1923: Niederlage der Revolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

1923 ergab sich in Deutschland nach 1918 die zweite große Möglichkeit, das Blatt der Geschichte zu wenden und durch eine siegreiche Arbeiter:innenrevolution sogar den Lauf der Weltgeschichte zu verändern. Dass dies nicht eintrat und welche Implikationen hierbei zu beachten waren, soll Gegenstand des folgenden Beitrags sein.

Revolutionäre Zuspitzung

Mitte 1923 haben wir in Deutschland alle zentralen Elemente einer revolutionären Situation: eine kapitalistische Ökonomie im Hyperinflationskollaps, Hungerrevolten und spontane Emeuten, eine schwere politische Krise auf Regierungsebene und eine gut organisierte revolutionäre KPD, die tatsächlich auf dem Sprung war, die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD über die deutsche Arbeiter:innenklasse zu beenden.

In Sachsen und Thüringen bildete die linke SPD mit Duldung der KPD eine Regierung, welche die Bildung bewaffneter Arbeitermilizen zuließ. Auf der anderen Seite der Barrikade stand die bewaffnete Reaktion zum Losschlagen bereit.

Einerseits wartete der Oberbefehlshaber der Reichswehr, von Seekt, auf die Ausrufung des Notstands durch den Reichspräsidenten Ebert (SPD), um eine Militärdiktatur zu errichten. Andererseits war der Notstand in Bayern schon vollzogen und ein autoritäres Regime errichtet, das sich unabhängig von der Reichsregierung erklärte. Hinter diesem Notstandsregime in Bayern versammelten sich auch offen faschistische Kampftruppen um Hitler und Ludendorff, die auf das Signal zum „Marsch auf Berlin“ (in Analogie zur Machtergreifung der Faschist:innen in Italien) warteten. Im Herbst 1923 marschierten bayrische Reichswehrverbände in Nordbayern auf. Alles lief auf eine Entscheidungsschlacht zwischen der revolutionären Arbeiter:innenschaft und der Reichswehr und den Faschist:innen hinaus.

Rückblickend ist die Zuspitzung der Situation, die nur als revolutionäre bezeichnet werden kann, seit August 1923 mit dem Sturz der Cuno-Regierung klar (siehe hierzu NI 276). Es ist daher lächerlich, wenn heute vielfach behauptet wird, die KPD habe sich auf Drängen der Komintern im Herbst 1923 auf ein „putschistisches Abenteuer“ eingelassen, in Deutschland wäre nie so etwas wie ein russischer Oktober denkbar gewesen.

Generalstreik und neue Regierung

Im Grunde erreichte die Krise nicht erst im Oktober, sondern im Sommer 1923 ihren ersten Höhepunkt. Die Kämpfe verdichten sich zum Generalstreik gegen die verhasste Cuno-Regierung im August 1923. Der Streik begann am 10. des Monats in Berlin mit dem Ziel, die rechtskonservative Reichsregierung zu stürzen. Dieses wurde erreicht, das Kabinett unter Cuno demissionierte am folgenden Tag. Der Streikaufruf hatte inzwischen etliche Arbeiter:innenzentren des Reichs erfasst.

Am selben Tag noch, dem 11. August, erfolgte der Ausruf einer neuen Regierung unter der Kanzlerschaft Stresemanns, der der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei vorstand, die eine Koalition mit den bürgerlichen Partnerinnen Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und der reformistischen Arbeiter:innenpartei SPD einging. Der Generalstreik flaute praktisch schon gegen Abend des darauffolgenden Tages, dem 12. August, ab.

Mit dem erzwungenen Rücktritt der alten Regierung hatte die Arbeiter:innenbewegung nur scheinbar triumphiert. Der Generalstreik war zwar von einer Reihe von Forderungen und der nach Bildung einer Arbeiter:innenregierung begleitet, aber die entscheidende Frage, wer konkret bereitstand, um diese Verantwortung zu übernehmen, wurde nicht gestellt. Sie beantwortete stattdessen die herrschende Klasse. Dass dies im Handumdrehen geschah, kann kein spontaner Zufall, sondern muss vorbereitet gewesen sein.

Der Bourgeoisie war längst klar geworden, dass das wirtschaftspolitische Steuer herumgerissen werden musste. In der Frage der Reparationszahlungen mussten neue Verhandlungen aufgenommen und die Politik des „passiven Widerstands“, die von der alten Regierung ausgegeben worden war, beendet werden. In der Währungspolitik musste möglichst bald die Reißleine gegen die Hyperinflation gezogen werden, selbst auf Kosten des Ruins großer Teile des Kleinbürger:innentums. Nicht zuletzt auch deswegen, weil aufgrund der Teuerung und Lebensmittelknappheit die Arbeiter:innenklasse sich seit dem Frühsommer 1923 zu einer herrschaftsbedrohlichen Bewegung emporgeschwungen hatte. Um aber diese einzubremsen und den neuen Kurs durchzusetzen, brauchte sie zwei verlässliche Kräfte, auf die sie sich stützen konnte, denn politisch war sie stark fraktioniert und angezählt: die Schaltstellen der Reichswehr als Garantin für die staatliche Ordnung, auch gegen partikularistische Bestrebungen in Bayern, und die Sozialdemokratie als politische Flankendeckung.

Faktor Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratische Partei hatte sich im September 1922 durch die Fusion mit dem Rest der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei zahlenmäßig stärken können, damit aber linkere Elemente in ihre Reihen aufgenommen, die oft in Betrieben besser verankert waren. Im Laufe des Jahres 1923, v. a. zum Sommer hin, verschob sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kommunistischen Partei, die gerade in industriellen Zentren mit gezielter beharrlicher Einheitsfrontpolitik die SPD ein- und überholen konnte, weil sie Arbeiter:inneninteressen besonders durch Kampfmaßnahmen entschlossener und politisch pointierter wahrzunehmen wusste. Die KPD zog neben parteilosen, z. B. syndikalistischen Arbeiter:innen, auch ehemalige USPD-Anhänger:innen an.

Dies drückte sich bspw. auch in Wahlergebnissen auf parlamentarischer wie gewerkschaftlicher und Betriebsräteebene aus. Diese günstigen Zahlenverhältnisse – teilweise sogar mit Zweidrittelmehrheit gegenüber der SPD – dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sozialdemokratische Parteiapparat weiterhin fest in der Hand der Kräfte lag, die 1918/1919 bereits die demokratische Konterrevolution erfolgreich gesteuert hatten. Nicht von ungefähr kam der Rückzug aus einer sozialdemokratischen Streikunterstützung bei der Beratung der Kommission der Berliner Gewerkschaften durch Intervention führender Parteivertreter:innen um Wels zustande.

Die SPD-Führung verfolgte offensichtlich das Ziel, durch einen raschen Eintritt in eine neue Regierungskonstellation der KPD zuvorzukommen und deren Bestrebung, die revolutionäre Bewegung in Richtung einer proletarischen Machteroberung voranzutreiben, zu unterbinden, und muss aus diesem Grund bereits frühzeitig Fühlung mit den möglichen bürgerlichen Koalitionspartner:innen für die unverzügliche Bildung einer neuen Regierung aufgenommen haben. Trotz ihrer schwindenden Dominanz spekulierte die SPD darauf, die Massen mit Sofortmaßnahmen wirtschaftlicher Art wie Herbeischaffung von Lebensmitteln und dem Versprechen, die gleitende Skala der Löhne gegen die Teuerung einzuführen, beschwichtigen zu können. Die Situation brachte sie in die Position, der Bourgeoisie diese Zugeständnisse abzuringen.

Aufstand

Nach der Regierungsumbildung ebbte die revolutionäre Bewegung deutlich ab. Dennoch konnten die Maßnahmen der Stresemann-Regierung, insbesondere gegen die Inflation, die sogar immer mehr an Fahrt aufnahm, nicht schlagartig greifen. Die Klassengegensätze wurden nicht eingeebnet, sondern spitzten sich weiter zu, insofern sich auch am rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft heterogene Teile von separatistischen, monarchistischen bis zu rechtsradikalen Kreisen formierten, die auch militärisch gerüstet waren.

Aus dieser Lage erwuchs die Einschätzung, dass Deutschland auf einen Bürger:innenkrieg zusteuern würde. Dazu musste sich die Arbeiter:innenbewegung rüsten. In dem Zusammenhang erhob sich unvermeidlich die Machtfrage. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale rief Brandler vom Parteivorstand der KPD Mitte August zu sich und drängte auf die militärische Vorbereitung eines Aufstands, um die reaktionäre Gefahr abzuwenden, die Macht zu ergreifen und die Diktatur des Proletariats errichten zu können.

Der Anweisung kam die Parteizentrale, obwohl nicht wirklich davon überzeugt, nach und bereitete sich, da diese entscheidende Auseinandersetzung heranzunahen schien, für den Oktober auf den bewaffneten Aufstand vor. Der Erstschlag sollte in Sachsen geführt werden.

Dort hatte die KPD ein Hilfsersuchen der SPD-Landesregierung befolgt, die bereits im März 1923 als Ausdruck einer Linksentwicklung in der dortigen SPD gebildet worden war. Die Regierung Zeigner fürchtete den Einmarsch von reaktionären Verbänden aus der bayerischen Nachbarprovinz, der auch der ebenfalls von einer linkeren SPD geführten Regierung in Thüringen galt.

Gegen diese Bedrohung richtete sich auch der Appell im sächsischen Landtag zur Bewaffnung der Arbeiter:innen. Um einem eigenmächtigen Vorstoß aus Bayern zuvorzukommen und eine revolutionäre Bewegung im Keim zu ersticken, schickte der SPD-Reichspräsident Ebert zur Wiederherstellung der Ordnung die Reichswehrexekutive nach Sachsen.

Auf Anraten der Komintern-Exekutive war die KPD am 10. Oktober in die beiden Landesregierungen eingetreten. Dies spielte in der Aufstandsstrategie eine tragende Rolle. Die Länderregierungen sollten als Bastionen der Arbeiter:inneneinheitsfront  bewaffnet verteidigt werden und davon sollte eine Signalwirkung für das ganze Reich ausgehen.

Die KPD-Führung wollte jedoch noch das Votum einer Betriebsrätekonferenz in Chemnitz am 21.10. einholen. Doch ihr dort – einen Tag vor dem festgelegten Aufstandsdatum! – zur Abstimmung gestellter Aufruf zum Generalstreik und zum Aufstand stieß sogar bei den eigenen anwesenden KPD-Genoss:innen auf Ablehnung. Daraufhin sagte die Zentrale den Waffengang ab.

Dennoch kam es in Hamburg, weil dort diese Absage nicht rechtzeitig eintraf, zum Aufstand. Dieser wurde durch Polizei niedergeschlagen. In Sachsen rückten die Reichswehrtruppen des Generalleutnants Müller ohne Gegenwehr ein, brachten die Landesregierung zu Fall, in der sich die KPD in Koalition mit der SPD befand, und übernahmen die Exekutivgewalt. Das Gleiche geschah in Thüringen. Die KPD trat den Rückzug an, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

Politische Fehler

Die Hintergründe der Niederlage erschöpften sich nicht im organisatorischen Aspekt, sondern reichten wesentlich weiter zurück, sind politisch-strategischer Natur und hängen eng mit der Geschichte der Partei, aber auch mit ihrer Wahrnehmung durch die Komintern zusammen.

Schon in der Zeit der Ruhrbesetzung zeigte die KPD ein janusköpfiges politisches Antlitz. Während die Frontseite der Öffentlichkeit ein glattes, gesundes Bild durch Wachstum und Aktionsreichtum bot, das die scheinbare Einheitlichkeit der Partei nach außen unterstrich, war die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge auf anderen Seite durch andauernde Auseinandersetzungen zwischen im wesentlichen zwei Fraktionen entstellt.

Die Parteiführung um Brandler und Thalheimer, nach dem Märzabenteuer 1921 im Amt, befand sich im ständigen Widerstreit mit dem linken Flügel über Lageeinschätzung und Art des Vorgehens, setzte ihre Linie des steten Aufbaus durch Anwendung der Einheitsfronttaktik fort, reagierte jedoch nicht wendig auf die sich wandelnde politische Lage. Ihre Zielstrebigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Positionen v. a. in Betrieben und Gewerkschaften. Was die Parteizentrale an Möglichkeiten der Offensive unterschätzte, das überschätzte der linke Flügel tendenziell im Vertrauen auf die eigene Kraft und die Stimmung der Massen. Die entstandenen Kampforgane wie  die roten Hundertschaften, Fabrikausschüsse, Preiskontrollkomitees waren nur teilweise kommunistisch dominiert und nicht zentral organisiert.

Die Verantwortlichen der Komintern waren eher geneigt, den Berichten des linken Flügels der KPD über die Situation in Deutschland Glauben zu schenken, deren objektiv revolutionäre Reife gewiss unbestreitbar war, deren subjektive Voraussetzungen zum Zeitpunkt des anvisierten Aufstandes jedoch zu instabil waren und zu optimistisch beurteilt wurden.

Die von der KP-Führung landesweit gesetzten Aktionsakzente, namentlich der sogenannte Antifaschistische Tag Ende Juni und der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung, waren  nicht Ergebnis einer vorbereiteten Kampagne und blieben auf halbem Wege stecken.

Die Forderung nach Machteroberung der Arbeiter:innenklasse als Konsequenz aus einem Programm von Übergangsforderungen tauchte gerade im Generalstreik erst nach dem Streikaufruf durch die Berliner Drucker:innen auf.

Diese inkonsequente Haltung äußerte sich schließlich noch in der Vorbereitung des Aufstands, wobei man nur die eigenen Genoss:innen bewaffnete und die Planung aus Furcht vor staatlichen Organen im Geheimen vor sich ging, da man wie schon bei den anderen Ereignissen vorzeitigen Zusammenstößen mit den Klassenfeind:innen aus dem Wege gehen wollte. Dies ging natürlich zu Lasten des Versuchs, einen großen Teil der Arbeiter:innenschaft im gesamten Reich zu mobilisieren. Als besonders fatal erwies sich, sich vom Zustandekommen einer sächsischen Betriebsrätekonferenz kurz vor dem festgelegten Aufstandstag abhängig zu machen.

Zusammengefasst kann gesagt werden: Der entscheidende Faktor für die Niederlage von 1923 war nicht eine „verräterische Führung“ oder eine mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter:nnen. Entscheidend waren schwerwiegende Fehler in der politischen Einschätzung der Lage und Schwierigkeiten des Übergangs von einer defensiven, lange Zeit erfolgreichen Einheitsfrontpolitik zu einer offensiven Konfrontation mit der Reaktion. Nur in der Parteiführung einen solchen Beschluss zu fällen und konspirative Umsturzpläne zu schmieden, bedeutete auch einen Bruch mit der Politik, den gewonnenen Einfluss in den Basisorganisationen der Klasse für deren Mobilisierung zur Konfrontation zu nutzen. Fabrikkomitees, Regionalkonferenzen, proletarische Hundertschaften etc. hätten schon lange vor dem Oktober entsprechende Beschlüsse und Schritte diskutieren und beschließen müssen.

Eine solche Diskussion über einen entscheidenden Schritt zu einem Arbeiter:innenstaat hätte mit einer breiten Kampagne auf der Grundlage eines Programms für den Weg zur Machteroberung der Arbeiter:innenklasse verbunden sein und politisch zentralisierte Organe hätten frühzeitig formiert werden müssen.

Infolgedessen fehlte der Übernahme der Führung des Aufstands in Deutschland eine entsprechende Fundierung in Rätestrukturen in der Arbeiter:innenschaft. So blieb der KPD nur noch der mehr oder weniger geordnete Rückzug.

Manche Revolutionen werden nicht verraten – die Revolution von 1923 wurde schlicht verpasst und durch schwere politische Fehler in den Sand gesetzt. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum die Beschäftigung mit diesen historischen Ereignissen heute noch wichtig für RevolutionärInnen ist. Sie zeigt klar die Bedeutung von revolutionären Organisationen und ihrer Führungen in sozialistischen Revolutionen, genauso wie die Möglichkeiten und Grenzen  der Einheitsfrontpolitik.




Oktober 1923: Die Debatte um die Arbeiter:innenregierung und ihre Anwendung

Bruno Tesch, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Wie ein roter Faden zog sich die Einheitsfrontpolitik als Leitgedanke durch die Tätigkeit der KPD und fand in dem Zusammenhang ihren Ausdruck in der besonderen Behandlung der Losung der Arbeiter:innenregierung. Ihre Bereicherung des taktischen Arsenals, aber auch ihre Grenzen kamen in der Situation der Aufstandsvorbereitung zum Vorschein.

Um diese taktische und strategische Kernfrage zu behandeln, kann nicht erst bei den Vorkommnissen des Jahres 1923 begonnen werden, sondern man muss weiter zurückgehen bis ins Jahr 1921, in dem die Thesen zur Taktik der Einheitsfront auf dem 3. Weltkongress der III. Internationale verabschiedet wurden.

Der Einheitsfrontgedanke entsprang der Situation, dass die kommunistischen Parteien sich bei ihrer Formierung außerhalb der Sowjetunion einer Mehrheit von reformistischen, in den meisten Ländern sozialdemokratischen Organisationen gegenübersahen, die entscheidenden Einfluss auf die Arbeiter:innenklasse ausübten. Sie mussten nach Wegen suchen, diesen Einfluss zurückzudrängen, um stärkeren Zugang zu den Massen zu finden. Dazu waren Angebote auch an andere Arbeiter:innenorganisationen zur Einheit in der Aktion als gemeinsame Front gegen die Klassenfeind:innen notwendig. Unumstrittene Grundbedingung für ein vereintes Handeln war allerdings die vollständige Wahrung der organisatorischen Unabhängigkeit und die Freiheit der Kritik an den Bündnispartner:innen. Die Einheitsfront als umfassendes taktisches Mittel konnte und sollte sich auch in verschiedenen Stufen ausdrücken, die in einer Form gipfelten, die in der kommunistischen Bewegung debattiert und entfaltet wurde: die Taktik der Arbeiter:innenregierung.

Die Jahre 1921 und 1922 waren prägend für die Ausarbeitung der Strategie und Taktik der KPD in Bezug auf Einheitsfront und deren besondere Form der Arbeiter:innenregierung. Im Folgenden sollen wichtige Stationen auf dem Weg der Präzisierung der Losung und ihrer Anwendung nachgezeichnet werden.

Duldung von sozialdemokratischen Regierungen

Zunächst ging es im Herbst 1921 um die Politik gegenüber „sozialistischen“ (gemeint waren sozialdemokratisch geführte) Arbeiter:innenregierungen, zu denen das neu gewählte Politbüro der KPD eine elastischere Haltung einnehmen wollte, um die Aktionseinheit zu fördern. Im Mittelpunkt standen dabei Abstimmungen über die Steuerfrage, in der die KPD es von der politischen Situation abhängig machte, ob diese Regierungen gestützt oder gestürzt werden sollten. Die Mehrheit der Parteimitglieder sprach sich auf jeden Fall gegen einen Eintritt in solche Regierungen aus.

Die Partei richtete nach dem Jenaer Parteitag (22. – 26.8.1921) eine parlamentarische Zentralstelle als besondere Abteilung des Politbüros ein, deren erste Stellungnahme zur Bildung einer „sozialistischen“ Regierung nach den thüringischen Landtagswahlen vom 11.9.1921 erfolgte. Die KPD, die sich zum ersten Mal nach den Märzkämpfen den Wähler:innen stellte, gewann 6 Mandate. Es entstand im Landtag eine sozialdemokratisch-kommunistische Sitzmehrheit. Eine Mehrzahl der SPD und USPD-Abgeordneten trat für Verhandlungen mit der KPD über eine Regierungsbildung ein. Das Politbüro der KPD lehnte dies zwar ab, wollte aber die Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen von SPD bzw. USPD ermöglichen und die Regierung bei „konsequent proletarischer Politik“ unterstützen.

Gegen den Widerstand der thüringischen Parteiorganisation setzte die Zentrale durch, auch im Interesse der Bewegung im Reich nichts unternehmen zu wollen, „was der SPD erleichtern könnte, eine Koalition nach rechts einzugehen“.

Auf dem Parteitag der SPD (24.9.1921) stimmten nach der politischen rechtsradikalen Bedrohung auch gegen bürgerlich-liberale Kreise (Ermordung von Erzberger) über 70 % der Delegierten für eine Erweiterung der Reichsregierungskoalition nach rechts unter Einschluss der Deutschen Volkspartei. Hingegen wurde eine Einheitsfront mit den Kommunist:innen abgelehnt. Das neue Parteiprogramm sagte sich vom Klassenkampf los hin zur Klassenkollaboration.

Im November 1921 legte der Zentralausschuss der KPD Thesen über das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den sogenannten sozialistischen Regierungen vor. Darin wurden die sozialdemokratischen Auffassungen von Arbeiter:innenregierungen als „Schutzwall der Bourgeoisie gegen die proletarischen Massen“ bezeichnet. Die Bildung solcher Regierungen ohne eigene Beteiligung sollte aber zugelassen werden, weil sie eine „revolutionierende“ Rolle „als klassische Schule zur Überwindung bürgerlich-demokratischer Illusionen“ spielen könnten. Aber die KPD sollte sich von solchen Regierungsbildungen fernhalten und stattdessen den Kampf für die Eroberung der Staatsmacht und Aufrichtung der proletarischen Diktatur durch die Räteordnung führen.

Erste Anzeichen veränderter Taktik

Die Erwartung einer Räterepublik in den Thesen wurde von Radek, dem Verbindungsmann zum EKKI, kritisiert, der die Arbeiter:innenregierung als derzeit günstigste Etappe bezeichnete. Da SPD und USPD nicht wirklich die Absicht hegten, eine „sozialistische“ Regierung zu bilden, müsse anders an die Sache herangegangen werden. Die Partei solle vielmehr die Massen für eine Arbeiter:innenregierung beeinflussen. Diese müsse auf parlamentarischem Wege „zum Ansatzpunkt zu neuen siegreichen revolutionären Kämpfen werden.“ Konkret könne eine Kampagne den Hebel bilden, die gemeinsame Forderung nach Erfassung der Sachwerte in Gold durchzusetzen und in einem Kampfabkommen die Massen gegen eine „Stinnes-Koalition“ (bürgerliche Rechtserweiterung) zu mobilisieren.

