäftigten und die Gewerkschaften müssen sich jetzt für einen sofortigen Arbeitsstopp mit voller Bezahlung in allen Produktionsstätten einsetzen, die nicht direkt notwendig sind, um das Gesundheitssystem und die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.