Der KPD-Zentralausschuss lehnte es ab, die Losung der Arbeiter:innenregierung in den Mittelpunkt einer Kampagne zu stellen, und hielt fest, dass die Aufstellung von sachlichen, politischen und wirtschaftlichen Zielen geeigneter sei, den Kampf der Massen zu entfesseln. Bendler, der „Erfinder“ des Begriffs „sozialistische Regierung“ hatte sie nicht als Einheitsfrontlosung gedacht, sondern meinte, das Angebot an die sozialdemokratischen Parteiführer:innen wäre „das Gefährlichste in der ganzen Taktik der sozialistischen Regierung“ und würde „sie ihres revolutionären Massencharakters entkleiden und zu einem parlamentarischen Gaukelspiel werden lassen.“

Jedoch zeigten sich verschiedene Auffassungen in der Partei über die Frage der Taktik gegenüber der Sozialdemokratie auf politisch parlamentarischer Ebene. Die Opposition wandte sich auch gegen die Unterstützung der sozialdemokratischen Länderregierungen und forderte, Steuern in den Landtagen abzulehnen und damit Regierungen stürzen zu lassen. Böttcher, der Mehrheit zuzurechnen, meinte: „Wir werden die sozialistische Regierung unterstützen, parlamentarisch und außerparlamentarisch, wenn sie sich gegenüber der Bourgeoisie im Angriff befindet“.

Thalheimer hob hervor, dass günstige Möglichkeiten durch die am 15.November 1921 aufgestellten zehn Mindestforderungen der Gewerkschaften (ADGB und Angestelltenbund) zur Steuer- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden wären, worin sie ein Eingreifen der Regierung zur Kontrolle der Privatwirtschaft und Sozialisierung des Kohlebergbaus, Erfassung der Sachwerte, Exportdevisen und eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik forderten. Die Zentrale schlug vor, eigene weitergehende Forderungen zugunsten einer gemeinsamen Kampffront zurückzustellen.

Konkretisierung und Paradigmenwechsel

Noch im November 1921 berieten die Landtagsfraktionen von Sachsen, Thüringen und Braunschweig, wo  sich die KPD in Opposition zu von SPD und USPD geführten Regierungen befand, über ein abgestimmtes Vorgehen, z. B. Abstimmung gegen ein Misstrauensvotum aus dem reaktionären Lager, was letztlich von der Zentrale gebilligt wurde.

Im Dezember traf die Parteiführung eine weiter reichende Entscheidung, indem sie nunmehr feststellte: „Der Drang nach der Einheitsfront muss seinen politischen Ausdruck in einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung finden, die den Koalitionsregierungen gegenüberzustellen ist. (…) Die KPD muss den Arbeiter:innen sagen, dass sie bereit ist, das Zustandekommen einer sozialistischen Arbeiter:innenregierung mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu fördern, und dass sie bereit ist, in solch eine Regierung einzutreten, wenn sie die Gewähr haben wird, dass diese Regierung im Kampfe gegen die Bourgeoisie die Interessen und Forderungen der Arbeiter:innenschaft vertreten, die Sachwerte erfassen, die Kappverbrecher:innen verfolgen, die revolutionären Arbeiter:innen aus den Gefängnissen befreien wird …“. Alles sollte getan werden, um die linken Flügel der SPD und USPD, die sich gegen die Koalition (mit den bürgerlichen Parteien) wendeten, zu stärken.

Die Exekutive der KI riet der KPD, öffentlich ihre Bereitschaft zu erklären, in eine Arbeiter:innenregierung des Kampfes gegen die Bourgeoisie einzutreten, und verwies darauf, dass an einer Koalition der Arbeiter:innenorganisationen im Prinzip auch nichtsozialistische Parteien teilnehmen könnten. Die Terminologie müsse sich von „sozialistische Regierung“ in „Arbeiter:innenregierung“ ändern, um die sozialdemokratischen Parteien nicht fälschlicherweise als sozialistisch zu bezeichnen und zu zeigen, dass die ganze Klasse ohne Rücksicht auf politische und weltanschauliche Differenzen zusammengefasst werden sollte. 

Nach Einwänden wurde in den Brief eingefügt, dass der Eintritt der KPD in die Landesregierungen nicht als unmittelbar bevorstehender Schritt zu betrachten sei.

Die Zentralausschusssitzung der KP im Januar 1922 dämpfte vorschnelle Erwartungen über die Herstellung einer Einheitsfront. In der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition KAG (Levi), die den Vorhutanspruch der Partei bestritt und in Gegensatz zum Einheitsfrontgedanken bringen wollte, wurde dies abgewiesen, denn erst die revolutionäre Partei könne der Einheitsfront die entscheidenden Kampfanstöße und -perspektiven verleihen.

Die linke Opposition bemängelte, dass die Einheitsfront zu starr und unbefristet ausgelegt werde, da sie als Taktik zu verstehen sei und ein Festhalten daran, wenn sich die Umstände ändern, eine ungünstige Wirkung haben könne und deshalb nicht zum Programm gemacht werden dürfe. Dies führe dazu, die revolutionären Ziele aufzugeben und das Hineinwachsen in den Reformismus zu fördern. Der Vorwurf ging auch an die Adresse des III. KI-Weltkongresses, der den Klärungsprozess in den Mitgliedschaften gehemmt habe. Die Linken stießen sich auch an dem Begriff „Arbeiter:innenregierung“ und wollten ihn durch „sozialistische Regierung“ ersetzt wissen. Rosenberg drückte die Position der Opposition so aus: „Der Begriff ‚Arbeiter:innenregierung‘ darf nicht mit der ‚rein sozialistischen‘ (d. h. sozialdemokratischen) vermengt werden. Unter ‚Arbeiter:innenregierung‘  verstehen wir eine solche Regierung von Vertrauensleuten des Proletariats, die sich nicht auf  eine parlamentarische Zufallsmehrheit, sondern auf die Arbeiterorganisationen außerhalb der Parlamente stützt.“ (zit. nach Reisberg, Arnold: An den Quellen der Einheitsfrontpolitik – Der Kampf der KPD um die Aktionseinheit in Deutschland 1921 bis 1922, Band II, S. 634)

Regierungseintritt als taktische Option

Aufgrund der Diskussionen in der Partei und Einlassungen der KI über den Charakter von Arbeiter:innenregierung und deren möglicher Dynamik zur Mobilisierung der Arbeiter:innenmassen wurde die Resolution „Zur politischen Lage und zur Politik der KPD“ im Punkt Arbeiter:innenregierung im Frühjahr 1922 nachgebessert und lautete nun: „In der Erkenntnis, dass eine Arbeiter:innenregierung gegenüber einer offenen oder verkappten Stinnes-Regierung die Möglichkeit einer politischen Machterweiterung des Proletariats bedeutet (z. B. durch Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionär:innen, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.), ist die KPD bereit, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Arbeiter:innenregierung, sei es im Reiche, sei es in den Ländern, einzutreten. Der Eintritt der Kommunist:innen in eine solche Arbeiter:innenregierung hängt ab von dem Kampfwillen der Arbeiter:innenmassen und der sich auf diese Massen stützenden Parteien sowie von den realen Möglichkeiten, die gegeben sind, um die Arbeiter:innenmacht zu befestigen und auszudehnen“.  Die Formulierung von der Arbeiter:innenregierung als Schutzwall der Bourgeoisie wurde fallengelassen.

Dieser Beschluss beseitigte jedoch nicht die Differenzen bei der konkreten Anwendung in den Landtagen, z. B. bei der Bewilligung von Haushaltsvorlagen. Im April 1922 musste eine weitere Parlamentarierbesprechung, diesmal aus dem ganzen Reich, einberufen werden, bei der „Richtlinien über ein gemeinsames Vorgehen in den Ländern mit sozialistischen Regierungen, auch unter dem Gesichtswinkel der Schaffung eines roten Blocks gegenüber der reaktionären Reichspolitik und gegenüber Bayern“ erarbeitet wurden. Zur Haushaltsfrage einigte man sich lediglich auf „schärfstes Vorgehen gegen die Entstaatlichung der Betriebe“.

Als die rechtskonservative DNVP ein Volksbegehren zur Auflösung des sächsischen Landtages einleiten wollte, setzten sich einige Parteivertreter:innen für den bedingungslosen Eintritt der Kommunist:innen in die sächsische Regierung ein, um den reaktionären Streich zu stoppen. Dem widersprach das Politbüro und bezeichnete es als „opportunistische Haltung“ ebenso wie denjenigen, die sich prinzipiell gegen jede Regierungsbeteiligung aussprachen, was als KAPD-Tendenz betrachtet wurde.

Zu ersten Verhandlungen zwischen den  drei Arbeiter:innenorganisationen kam es Ende April 1922 auf Vorschlag der KPD, durch Neuwahlen Voraussetzungen für „eine einheitliche Klassenfront herzustellen“, die jedoch scheiterten, wie auch weitere Anläufe,

die die KPD stets an Grundbedingungen knüpfte, erst recht nach der Fusion von SPD und USPD. Auf der ergebnislosen Berliner Konferenz der drei Internationalen im Februar war bereits absehbar gewesen, dass es auf großer Bühne keine verbindlichen Abmachungen zur Einheitsfront geben würde.

Aber die KP-Zentrale erklärte im Mai 1922: Der Schritt einer Regierungsbeteiligung, der in der ganzen Kommunistischen Internationale  noch nicht praktiziert worden war, sollte er umsetzbar sein, wäre dann auch wegweisend über Sachsen hinaus. Die Zentrale schlug deswegen vor, dass sich alle Länder mit Arbeiter:innenregierungen zu einem Block zusammenschließen, um gegen den reaktionären Kurs im Reich Stellung zu nehmen und ihn zu durchkreuzen. Die  Lösung der Aufgaben der proletarischen Revolution könne von einer Landesregierung nicht erwartet werden, sie könne aber ein Stützpunkt für die Revolution sein.

Internationale Diskussion

Vom 7. – 11.6.1922 trat die zweite Erweiterte Exekutive der Kommunistische Internationale mit Abordnungen aus allen Gliedsektionen zu Beratungen über Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung zusammen.. Neben Deutschland stand dies auch in der Tschechoslowakei auf der Tagesordnung. Die tschechoslowakische KP bejahte  nicht nur die Frage der Bereitschaft zur Unterstützung, nach Teilnahme an  einer Arbeiter:innenregierung, sondern zur Verantwortungsübernahme sogar im Falle der Möglichkeit einer Minderheitsregierung, bei gegebener Lage von Arbeitermassenmobilisierung. Ihr Abgeordneter Smeral sagte, dass zwischen den Alltagsforderungen, von denen die Aktion der Partei ausgehe, und dem Endziel der Machteroberung des Proletariats die Notwendigkeit eines Bindeglieds in Form der Losung der Arbeiter:innenregierung bestehe. Dies verfehlte nicht seinen Einfluss auf die Diskussion in der deutschen Sektion. Die Losung der Arbeiter:innenregierung wurde bis auf die italienische und Teile der französischen Delegation einvernehmlich als Krönung der Einheitsfront betrachtet.

Kennzeichen einer ungenügenden Wahrnehmung der Frage der Arbeiter:innenregierung war es jedoch, dass im November 1922 die Entscheidung über den Eintritt in die sächsische Landesregierung, ob dies von der KP-Bedingung, Gesetze einer Betriebsrätekonferenz vorzulegen, abhängig gemacht werden sollte oder nicht, von der Exekutive der KI bzw. der KPD-Parteizentrale wieder auf den sächsischen Landesparteitag zurückverwiesen worden war, der dann an der Bedingung festhielt. Das Politbüro billigte dessen Beschluss, aber die Landtagsfraktion sollte auf jeden Fall den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten mitwählen.

Parteitag Januar 1923

Es herrschte weiter Uneinigkeit über die unterschiedlichen Konzeptionen in der Partei zur Einheitsfront und zur Arbeiter:innenregierung.  Der 8. Parteitag vom 28.1. – 1.2. 1923 war anberaumt worden, um eine Klärung herbeizuführen. In Brandlers Hauptreferat für den Parteivorstand über Einheitsfront wies er die Einheitsfront nur von unten als undialektisch zurück. Er erklärte: „Die Arbeiter:innenregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiter:innenpolitik zu treiben“. Zu den Anforderungen an eine Arbeiter:innenregierung gehörten neben wirtschaftlicher Existenzsicherung der arbeitenden Klassen auch die gewaltsame „Niederkämpfung der gesamten Widerstände der Bourgeoisie gegen die Arbeiter:innenregierung und ihr Programm. (…) In diesen Kämpfen (…) wird die Arbeiter:innenregierung gezwungen werden, den Rahmen der Demokratie zu überschreiten, zu diktatorischen Maßnahmen überzugehen“.

Auch die Beteiligung der Kommunist:innen an einer Arbeiter:innenregierung im Reich wurde prinzipiell bejaht. Länderregierungen sollten als Stützpunkte im Kampf darum dienen. Zur Arbeiter:innenregierung zählte er auch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die bisher „der linke Flügel der Bourgeoisie war, jetzt der rechte Flügel der Arbeiter:innenregierung werden soll“.

Über diese Vorlage kam es zur Kampfabstimmung gegen die linke Opposition, die eine Arbeiter:innenregierung ohne vorherige Schaffung von ‚Räteorganen‘ und „ohne Aufrollen der Waffenfrage durch die Arbeiter:innenschaft“ verwarf. Die Abstimmung  ergab eine Zweidrittelmehrheit für den Thesenentwurf der Zentrale über die „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiter:innenregierung“.

Im März 1923  schienen sich die günstigen Vorzeichen für die Kommunist:innen zu mehren, als sich linkere sozialdemokratische Landesregierungen in Sachsen und Thüringen formierten, die auch bewaffnete Organe wie die proletarischen Hundertschaften zuließen. Der tatsächliche Regierungseintritt der KPD im Oktober folgte spät, aber nicht überraschend. Dies und das nicht einmal zweiwöchiges Dasein der Landesregierungen führten nach dem Eklat erneut zu heftigen Diskussionen in Partei und Internationale.

Opportunistische und sektiererische Konzepte über Einheitsfrontpolitik und die Vorstellung von Arbeiter:innenregierung waren aber schon lange vorher aufeinandergeprallt und gingen eine verhängnisvolle kontraproduktive Wechselwirkung ein. Auf der einen Seite verfestigte sich aus der Erkenntnis, dass die Klasse eine Regierung aus Arbeiter:innenparteien als Errungenschaft betrachtet, der Glaube, sie für deren Verteidigung mobilisieren zu können und damit die Basis zu legen für einen allgemeinen Aufstand, ohne jedoch die entsprechend zentralisierten Klassenorgane ins Feld führen zu können, zugleich aber die Vorbereitung auf den Entscheidungskampf gegen den Klassenfeind unter Ausschluss der Massen und im Geheimen durchzuführen. Es war somit kein Zufall, dass die entscheidende Phase der Ereignisse 1923 in der Frage der Arbeiter:innenregierung kulminierte und auf tragische Weise die Niederlage der Revolution besiegelte.




Rechtsruck in Deutschland: Neuausrichtung der CDU?

Leonie Schmidt, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Innerhalb der CDU stellt sich schon länger die Frage nach einer Neuausrichtung. Immerhin erlitt sie bei der Bundestagswahl 2021 eine Niederlage, ist aktuell nicht Teil der Regierung und spielt somit auf Bundesebene die Oppositionsrolle. Anders als Grüne oder FPD konnten CDU/CSU keine einheitliche Strategie vorweisen – und grundlegende Fragen um ihre „Neuorientierung“ sind  auch unter Merz in Wahrheit ungelöst.

Von der Krise der Ampel konnte auch deshalb nicht die Union, sondern fest ausschließlich die AfD profitieren. Der Rechtsruck und das sich verändernde Wahlverhalten in Deutschland stellt die CDU vor ein großes Fragezeichen: nach rechts rücken und mit der AfD koalieren oder weiterhin zuzugeben, eine, wenn auch recht löchrige „Brandmauer“ aufrechtzuerhalten?

Daher verwundert es nicht, dass sich die CDU auch jetzt ein neues Parteidesign ausgedacht hat, was unter starker Kritik steht. Auffällig sind zum einen die prominenten Deutschlandfarben und zum anderen das Türkis, welches für viele Kritiker:innen dem der AfD ähnelt. Expert:innen gehen davon aus, dass die Veränderung insbesondere auch der Abgrenzung zur CDU unter Angela Merkel und ihrem Konservatismus dient. Da neue Parteidesigns sicherlich keine unüberlegte Entscheidung sind, setzt die CDU an dieser Stelle schon einmal ein visuelles Zeichen für eine Neuausrichtung, deren Ziel es ist, der AfD wieder einige Wählende streitig zu machen. Des Weiteren wird auch innerhalb der CDU aktuell an einem neuen Grundsatzprogramm gefeilt, was die parteipolitische Ausrichtung wieder auf Vordermann bringen soll.

Innerparteilicher Rechtsruck: Berlin …

Kai Wegner, amtierender Regierender Bürgermeister von Berlin, brachte der CDU einen mächtigen Wahlerfolg ein, als er 2023 den Posten in Berlin einheimste, einer Stadt, die lange von R2G regiert wurde. Interessant hierbei ist, mit welchem Programm und welcher Rhetorik er sich den Wahlsieg erkämpfen konnte. Sein Programm ist klar rechtskonservativ und immer wieder kam es von seiner Seite auch zu rechtspopulistischen Äußerungen. Er stellte klar, ein „Anwalt der Autofahrer“ sein zu wollen und sich gegen die Verkehrswende im Sinne der Fußgänger:innen und Radfahrer:innen zu stellen. Dabei schürte er erfolgreich die Angst der Wähler:innen, bald auf ihr geliebtes Statussymbol und Verkehrsmittel der Wahl verzichten zu müssen. Dass es sich dabei nicht nur um ein Wahlversprechen handelte, wird jetzt klar: Die CDU-Fraktion möchte den Rad- und Fußverkehr zukünftig gegenüber dem Autoverkehr noch mehr benachteiligen. Radwege sollen schmaler sein dürfen und ihre Instandhaltung sollte Vorrang vor Neubau genießen.

Auch rassistische Äußerungen halfen ihm, den Wahlsieg zu erringen. So hetzte er besonders gegen Migrant:innen bezüglich der Silvesternachtkrawalle 2022/23 und wollte mit einer parlamentarischen Anfrage die Vornamen Festgenommener erfahren, um sein Narrativ zu stützen. Auch wenn das Resultat, die meisten Namen waren deutsch gelesene, seiner Logik widersprach, nutzte er weiterhin das Framing von den „kriminellen Ausländer:innen“, gegen die er vorgehen wolle. Auch hier zeigt sich der Rechtsruck und die CDU konnte sich als „Law -and-Order-Partei darstellen, die die Sicherheit der braven deutschen Bürger:innen garantiert und die Rechte und Befugnisse der Polizei weiter ausbauen will.

Das kam gut bei an bei den Wähler:innen in Berlin, insbesondere beim Kleinbürger:innentum und den rückschrittlichen Teilen der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist es auch den Versäumnissen von R2G zuzuschreiben, dass sich Wegner durchsetzen konnte. Beispielsweise, dass sich trotz Volksentscheid nichts hinsichtlich Deutsche Wohnen & Co. enteignen getan hat, weil sich Franziska Giffey querstellt und zusammen mit der CDU die Vergesellschaftung verhindern will. Im Allgemeinen entschied sie sich lieber dafür, unter Wegner in einer GroKo zu regieren, statt wenigstens ein paar soziale und umweltbezogene Zugeständnisse an Grüne und Linkspartei zu machen.

… und Bayern

Auch in Bayern glänzt die CSU mit rechtspopulistischer Rhetorik. So ist auch bei ihr das Vorbild des US-amerikanischen Senators Ron DeSantis angekommen, weswegen sie begann, gegen Dragshows und deren vermeintliche Gefahr für Kinder zu hetzen. Aber warum? Die CSU hat in Bayern eine spürbare rechte Konkurrenz: die Freien Wähler unter Hubert Aiwanger, welche trotz (oder gerade wegen) seiner antisemitischen Flugblattkampagne an Zulauf gewonnen haben. Deswegen muss sie sich auch hier rechter positionieren, um ihre Wähler:innen nicht zu verlieren. So trat Markus Söder prominent auf einer rechtspopulistischen Demo, organisiert von den Freien Wählern, in Erding gegen die Heizungspläne der Ampelregierung auf, wo sein Schulterschluss mit rechten und verschwörungsideologischen Kräften daran scheiterte, dass er sich zwar als Teil des rechten Sammelsuriums sah, dieses ihn aber nicht als Teil von ihrer „Volksbewegung“.

Dennoch ist die Union aber keine rechtspopulistische Partei, sondern weiterhin eine rechte, konservative Partei, die auf Biegen und Brechen hin versucht, ihre Wähler:innen nicht an die AfD, und in Bayern an die Freien Wähler, zu verlieren und gleichzeitig die sozialen Angriffe im Sinne der herrschenden Klasse zu verschleiern versucht. Dafür nutzt sie auch immer mehr rechtspopulistische Rhetorik. Jedoch stützt sie sich auf keine Protestbewegung und vertritt weiterhin die Interessen des globalisierten Großkapitals. Natürlich könnte es passieren, dass sie in ihrer Taktik komplett auf Rechtspopulismus umschwenkt, doch das hängt vor allem davon ab, wie sich die Krisen weiterentwickeln, ob sich die Kräfteverhältnisse der Kapitalfraktionen innerhalb der herrschenden Klasse verschieben und sich der Klassenkampf weiter zuspitzt, sodass es noch mehr vonnöten ist, durch Rechtspopulismus die Klasse zu spalten und Verwirrung zu stiften.

CDU und AfD – gemeinsam stark?

Wenngleich es aufgrund der verhassten Politik der aktuellen Ampel- und der vorherigen GroKo-Regierungen und der Prozente der AfD zu einer Möglichkeit geworden ist, dass AfD und Union nicht nur auf lokaler Ebene gemeinsam regieren, sondern auch in Ländern und im Bund, so unterscheiden sich ihre politischen Ausrichtungen doch (noch) erheblich. So vertritt die CDU vor allem die entscheidenden Sektoren des globalisierten Großkapital und ein enges geostrategisches Bündnis mit den USA im neuen Kalten Krieg gegen Russland und China. Die AfD setzt eher auf das binnenmarktorientierte mittelständische Kapital und vertritt einen EU-feindlichen und NATO-kritischen außenpolitischen Kurs.

Zugleich setzen sie sich beide für eine Entlastung der Reichen ein und bieten ihnen Steuergeschenke an: So möchte zum Beispiel die CDU die Steuerbelastung für Gewinne bei 25 % deckeln, während die AfD noch weiter geht und sich in allen Fragen für Steuersenkungen für Reiche und Unternehmer:innen ausspricht, auf Bundesebene die Abschaffung des Solidaritätszuschlags fordert und eine Steuer für hohe Vermögen ablehnt. Eine neue Analyse des DIW zeigt nun auch, wie stark sich die Positionen von Union und AfD überschneiden: Die stärkste Schnittmenge gibt es von allen untersuchten Parteien mit der Union, was nun eher weniger verwunderlich ist. Besonders stark ist diese in Bayern und in Thüringen, wo 74 Prozent der Antworten, also fast drei von vier Positionen, identisch sind. Am stärksten fällt die Überschneidung von Union und AfD bei der Klima- und Umweltpolitik aus, gefolgt von der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik. So zeigten sich ihre gemeinsamen Positionen, als sie zusammen in Thüringen für die Senkung der Grunderwerbssteuer eintraten.

Aber bei all diesen Gemeinsamkeiten, dürfen dennoch nicht die Unterschiede zwischen den beiden Parteien unter den Teppich gekehrt werden. Wenngleich sich die CDU bei der Migrationspolitik zunehmend rechtspopulistischer äußert, wie beispielsweise nach den Ausschreitungen in Stuttgart im baden-württembergischen Landtag, so sind die von der AfD geforderten geschlossenen Grenzen und der Migrationsstopp überhaupt nicht im Interesse der Kapitalfraktion, deren Interessen die CDU vertritt. Einerseits würde das die Lieferketten und die Just-in-time-Produktion gefährden, welche relevant für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind. Andererseits würde es ebenso bedeuten, dass es schwieriger sein dürfte, Arbeitskräfte für den Niedriglohnsektor anzuwerben, da diese Jobs oft von Migrant:innen ausgeführt werden. Auch der Kampf gegen den viel beschworenen Fachkräftemangel dürfte sich so eher ineffektiv gestalten.

Das zeigt auch die Positionierung vom Arbeit„geber“:innenverband BDA (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände), welcher Erwerbsmigration stärken möchte und dafür 2022 einen 10-Punkte-Plan veröffentlicht hat, welcher u. a. Entbürokratisierung und schnellere Anerkennungsverfahren, aber auch eine Aufhebung des Zeitarbeitsverbots für Migrant:innen und eine klare Trennung zwischen Asyl- und Migrationspolitik beinhaltet. So soll die Zahl der „beruflich qualifizierten Zuwanderer:innen“ schnell gesteigert werden. Die AfD hingegen will zum Beispiel Sonderregelungen abschaffen, die Asylsuchenden Bleiberecht gewährleisten, wenn sie einer Arbeit oder einer Ausbildung nachgehen möchten. Sie unterstellen den betroffenen Migrant:innen an dieser Stelle, sie würden sich „unter Vortäuschung eines Asylgrundes den Zugang zum Arbeitsmarkt erschleichen“.

Noch größer sind zur Zeit die Unterschiede in der internationalen Politik. CDU/CSU wissen, was das deutsche Kapital an der EU hat. Der Euroraum und die EU-Ökonomie bilden eine wichtige Stütze des deutschen Imperialismus. Im globalen Konkurrenzkampf kann er darauf schlecht verzichten. Ebenso wenig können die EU und Deutschland heute auf die NATO pfeifen. Die eigene Aufrüstung, eine mögliche Stärkung der militärischen Rolle Deutschlands kann zur Zeit nur im Windschatten der US-Dominanz verfolgt werden. Natürlich hat auch die AfD selbst kein Problem mit der Aufrüstung der Bundeswehr und massiven Steigerungen der Rüstungsproduktion.

Aber eine Koalition auf Bundesebene würde voraussetzen, dass die AfD an dieser Stelle die Positionen der CDU/CSU annimmt – sicher kein Ding der Unmöglichkeit, wie Meloni in Italien oder Le Pen in Frankreich zeigen. Es würde aber nicht nur zu Konflikten in der Union, sondern vor allem auch in der AfD führen.

Zwischen beiden Parteien bestehen also durchaus erhebliche Gegensätze. Wenn die CDU also nicht in der Lage ist, die Interessen dieser Kapitalfraktion, welche sie aktuell abbilden soll, zu vertreten, könnte sich ihre Zukunft schwierig gestalten. Dementsprechend wäre eine Koalition mit der AfD sehr riskant für die Union. Deshalb betont auch Friedrich Merz immer wieder, dass die Brandmauer gegen diese nicht einreißen darf und eine Zusammenarbeit auf Bundesebene ausgeschlossen sei. Aber es geht hier nicht darum, die bürgerliche Demokratie zu schützen, sondern wie bereits erwähnt die Interessen des Großkapitals.

Sollte es zu Verschiebungen innerhalb der herrschenden Klasse kommen, was nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden darf, könnte es eine Zusammenarbeit geben, die vor allem für soziale Angriffe auf Arbeiter:innen, Migrant:innen und sozial Unterdrückte stände. Das dürfte keineswegs widerstandslos hingenommen werden. In jedem Fall mehren sich die Anzeichen, dass die CDU/CSU eine begrenzte Zusammenarbeit mit der AfD zuerst auf Länderebene testen könnte – z. B. in Sachsen oder Thüringen.

Um diese und eine später auch mögliche Koalition im Bund zu bekämpfen, werden uns „Brandmauern“ aller Demokrat:innen gegen die AfD nicht weiterhelfen. Die Geschichte wie auch die aktuelle Entwicklung in zahlreichen Ländern zeigen, dass die herrschende Klasse durchaus bereit ist, auf Rechtspopulist:innen oder auch ehemalige Faschist:innen wie Meloni zurückzugreifen, wenn diese entschlossen die Interessen der dominierenden Kapitalfraktionen vertreten.

Nur mittels einer Politik, die praktisch die Klassenfrage, und zwar die politische wie die ökonomische, in den Mittelpunkt stellt, kann der Rechtsruck zurückgeschlagen werden und CDU, Freien Wählern oder AfD der Wind aus den Segeln genommen werden! Revolutionär:innen müssen daher für den gemeinsamen Abwehrkampf gegen die Angriffe von Kapital und Regierung eintreten. Sie müssen jede klassenübergreifende Zusammenarbeit mit den offen Bürgerlichen zurückweisen und innerhalb einer Einheitsfront von Gewerkschaften und, wo möglich, auch von reformistischen Parteien aktiv auf die Widersprüche des Kapitalismus aufmerksam machen und für notwendige radikale Forderungen kämpfen.




DSA: unabhängige Arbeiter:innenorganisation oder Schoßhund der Demokratischen Partei?

Stephie Murcatto, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Die Entwicklung der US-Arbeiter:innenbewegung und vor allem der Democratic Socialists of America (DSA) hat international viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Besonders groß war die Unterstützung, die Bernie Sanders’ Kampagne als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei erfuhr. Er bezeichnete sich offen als Sozialist und erhielt dennoch Zuspruch von Millionen. Auch wenn Sanders nie mit der Demokratischen Partei, einer der beiden zentralen politischen Stützen des US-Kapitals, brechen wollte, so offenbarte seine Kampagne, dass „Sozialismus“ keineswegs alle Wähler:innen abschreckt.

Katalysator

Seine Kandidatur beunruhigte nicht nur das Establishment der Demokratischen Partei um Clinton (2016) und Biden (2020), sondern fungierte als Katalysator für den massiven Zulauf und eine Linksentwicklung der Democratic Socialists of Amerika (DSA), einer Organisation, die auf eine, wenn auch nicht gerade glorreiche, Geschichte zurückblickt. Sie war über Jahrzehnte eine sozialdemokratische Minipartei. Sie trug als Mitglied der Sozialistischen Internationale deren proimperialistische Politik voll mit und fungierte als pseudolinkes Anhängsel der Demokratischen Partei und unterstützte fast jede Schweinerei der US-Außenpolitik, so auch den Vietnamkrieg.

2015 zählte die DSA 6.200 Mitglieder. Danach wuchs sie rapide an auf bis zu ungefähr 83.000 im Jahre 2022, wobei die Zahl im Jahre 2023 wieder leicht auf 78.000 gesunken ist. Dies ging zugleich mit einer Linksentwicklung der Organisation einher. 2017 trat die DSA aus der II. Internationale wegen deren neoliberaler Politik aus.

Trotz Stagnation und Rückgangs im letzten Jahr umfasst die DSA eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedern, die relativ neu politisch organisiert sind und ein Interesse an sozialistischer Politik aufweisen. Dieser Aufschwung hat die Organisation deutlich nach links gerückt, sodass auch offen davon geredet wurde, nicht weiter der linke Flügel der Demokratischen Partei zu bleiben, sondern auch eine eigene Arbeiter:innenpartei zu gründen.

Das Verhältnis zur Demokratischen Partei bildet daher seit fast einem Jahrzehnte eine, wenn nicht die, Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der DSA. Dies zeigt sich nicht nur bei den Conventions (Kongressen) der Partei, sondern auch daran, dass die 6 DSA-Mitglieder über die Liste der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus, einer der beiden Kammern des US-Kongresses, vertreten sind. Das wahrscheinlich bekannteste Mitglied ist Alexandria Ocasio-Cortez, kurz AOC. Auch wenn diese 6 auf dem linken Flügel der Demokratischen Partei stehen, so ist von einem Bruch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Mit der Zeit hat sich die alte Politik wieder starkgemacht. So stimmten in der aktuellen Legislaturperiode 4 ihrer Kongressmitglieder, allen voran AOC, für die Illegalisierung eines potenziellen Streikes von 100.000 Eisenbahnarbeiter:innen.

Wie ist die DSA eigentlich aufgebaut?

Es gibt verschiedene Basisorganisationen, bekannt als Chapters, die abhängig von ihrer Größe Delegierte zu der DSA-Convention (Parteitag) wählen. Die Tagung findet alle 2 Jahre statt, die letzte vom 4. bis 6. August 2023. Die Convention wählt die nationale Leitung, das National Political Committee (NPC). Dieses besteht aus 16 Menschen, die unter sich noch einen fünfköpfigen Ausschuss wählen, das Steering Committee (SC). Die nationale Leitung bestimmt die politischen Linien der Organisationen z. B. in ihren verschiedenen Publikationen und soll die Entscheidungen der Convention umsetzen. Dazu verfügt die DSA über einen größeren Apparat von festangestellten Organizer:innen, Buchhalter:innen und anderen Beschäftigten in New York. Das NPC kann auch verschiedene Arbeitsgruppen und Komitees ins Leben rufen, um an verschiedenen Fragen zu arbeiten und Politik zu bestimmten Themen anzuleiten.

Außerhalb der NPC gibt es verschiedene Caucuses, die effektiv die verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb der DSA verkörpern. In diesen können sich unabhängig von Wahlen alle DSA-Mitglieder organisieren und für verschiedene politische Programme kämpfen. Dabei sind verschiedene Caucuses relevanter als andere. So gibt es z. B. den Bread and Roses Caucus, der rund um die Zeitschrift Jacobin organisiert ist und eine Linie des „schmutzigen Bruches“ mit der Demokratischen Partei vertritt. Darunter wird ein kompromisslerischer „Mittelweg“ zwischen einem klaren Austritt aus der Demokratischen Partei und einer Strategie von deren Reform verstanden. Der Reform and Revolution Caucus repräsentiert einen eher linken Flügel der DSA. Schließlich gibt es noch den Socialist Majority Caucus, der die historische Führung und die traditionellen Strategien der DSA repräsentiert. Dieser bildet auch eine der stärkeren Fraktionen.

Die Fragen, wie man zur Demokratischen Partei steht, ob und wie man eine unabhängige Arbeiter:innenpartei aufbauen soll, stand dabei auch im Zentrum der letzten Parteitage.

Vorlauf zur Convention 2023

2021 fand die Convention noch online statt. Diese stellte letzten Endes eine Niederlage für die linkeren Teile der DSA dar, da sich die Ausrichtung auf die Demokratische Partei und auf reine Wahlpolitik verfestigte. Eine weitere Frage, die im Sinne der Rechten beantwortet wurde, war die der Wahlunterstützung für demokratische Kandidat:innen. Außerdem gibt es seither keine Rechenschaftspflicht mehr für die Mitglieder der DSA, die in verschiedenen Parlamenten oder gar exekutiven Funktionen sitzen.

Dass diese Wende nach rechts fortgesetzt werden soll, zeigte sich auch im Vorlauf für die diesjährige Convention. Der Vorsitzende des NPC, Hernandez, erklärte in einem interview zur zukünftigen Strategie der DSA: „Dort, wo wir jetzt sind, müssen wir verankert bleiben und den Umständen Rechnung tragen, mit denen wir uns auseinandersetzen.” Im Klartext: Wir müssen fortfahren mit der jetzigen Strategie bezüglich der Demokratischen Partei. Er empört sich in demselben Interview auch über die linken Teile der DSA und behauptet, dass es sich gezeigt habe, dass die Demokratische Partei keine „Sackgasse“ für die DSA und sozialistische Politik sei.

Entscheidungen

Die Convention selbst war effektiv ein großer Schlag ins Gesicht der linken Teile der DSA. Die erste Kontroverse entzündete sich schon um den Vorschlag der Leitung zu ihrem Ablauf selbst. Dieser sah vor, dass über die Anträge für eine Opposition zur imperialistischen Politik in Bezug auf den Ukrainekrieg nicht diskutiert wird. Dies wurde damit begründet, dass es keine Zeit für die Diskussion rund um den Antrag gäbe. Gleichzeitig war aber mehr als genug Zeit dafür eingeplant, darüber zu debattieren, ob eine Rose, die ein „Vote“-Schild hält, das offizielle Maskottchen der DSA werden solle. Dieser Vorschlag wurde zwar mit einer knappen Mehrheit abgelehnt, dafür fielen aber die Resolutionen über die israelische Okkupation von Palästina sowie die zum Ukrainekrieg durch.

Dafür markierten die Beschlüsse zu den Wahlen jedoch einen weiteren Schritt nach rechts zur Anpassung an die Demokratische Partei. So sprachen sich 704 Delegierte bei 184 Gegenstimmen gegen Schritte zur Bildung einer unabhängigen Partei mit eigenen Kandidat:innen aus. So heißt es: „Es ist in der jetzigen Situation für uns nicht empfehlenswert, eine politische Partei mit eigenen Wahllisten zu gründen.“

Mit diesem Beschluss der Convention wird der Fokus der DSA über die nächsten zwei Jahre nicht einfach auf die Wahlen gelegt, die tatsächlich mehr und mehr ins Zentrum der US-Politik rücken werden, sondern vor allem auf die Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei. Die DSA will auch mehr ihrer Mitglieder dabei unterstützen, sich selbst auf der Liste der Demokrat:innen aufstellen zu lassen und sich so faktisch politisch unterzuordnen.

Aber auch zur Frage der Rechenschaft hat der rechte Flügel die Mehrheit behalten können – und das, obwohl die Rechenschaftspflicht der verschiedenen DSA-Abgeordneten eine riesige Frage ist. So verrieten AOC und andere den möglichen Eisenbahner:innenstreik, so stimmte der DSA-Kongressabgeordnete Jamaal Bowman für die Bewaffnung des israelischen Militärs.

Trotzdem stimmten 60 % der Delegierten sogar gegen eine Rechenschaftspflicht in nur vage formulierter Form: „Die DSA, erwartet, dass sich Sozialist:innen in gewählten Ämtern in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der sozialistischen Bewegung verhalten.“

Man kann also zusammenfassen, dass der rechte Flügel, der Socialist Majority Caucus, gestärkt aus dem Parteitag hervorging. Starker Fokus auf die Demokratische Partei, keine Rechenschaft der Abgeordneten und eine Unterbindung der wichtigen inhaltlichen Diskussionen durch das NPC sind seine Früchte.

Aufgabe von Revolutionär:innen

Trotz der Niederlage des linken Flügels der DSA ist die Organisation eine, die viele linke Kräfte an sich zieht und immer noch in sich eine Dynamik trägt. Trotz der erheblichen Hürden wäre die DSA auch in der Lage, eine Partei zu gründen. Diese Partei wäre auch eine, die die USA schon sehr lange nötig haben, denn die Wahl zwischen Republikaner:innen und Demokrat:innen ist eine zwischen zwei Übeln, die das Interesse der arbeitenden Menschen gar nicht im Sinne haben. Beide sind die historischen Parteien des US-Kapitals, des US-Imperialismus. Sie stellen letztlich nur zwei seiner konkurrierenden Flügel dar.

Deswegen ist es die Aufgabe von allen Revolutionär:innen, sich in erster Linie für den Aufbau einer Partei einzusetzen, die auch das Interesse der Arbeiter:innen als Klasse vertritt. Die Strategie des Socialist Majority Caucus, den linken Flügel der Demokratischen Partei zu bilden, ist nicht nur perspektivlos, sie stellt vor allem eine direkte Kampfansage an alle Versuche dar, die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften aus ihre Bindung an die Demokratische Partei zu lösen. Der Parteitag zeigt, dass eine Arbeiter:innenpartei nur aus dem politischen Kampf gegen diese Fraktion und im Bruch mit ihr entstehen kann.

Auch die Strategie des schmutzigen Bruches des Bread und Roses Caucus ist auf dem Parteitag gescheitert. Im Grunde hat sie dem rechtsreformistischen Mehrheitsflügel zugearbeitet, indem sie anstelle eines klaren Bruchs im Hier und Jetzt ihn auf eine ferne Zukunft vertagt, derweil jedoch eine „Realpolitik“ betreibt, die auf eine Unterstützung der Demokratischen Partei hinausläuft.

Es braucht innerhalb der DSA eine Fraktion, die für die Führung der Organisation kämpft, mit dem Ziel, die Zehntausende von Arbeiter:innen und Jugendlichen, die in die DSA eingetreten sind, für einen Bruch mit der Demokratischen Partei zu gewinnen. Auf dieser Basis müssten die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen zu einem Bruch mit den Demokrat:innen und zum Aufbau eine Arbeiter:innenpartei aufgefordert werden. Doch eine solche Kraft müsste eigenständig in die Kämpfe eingreifen und die Wahlen nutzen, um eigene Kandidat:innen aufzustellen. Dieser Prozess müsste einhergehen mit der Diskussion und Ausarbeitung des Programms einer solchen Partei, wobei Revolutionär:innen von Beginn an für ein revolutionäres Aktionsprogramm eintreten müssten.




Zum Todestag von Jina Mahsa Amini: Ein Jahr, das den Iran veränderte

Martin Suchanek, Infomail 1231, 15. September 2023

Am 16. September 2022 starb die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini an den Folgen der Verletzungen, die ihr die sog. Sittenpolizei bei ihrer Festnahme und in der Haft durch brutale Misshandlung zufügte. Doch sie sollte nicht ein weiteres Opfer eines verbrecherischen, despotischen Regimes bleiben, auf dessen Mord durch die Staatsorgane ein zweiter Tod durch das öffentliche Vergessen folgte. Er blieb nicht ungesühnt und auch nicht folgenlos.

Er entfachte eine Welle der Massenproteste und des Widerstandes, wie sie der Iran seit 2009, der sog. grünen Revolution gegen massiven Wahlbetrug des Regimes, nicht gesehen hatte. Nachdem der Tod Jina Mahsa Aminis bekanntgeworden war, gingen in Teheran und zahlreichen anderen Städten Tausende und Abertausende auf die Straße.

Ausbreitung der Bewegung

In den ersten beiden Monaten breitete sich die Bewegung über das gesamte Land und weite Bevölkerungsschichten aus. In den kurdischen Regionen legte sogar ein befristeter Generalstreik das öffentliche Leben lahm. In zahlreichen Städten bildeten die Universitäten ein Zentrum des Widerstandes, mit dem sich die Masse der Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiter:innenklasse solidarisierte. Von Beginn an standen die Frauen und die Jugend im Zentrum der Bewegung, bildeten ihre treibende Kraft, offenbarten den tief sitzenden Hass gegen das Regime. Millionen schlossen sich den Protesten an – trotzten der massiven Repression durch Polizei, Sondereinheiten und paramilitärische Schergen des Regimes.

Doch trotz extremer Brutalität, tausender Festnahmen, Verhaftungen und der Ermordung zahlreicher Demonstrant:innen auch in den ersten Wochen der Protestbewegung ließen sich die Massen nicht einschüchtern. Die Mullahs befanden sich eindeutig in der Defensive. Zu spät und zögerlich wurde eine Auflösung und „Reform“ der verhassten Sittenpolizei ins Spiel gebracht. Vom Regime inszenierte Gegenkundgebungen zu den Protesten blieben viel kleiner als die Massenaktionen der Opposition, offenbarten, wie gering die soziale Basis, wie verhasst die Mullahdiktatur und die politische und soziale Ordnung, die sie mit allen Mitteln verteidigt, waren und sind.

Die Bewegung erschütterte die herrschende Klasse und deren iranische Spielart des Kapitalismus. Aber sie vermochte trotz eines unglaublichen Heroismus nicht, das Regime zu stürzen. Der Staatsapparat und die Repressionsorgane wurden zwar erschüttert, aber ihr innerer Zusammenhalt und ihre Einsetzbarkeit gegen die Bewegung wurden nicht gebrochen. Das betraf nicht nur die direkten, professionellen inneren Repressionsorgane und paramilitärische Stützen des Regimes, sondern vor allem auch die Armee samt ihren rund 220.000 Wehrpflichtigen.

Die Reaktion schlägt zurück

Dies ermöglichte dem Regime, ab Ende 2022 immer massiver und zielgerichteter gegen die Bewegung vorzugehen. Es ertränkte sie geradezu in Blut und Gewalt. Weit mehr als 500 Demonstrierende wurden im letzten Jahr getötet. Insgesamt sollen rund 20.000 Menschen verhaftet worden sein. Außerdem wurden Dutzende aufgrund ihrer Beteiligung an der Bewegung oder als angebliche Rädelsführer:innen in Schauprozessen und Schnellverfahren zum Tode verurteilt und exekutiert. Insgesamt wurden seit September 2022 rund 500 Hinrichtungen vollstreckt. Die sog. Sittenpolizei verblieb in Amt und Würden.

Auch wenn die Bewegung zurückgedrängt und das Regime wieder konsolidiert wurde, so wurde bis heute die alte Ordnung nicht vollständig wiederhergestellt. Noch immer gehen Frauen mit offenen Haaren auf die Straße und brechen öffentlich die reaktionären Bekleidungsvorschriften des Regimes – trotz verschärfter Repression und drakonischer Strafen. Auch wenn diese Heldinnen gewissermaßen die Speerspitze der Entschlossenheit darstellen, so ist es nach wie vor gerade in den Städten kein Randphänomen und ihre Taten werden von vielen in der Bevölkerung mehr oder minder offen unterstützt. Dieser Widerstandswille blieb trotz des Rückgangs der Bewegung ungebrochen.

Doch was sind die Ursachen dafür?

Erstens haben sich die Menschen selbst verändert. Das gilt nicht nur für die Protestbewegung seit dem September 2022, die teilweise vorrevolutionäre Züge annahm. Im Grunde stehen das iranische Regime und die wirtschaftliche Elite seit 2019, dem Beginn einer vor allem von der Arbeiter:innenklasse getragenen ökonomischen und regimefeindlichen Bewegung, immer neuen Mobilisierungen gegenüber. Diese wurden von den Lohnabhängigen, von der städtischen und ländlichen Armut, ja selbst von großen Teilen der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums getragen. 2022 spielten die Frauen eine zentrale Rolle, aber auch die Jugend und die unterdrückten Nationen und Nationalitäten. Viele Aktive aus der Bewegung berichten davon, dass das Bewusstsein für verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterdrückung in der Oppositionsbewegung deutlich gestiegen sei.

Hinzu kommt aber auch, dass die Streiks ab dem Jahr 2019 wie auch Massenproteste seit 2022 nicht nur mit Mobilisierungen das Regime erschütterten. Sie führten auch dazu, dass sich eine Schicht von gewerkschaftlich und politisch engagierten Aktivist:innen und Führungskernen bildete, von halblegaler und illegaler Organisation, die einer Bewegung auch in der Repression eine gewisse Kontinuität verleihen können.

Zweitens wurde die Herrschaftsbasis des Regimes dünner. Zweifellos konnten und können sich die Mullahs weiter auf einen aufgeblähten und parasitären Staats- und Repressionsapparat stützen. Sie verfügen auch über ein weitgehendes Monopol über die Medien und mit dem Klerus über einen zusätzlichen zentralen ideologischen Apparat. Sie stützen sich außerdem trotz der ökonomischen Krise nach wie vor auf eine Mehrheit der herrschenden kapitalistischen Klasse, die ihrerseits vom Regime nicht nur begünstigt wird, sondern auf deren parasitäre Sonderinteressen letztlich die Wirtschaftspolitik Teherans ausgerichtet ist.

Doch die Allianz von Bourgeoisie und Theokratie sowie angelagerten Staatsfunktionär:innen und kleinbürgerlichen Schichten, die eng mit dem Staat verbunden sind, verteidigt ihre eigenen Privilegien vor dem Hintergrund einer chronischen Stagnation und Krise, von massiver Inflation, Arbeitslosigkeit, Verarmung der Massen. Auch wenn Teheran seine internationale Isolierung durch Verbindungen mit China, Russland und das Abkommen mit Saudi-Arabien ein Stück weit durchbrechen kann, so ändert das an der wirtschaftlichen und sozialen Misere wenig. Anders als noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vermag das Regime längst nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen durch ökonomische Erfolge und Verbesserungen des Konsumniveaus zu befrieden.

Im Gegenteil. Auch das tägliche, „normale“ Leben wird immer schwieriger, immer unerträglicher. Das schlechte Leben fürchten viele mittlerweile mehr als Repression und Todesgefahr. Daher halten so viele trotz der Brutalität des Regimes an ihrem Widerstand oder jedenfalls an ihrer Sympathie dafür fest. Denn nur dieser verspricht Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben.

Diese chronische Krise, ja Sackgasse, in der das politisch-ökonomische Gesamtsystem des Iran steckt, hat zu einer extremen Entfremdung der Mehrheit der Bevölkerung geführt, aller, die nicht über Privilegien, Profite und Klientelismus mit dem Regime verbunden sind. Dessen Herrschaft muss sich mehr und mehr auf Gewalt und Repression stützen. Damit ist auch die nächste Revolte, der nächste gesellschaftliche Ansturm vorprogrammiert. Am Jahrestag der Proteste, die Jina Mahsa Aminis Tod entfacht hat, wird es sicher wieder zu Aktionen und Demonstrationen im ganzen Land kommen. Auch wenn es leider unwahrscheinlich ist, dass diese die Bewegung neu entfachen werden, so sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Massenmobilisierungen 2019 und 2022 nur drei Jahre lagen. Auch wenn wir nicht überoptimistisch sein dürfen und damit rechnen müssen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die Aktivist:innen und die Bewegung von 2022 neu und möglicherweise auch um einen neuen Fokus wieder formiert, so ist eine nachhaltige politische, soziale und ökonomische Konsolidierung des Regimes nahezu ausgeschlossen.

Umso wichtiger ist es, die Lehren daraus zu ziehen, warum die Bewegung 2022 das Regime nicht stürzen und ihre Ziele nicht erreichen konnte. Dies ist unerlässlich, wenn wir uns darauf vorbereiten wollen, bei einem nächsten Ansturm erfolgreich zu sein.

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und die Bildung von Soldat:innenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder musste sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit denen ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des westlichen „demokratischen“ Imperialismus). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung gipfelt, entstehen nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




50. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma

Anlässlich des 50. Jahrestages der blutigen Zerschlagung der chilenischen Revolution veröffentlichen wir im Folgenden erneut eine Analyse aus dem Jahr 2003. Die darin dargelegten Schlussfolgerungen sind leider weiterhin gültig. Der Putsch des Generals Pinochet kostete Zehntausenden den Tod. Der demokratische Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten zeigte einmal mehr sein wahres Gesicht. Die Zerschlagung der Revolution offenbarte aber auch die politische Sackgasse der chilenischen Volksfront unter Allende. Wenn wir heute die Revolutionär:innen, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen ehren, die sich heldenhaften der Konterrevolution entgegenstellten, so müssen wir auch die politischen Lehren aus der Niederlage ziehen, auf dass sie sich nie wiederholen möge.

Hannes Hohn, Infomail 1231, 11. September 2023

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilen:innen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalist:innen.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles, dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele noch heute glauben, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiter:innenräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen, auf Räte basierenden Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz seiner sozialistischen Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v. a. auf die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und offen bürgerlichen Kräften – auch wenn diese wie die „Radikale Partei“ zahlenmäßig relativ bedeutungslos geworden waren.

Damit diese – von Marxist:innen „Volksfront“ genannte – Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparats.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag der Unidad Popular zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde sie mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms, sondern v. a. darauf, dass ihre sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftskrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen: Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiter:innenklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Nicht verwunderlich also, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in „ihre“ vorhandenen Arbeiter:innenparteien, die SP und die KP, projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, „alles zu wagen“.

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Kehrseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront in Gefahr bringen. Der alte bürgerliche Staatsapparat nämlich blieb bestehen, v. a. die Machtpositionen der Armee und der Sicherheitskräfte blieben unangetastet – im Gegenzug für ihre „Loyalität“. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft – v. a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe – blieben, wie sie waren.

Um überhaupt auf parlamentarischem Weg zum Präsidenten gewählt zu werden, war Allende auf die Stimmen nicht nur der Volksfront (einschließlich ihrer bürgerlichen Komponenten) angewiesen, sondern auch auf jene der Christdemokrat:innen, der klassischen Partei der chilenischen „nationalen“ Bourgeoisie. Diese lies sich ihre Zustimmung mit grundlegenden Garantien der bürgerlichen Legalität erkaufen – Unantastbarkeit der bestehenden staatlichen Institutionen (Justiz, Polizei, Armee), Verzicht auf die Bildung von Volksmilizen, Respekt vor den Rechten der bürgerlichen Opposition (Privateigentum an den Medien; Freiheit ihrer Organisationen einschließlich der faschistischen Patria y Libertad).

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die chilenische Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partner:innen ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der alten Ordnung in der Defensive waren, schien das auch der Fall zu sein. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangserfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL = Vaterland und Freiheit) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror Arbeiter:innen und Bäuer:innen, Gewerkschafter:innen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalist:innen zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was verstärkte Inflation zur Folge hatte. Die wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen – ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerliche Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen gegen den Mangel, den sie selbst allerdings weniger verspürten als die Lohnabhängigen und die Armut auf dem Land. Dann – ab Oktober 1972 – streikten die Kleinkapitalist:innen, besonders die Fuhrunternehmer:innen und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US State Departement, PyL, Generälen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ermordete linke Aktivist:innen und selbst regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende Proletarier:innen einen von der Reaktion geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden nun mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiter:innenklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich auch selbst in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus – zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen!

Wie reagierte Allendes „Regierung des Volkes“ auf diese Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte die „linksradikalen“ Aktionen und rief zur „Mäßigung“ auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die „kommunistische“ Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen eingesetzt, die „verfassungswidrig“ Unternehmen oder Land besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putsch-Vorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zu Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und landesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch in der deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätte den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die Arbeiter:innen und Bäuer:innen bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat – v.a. die Armee – zerschlagen oder zumindest eine reale Gegenmacht  organisieren können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der gesamten Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linken

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiter:innenklasse hätte tragen können und deshalb im entscheidenden Moment stark genug gewesen wäre, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR, zu denen auch die „Trotzkist:innen“ des Vereinigten Sekretariats (VS) gehörten, pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als „revolutionäre Volksregierung“. Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserungen für die Massen nie. Die UP war keine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung“, die sich gegen den Kapitalismus wandte und sich auf Machtorgane der Klasse stützte, sondern eine, wenn auch durchaus linke bürgerliche Regierung, die selbst ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in die Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die „revolutionäre Linke“ die Volksfront als „revolutionäre Regierung“ betrachtete – wozu brauchten die Massen dann Räte und eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die Arbeiter:innen wandte, ändert die MIR ihre Politik – aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiter:innenklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter Student:innen und unter der Bäuer:innenschaft verankert war, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung hinter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allende war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte noch vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende mutig auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur „Verteidigung der Revolution auf“. Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler Arbeiter:innen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront zu lange demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-Führer:innen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende – Linke, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Bäuer:innen – wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes „halbe Revolution“ folgte eine ganze Konterrevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die bittere chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die Revolution auf zwei separate Phasen „verteilt“ sei. In der Praxis hieß das, den Übergang von der bürgerlich-demokratischen Phase zur sozialistischen bewusst zu blockieren, der Bourgeoisie grundsätzliche Zugeständnisse zu machen und die Massen zurückzuhalten – zugunsten der Illusion, dass der Klassengegner sich loyal verhalten würde. Doch dieser politische Königsweg des Stalinismus als „Alternative“ zur Konzeption der Permanenten Revolution, erwies sich ohne Ausnahme immer nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.




Wagenknecht: Sackgasse Links-Konservativismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Gründen oder Nicht-Gründen – das ist in der Welt der Sahra Wagenknecht die nun alles entscheidende Frage. Der Bruch mit der Linkspartei steht längst fest, fraglich ist nur, ob im Herbst eine neue Partei gründet wird oder eben nicht.

Für Wagenknecht hängt das im Wesentlichen davon ab, ob sie sich auf Funktionär:innen, Apparat und ein Fußvolk stützen kann, das ihren Ansprüchen von „Politikfähigkeit“ und „Zuverlässigkeit“ genügt. Schließlich will sie sich nicht mit „dubiosen Figuren“ und „Querulant:innen“ abplagen, die eine neue links-konservative Partei nur zu leicht kaputt machen könnten. Programm, mediale Präsenz und innere „Demokratie“ – daran lässt sie keinen Zweifel – müssen auf sie zugeschnitten sein und auf sonst niemanden.

Ob sie ausreichend „prominente“ Unterstützer:innen, kleinere mediale Lichter, die neben Wagenknecht nicht glänzen wollen, und speichelleckende Klatscher:innen findet, die Sahra nicht nur bejubeln, sondern auch noch für sie die organisatorische Drecksarbeit erledigen, wird sich zeigen.

Ganz schlecht stehen die Chancen nicht. Aus dem Bundestag könnte sie sich auf bis zu 10 Abgeordnete stützen, aus der Linkspartei würden wohl einige Tausend Mitglieder samt gewählten Abgeordneten in den Kommunen und Landtagen das sinkende Schiff verlassen und unter neuer Flagge ihr Glück versuchen. Die aufstehen-Reste folgen Wagenknecht mit Sicherheit. Auch DKP und DIDF könnten an Bord sein, müssten sich der großen Führerin aber nach bestandenem Querulat:innen-Check ohne Wenn und Aber politisch unterordnen. Zuzutrauen ist ihnen das jedenfalls.

Wofür steht der Links-Konservativ?

Das Beste an Wagenknechts Partei-Projekt ist, dass niemand auf die formale Gründung oder das Programm warten muss, um zu wissen, wofür die neue Partei steht. Links-konservativ mag ja ein schräger Begriff sein, links ist daran jedoch – nichts!

Allenfalls verbrämen Wagenknecht und ihre Anhänger:innen das Projekt als „links“, weil sie in der Kriegsfrage und im Verhältnis zur NATO nicht so weit rechts stehen wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Das war es aber auch schon, politisch-programmatisch steht sie eindeutig rechts von der Partei DIE LINKE.

Chauvinismus und Rassismus

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 werden Wagenknecht und ihre Anhänger:innen nicht müde,  gegen offene Grenzen zu wettern. „Regulierte“ Zuwanderung lautet ihr Motto und sie befinden sich damit ganz auf Linie der Bundesregierung und Unionsparteien. Während die Linkspartei die jüngsten Angriffe auf das Asylrecht als rassistisch und menschenfeindlich bezeichnet hatte und damit einmal wenigstens verbal ein richtiges Zeichen setzte, ergriff Wagenknecht im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, der Bildzeitung für Spiegel-Leser:innen, die Seite der EU-Staaten. Mit der Kritik an den geplanten Gefängnislagern zur Abfertigung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen dürfe man es sich, so Wagenknecht, nicht „so einfach“ machen, sondern man müsse erst abwarten und sehen, ob diese funktionieren!

Damit setzte sie ein weiteres rechtes Ausrufezeichen. Auch beim Schleifen des Asylrechts macht Wagenknecht gerne mit. Um diesen Scheiß zu rechtfertigen, greift sie einmal mehr in die Mottenkiste rechter Lügenmärchen. Die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, behauptet Wagenknecht gegenüber „Die Welt“, wären schließlich nicht „die Ärmsten der Armen“, sondern stammten vor allem aus den Mittelschichten. Woher sie das weiß? Ganz einfach. Die „Ärmsten der Armen“ würden es nämlich gar nicht schaffen, Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen zu entfliehen. Folglich könnten diese Menschen nur vergleichsweise „Privilegierte“ sein – und die könnten daher auch ebenso gut in Heimatländern wie Syrien und Afghanistan bleiben.

Sicherlich unterstützen nicht alle Anhänger:innen einer zukünftigen Wagenknecht-Partei diese lupenrein rassistischen und anti-demokratischen Positionen. Aber sie nehmen sie billigend in Kauf, wenn sie mitmachen.

Lifestyle-Linke vs. bodenständige Menschen

Mit Forderungen nach offenen Grenzen und einer „überzogenen“ Kritik an Einreisebeschränkungen bildet für diese auf dem rechten Auge Blinden vielmehr einen weiteren Beleg dafür, dass sich die Linke von den „normalen“, hart arbeitenden Menschen entfremdet hätte. Und damit nicht genug. „Übertriebener“ Genderismus,  Veganismus, Ökologismus und Kosmopolitismus seien allesamt Ausdruck desselben Grundproblems. DIE LINKE hätte sich lt. Wagenknecht und ihren Anhänger:innen von ihrer eigentlichen Klientel, den Lohnabhängigen, den Erwerbslosen, aber auch von den Handwerker:innen und vom „Mittelstand“ abgewandt. Sie würde sich auf urbane „Aufsteiger:innenmilieus“, auf Linksliberale konzentrieren.

Wagenknecht greift dabei reale Schwächen und Probleme der Identitätspolitik an – vermischt sie jedoch zu einem populistischen Brei, der auch gleich die Kritik an realer sozialer Unterdrückung, die in ihr zum Ausdruck kommt, entsorgt.

Wagenknecht punktet darüber hinaus, wenn sie den Rechtsruck von Grünen und SPD anprangert. Aber sie verkennt dabei vollkommen deren Ursache. Sie vermag diese Anpassung nicht als Ausdruck veränderter Akkumulationsbedingungen des Kapitals – und damit veränderter Rahmenbedingungen reformistischer, auf einen Klassenkompromiss zielender Politik zu begreifen. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt verengt nämlich den Verteilungsspielraum für sozialpartnerschaftliche Politik, was bei der SPD, aber auch beider Linkspartei zu immer mehr Kompromissen an die uneingeschränkt kapitalistischen „Partner:innen“ führt.

Wagenknecht (und vor ihr Lafontaine) werfen im Grunde der SPD vor, an ihrer traditionellen Politik nicht einfach festzuhalten, weil sie in der Tat glauben, dass der Staat den Kapitalismus zum Wohle aller regulieren könne.

Daher bleibt ihre Kritik letztlich rein moralistisch. DIE LINKEN hätten sich von Sozialstaat und nationalstaatlicher Umverteilungspolitik abgewandt. Hätten sie das nicht getan, so der Umkehrschluss, könnten wir heute noch immer in einem schön funktionierenden Sozialstaat leben, in dem die Armen versorgt, die Arbeiter:innen angemessen entlohnt und die Unternehmer:innen ehrliche Gewinne machen würden.

Die sogenannte Lifestyle-Linke hätte sich jedoch nicht nur dem Neoliberalismus angeschossen, sondern sie würde auch unzumutbare Anforderungen an die Massen stellen, wenn sie ständig ihre Einstellungen und Verhaltensweisen in Frage stelle. Der „normale“ Mensch ist für Wagenknecht kein gesellschaftliches Wesen, die vorherrschenden Gedanken, Einstellungen und familiären Verhältnisse sind kein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern quasi-natürliche, letztlich unveränderliche Eigenschaften „der“ Menschen. „Normale“ Lohnabhängige seien ebenso wie „normale“ Kleinbürger:innen oder Kleinunternehmer:innen eben heimatverbunden, bodenständig, stolz darauf, Deutsche zu sein. Sie lebten mehrheitlich gern in Familien, sind gerne heterosexuelle Männer und Frauen und wollen nicht „ständig gemaßregelt“ werden, wenn sie einen Schwulenwitz machen.

Wagenknecht präsentiert sich dabei gern als Verteidigerin der einfachen Leute. In Wirklichkeit verhält sie sich jedoch paternalistisch und bevormundend, in dem sie darüber bestimmt sagt, was diese einfachen Leute ausmache und was nicht. Ihr Zufolge könnten die Lohnabhängigen „überzogenen“ Erwartungen an Fortschrittlichkeit prinzipiell nicht genügen. Man müsse die Menschen eben so nehmen, wie sie (angeblich) sind – darauf läuft das Kredo von Wagenknecht wie jedes (linken) Populismus hinaus. Ansonsten liefen die Leute zur AfD über. Und um das zu verhindern, müsse man eben auch den Ball flach halten, wenn es um rückständiges Bewusstsein unter der Masse der Bevölkerung geht.

Populismus und Elektoralismus

Das erscheint Wagenknecht und Co. umso zwingender und unproblematischer, weil es in ihrer politischen Konzeption erst gar nicht vorgesehen ist, das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse zu verändern. Die Überwindung von inneren Spaltungen stellt für sie kein Problem dar, weil die Lohnabhängigen ohnedies nicht als Subjekt zur Veränderung der Gesellschaft begriffen werden. Sie bilden nur eine besonders zahlreiche Wähler:innenschicht unter anderen „Leistungsträger:innen“, die Wagenknecht ständig im Blick hat: Mittelschichten, städtisches und ländliches Kleinbürger:innentum und, als Krönung der deutschen Wirtschaft, nicht-monopolistische Unternehmen. Das Subjekt einer möglichen Veränderung ist nicht die Arbeiter:innenklasse, sondern es geht nur darum, bei den Wahlen möglichst viele Stimmen der einfachen Leute zu erhalten. Das Subjekt der Veränderung ist sie – Sarah Wagenknecht. Damit sie längerfristig Kreuzchen erhält, muss man den Menschen natürlich etwas bieten. Nämlich Ausgleich zwischen den Klassen, Gerechtigkeit, Sicherheit und Ruhe und Ordnung auf dem Boden der „sozialen Marktwirtschaft“.

Zur sozialen Marktwirtschaft zurück

Ludwig Erhard und Willi Brandt sind die Leitbilder der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Sahra Wagenknecht. Dabei sorgt der Staat für den Ausgleich zwischen den Klassen, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das ginge, so können wir beispielsweise in „Reichtum ohne Gier“ nachlesen, weil gute Unternehmen eigentlich gar nicht auf Profit aus wären. Dieser entstünde auch nicht, wie uns Marx weismachen wollte, in der Ausbeutung im Produktionsprozess, sondern durch die Monopolprofite der Großkonzernen. Echte Unternehmen hingegen bräuchten gar keinen Kapitalismus, wohl aber eine funktionierende freie Marktwirtschaft.

Diesen kleinbürgerlichen Schwachsinn verkauft Wagenknecht – und der gesamte mediale Rummel um sie – allen Ernstes als „Theorie“, als „tiefgehende“ Gesellschaftsanalyse. Links oder gar marxistisch ist darin gar nichts.

Dafür tischt und Wagenknecht wie dereinst auch Oskar Lafontaine das Märchen auf, dass der Staat die Wirtschaft zum Wohle aller regulieren könne. Er müsse nur entschlossen eingreifen. Ansonsten drohten dem armen Deutschland Niedergang und Deindustrialisierung.

Damit der Staat im Inneren „freien“ und gerechten Wettbewerb organisieren könne, müsse er sich der Globalisierung widersetzen. Ansonsten werde er ohnmächtig und schwach. Nur auf Basis eines nationalen Programms könnten Wohlstand für alle und sogar ein gewisser Grad ökologischer Nachhaltigkeit erreicht werden. „Alle“ sind dabei natürlich nur deutsche Staatsbürger:innen und jene Ausländer:innen, die ihr Gastrecht nicht verwirkt hätten. Die anderen Länder der Welt müssten eben selbst eine solche Politik umsetzen – dann wird alles gut, sozial und gerecht auch in der Marktwirtschaft.

Dieses Programm wird von Wagenknecht zwar als klassenübergreifende Wohltat angepriesen. Den Interessen der Arbeiter:innenklasse entspricht es jedoch nicht. Im Gegenteil, es bindet die Lohnabhängigen an eine kleinbürgerliche Utopie, an ein Programm, das vor allem im Interesse des Kleinbürger:innentums und der auf den nationalen Markt orientierten Unternehmen liegt. Sollte sie wirklich mal in eine Regierungsverantwortung kommen, dann darf sie sich bereits an Tag eins nach Dienstantritt tief vor den verfluchten Monopolen verbeugen und sich als erste Vorkämpferin des deutschen Imperialismus beweisen – auch gegen die einfachen Leute. Es ist nicht die einzige Parallele zum Rechtspopulismus. Auch, dass rassistisch Unterdrückte und LGBTIA+ dann besonders mit Angriffen von der großen Führerin rechnen müssen, mit denen sie von ihrer völlig kapitalkonformen Politik ablenken wird (wenn auch gemäßigter und weniger aufgeblasen aggressiv als die AfD), passt dazu.

Starker Staat und sozialer Imperialismus

Die Schwachen, so hatte schon Oskar Lafontaine verkündet, bräuchten einen starken Staat. Dabei bleiben die Schwachen zwar auch weiter schwach – aber sie werden besser, „anständig“ und „ausreichend“ versorgt. Die Starken bleiben natürlich weiter stark, aber sie müssen höhere Steuern zahlen.

Die braucht der Staat schließlich, um weiter zu funktionieren. Damit ist bei Wagenknecht und Co. keineswegs nur (was immerhin richtig wäre) ein Ausbau von Bildung, Gesundheitswesen oder Infrastruktur gemeint.

Auch wenn sich Wagenknecht gern als Pazifistin hinstellt, so ist sie eine realistische „Pazifistin“. Deutschland brauche natürlich eine leistungsfähige, verteidigungsbereite Bundeswehr, erklärt sie in zahlreichen Interviews. Das Problem an der Kriegstreiberei der aktuellen Bundesregierung besteht für sie nicht darin, die eigene Armee aufzurüsten, sondern sich in Kriege zu verwickeln, die Deutschland schaden würden.

Doch mit der Anerkennung der Bundeswehr nicht genug. Wagenknecht fordert Investitionen für alle anderen Repressionsorgane- und Institutionen – für „unsere“ Polizei, „unsere“ Gefängnisse, „unsere“ Frontex-Kräfte und Abschiebebehörden. Racial Profiling von Migrant:innen oder Schikanieren von Jugendlichen durch Cops? All das gibt es in der Welt des Links-Konsverativismus allenfalls als Marginalie. Die Einzelfälle lassen grüßen.

So wie Wagenknecht den von Rassismus, Sexismus oder Transphobie Betroffenen und anderen gesellschaftlich Unterdrückten den Rücken kehrt, so wie sie von der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse durch das gesamte Kapital – inklusive des sog. Mittelstandes – nichts wissen will, so verschwindet für sie auch der Klassencharakter des bürgerlichen Staates.

Für die einstige Marxistin ist dieser längst kein Herrschaftsinstrument des Kapitals mehr, sondern eigentlich der Gipfel menschlicher Zivilisation. Wo der Staat keinen Klassencharakter mehr hat, verschwindet folgerichtig auch der deutsche Imperialismus.

Imperialistisch sind allenfalls die anderen – sicherlich die USA, wohl auch China, vielleicht sogar Russland. Deutschland droht in Wagenknechts Weltsicht unter die Räder zu kommen, ja abhängig zu werden, weil es die eigenen Unternehmen nicht ausreichend fördert und schützt. Während die Großkonzerne Teile der Produktion ins Ausland verlagern und so den Standort schwächen, drohen die „kleinen“, also die Mittelständer:innen, die auch mehrere Tausend Arbeiter:innen ausbeuten, einzugehen.

Wenn Wagenknecht ein düstereres Bild des deutschen Kapitalismus zeichnet, geht es ihr natürlich nicht um dessen Kritik, sondern um dessen Rettung. Die Bundesregierung, so ihr, der AfD nicht ganz ähnlicher Vorwurf, fahre unsere Wirtschaft „an die Wand“. Sie habe versagt, es brauche einen anderen Arzt am Krankenbett der Marktwirtschaft, einen, der Staat, Unternehmen und nebenbei auch noch die Lohnarbeit rettet. Dazu wären Regierung, Unionsparteien, aber auch die AfD nicht imstande. Dazu brauche es Wagenknechts rettende links-konservative Partei.

Deutschland-Retterin im Wartestand

Mehr noch als die reformistische Linkspartei bietet Wagenknecht eine neue links-konservative Partei als Rettung aller Klassen an. Und sie bedient dabei durchaus eine reale Stimmung. Der rechtspopulistischen AfD will sie eine (links)populistische Alternative entgegensetzen. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft.

Es ist aber bezeichnend für den Charakter eine möglichen Wagenknecht-Partei, woher ihre potentiellen Wähler:innen kommen würden. In verschiedenen Umfragen wird einer solchen Partei ein Potential bis zu 25 % zugerechnet, was jenen Menschen entspricht, die sich vorstellen könnte, eine solche Gruppierung zu wählen. Ob sie das gegebenenfalls wirklich tun würden, ist eine andere Frage, aber die Herkunft dieses Potentials ist dennoch von Interesse.

Im Artikel „Wo liegt das Potenzial einer Wagenknecht-Partei?“ verweist Carsten Braband auf eine Studie des Instituts Kantar vom Februar 2023. Dieser zufolge kämen 15 % der potentiellen Wähler:innen von Linkspartei, 3 % von den Grünen, 12 % von der SPD, also insgesamt nur 28 %. Die überwältigende Mehrheit des Wähler:innenpotentials rekrutiere sich aus  bürgerlichen und rechten Parteien: FDP: 8 %, CDU/CSU: 22%, AfD 41%!

Diese Zahlen sind zwar auch für DIE LINKE bedrohlich, weil sie angesichts ihres maroden Zustandes das endgültige parlamentarische Aus der Partei herbeiführen könnten. Aber entscheidend ist, dass Wagenknecht in der AfD ihr größtes Wähler:innenreservoir vorfindet, folgt von den Unionsparteien!

Die Anhänger:innen von Wagenknecht betrachten dass als eine Bestätigung ihrer Rolle als Bürgerin und Rechten-Schreck. Doch warum spricht sie gerade diese Wähler:innen an? Ganz einfach. Sie verspricht einerseits eine gewisse soziale Sicherheit, die CDU/CSU und auch die AfD nicht ganz so überzeugend zu vermitteln zu vermögen. Vor allem aber signalisieren ihre Anhänger:innen: Reaktionäre Einstellungen, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Transphobie – all das ist für Wagenknecht und Co. kein Problem, ja es erscheint ihnen geradezu als Erfolgsgarant. Indem man konservative und traditionelle „Werte“ zu Familie, Ehe, Migration akzeptiert und sich selbst zu eigen macht, würde man die Anhänger:innen der AfD mittels Sozialstaatsversprechen wieder für eine vorgeblich „linke“ Politik zurückgewinnen.

Das ist nicht nur spalterisch gegenüber den Lohnabhängigen und reaktionär, es ist auch dumm und kurzsichtig. Die letzten Jahre haben in zahlreichen europäischen Ländern gezeigt, dass gerade die rassistischen Zugeständnisse gegenüber den Rechten ihnen nicht das Wasser abgegraben haben, sondern diese bestärkt haben. Und so wird es auch hier laufen. Die Ideologie des Links-Konservativismus ist letztlich Wasser auf den Mühlen der AfD – nicht umgekehrt.

Wagenknecht macht hier im Grunde einen ähnlichen fatalen Fehler wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Während sich diese mehr und mehr dem grünen und sozialdemokratischen Parteien anpassen und dabei immer offener die demokratische verbrämte imperialistische Politik Deutschlands verteidigen, passt sich Wagenknecht an die rechten, konservativen und reaktionären kleinbürgerlichen Gegner:innen dieser Politik an. Ihr Programm und ihre Partei sind nicht Teil der Lösung des Krise der Arbeiter:innenbewegung, sondern ein mögliches neues, populistisches Hindernis.




1923 – bedeutendes Jahr nicht nur für Deutschland

Bruno Tesch, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Die Ereignisse in Deutschland stellten die Weichen für den Sieg von Stalinismus und Faschismus, die Siege der politischen Konterrevolution im Arbeiter:innenstaat UdSSR wie im bürgerlichen Deutschen Reich. Ein Sieg der deutschen Revolution hätte für den Geschichtsverlauf dagegen eine Kehrtwende bedeutet. Gerade deshalb, aber nicht nur für deutsche Kommunist:innen, denn Deutschland war der Schlüssel zur damaligen Weltlage, ist es Pflicht, die Politik von KPD und Komintern in diesem Schicksalsjahr gewissenhaft zu studieren und entsprechende Lehren zu ziehen.

Deutschland Halbkolonie?

Als Kriegsverlierer im 1. imperialistischen Krieg ächzte Deutschland zwar unter den Reparationsleistungen an die Siegermächte der Kriegsentente, konnte aber dennoch auf eine unangetastete weitgehend intakte Wirtschaftsstruktur zurückgreifen. Das Land war in mehreren Sektoren produktiv gut aufgestellt. Die Großbetriebe fußten auf einem soliden Sockel an Klein- und Mittelunternehmen. Es gelang, die industrielle Produktion 1922 bereits auf 80 % des Standes von 1913 zu steigern. Die Entwicklung hin zu einem Preisverfall begünstigte den außenorientieren Handel und die Industrie. Im Bereich der Schwerindustrie beschleunigte sich der Zusammenschluss ehemals kleiner Anbieter:innen zu Großkonzernen. So nutzten Großindustrielle die Vorzüge, spekulativ Schulden mit entwertetem Geld zurückzuzahlen, die Produktionsprozesse zu modernisieren und sich der imperialistischen Konkurrenz gewachsen zu zeigen.

Das Deutsche Reich hatte neben einigen territorialen Verlusten an der Peripherie und dem völligen Wegfall seiner Kolonien zwar ökonomische und militärische Einschränkungen, z. B. Verbot der Rüstungsproduktion, Begrenzung der Sollstärke der Reichswehr, hinzunehmen, dies konnte durch Hinwendung zu zivilen Zielen und Ausbau etwa von Infrastruktur in Reichsbahn (Lokomotiv- und Waggonbau) wettgemacht werden. Ihm wurde auch keine Einschränkung des Kapitalverkehrs auferlegt.

Deutschland war also letztlich ein wenn auch tributpflichtiger und etwas gestutzter Imperialismus, verfügte jedoch weiterhin über teils höheres Wirtschaftspotenzial als seine Kontrahent:innen im Krieg.

Inflation und Lage der Arbeiter:innenklasse

Die deutschen Nachkriegsregierungen sahen sich indes mit Zahlungsforderungen der imperialistischen Konkurrent:innen konfrontiert. Auf diesen Druck reagierten die deutschen Staatsverwaltungen mit Ankurbelungen der Gelddruckmaschinen. Eine nie gekannte Geldentwertung setzte ein.

1922 überstiegen die Ausgaben für Reparationszahlungen bereits die Einnahmen des Reiches (ohne Kreditaufnahme). Um das Haushaltsdefizit auszugleichen, sah der Staat in der Kreditaufnahme bei der Reichsbank und in der weiteren Vermehrung des Geldumlaufs den Ausweg. Der Geldwert sank, zumindest die Inlandsschulden konnten dennoch bezahlt werden. Die Reallöhne der Arbeiter:innen minderten sich von 1921 auf 1922 im Schnitt um ein Drittel. Allerdings lag die Arbeitslosenquote bis weit ins Jahr 1923 erheblich niedriger als in anderen imperialistischen Ländern, im November 1922 bei nur 2 %. 1923 verschlechterten sich auf Grund des zunehmenden Preisauftriebs die Lohnverhältnisse drastisch: der Reallohn im Bergbau sank von 1922 auf 1923 auf rund 70 % des Vorkriegsstands. Auf Grund der Verknappung der Lebensmittelversorgung 1923 war die Arbeiter:innenschaft oft gezwungen, aufs Land zu fahren und sich per Naturaltausch mit Lebensmitteln einzudecken.

Außerdem wurden die Lohnabhängigen steuerlich massiv benachteiligt. Die Lohn- und Einkommensteuer wurde bei dieser Gruppe zeitlich unmittelbar nach der Auszahlung eingezogen. Im Gegensatz dazu konnten Landwirt:innen und Unternehmer:innen ihre Steuerverbindlichkeiten erst später entrichten. Durch die schnelle Entwertung der Mark war es den Selbstständigen also möglich, Steuerforderungen seitens der Finanzämter mit wertloser Mark zurückzuzahlen. Diese Ungleichbehandlung machte sich auch am Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen des Reiches bemerkbar. Dieser stieg von 56 % im Haushaltsjahr 1922 auf 93 % im Jahr 1923. Insgesamt nahm aber das reale Steueraufkommen stetig ab, da die Steuererhöhungen bald nicht mehr mit der Geldentwertung Schritt halten konnten.

Neben den Arbeiter:innen mussten auch die Beamt:innenschaft erhebliche Einbußen hinnehmen. Zudem traf die völlige Entwertung der Spareinlagen und Anlagen auf Schuldverschreibungen insbesondere Mittelständer:innen (Beamt:innen, Freiberufler:innen, kleinere Gewerbetreibende). Ebenso brach das Vermögen der gesetzlichen Sozialversicherungen, Krankenkassen, Stiftungen und privaten Versicherungsgesellschaften, das großenteils auf dem ursprünglichen Markwert basierte, zusammen.

Zu den Profiteur:innen der Inflation hingegen gehörten generell die Schulder:innen. Diese konnten sich durch die Entwertung der auf Mark laufenden Darlehen günstig ihrer Verbindlichkeiten entledigen. In erster Linie zählte dazu der Staat. Natürlich konnte sich auch das Großkapital schadlos halten, indem große stahlerzeugende und -verarbeitende Konzerne durch die risikolose Kreditaufnahme während der Inflation Kohlezechen, Erzgruben und Hersteller von Hilfsstoffen oder Maschinenfabriken kauften. So gerieten sie auch in Hinblick auf die kommenden Jahre der Weimarer Republik zu einem nicht mehr zu unterschätzenden politischen Machtfaktor.

Besetzung von Rhein und Ruhr

Die Besetzung an Rhein und Ruhr ist kein barbarischer Überfall aus heiterem Himmel gewesen. Die linksrheinischen deutschen Gebiete (Rheinland-Pfalz und Saarland) wurden nach Kriegsende zunächst von französischen Truppen besetzt, ehe sie nach dem Versailler Vertrag unter gesamtalliierte Kontrolle gestellt wurden.

Ende November 1922 legt die konservative Regierung Poincaré den anderen Allierten einen Plan vor, wonach Maßnahmen zu einer „produktiven Pfändung“ ergriffen werden müssten, falls die neu ins Amt gekommene deutsche Regierung Cuno ihre Ankündigung wahrmachen werde, das Deutsche Reich zwecks Sanierung seiner Finanzen

auf drei bis vier Jahre von allen sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Bar- und Sachleistungen zu befreien.

Der Poincaré-Plan sah vor:

  • Eine vollständige Beschlagnahme der Rheinlande, die Frankreich besetzt hält, sie könnte v. a. in der Ersetzung von deutschen durch französische Beamt:innen zum Ausdruck kommen.

  • Besetzung von zwei Dritteln des Ruhrgebietes einschließlich Essens und Bochums, so dass die an Frankreich vom Deutschen Reich zu liefernden Kohlen und der für die französische Industrie erforderliche Hüttenkoks gesichert seien.

Am 11. Januar 1923 rückten französische und belgische Truppen in das bis dahin noch unbesetzte Ruhrgebiet ein. Neben dem Eingriff in die Verwaltung, u. a. teilweise Ersetzung der deutschen Polizei als Ordnungsfaktor, wurde der Abtransport der Reparationen, v. a. von Kohle durch die militärische Präsenz und hartes Vorgehen gegen Widerstand durchgedrückt.

Passiver Widerstand

Die deutsche konservative Regierung unter Wilhelm Cuno (parteilos), die seit November 1922 das Amt von einer liberal-sozialdemokratischen Koalition übernommen hatte, rief zu einem passiven Widerstand auf, dem einzig die Reichstagsfraktion der KPD nicht zustimmte (12 von insgesamt 296 Mandatsträger:innen).

Dieser Anlass war, so sehr er auch die eigene Wirtschaft bedrückte, politisch für die deutsche Bourgeoisie nicht unwillkommen. So konnte sie die nationale Einheit, die Bedrohung durch den äußeren Feind beschwören, dem die Verantwortung für die Verschlechterung der Lage und die zunehmende Teuerung zugeschoben werden konnte.

Die Arbeiter:innenklasse beteiligte sich tatsächlich mit zahlreichen Arbeitsniederlegungen an dem Widerstandsaufruf, beschränkt jedoch zumeist auf die okkupierten Territorien.

Nationale Selbstbestimmung?

Die Okkupation stellte auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) vor ideologische und praktische Probleme, die exemplarisch ihren Zustand beleuchteten.

Die Stationierung einer Besatzungsmacht im Verein mit dem Versailler Vertrag leistete nationalistischen Kräften Vorschub, die Deutschland als von fremden Mächten unterdrückte Nation ansahen.

Zu Beginn gab es noch einen hoffnungsvollen revolutionär-internationalistischen Ansatz in Form einer gemeinsamen Konferenz mit Vertreter:innen der KP Frankreichs, die bereits vor der Ruhrbesetzung am 7.1.1923 in Essen stattfand und auf der eine Zusammenarbeit z. B. mit antimilitaristischer Propaganda beschlossen wurde. Im März 1923 folgte eine Zusammenkunft in Frankfurt/Main, die zusätzlich von linksreformistischen und zentristischen Kräften beschickt war und die selbständige Klassenpolitik nach außen wie nach innen als Losung ausgab. Die KPD vernachlässigte jedoch bald den Kampf gegen die eigene Regierung.

Stattdessen revidierte die Partei die Auffassung, dass der deutsche Kapitalismus durch Kriegsniederlage und den Versailler Vertrag seinen imperialistischen Charakter nicht eingebüßt hatte, vertrat nun Thesen zum Status Deutschlands als Halbkolonie und eine Einschätzung, die die Niederlage des französischen Imperialismus als „kommunistisches Ziel“ in einer Veröffentlichung des Mitglieds der Parteiführung, Thalheimer, erklärte. Das deutsche Proletariat müsse nunmehr die Führung in einem gerechten, nationalen Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch den französischen Imperialismus übernehmen. Der deutschen Bourgeoisie wurde eine objektiv revolutionäre Rolle „wider Willen“ angedichtet. Diese Wendung geht einher mit dem Versuch der Gewinnung von reaktionären Kreisen, die im Widerstand gegen die Okkupation aktiv waren, was sich im Verständnis für nationalistische Anschläge ausdrückte (Radeks Schlageterrede) bis hin zur antisemitischen Anbiederung an völkische Kräfte (Ruth Fischer). Die KPD begab sich damit in gefährliches Fahrwasser reaktionärer Ideologie, die Deutschland als. in ‚Zinsknechtschaft‘ ausländischer Mächte schmachtendes und unterdrücktes Land mystifizierte. Nationalbolschewistischen Tendenzen wurde eine Kolumne in der Parteizeitung Rote Fahne zugestanden.

Zustand der KPD

Die Kommunistische Partei Deutschlands war nach 1920 schlagartig zu einer Massenpartei durch Vereinigung mit einem Großteil der zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angewachsen, verstrickte sich in militärische Auseinandersetzungen (Märzaufstand). Darauf folgten Behinderung und teilweise Illegalisierung der Parteiarbeit. Diskussionen über die Kursbestimmung brachten jedoch keine klare Linie in ihre Politik. Die Partei befand sich nach wie vor in einem instabilen Zustand. Dies drückte sich auch im Austausch von Führungen aus.

Die KPD wirkte durch die ständigen Herausforderungen, die die instabile Lage in Deutschland mit sich brachte, überfordert. So war sie auf ihrem Leipziger Parteitag (28.1. – 1.2.1923) in Debatten über die Generallinie verstrickt, wo es sich um Auslegung von Einheitsfront bzw. Arbeiter:innenregierung als Taktik drehte. So elementar auch Versuche waren, Klärungen in diesen Fragen herbeiführen zu wollen, hätte die Partei sich nicht mit der Ablehnung des Regierungsaufrufs begnügen dürfen, sondern frühzeitig die Gelegenheit ergreifen müssen, die Situation der Ruhrbesetzung im Interesse der Arbeiter:innenklasse offensiv zu nutzen.

Der linke Flügel, der im Ruhrgebiet eine seiner Hochburgen besaß, verwies auf diese Notwendigkeit, erhob Forderungen nach proletarischen Produktionskontrollen und Warenverteilung sowie die Übernahme von Betrieben in Bergbau und Schwerindustrie. Das teilweise Machtvakuum durch Zersetzung der deutschen Verwaltungen im Ruhrgebiet schien nutzbar, um auch politische Stellungen der Arbeiter:innenklasse ausbauen zu können. Doch in ihrem Eifer schossen die Genoss:innen abenteuerlich übers Ziel hinaus, weil sie einem militärischen Aufstand und davon ausgehenden Fanal für die restliche Republik Erfolgsaussichten einräumten.

Eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hätte den Blickwinkel für Klassensolidarität aus nationaler Enge weiten und die Aktionsfähigkeit für den Widerstand gegen beide Imperialismen stärken können. Reparationsforderungen und Versailler Vertrag drängten auf eine revolutionär-internationalistische, proletarische Antwort: Gesamteuropäischer Aufbauplan zur Beseitigung der Kriegszerstörungen als Konkretisierung der Forderung nach Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!

Differenzen

Die anfangs zögerliche Haltung der KP-Führung im Ruhrkonflikt rührte von katastrophalen Erfahrungen mit militärischen Abenteuern wie dem Märzaufstand her, in die sich die Partei nicht wieder stürzen wollte. Sie verfolgte die Linie eines allmählichen Kräfteaufbaus und Stärkung der Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenbewegung.

Als zentrales Mittel nahm sie die Einheitsfronttaktik wahr, verknüpfte sie auch mit der Frage einer Arbeiter:innenregierung. Dabei traten gravierende Unstimmigkeiten in der Partei zu Tage. Die Führung setzte sich für eine umfassende Taktik ein, um auf die reformistisch beeinflussten Massenorganisationen SPD und Gewerkschaften einwirken zu können, während die Opposition nur ein Zusammengehen mit Anhänger:innen der SPD an der Basis akzeptierte, wobei sie bei Aktionen ultimativ die Führungsrolle beanspruchte. Eine Unterstützung einer SPD-geführten Regierung lehnte sie ab. Die Mehrheitssozialdemokrat:innen gehörten für den Oppositionsflügel zum linken Rand der Bourgeoisie.

Auf dem Leipziger Parteitag war eine Charakterisierung der Arbeiter:innenregierung als Kompromissformel angenommen worden, die sich deutlich von den Leitsätzen der Kommunistischen Internationale auf dem IV. Weltkongress 1922 unterschied: „Sie ist ein Versuch der Arbeiter:innenklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen Arbeiter:innenpolitik zu betreiben.“ Diese Formel kittete jedoch die Differenzen nicht, sondern übertünchte sie nur.

Kurswechsel

Die ausbleibende Ausweitung von Protesten gegen die Ruhrbesetzung auf das übrige Deutschland schien der Einschätzung der KP-Führung anfänglich noch recht zu geben. Doch die unversöhnlich harte Haltung Frankreichs, dessen gewalttätige Besatzung einen Blutzoll forderte, sowie die schlechte Versorgungslage für die Bevölkerung ließen Streiks und Hungerunruhen immer wieder aufflammen.

Noch im Mai lehnte die KPD-Zentrale einen Machtkampf im Ruhrgebiet als nur dem Klassenfeind im In- und Ausland dienlich ab. Die wirtschaftliche Einschnürung durch die sprunghafte Preisspirale hielt ab Hochsommer das gesamte Land im Griff und ließ die Stimmung gären. Die SPD entzog nun der Cuno-Regierung die Unterstützung. Die Unruhe wuchs auch in den Parteigliederungen der KPD. So musste sich die Führung schließlich zu einer einschneidenden Kurskorrektur bequemen und bereitete sich auf einen Generalstreik gegen die bürgerliche Regierung vor.

Antifaschistischer Tag

Erste Station einer sichtbaren Initiative der Partei sollte der am 11.7. von der Parteiführung beschlossene „Antifaschistische Tag“ am 29.7. mit großem Aufgebot für eine zentrale Demonstration sein. Er sollte zugleich ein Zeichen sowohl gegen die Regierung wie auch reaktionär-nationalistische Kräfte setzen, die die Krise für ihre Zwecke nutzen wollten. Schwirrende Bürgerkriegs- und Putschgerüchte von rechts und links hatten die Regierungsstellen aufgeschreckt. Die Behörden ordneten für diesen Tag ein Verbot jeglicher Aufmärsche an. Die KP-Führung sagte daraufhin die Demonstration ab.

Diese Entscheidung empörte die Parteiopposition, was sich auf der folgenden Sitzung des Zentralkomitees in einem Disput über die Parteilinie entlud. Sie machte geltend, dass den Massen unbedingt ein Signal hätte gegeben werden müssen, um die Machtfrage unter Führung der KPD zu stellen. Die Leitung bestand wiederum darauf, dass der Augenblick zur Errichtung einer proletarischen Diktatur erst gekommen sei, wenn die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter:innen gewonnen werden könne. Die bürgerliche Herrschaft würde selbst zur gegebenen Zeit zusammenbrechen.

In der Schlusserklärung einigte man sich auf die Notwendigkeit, die derzeitige Regierung so bald wie möglich zu Fall zu bringen und eine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierumg“ zu fordern. Doch der Zwist innerhalb der Partei war abermals nicht beigelegt.

Streik gegen die Regierung

Da die Ausstände auf Fabrikebene und Zusammenstöße mit der Ordnungsmacht zugenommen und auf das gesamte Deutsche Reich seit Juni übergegriffen hatten und sich zunehmend auch gegen die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Reichsregierung wandten, gab die KP-Führung dem Drängen der linken Basis aus dem Betriebsrätemilieu nach und sah sich veranlasst, das Kampfmittel des Generalstreiks anzuwenden.

Die Vorzeichen standen nicht ungünstig, denn die KPD hatte seit Ende 1922 dank gezielter Einheitsfrontarbeit nicht nur ihre Mitgliederzahl vergrößern, sondern auch ihr organisatorisches Umfeld bis tief in mehrheitssozialdemokratische Arbeiter:innenkreise ausdehnen können. Bei ihrer Heerschau musterte die KPD im Juli 1923 allein 4.000 kommunistische Gewerkschaftsfraktionen. Bei den Betriebsräten im Metallarbeiter:innenverband Berlin-Brandenburg belief sich das Überzahlverhältnis der KPD- zur SPD-Angehörigkeit sogar auf etwa 2:1.

Die KPD-Betriebsräte hatten im Verein mit linken Sozialdemokrat:innen rasch den „Fünfzehnerausschuss“ als Verbindung zwischen den Fabrikausschüssen der Hauptstadt formiert. Dieser rief zum Generalstreik auf. Das Berliner Gewerkschaftskartell trat zusammen, beschloss jedoch unter dem Einfluss der rechten SPD-Führung, sich dem Streik nicht anzuschließen. Er wurde dennoch ausgerufen, begann aber merkwürdigerweise am 11.8., einem Sonnabendabend. Jedoch die Eisenbahner:innen befolgten den Streikaufruf nicht. Die Streikfront bröckelte im Laufe des Montag. Die KP-Zentrale entschied sich daher zum Abbruch der Aktion.

Entscheidend für das Scheitern dieses Streikversuchs war auch, dass die Bourgeoisie mittlerweile sehr wendig gehandelt hatte. Sie sah, dass die alte Regierung nicht mehr zu halten war. Diese demissionierte am 12.8. Einen Tag später schon stand eine neue unter Stresemann (liberal-konservative Deutsche Volkspartei). Dem Klassenfeind in den Steigbügel half erneut die MSPD und beteiligte sich auch an dem neuen Kabinett. Die Aufgabe des passiven Widerstands und ein radikaler Währungsschnitt als Lösung der Hyperinflation wurden vorbereitet.

Die Haltung der Kommunistischen Internationale

Diese versuchte, in den Streitigkeiten zwischen den beiden Flügeln zu vermitteln, und stand anfangs eher auf Seiten der KPD-Führung. Deren Politik der Arbeiter:inneneinheitsfront trug bereits 1922 Früchte und schien verlässlicher als der oft sprunghafte Voluntarismus der Opposition. Zwar war in der KI die Anschauung verankert, dass Deutschland die zentrale Rolle als Zündfunke für die sozialistische Weltrevolution einnehmen sollte, und sie hatte ihrer internationalistischen Verantwortung bewusst entsprechend gehandelt und Verbindungen zu der französischen Sektion aufgenommen, doch diese Arbeit nach der Frankfurter Konferenz nicht mit der Entsendung von Material, Personal und Ausgabe politischer Direktiven energisch fortgesetzt. Sie wurde erst im Zusammenhang mit Aufstandsplänen für Oktober 1923 wieder aufgegriffen. Die Dimension der Ruhrbesetzung wurde tendenziell unterschätzt.

In der KI selbst zeichnete sich jedoch eine Uneinigkeit über den Kurs ab. Sinowjew und Bucharin teilten ein halbes Jahr später ab Sommer 1923 im Wesentlichen die Einschätzung des Fischer/Maslow-Flügels und drängten in einer abrupten Wendung auf eine proletarische Erhebung. Sie ließen sich anscheinend von einem überzeichneten Bild der Verhältnisse leiten. Es herrschte die Einschätzung vor, dass in Deutschland die Bourgeoisie bankrott wäre und sich die Lage in Arbeiter:innen- und aufkommende faschistische Massenbewegung polarisierte, die Situation auf einen Bürgerkrieg zusteuerte. Der objektiv revolutionären Lage fehlte jedoch die subjektive Reife.

Der Verlauf des Generalstreikversuchs im August hätte eine Warnung sein müssen.

Hoernle, neben Zetkin deutsches Mitglied im Exekutivkomitee der KI, kritisierte in einem Brief an Brandler vom 3 .7.1923 die in der KI-Führung bereits im Schwange befindlichen Gedanken an einen Aufstand und merkte an, dass die Betriebshundertschaften in Deutschland zunächst noch „nicht Organ des bewaffneten Kampfes und als bewaffnete Macht noch kaum aktionsfähig“ sein würden.

Die KI-Führung hätte zum einem die Brandler-Führung, die zu behäbig darauf zu warten schien, dass die Bourgeoisie von allein zusammenbrechen würde, auf Trab bringen, und andererseits dem zumeist dilettantisch vorschnellen Aktionismus der KP-Opposition die Zügel anlegen müssen. Ein international koordiniertes Eingreifen mit einer straff strukturierten Vorbereitung hätte bereits mit Beginn der Ruhrbesetzung einsetzen und kontinuierlich fortgeführt werden müssen. Dies und ein klares politisches Programm, das die nationalbolschewistischen Flausen und sektiererischen Irrwege hätte austreiben müssen, hätten die Erfolgsaussichten auf eine siegreiche Revolution in Deutschland und darüber hinaus sicherlich erhöht.

Das Interview zwischen Trotzki und Walcher (17. – 20. August 1933) bringt die Politik von KPD und KI zwischen Jahresbeginn und Oktober 1923 ähnlich auf den Punkt: „Zum Punkt 1923 fuhr Gen. L. T. fort zu bekräftigen, dass zu dieser Zeit, hervorgerufen durch eine schlechte Politik, große objektive Möglichkeiten für den revolutionären Kampf vermasselt worden sind. Aber er denke überhaupt nicht, dass der entscheidende Fehler im Oktober zur Zeit der Chemnitzer Konferenz begangen worden sei. Er hat daran erinnert, er habe schon 1924 die Situation des Jahres 1923 mit der eines Reiters verglichen, der sein Pferd vor einem aufgetürmten Hindernis zu sehr am Zügel gehalten habe und dem folglich nur zwei Möglichkeiten blieben: entweder vor dem Hindernis zurückzuweichen oder trotzdem den Sprung zu wagen, der nur nach gewaltigem Anlauf erfolgreich hätte sein können, und sich infolgedessen den Hals zu brechen. Die KPD, kraft der falschen Politik ihres Zentralkomitees und auch zweifellos der Exekutive der Kommunistischen Internationale, war genau in die Lage dieses Reiters versetzt.“




Der Krieg in der Ukraine

Resolution des LFI-Kongresses, 24. Juni 2023, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

1. Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der Antagonismus, der sich seit Jahren zwischen den „alten“ westlichen imperialistischen Mächten, allen voran den USA und ihren Verbündeten, und China und Russland als neuen imperialistischen Mächten und globalen Konkurrenten entwickelt, eröffnet eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

2. Dieser wird derzeit vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges durch das von den G7-Staaten initiierte Sanktionsregime ausgetragen. Der reaktionäre Einmarsch Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen Volkes, ja sogar die Leugnung seiner Existenz durch Putin sowie dessen barbarische Kriegsführung stellen zweifellos einen Akt imperialistischer Aggression dar, der das ukrainische Nationalbewusstsein gestärkt hat.

Der Charakter des Krieges

3. Isoliert betrachtet ist der Kampf gegen die russische Invasion also ein gerechtfertigter Krieg der nationalen Verteidigung – ungeachtet des reaktionären politischen Charakters des Kiewer Regimes, der sich in seiner Pro-NATO- und Pro-EU-Position ausdrückt. Aber für Marxist:innen ist der Charakter des politischen Regimes einer Halbkolonie, wenn sie angegriffen wird, nicht der entscheidende Faktor für die Charakterisierung eines Krieges. So war beispielsweise die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen eine imperialistische Invasion trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad und Kabul gerechtfertigt und unterstützenswert.

4. Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde jedoch ebenfalls zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form von beispielloser wirtschaftlicher und militärischer Hilfe daher gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

5. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass das Eingreifen der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als seinen imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons sind darin zu finden, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und seiner anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

6. Die Entwicklungen, die zum reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern dass auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Warum die Ukraine?

7. Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland um die Ukraine zugespitzt hat, ist kein Zufall. Vielmehr ist er selbst das Ergebnis der Entwicklungen seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, des Versuchs, eine neue Weltordnung zu etablieren, und des sich verschärfenden Konflikts mit Russland seit dessen Wiedererstarken als imperialistischer Macht unter Putin.

8. Die Eskalation um die Ukraine seit den 1990er Jahren ist nur in diesem Kontext zu verstehen. Wie der Balkan vor 1914 entwickelt sich dieser Konflikt seit langem zu einem Pulverfass für einen möglichen zwischenimperialistischen Krieg. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland befand sich die Ukraine nach 1991 zunächst in einer Abhängigkeit vom neu etablierten russischen Imperialismus, die sich auch in einem fragilen System west- und ostukrainischer politischer Kräfte und Oligarch:innen widerspiegelte.

9. Die Ukraine war wirtschaftlich und militärisch zu schwach, um selbst eine imperialistische Macht zu werden (insbesondere nachdem sie die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen der Sowjetunion aufgegeben hatte). Sie hatte die „Wahl“, entweder eine Halbkolonie Russlands oder der Europäischen Union und der USA zu werden. Unter dem Gesichtspunkt des Widerstands gegen die russische Vorherrschaft lag im Wunsch, der NATO ähnlich wie die anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten beizutreten, die sicherheitspolitische Seite dieser westlichen Orientierung. Zwei Jahrzehnte lang schwankte die Ukraine zwischen Regierungen, die die eine oder andere dieser Orientierungen verfolgten, was in der Maidan-Bewegung 2014 gipfelte.

10. Zu diesem Zeitpunkt war vor allem in der Westukraine eine starke nationalistische Bewegung entstanden, die eine „prowestliche“ Ausrichtung und einen Bruch mit der russischen Dominanz anstrebte. Sie hatte einen rechtsextremen und faschistischen Flügel, Swoboda/Rechter Sektor (Prawyj Sektor) usw. Dies führte schließlich zu einem Bürger:innenkrieg, als das Regime von Janukowytsch, das den früheren prorussischen Kompromiss vertrat, die Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen abbrach. Dies führte zunächst zur Euromaidan-Bewegung, die das Regime mit Gewalt niederzuschlagen versuchte. Doch als auf die Demonstrant:innen geschossen wurde, führten die rechten und faschistischen Kräfte auf dem Maidan einen Putsch an, durch den Janukowytsch gestürzt wurde. Die nationale Unterdrückung der russischsprachigen Minderheiten in der Ostukraine führte nach dem Umsturz auf dem Maidan 2014 faktisch zu einem Bürger:innenkrieg in der Ukraine. Auch diese Minderheiten haben ein legitimes Recht auf nationale Selbstbestimmung, was die nationale Frage in der heutigen Ukraine weiter verkompliziert. Die nationalen Gefühle der Menschen in diesen Regionen waren Teil der Rechtfertigung des russischen Imperialismus für diese reaktionäre Invasion.

11. Die russische Antwort darauf war die Annexion der Krim durch Putin. Dann vertrieben die Separatist:innen in Luhansk und Donezk die Kiewer Regierungstruppen und riefen autonome „Volksrepubliken“ aus. Während die EU-Führung um Deutschland und Frankreich versuchte, den Konflikt durch die Abkommen von Minsk 1 und 2 (2014 und 2015) zu entschärfen, wurde dies sowohl von Moskau als auch von Washington mit Hilfe der ukrainischen Nationalist:innen in der Rada sabotiert, die sich gegen jegliche Zugeständnisse (Autonomie, Sprachrechte) an die russischsprachige Minderheit wehrten. Putins Übernahme der „Republiken“ bedeutet, dass der Krieg seither mit mehr oder weniger Intensität weiterging.

Interessen der Westmächte

12. Warum entstand ein so offensichtlicher Unterschied zwischen den USA und Großbritannien auf der einen und Deutschland und Frankreich an der Spitze der EU auf der anderen Seite? Für Letztere war die Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotenzials und seiner militärischen Kapazitäten, immer eine strategische Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber dem schwächer werdenden US-Hegemon zu erlangen. Die Politik der EU zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt, ähnlich wie in Jugoslawien, auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einzufrieren, um die Spannungen mit Russland letztlich in Schach zu halten. Für die USA hingegen war die Ukraine ein strategischer Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie schon lange als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung identifiziert hatten. Die USA sehen in der Ukraine auch eine Möglichkeit, Russland von den europäischen Märkten zu isolieren und damit Russland zu schwächen, während sie die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Europas von ihnen selbst fördern.

13. Aufgrund des schlechten Abschneidens der ukrainischen Armee im Jahr 2014 begannen die USA und Großbritannien 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land, das seit 2015 praktisch bankrott ist, hoch verschuldet und unter einem Schuldenregime von IWF-Paketen schmachtet, gibt einen großen Teil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt zudem jährlich milliardenschwere Militärhilfe aus dem Westen (allein von Anfang 2022 bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Dies hat nicht nur die Verbreitung wichtiger Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr usw.) mit entsprechender Ausbildung ermöglicht, sondern auch eine unterstützende Infrastruktur geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis hin zur strategisch-taktischen Führung.

Auswirkungen der NATO-Beteiligung

14. Damit wird auch deutlich, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von den Kriegen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa der USA gegen den Irak oder des Vereinigten Königreichs gegen Argentinien, unterscheidet. Es handelt sich nicht um eine hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee, die einem militärisch tausendfach überlegenen Imperialismus gegenübersteht. Vielmehr handelt es sich um eine vom westlichen Imperialismus systematisch für diesen Krieg vorbereitete und ausgerüstete Armee, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Ausbruch des Krieges hat sich deren Unterstützung noch einmal vervielfacht. Und zwar nicht nur in Form von Waffenlieferungen, sondern auch in Form von Aufklärung, Ausbildung, strategischer Beratung und Wirtschaftshilfe.

15. Auch wenn die meisten NATO-Länder nicht offen Truppen entsenden, um sich an den Kämpfen zu beteiligen, sind sie doch seit langem als Waffenlieferanten, Ausbilder und Finanziers beteiligt. Eine große Einschränkung, die die NATO darauf beschränkt, die Ukraine als „Stellvertreterin“ einzusetzen, bereitet natürlich die Gefahr, dass sich der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland ausweitet, die auch den Einsatz von Atomwaffen beinhalten könnte. Russland wiederum hat mehrfach mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen gedroht, um die NATO zu einer Begrenzung ihres Engagements zu bewegen. Aus diesem Grund wurde der Krieg hauptsächlich auf ukrainischem Gebiet ausgetragen. In den letzten Wochen scheint sich dies jedoch zu ändern (Grenzüberfälle durch ukrainisch ausgerüstete russische Milizen, mysteriöse Drohnenangriffe in Moskau usw.). Die Reaktion der westlichen Regierungen fiel gemischt aus: Während der globale Hegemon (die USA) zur Vorsicht mahnte, erklärte zumindest eine unbedeutendere, aber wichtige Macht (das Vereinigte Königreich), die Ukraine habe „das Recht, ihre Kräfte über ihre Grenzen hinaus einzusetzen“.

16. Die Art und Weise, wie das vorherrschende „demokratische“ Kriegsnarrativ der NATO nun die Gefahr einer Ausweitung des Krieges und der Konfrontation der Blöcke herunterspielt, dient dazu, eine zunehmend offensive und direkte Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Allerdings ist auch der Übergang zu einem begrenzten zwischenimperialistischen Krieg nicht auszuschließen. Denn die Logik der Ausweitung der Kriegsführung ist dem aktuellen Konflikt unmittelbar inhärent. Auch in diesem Sinne kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

17. Neben der militärischen Eskalation des zwischenimperialistischen Konflikts enthält die Situation auch einen direkten wirtschaftlichen Aspekt. Die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen (Ausschluss von SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzung der Aktivitäten westlicher Unternehmen in Russland, weitreichende Handelsbeschränkungen usw.) sind in der Tat von einem in der Geschichte noch nie dagewesenen Ausmaß (auch nicht in den vorangegangenen Weltkriegen). Das Ausmaß der westlichen Unterstützung bildet also nicht nur eine Begleiterscheinung des Krieges, sondern ein wesentliches „Moment“, das für seinen Charakter entscheidend ist. Natürlich kommt es in zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis immer wieder zu einer Intervention einer konkurrierenden Macht auf der Seite der unterdrückten Nation. Aber dies trägt meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht verändert.

18. Dies ist jedoch keineswegs ein untergeordneter Aspekt eines jeden Krieges zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie. Am deutlichsten wird dies, wenn ein direkter zwischenimperialistischer Krieg ausbricht. Im Fall der Balkanländer im Ersten Weltkrieg beispielsweise bestand kein Zweifel daran, dass die ansonsten gerechtfertigte Landesverteidigung Serbiens gegen den Angriff Österreichs nach Ausbruch des Krieges ein untergeordnetes Moment wurde. Es wäre reaktionär gewesen, eine Position der Unterstützung für Serbiens Beschützer und Verbündete, die Entente-Mächte (Frankreich, Russland und Großbritannien), einzunehmen. Solange der imperialistische Krieg andauerte, war es nicht möglich, eine eigene Position der Unterstützung für Serbien einzunehmen.

19. Im Krieg um die Ukraine handelt es sich zwar nicht um einen offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten, aber die Westmächte, allen voran die USA, haben einen großen Einfluss auf die Führung und die Ziele des Krieges in der Ukraine. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass die NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land aktiv sind, zu schließen, dass ihr Eingreifen von untergeordneter Bedeutung ist. Für die Ukraine und ihre Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ist der Krieg jedoch in erster Linie einer der Selbstverteidigung gegen einen eindringenden Unterdrückerstaat. Außerhalb der Ukraine trägt der Konflikt zwischen Russland und der NATO einen reaktionären Charakter, dem sich Sozialist:innen entgegenstellen müssen.

20. So haben der Krieg und die massive „westliche“ Unterstützung für die Ukraine dem Konflikt einen multiplen Charakter verliehen – ein Angriffskrieg, der auf dem Territorium der Ukraine geführt wird, zu dem der Aspekt eines Stellvertreterkrieges zwischen den imperialistischen Mächten durch das Material und die strategischen Informationen der NATO sowie ein Kalter Krieg durch die Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland hinzugekommen sind. Der Verlauf des Krieges hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Ländern und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus

21. Russland ist eine imperialistische Macht, die direkt in den Versuch verwickelt ist, die Ukraine ganz oder teilweise zu besetzen. Daher gilt die Politik des revolutionären Defätismus hier in Russland am deutlichsten. Russlands Niederlage und Rückschläge können die Revolution beflügeln und Putins Herrschaft erschüttern. Das entscheidende Ziel stellt die Umwandlung des reaktionären Krieges in einen Klassenkampf für seinen Sturz und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung dar. Das steht in Russland unmittelbar auf dem Spiel:

  • Entlarvung des imperialistischen Charakters des Krieges und der Kriegsziele Russlands.
  • Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind unerlässlich, um eine Revolution gegen Putin oder ein anderes diktatorisches Regime vorzubereiten.
  • Gegen die Abwälzung der Kriegskosten auf die Massen (Kontrolle über die Warenverteilung, Enteignung von Unternehmen).
  • Rückzug der russischen Armee aus der Ukraine, der Wagner-Söldner:innen und ähnlicher Verbände.
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.
  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).
  • Aufbau einer Bewegung auf der Grundlage von Streiks und Aktionskomitees in Fabriken und Wohngebieten mit dem Ziel des Sturzes des Putin-Regimes und der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zur Durchsetzung von Arbeiter:innen- und demokratischen Rechten, des Kampfes für Arbeiter:innenkontrolle und eine Arbeiter:innenregierung auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten.
  • Unterstützung der Kriegsgegner:innen, insbesondere der Rolle der Frauen, einschließlich der Angehörigen der in die Ukraine entsandten Soldat:innen, und des Feministischen Antikriegs-Widerstands (FAS).
  • Ablehnung der Ablösung Putins entweder durch einen Palastputsch ultrareaktionärer Kräfte oder die Einsetzung einer „prowestlichen“ Regierung.

22. Putins Entscheidung, die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson mit Pseudoreferenden zu annektieren, zusammen mit der teilweisen Mobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland, ist ein reaktionärer Akt der Verzweiflung, der gleichzeitig seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

23. Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter eingesetzt werden sollen, und der prekären wirtschaftlichen Lage wird sich die Situation in Russland zuspitzen. Das hängt aber auch vom Ausmaß und Stärke der nationalistischen Propaganda ab bzw., ob sie durch politische, militärische und wirtschaftliche Umwälzungen in Frage gestellt wird. Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist unerlässlich, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Lande voranzutreiben.

24. Während unser übergreifendes Ziel in Russland der Sturz der russischen Regierung durch eine demokratische Antikriegsbewegung und der Aufbau einer breiteren sozialistischen Bewegung ist, die sich auf die Macht vorbereitet, sehen wir den Sturz Putins nicht als Vorbedingung für eine russische Niederlage. Vielmehr sind die Aussichten auf seinen Sturz umso größer, je schneller die russischen Streitkräfte militärisch besiegt werden. Im Zusammenhang mit dem Widerstand der Ukraine gegen die imperialistische Aggression sind wir für die militärische Niederlage der russischen Streitkräfte und ihren Rückzug aus dem ukrainischen Gebiet.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

25. Hier ist die Situation wahrscheinlich am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, als auch bezüglich der Taktik, weil einerseits der zwischenimperialistische Konflikt eine prägende Rolle spielt und andererseits auch das wichtige Element der realen nationalen Unterdrückung vorhanden ist. Das bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen auf Widerstand gegen die russische Besatzung verteidigen sollten, aber ohne die Selenskyj-Regierung in irgendeiner Form zu unterstützen und ohne Illusionen in die Motive der imperialistischen NATO-Mächte zu wecken. Tatsächlich besteht der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie in der Unterordnung des Landes unter den politisch-wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Apparat der EU und der USA. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im Wesentlichen mit denen des Westens und vor allem der USA übereinstimmen – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zu einem vollständigen imperialistischen Krieg in Kauf nimmt und sogar fordert.

26. In der Ukraine schließt diese Politik des Regimes jedoch keineswegs die Unterstützung des Kampfes gegen die Besatzung aus. Es wäre absurd, zu erklären, dass die Frage der russischen Panzer und Flugzeuge, die ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hat. Wir erkennen an, dass die Ukraine trotz ihrer bürgerlichen Führung und des westlichen Einflusses ein Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Besatzung besitzt. Dazu gehört auch, dass wir das Recht der Ukraine anerkennen, die dafür notwendigen Waffen zu erwerben.

27. Aber diese Unterstützung durch die westlichen Imperialist:innen erfolgt nicht gratis. Da die Ukraine bereits vor dem Krieg praktisch bankrott war, erhielt sie im ersten Kriegsjahr einen Betrag an militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung, der in etwa dem jährlichen BIP der Vorkriegszeit entsprach. Die Wirtschaftshilfe wurde in Form von Krediten gewährt, die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Für März 2023 hat der IWF ein neues Programm in Höhe von 15,6 Milliarden US-Dollar angekündigt (eines der größten in seiner Geschichte), das mit weitreichenden Forderungen für die Zukunft der Nachkriegsukraine verbunden ist. Westliche Kommentator:innen haben betont, dass die Beteiligung des IWF an der Ukrainehilfe unerlässlich ist, da er über „Erfahrung beim Wiederaufbau“ eines bankrotten Staates verfüge. Es ist ganz klar, dass diese Form der westlichen „Unterstützung“ die Vorbereitung einer halbkolonialen Zukunft der Ukraine mit schrecklichen Folgen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verkörpert. Präsident Selenskyj hielt bereits Reden vor Bänker:innen von JP Morgan, Goldman-Sachs und anderen, in denen er unbegrenzte Renditen für deren „großzügige Investitionen“ versprach. Gegen diesen zunehmenden Einfluss des westlichen Finanzkapitals auf die Ukraine muss unbedingt Widerstand geleistet werden, indem der Erlass der Schulden, die Ablehnung jeglicher „Wirtschaftsberater:innen“, die mit der westlichen Hilfe einhergehen, und die Entwicklung einer demokratischen Kontrolle über die bisher geleistete Hilfe gefordert werden. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, selbst Waffen zu erwerben und produzieren, ohne von westlichen Lieferungen abhängig zu sein – und der daraus folgenden Umwandlung in eine Halbkolonie des westlichen Imperialismus!

28. Andererseits dürfen fortschrittliche Kräfte in der Ukraine Selenskyjs Ziel der militärischen und wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den „Westen“ (NATO-Mitgliedschaft oder „Neutralität“ mit westlichen Sicherheitsgarantien) sowie die gewaltsame Integration der sogenannten Volksrepubliken und der Krim in eine „eine und unteilbare“ Ukraine um den Preis eines langwierigen Krieges nicht unterstützen. Diese Regionen müssen das Recht haben, ihre eigene Selbstbestimmung frei zum Ausdruck zu bringen, ohne die Anwesenheit von Besatzungstruppen aus Moskau oder Kiew.

29. In den Fabriken und an den Arbeitsplätzen bleibt es unerlässlich, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die gewerkschaftlichen und demokratischen Rechte der Lohnabhängigen zu verteidigen. Dies steht nicht im Gegensatz zur Verteidigung gegen die russischen Angreifer:innen. Vielmehr stärkt es die Widerstandskraft und die Moral der einfachen Menschen. Wir verteidigen ihre Rechte gegen die gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen Selenskyjs. Diese Verteidigung muss die Wahrung der Rechte der Freiwilligen in den Verteidigungseinheiten und den regulären Streitkräften gegen rechtsnationalistische und faschistische Kommandant:innen und Kräfte einschließen. Die letzten Monate haben die arbeiter:innenfeindliche und proimperialistische Natur des ukrainischen Regimes noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des Landes ihre Bedeutung verloren hat. Solange der nationale Kampf gegen die russische Invasion einen gerechten Charakter beibehält, wäre es für Revolutionär:innen selbstschädigend, diesen aufzugeben. Es würde bedeuten, eine mächtige Waffe zur Sammlung der Massen in den Händen der Bourgeoisie zu lassen. Revolutionär:innen müssen vielmehr die Unterstützung der nationalen Selbstverteidigung mit dem Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und der Aufdeckung der reaktionären Ausprägung des ukrainischen Regimes und seiner imperialistischen Hintermänner verbinden.

30. Die Liga für die Fünfte Internationale betonte von Anfang an zu Recht die Schlüsselrolle des zwischenimperialistischen Konflikts. Gleichzeitig erkannte sie an, dass die „berechtigte Antwort gegen die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, die Unterstützung der Revolutionär:innen verdient. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen“. Aber wir taten dies auf inkonsequente Weise, als wir das Recht der Ukrainer:innen, die Mittel für dieses Ziel zu erhalten, nicht anerkannten. Wir korrigieren diesen Fehler, der nicht nur die Selbstverteidigung der Volksmassen, sondern auch den Kampf um die Führung der und durch die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine geschwächt hätte.

31. Die Revolutionär:innen in der Ukraine müssen den Klassenkampf führen, auch wenn dieser heute vor allem einen politisch vorbereitenden Charakter innehat. Zentrale Elemente der revolutionären Politik müssen folgende sein:

  • Unterstützung für das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung.
  • Agitation, revolutionäre Propaganda, Aufdeckung des Charakters des Krieges, die nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.
  • Forderung nach wirksamem Schutz und Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.
  • Kampf um die Kontrolle über Waffen und knappe Gütern in Fabriken, Städten und Dörfern, wenn möglich auch Aufbau von Milizen.
  • Streichen der Schulden! Die Lohnabhängigen sollten sich für die Einrichtung einer Arbeiter:innenkontrolle über den Erhalt und die Produktion von Rüstungsgütern einsetzen.
  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation, die sich gegen die russischen Besatzungssoldat:innen richtet; Widerstand gegen die Konsolidierung der russischen Besatzung.
  • Kampf gegen die Einschränkung der demokratischen Rechte und die Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte durch das Kiewer Regime. Anerkennung der Rechte aller nicht-ukrainischsprachigen Minderheiten, gegen ihre kulturelle oder politische Unterdrückung.

32. Zu diesem letzten Punkt müssen wir ganz klar sagen, dass die Zukunft der sogenannten Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein. Gleichzeitig verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der Krim und der „Volksrepubliken“ (einschließlich ihres Rechts, sich Russland anzuschließen oder ein unabhängiger Staat zu werden). Allerdings kann nur eine sozialistische Föderation von Arbeiter:innenstaaten die verschiedenen nationalistischen herrschenden Klassen daran hindern, die Feindseligkeiten in ihrem eigenen Interesse zu schüren.

Keinen Fußbreit der NATO!

33. In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen gilt es, die weitere Eskalation des Konflikts zu einem offen erklärten zwischenimperialistischen Flächenbrand, eine Vertiefung des neuen Kalten Krieges zu verhindern und auch gegen die Verhängung eines globalen Sanktionsregimes zu kämpfen. Unser Ziel ist es, nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. aufzuwerfen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht die „Demokratie“ und die Menschenrechte verteidigen, sondern ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen.

34. Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Mobilisierung an den Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen oder „begrenzte“ Flugverbotszonen sind unbedingt abzulehnen. Der Hinweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, hinterlässt einen schlechten Beigeschmack, wenn die behaupteten Kriegsziele der NATO-Länder – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Deshalb müssen auch die Kriegsziele und der Klassencharakter der imperialistischen Politik offengelegt werden. Während die Existenz der NATO (bzw. ihre Expansion) auf dem Schlachtfeld in der Ukraine nicht in Frage gestellt werden, ist der Ausgang des Krieges von größter Bedeutung für das globale Kräfteverhältnis zwischen dem Westen und Russland (und China). In den Parlamenten müssen die Mitglieder der Arbeiter:innenparteien gegen alle Waffenlieferungen und militärische Unterstützung stimmen, weil diese – ob gewollt oder nicht – einer politischen Legitimation der Kriegsziele der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten gleichkämen.

35. Während wir eine Sabotage der ukrainischen Kriegsanstrengungen ablehnen, wozu auch gehört, dass wir uns Waffenlieferungen in die Ukraine nicht widersetzen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was die Mobilisierung der NATO an ihren Ostgrenzen sowie die Militarisierung (die in Osteuropa am stärksten ausgeprägt ist) und die sog. Ringtausche bedeuten. Angesichts der engen Verflechtung von Waffenlieferungen an die Ukraine mit der NATO-Aufrüstung, z B. über das System der Ringgeschäfte und den Ersatz alter Waffenbestände durch die Modernisierung der Armeebestände, müssen die Lohnabhängigen und Gewerkschaften die Offenlegung aller Lieferungen fordern. Wir kämpfen für die Arbeiter:innenkontrolle über den Transportsektor, damit unsere Klasse zwischen Waffentransporten in die Ukraine und solchen für die Truppenaufstellung, die Militarisierung und den Ringtausch unterscheiden und so beschließen kann, welche Transporte durchgelassen und welche gestoppt werden sollen.

36. Die West- und NATO-Mächte unterstützen die Ukraine nicht nur politisch, finanziell und militärisch, um ihre eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Sie haben auch einen Wirtschaftskrieg begonnen, um den russischen Imperialismus in die Schranken zu weisen. Wirtschaftssanktionen sind zu einem wichtigen Instrument der USA und anderer Mächte geworden, um ihre Ziele gegenüber anderen Ländern durchzusetzen. Dafür sind sie bereit, nicht nur die Arbeiter:innen ihres eigenen Landes für die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise und Inflation zahlen zu lassen, sondern auch die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen im globalen Süden.

37. Die westlichen Imperialist:innen führen nicht nur umfangreiche Aufrüstungs- und Waffenlieferungsprogramme sowie einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch eine große ideologische Kampagne. Nach dem „Krieg gegen den Terror“ befinden sich die westlichen Imperialist:innen nun in einem universellen „Krieg für die Demokratie“. Die NATO wird als eine neue Art von „Anti-Hitler“-Koalition präsentiert – und jede/r, die/der sich kritisch zu einer NATO-Erweiterung, Superaufrüstung oder einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland oder gar China äußert, wird entweder zur „Putin-Marionette“ oder bestenfalls zum/r naiven Beschwichtigungsidiot:in erklärt. Dies ist nicht nur eine mächtige ideologische Kampagne in den westlichen imperialistischen Ländern, sondern erstreckt sich auch auf den politischen Druck auf halbkoloniale Regierungen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen (und das wird dann auch mit wirtschaftlichem Druck kombiniert). Wie heuchlerisch diese demokratische Pose ist, zeigt die jüngste Aufhebung des Vetos des (nicht besonders demokratischen) NATO-Mitglieds Türkei gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens zum Militärbündnis im Gegenzug für eine formelle Zusammenarbeit mit der Erdogan-Regierung im Kampf gegen die kurdischen Oppositionellen der PKK und der YPG, die sie als terroristische Organisationen bezeichnet. Die gesamte Geschichte der NATO zeigt, dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Unterdrückung jeder demokratischen Bewegung ist, die sich gegen die Interessen der USA und ihrer wichtigsten Verbündeten richten könnte (siehe Spanien, Portugal, Griechenland usw.). Wir stehen fest in der Ablehnung der NATO und ähnlicher Institutionen des „demokratischen Imperialismus“, da die „Demokratie“, die sie verteidigen, die einer privilegierten Minderheit auf dem Globus ist, die letztendlich nur die Demokratie der 1 % der reichsten Personen in den „westlichen Demokratien“ verteidigt.

38. Zentrale Slogans in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen! Bekämpft die wirtschaftliche Kriegsführung! Bekämpft jeglichen politischen und wirtschaftlichen Druck auf jedes Land, den von den USA und der EU verhängten Sanktionen zu folgen!
  • Nein zu den massiven Aufrüstungsprogrammen der NATO-Staaten und Truppenverlegungen. In den Parlamenten müssen die Parteien und Abgeordneten der Arbeiter:innenbewegung gegen Waffenlieferungen und -genehmigungen stimmen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt aus ihr! Für die Auflösung der NATO!
  • Für die Auflösung der NATO und jeder anderen imperialistischen Allianz, die vorgibt, die „Demokratie“ zu verteidigen, in Wirklichkeit aber die bewaffnete Macht der bestehenden imperialistischen Weltordnung ist!
  • Keinen Mensch und keinen Cent für die imperialistische Politik! Überwälzung der Kosten, Preiserhöhungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Arbeitslose, Rentner:innen, Geringverdiener:innen, Übernahme der gestiegenen Wohnkosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Aufnahme aller Flüchtlinge, Bleiberecht und Staatsbürger:innenschaft für alle an dem Ort, an dem sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, Zulassung zu Gewerkschaften!
  • Unterstützung für die gerechten Kriegsziele des ukrainischen Widerstands: Abzug der russischen Truppen und Anerkennung der ukrainischen Souveränität!
  • Nein zu den westlichen Kriegszielen: Keine Ausplünderung der ukrainischen Wirtschaft durch das imperialistische Kapital! Streicht die Schulden der Ukraine!
  • Solidarität mit den Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen in der Ukraine, die wegen der Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen und ihrer internationalistischen Ansichten von der Regierung oder rechten Banden angegriffen werden!
  • Im Falle einer direkten Intervention (z B. Einrichtung von Flugverbotszonen, Entstehung neuer Krisenherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!
  • Ablehnung jeglicher Politik des Klassenfriedens!
  • Für eine massenhafte proletarische Antikriegsbewegung, die sich dem NATO-Aufbau in Osteuropa und international entgegenstellt, die Kriegsziele der imperialistischen Bourgeoisie entlarvt und vor der Gefahr einer Eskalation hin zu einem zwischenimperialistischen Konflikt warnt!

39. Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Ländern entscheidend. Gleichzeitig müssen die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie auch in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklungen

40. Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik in den kommenden Monaten, wenn nicht Jahren sein.

41. Dass die internationale wirtschaftliche Isolierung Russlands durch die NATO und die G7 auf massive Schwierigkeiten stößt und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos in vollem Umfang mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien viel schwächer, wenn sie überhaupt vorhanden ist. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens ist dort viel weniger wirksam. Zweitens ist das aber auch Ausdruck einer Erschütterung der US-Hegemonie und einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses. Deshalb könnten sich die Sanktionen gegen Russland vor allem für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang entwickeln. Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskrieges gegen Russland ist es jedoch trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten alles andere als sicher, dass eine der beiden Seiten einlenken und Kompromisse eingehen wird.

42. Andererseits machen der Krieg, die Sanktionen und die Tendenzen zur Zersplitterung des Weltmarktes eine tiefe Wirtschaftskrise in den kommenden Monaten sehr wahrscheinlich, die sich in Form von Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in einer drohenden Hungersnot äußern wird. Der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen und Wellen von Klassenkämpfen, vorrevolutionären und revolutionären Situationen hervorrufen. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

43. Es gibt mehrere Optionen für die weitere Entwicklung des Krieges:

  • Eine unmittelbar wahrscheinliche Entwicklung ist, dass beide Seiten ihre Kriegsanstrengungen weiter verstärken werden. Für die Ukraine würde dies mehr Rüstung und wirtschaftliche Unterstützung durch den Westen bedeuten. Dies würde Hand in Hand gehen mit einem massiven Ausbau der NATO und der Einführung von Elementen einer Kriegswirtschaft. Russland hat seine Wirtschaft bereits in diese Richtung umstrukturiert. Die Sanktionen des Westens und der Krieg haben die Schwäche des russischen Imperialismus offenbart, aber auch seine Abhängigkeit von China als dem wirtschaftlich und mit der Zeit auch militärisch stärkeren Imperialismus deutlich erhöht. China wiederum kann sich eine offene russische Niederlage nicht leisten.

  • Da es aber unwahrscheinlich ist, dass eine der beiden Seiten einen umfassenden militärischen Sieg erringt, würde dies entweder zu einem länger andauernden Stellungskrieg führen, der weiteren Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden das Leben kosten würde. Oder, sollte eine Seite hingegen verlieren, könnte dies zu weiteren verzweifelten Aktionen und einer Eskalation des Krieges über die Ukraine hinaus führen.

  • Er könnte aber auch zu einem anderen Szenario führen, in dem der imperialistische Krieg einem imperialistischen Frieden weicht. Der Krieg und seine wirtschaftlichen Auswirkungen haben nicht nur Russland betroffen, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Er hat die halbkoloniale Welt, aber auch die Westmächte getroffen. Während sie Russland eindämmen und isolieren wollen, ist ein Zusammenbruch und Zerfall des russischen Imperialismus nicht in ihrem Sinne, da dies die Welt instabil geraten lassen würde. Zweitens entstehen dem Westen auch massive wirtschaftliche und soziale Kosten, die in einer Zeit der globalen Krise und der zunehmenden Rivalität mit China statt mit Russland schwer zu verkraften sind.

  • Daher könnte es irgendwann im kommenden Jahr zu einem Einfrieren des Krieges kommen. Es würde wahrscheinlich die Form von imperialistisch aufgezwungenen Friedensgesprächen annehmen (möglicherweise unter dem Deckmantel der UNO oder unter Einbeziehung einiger der mächtigeren Halbkolonien wie Indien, Türkei oder Brasilien als „unabhängiger“ Kräfte). Ein solcher „Frieden“ würde in erster Linie auf Kosten der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen gehen. Er würde wahrscheinlich zu einer Spaltung des Landes führen, und er würde dazu führen, dass der Klassenkampf neue Formen annimmt.

Während die Arbeiter:innenklasse eindeutig kein Interesse an einem jahrelangen Zermürbungskrieg hegt, muss sie auch einen von den imperialistischen Mächten aufgezwungenen „Frieden“ aus mehreren Gründen ablehnen. Erstens könnte er einige Zugeständnisse in Bezug auf die territorialen Eroberungen Russlands beinhalten und nicht nur den Konflikt mit neuen erweiterten Grenzen einfrieren, sondern auch die tiefgreifende nationale Unterdrückung der Ukrainer:innen, ukrainisch und russischsprachig, die jetzt unter einer offenen, chauvinistischen Diktatur leben, die ihnen ihre Identität, ihre nationalen Rechte (Bildung, kulturelle Freiheit usw.) verweigert und Hunderttausende zur Flucht vor der Besatzung getrieben hat. Zweitens wird er, auch wenn er vielleicht von der ukrainischen Regierung und den Oligarch:innen unterstützt wird, für die Massen eine Katastrophe mit sich bringen – die Ukraine zu einer verarmten Halbkolonie der westlichen imperialistischen Mächte machen, die ihrerseits um ihren Anteil am Reichtum (sowohl an den natürlichen Ressourcen als auch an der Arbeitskraft) des Landes ringen werden.

Eine solche Entwicklung wird die Formen und Prioritäten des Klassenkampfes in allen Ländern verändern und den Kampf gegen einen aufgezwungenen, ungerechten Frieden zugunsten der Imperialist:innen und der ukrainischen herrschenden Klasse auf die Tagesordnung setzen. Es würde auch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen die Ausbeutung des Landes durch das globale Kapital und für eine vereinigte europäische Bewegung zum Widerstand dagegen auf die Tagesordnung setzen – eine Bewegung, die den Kampf für Selbstbestimmung und gegen kapitalistische Ausbeutung mit dem für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa verbinden müsste. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies in der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Dirty Talk. Democratic Socialists of America hängen weiter an Demokratischer Partei

Andy Yorke, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Das Wachstum der Democratic Socialists of America (DSA, Demokratische Sozialist:innen Amerikas) auf fast 95.000 Mitglieder in den letzten Jahren der Massenkämpfe und politischen Mobilisierungen spiegelte sich in ihrem alle zwei Jahre stattfindenden nationalen Kongress in der ersten Augustwoche 2021 wider, als über 1.000 Menschen tatsächlich zusammenkamen, um über Entschließungen zu debattieren, die den weiteren Weg betreffen. Dabei zeigte sich auch eine Polarisierung innerhalb der Organisation und ein deutlicher Rechtsruck der Führung.

Während der Parteitag ein radikal-reformistisches Programm verabschiedete, wurde die Konzentration auf die Kandidatur als oder Unterstützung linke/r Kandidat:innen als Teil der Demokratischen Partei, die genauso wie die Republikanische eine Partei des Großkapitals ist, bekräftigt. Diese Ausrichtung entspricht jedoch immer weniger den Bedürfnissen der radikalen Kämpfe und Bewegungen, die in den krisengeschüttelten USA entstanden sind.

Der linke Flügel der DSA, der diese Taktik des so genannten „schmutzigen Bruchs“ ablehnt, muss die Einheitsfront nutzen, um seine eigene Uneinigkeit zu überwinden und eine koordinierte Kampagne gegen die Kandidatur oder Unterstützung demokratischer Kandidat:innen bei Wahlen zu starten und stattdessen die DSA für die Schaffung einer neuen Arbeiter:innenpartei zu gewinnen.

Ein polarisiertes Amerika

Der Zeitpunkt des Kongresses hätte nicht besser gewählt werden können, um die bisherige Arbeit der DSA und ihre zukünftigen Pläne zu untersuchen, angesichts der bedeutsamen Entwicklungen seit dem letzten Kongress. Die amerikanische Linke steht vor stürmischen Jahren unter einer wackeligen Präsidentschaft Bidens und mit einer bösartigen rechtsgerichteten Republikanischen Partei, die von ihren Hochburgen innerhalb des us-amerikanischen Gemeinwesens, der Polizei, der Justiz und dem Kongress, Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, Frauen und Farbige startet. Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch den demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden. Wirtschaftlich stehen sie seit 2008 im Zentrum der historischen Depression des Kapitalismus. Politische und ökonomische Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und zu einer historischen Polarisierung geführt.

Selbst unter der relativ populären Präsidentschaft Obamas, die diesen Niedergang bis zu einem gewissen Grad kaschierte, zeigten Umfragen, dass eine Mehrheit der jungen Amerikaner:innen Bänker:innen, den  amerikanischen Großunternehmen und dem Kapitalismus feindlich gegenübersteht. [1] Dies führte dazu, dass der „unabhängige Sozialist“ Senator Bernie Sanders zum ersten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gewählt wurde, und zwar 2015/16, als er bei den Vorwahlen dreizehn Millionen Stimmen für die Nominierung erhielt, und dann weit weniger erfolgreich 2019 – 20. Beide Male blockierte ihn das mächtige Democratic National Committee (Nationales Komitee der Demokratischen Partei). Diese Klassenwidersprüche wurden mit dem Wahlsieg von Trump 2016 zur Weißglut getrieben, als sich eine offen faschistische Bewegung mit der triumphierenden populistischen Rechten der Republikanischen Partei vermischte.

Im Jahr 2018 stürzte DSA-Mitglied Alexandria Ocasio-Cortez, (AOC), einen der mächtigsten Amtsinhaber der Demokratischen Partei und wurde die erste Sozialistin, die in den Kongress einzog (als Mitglied der Demokratischen Partei), was landesweit für Aufsehen sorgte. In ihrem Windschatten kandidierte eine Reihe von DSA-Kandidat:innen für den Kongress, fast alle unter dem Firmenschild der Demokratischen Partei. Darüber hinaus gibt es viele weitere von der DSA unterstützte „fortschrittliche“ Demokrat:innen, die (wenn überhaupt) noch weniger von sich behaupten, Sozialist:innen zu sein, so dass inzwischen 150 DSA-Mitglieder oder von ihnen befürwortete Politiker:innen in Stadträten, Landesparlamenten und anderen staatlichen Gremien vertreten sind. Mit der Wahl des DSA-Mitglieds Cori Bush in den Kongress im vergangenen Jahr sitzen nun fünf DSA-Mitglieder im Repräsentantenhaus.

In der Zwischenzeit vertiefte sich die epochale Krise des Kapitalismus, als die Feuer der Klimakatastrophe von Australien bis nach Amerika loderten, und dann, bevor eine vielfach vorhergesagte Rezession im Stil von 2008 eintreten konnte, erfasste eine Pandemie das System. Historische Massenkämpfe erschütterten die letzten Jahre von Trumps Amtszeit, von der Lehrer:innenrevolte 2018, die sich über mehrere republikanisch dominierte Bundesstaaten ausbreitete, bis hin zur Black-Lives-Rebellion 2020 nach dem Polizeimord an George Floyd.

Seit ihrem Parteitag 2019 behauptet die DSA, für den Aufbau einer „unabhängigen Arbeiter:innenpartei“ zu stehen. Diese Großereignisse warfen selbst die Frage auf, wie sie aufgebaut werden soll: in erster Linie durch Massenbewegungen oder durch Wahlkampagnen, die sich an der Demokratischen Partei orientieren und diejenigen, die im Amt sind, wie Sanders und AOC, unter Druck setzen, links zu bleiben?

Welche Art von Partei?

Die DSA wuchs durch die beiden Nominierungskampagnen von Sanders, den Sieg von Trump und den viel beachteten Sieg von AOC von einer alternden Gruppe von 6.500 Mitgliedern zu der heutigen dynamischen Organisation mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren

und von 148 Ortsgruppen im Jahr 2019 auf 240 (und 130 Jugend-DSA-Ortsgruppen) heute. Mit einer landesweiten Präsenz in allen Bundesstaaten und Großstädten ist die DSA die größte sozialistische Organisation in den USA in den letzten hundert Jahren und hegemonial in der Linken. [2] Allein in den acht Wochen nach Beginn der Covid-Krise im März 2020 traten zehntausende Mitglieder bei, als sie sich der Organisation gegenseitiger Hilfe in der Gemeinde zuwandte. [3] Die dazugehörige Webseite und die Zeitschrift Jacobin haben die sozialistische Tradition in den Vereinigten Staaten wiederbelebt, sie buchstäblich wieder auf die Landkarte gebracht und das Interesse an den Ideen von Marx verbreitet.

Doch trotz aller Diskussionen über marxistische Persönlichkeiten, verschiedene Revolutionen und Massenstreiks in Jacobin stehen bei der DSA die Wahlen im Vordergrund. Während ihre Gewerkschaftsmitglieder und die von der Sanders-Kampagne inspirierten Aktivist:innen eine wichtige Rolle bei den Lehrkräftestreiks spielten, ist der Aufbau der Linken in den Gewerkschaften nach wie vor mit relativ wenig Ressourcen ausgestattet. Nach allem, was man hört, wurde die DSA von der Radikalität des Aufstands nach dem Tode von George von Floyd überrascht und spielte im Allgemeinen kaum eine Rolle bei der Organisation, geschweige denn bei der politischen Gestaltung der Erhebung. Die DSA-Führung, die für ihre Passivität angesichts dieser radikalen Ereignisse kritisiert wurde, rechtfertigte dies sogar mit dem Argument, dass es falsch wäre, eine Führungsrolle zu beanspruchen, und plädierte stattdessen dafür, dass ihre Abteilungen „respektvoll“ sein und versuchen sollten, Koalitionen mit bestehenden Protestführer:innen aufzubauen. Damit verzichtet sie auf den vollen Einsatz für Klassenpolitik und sozialistische Führung, fügt sich aber nahtlos in ihre Wahlstrategie ein.

Angesichts des seit Jahren ungebremsten Wachstums der DSA in alle Richtungen war es für alle ein Schock, als die nationale Direktorin Maria Svart auf dem Kongress die „ernüchternde Tatsache“ verkündete, dass „der Zuwachs an neuen Mitgliedern auf ein Rinnsal gesunken ist“ [4). Es ist eine offene Frage, ob dies eine Taktik war, um in Panik geratene Stimmen dazu zu bringen, den wahlpolitischen Status quo der DSA zu unterstützen, oder das Ergebnis von Bidens 7 Billionen US-Dollar schweren Plänen für Wohlfahrts- und Infrastrukturausgaben, die die Peripherie der DSA wieder zur Demokratischen Partei hinwenden und den Wachstumshahn für die DSA zudrehen sollten.

Die Angelegenheit des Wahlverhältnisses zur Demokratischen Partei verdeckt oft existenzielle Fragen der Partei und des Programms: Wird die DSA eine von Aktivist:innen kontrollierte Partei sein oder eine, die um gewählte Funktionär:innen herum aufgebaut ist? Sind Wahlen eine Taktik im Klassenkampf oder das zentrale Element der sozialistischen Strategie? Historisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten, eine Massenpartei aus der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Die erste konzentriert sich auf den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, Krieg, Imperialismus und Klimakatastrophe und fördert eine sozialistische Strategie zur Entwicklung von Kadern aus radikalen Aktivist:innen, die sich an Streiks und Massenprotesten beteiligen. Die zweite konzentriert sich darauf, mit einer Reformplattform politische Ämter zu gewinnen, indem sie einen soliden und zwangsläufig bürokratischen Wahlapparat auf der Grundlage von Politiker:innen und Parteifunktionär:innen aufbaut.

Auch wenn sich beide Parteien als sozialistisch bezeichnen, wie Rosa Luxemburg betonte, handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Wege, um dasselbe Ziel zu erreichen. Für die erste Partei ist der Sozialismus eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft von den eigenen Organisationen der Arbeiter:innen kontrolliert wird, die im Zuge des Klassenkampfes aufgebaut wurden. Für die zweite ist der Sozialismus durch eine gewählte Regierung einzuführen, die mit Hilfe der bestehenden staatlichen Institutionen arbeitet.

Die derzeitige DSA-Führung behauptet, sie könne beide Strategien mit dem, was sie „Klassenkampfwahlen“ nennt, verfolgen, aber das letzte Jahr, seit dem zweiten Scheitern von Sanders, hat immer deutlicher gezeigt, dass ihre Strukturen und ihr Ansatz immer mehr zu einem Wahlkampf nach Schema F tendieren, und der Parteitag 2021 hat dies zementiert. Darüber hinaus hat die wachsende Erfahrung mit „ihren“ Politiker:innen im Amt, die für kapitalistische Haushalte (sogar für Polizeibudgets) stimmen und sich dem Druck von Unternehmen, Entwickler:innen oder dem demokratischen Establishment beugen, gezeigt, dass die DSA keine Möglichkeit hat, ihre Kandidat:innen zur Rechenschaft zu ziehen, selbst wenn sie Mitglieder sind.

Der Grund dafür ist ganz einfach. Echte Marxist:innen haben nichts dagegen, bei Wahlen zu kandidieren und sich energisch dafür einzusetzen, so viele Stimmen wie möglich für ein sozialistisches Programm zu erhalten und so viele Wähler:innen wie möglich zu Aktivist:innen für die gesamte Bandbreite der Politik und der Kampagnen der Partei zu machen. Ihr Programm und ihre Politik werden jedoch nicht davon bestimmt, was die meisten Stimmen bringt, und sie glauben nicht, dass die Macht (im Gegensatz zu einem Amt) durch Wahlen errungen werden kann. Die Reformist:innen hingegen richten ihr Programm danach aus, was ihrer Meinung nach Wahlen gewinnen kann.

In Europa und einigen anderen Teilen der Welt gründete die Arbeiter:innenbewegung unabhängige Parteien. In den USA begnügten sich die Reformsozialist:innen nach mehreren gescheiterten Versuchen mit der Aussicht, die Demokratische Partei unter Druck zu setzen oder sogar selbst als Demokrat:innen aufzutreten. Auf diesem Weg gelang es selbst einem blassrosa demokratischen Sozialismus nicht, auch nur einen Wohlfahrtsstaat nach schwedischem Vorbild zu schaffen. Heute scheint der Kompromiss zwischen einer unabhängigen sozialistischen Partei und Sozialist:innen, die als Demokrat:innen auftreten oder sogar solche Mitglieder der Demokratischen Partei unterstützen, die bereit sind, sich bei schönem Wetter als Sozialist:innen zu präsentieren, in der Hoffnung auf progressive Reformen unter Biden ad acta gelegt worden zu sein.

Konsens an der Spitze

Einige bezeichneten diesen Parteitag als „Konsenskongress“, weil sich die Debatten um die Demokratische Partei stabilisiert haben. Es wurden weniger Anträge eingebracht, und für das Nationale Politische Komitee (NPC) kandidierte ein viel kleineres Feld von Bewerber:innen, das keine wirkliche Alternative zu den wichtigsten prodemokratischen Caucuses, wie die Fraktionen und Tendenzen in der DSA genannt werden, bot. [5] Ein neues, undemokratisches Verfahren, bei dem vor der Konferenz darüber abgestimmt wurde, welche Anträge als „Konsens“ angenommen werden sollten, schaltete viele aus. Der Onlinecharakter der Konferenz bedeutete, dass sie schwer zu managen und chaotisch war, aber er machte auch die Arbeit der Oppositionellen noch schwieriger. Zusammen genommen bedeuteten diese Faktoren, dass wichtige politische Veränderungen wie die neue Plattform, die Wahlstrategie und der Antiimperialismus mit fast minimaler Debatte verabschiedet wurden.

Der Rechtsruck erstreckte sich nicht nur auf die Plattform und die Wahlen. Anträge auf eine teilweise Demokratisierung der DSA, die eine Abberufung der in das NPC, das DSA-Führungsgremium, Gewählten und Wahlen für den hochrangigen Posten des/r Nationaldirektors/in vorsahen, scheiterten. Das Kräfteverhältnis im NPC verschob sich weiter in Richtung Wahlreformismus, wobei die neue „Green New Deal“-Liste das Kräftegleichgewicht hielt.

Die linken Fraktionen haben die Verabschiedung der Entschließung 8 „Auf dem Weg zu einer Massenpartei in den Vereinigten Staaten (Wahlpriorität)“ beklagt. Darin wurden die Wahlen als „einzigartige Priorität“, „ vor allen anderen Prioritäten, eingestuft. Sie verpflichtete sich, „ihren erfolgreichen Ansatz des taktischen Antritts zu Parteiwahlen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei fortzusetzen“, ein Rechtsruck gegenüber dem Parteitag von 2019, der lediglich feststellte, dass „dies nicht ausschließt, dass von der DSA unterstützte Kandidat:innen taktisch auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei kandidieren“, um das Ziel zu erreichen, „eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu bilden“. [6] Dies war natürlich die offene Stalltür, durch die das prodemokratische Pferd davonlief.

In Wirklichkeit spiegelt diese offene Formel lediglich die tatsächliche Praxis der DSA wider, die sich auf Wahlen und „Machtgewinn“ konzentriert, den kapitalistischen Staat für seine wahren Herr:innen führt, indem sie Kandidat:innen als Demokrat:innen aufstellt oder, was noch üblicher ist, „progressive“ demokratische Kandidat:innen unterstützt. Im Gegensatz zur Ära vor Sanders sind fast alle Kandidat:innen, die die DSA bei Wahlen aufstellt oder unterstützt, Mitglieder der Demokratischen Partei (und nicht etwa Unabhängige, Grüne oder andere Strömungen).

Das ist nicht überraschend, denn die Orientierung auf die Demokratische Partei ist tief in der DNA der DSA verankert, und zwar seit ihrer Gründung im Jahr 1982 bis heute. Der Vater der US-Sozialdemokratie, Michael Harrington, Amerikas bekanntester Sozialist in den sechziger und siebziger Jahren, berühmt für seinen politischen Bestseller „Das andere Amerika“ von 1962, der dazu beitrug, den „Krieg gegen die Armut“ auszulösen und die Reformen der „Großen Gesellschaft“ in den sechziger Jahren beeinflusste, war in der Demokratischen Partei verwurzelt.

Er argumentierte, dass demokratische Sozialist:innen das Ziel haben sollten, der „linke Flügel des Möglichen“ zu sein und sich in der Demokratischen Partei zu beteiligen, um sie neu auszurichten, die Rechte zu besiegen und die Gewerkschaften aufzubauen, um eine sozialdemokratische Partei nach europäischem Vorbild zu schaffen. Harrington starb 1989 und mit ihm jede Aussicht auf eine Neuausrichtung. Die Demokrat:innen beschleunigten ihren Weg nach rechts, von Jimmy Carters Monetarismus und Austerität in den 1970er Jahren bis hin zu Bill Clintons offen neoliberalen, auf Recht und Ordnung ausgerichteten Regierungen mit ausgeglichenem Haushalt zwischen 1993 und 2001. Dies vervollständigte die Marginalisierung des bereits untergeordneten Flügels der Partei, der für Sozialstaat und Förderung der Unterdrückten eintrat, sich auf die Gewerkschaftsbürokratie konzentrierte und die Führer:innen der sozialen Bewegungen einbezog. Das letzte Aufbäumen der Partei war Jesse Jacksons Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur für die Demokratische Partei mit der „Regenbogenkoalition“ 1984.

Spulen wir drei Jahrzehnte zurück, und der jüngste Aufstieg der DSA spiegelt sich im Aufstieg der 2010 gegründeten Zeitschrift Jacobin wider, die eine Auflage von 75.000 Exemplaren hat und deren Webseite jeden Monat von Millionen Menschen besucht wird. Sie steht in Verbindung mit den dominierenden selbsternannten „Marxist:innen“ des Bread and Roses Caucus, B&R. (Brot-und-Rosen-Caucus) [7] Die Autor:innen von Jacobin haben die Ausrichtung der DSA auf die Demokratische Partei überarbeitet und ihr mit einer neuen „Schmutziger Bruch“-Strategie einen radikalen Anstrich gegeben. Damit wird Harringtons alte Strategie, die Demokratische Patei in eine sozialdemokratische Partei „umzuwandeln“, als unrealistisch zurückgewiesen, aber auch ein sofortiger, „sauberer“ Bruch durch die Aufstellung unabhängiger sozialistischer Kandidat:innen oder das entschiedene Eintreten für eine neue Partei jetzt.

Stattdessen sieht ihre „Klassenkampfwahl“-Strategie, der „schmutzige Bruch“, vor, dass demokratisch-sozialistische Kandidat:innen Stimmen der Demokratischen Partei in den Vorwahlen im Stil von Sanders in einem „Guerillaaufstand“ übernehmen. Ziel ist es, die zugegebenermaßen großen rechtlichen Hindernisse für Wahlanfechtungen durch Dritte zu überwinden und so ins Rennen zu kommen und Wahlerfolge zu erzielen. Sie glauben, dass der Kampf für „revolutionäre Reformen“, große strukturelle Veränderungen wie „Medicare for All“ (Gesundheitsfürsorge für alle) und den „Green New Deal“ (grüner neuer Plan), sie in die Lage versetzen wird, die für den Wiederaufbau der Arbeiter:innenbewegung erforderliche Linkskoalition aufzubauen. Erst dann sollten sie sich von der Demokratischen Partei abspalten und den Weg für eine demokratische sozialistische Regierung und den „Bruch“ mit dem Kapitalismus öffnen. Dieses linke Schema, das das Traditionsritual der Demokratischen Partei rechtfertigt, ist zur Orthodoxie der neuen jungen Massenmitglieder der DSA geworden.

Für beide Flügel der DSA, von der alten „Neuausrichtungs“-Rechten (die sich heute auf den Socialist Majority Caucus [Sozialistischer Mehrheitscaucus] konzentriert) bis hin zur schmutzigen Mitte-Links-Fraktion um Brot und Rosen, wird dies mit einer Reihe falscher Argumente begründet. Erstens behaupten sie, die Demokrat:innen seien keine echte Partei, wie auf dem Parteitag bekräftigt wurde:

„ … das US-amerikanische Parteiensystem erlaubt derzeit keine traditionellen politischen Parteien, private Organisationen mit Kontrolle über ihre Mitgliederlisten und Stimmzettel, sondern besteht vielmehr aus Koalitionen von nationalen, bundesstaatlichen und lokalen Parteikomitees, angeschlossenen Organisationen, Spender:innen, Anwält:innen, Berater:innen und anderen Agent:innen.“ [8]

Ihr zweites Hauptargument ist, dass das US-amerikanische Wahlsystem manipuliert ist, dass die Republikanische und Demokratische Partei das Mehrheitswahlrecht mit staatlichen Gesetzen blockiert haben, die es Unabhängigen und Drittparteien unmöglich machen, überhaupt auf den Wahlzettel zu kommen. Diese Hindernisse sind zwar real, aber außer für kleine Propagandagruppen nicht unüberwindbar. Diese Ausrede hat sich mit dem Wachstum der DSA als immer hohler erwiesen, denn eine Partei mit einer großen Anzahl von Mitgliedern in den Städten kann diese Hindernisse umgehen. Die Frage ist nicht, welche Möglichkeiten der DSA offenstehen, sondern die prodemokratische Politik der führenden Kräfte der DSA, von Sozialistischer Mehrheit, Brot und Rosen und des neuen Akteurs, des Green New Deal Caucus.

Der schmutzige Bruch auf Nimmerwiedersehen

Die Strategie des schmutzigen Bruchs wurde entwickelt, um die Ausrichtung auf die Demokratische Partei nach der Niederlage von Sanders im Jahr 2016 zu rechtfertigen, aber nach dem AOC-Erdbeben diente sie als Deckmantel für die enorm ausgeweitete Nutzung der Demokratischen Partei, entgegen dem ultimativen erklärten Ziel der DSA, mit der Partei zu brechen, um eine Arbeiter:innenmassenpartei zu gründen, das auf ihrem Parteitag 2019 verabschiedet wurde. Selbst hier hält die DSA-Linke eine einstudierte Zweideutigkeit aufrecht, wobei der Widerspruch durch ausweichende Formeln überdeckt wird. Der Erfinder des Begriffs „schmutziger Bruch“, Eric Blanc, plädierte am Beispiel der Minnesota Farmer Labor Party in den frühen 1920er Jahren für einen zweistufigen Ansatz, bei dem die Sozialist:innen als Demokrat:innen auftreten, bis die Partei gezwungen ist, sich zu verteidigen, und die Gesetzgeber:innen der Bundesstaaten die Wahlgesetze weiter einschränken, die Aufständischen rausschmeißen und sie in eine unabhängige Existenz zwingen. Die einflussreichste (und erste) Formulierung dieser Strategie (Seth Ackermans Artikel „A Blueprint for a New Party“ (Blaupause für eine neue Partei) von 2016) besteht jedoch darauf, dass eine neue Arbeiter:innenpartei die Wahlkampflinie immer noch als „zweitrangige Frage“ betrachten würde und ihre Kandidat:innen immer noch als Demokrat:innen aufstellen könnte – kaum eine überzeugend klingende Erklärung der Unabhängigkeit! [9]

Neben dem Hin und Her der Debatten innerhalb von Jacobin und der linken Fraktionen darüber, wie, wann und wo Schritte in Richtung eines schmutzigen Bruchs unternommen werden sollten, ist der rechte Flügel in aller Stille mit der Post-AOC-Flut weitergeschwommen, hat die Wahlarbeit vorangetrieben und die Unterstützung für Demokrat:innen, ob progressiv oder nicht, auf lokaler und nationaler Ebene verteidigt. Wie der rechtsgerichtete deutsche sozialdemokratische Politiker Ignaz Auer bekanntlich feststellte, „sagt man solche Dinge nicht, man tut sie einfach“. Die Zahl der Kandidat:innen, die als Demokrat:innen in das Wahlrennen gehen oder unterstützt werden, hat sich zur Norm ausgeweitet, und es gibt nur sehr wenige Unabhängige, ebenso wie die Zahl von 150, die in ein Amt gewählt wurden – warum sollte man also das Ruder herumreißen? Nur in entscheidenden Momenten sah sich die Rechte gezwungen, sich einer Politik zu widersetzen, die sie als schädlich für ihre Ausrichtung auf die Demokratische Partei ansieht, z. B. wenn die mangelnde Rechenschaftspflicht der neu gewählten DSA- oder progressiven Demokrat:innen zu Gegenreaktionen in Anbetracht  ihrer Abstimmungen gegen die DSA-Politik geführt hat.

Dies geschah erstmals, nachdem der DSA-Kongress 2019 dafür gestimmt hatte, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 keine/n demokratischen Kandidat:innen außer Sanders zu unterstützen. Nachdem Joe Biden nominiert wurde und Trump seine Wiederwahlkandidatur einleitete, veröffentlichten Hunderte prominenter DSA-Führer:innen und lokaler Organisator:innen einen offenen Brief, in dem sie erklärten, sie würden sich dafür einsetzen, ihn zu besiegen, mit anderen Worten, sie würden sich für Biden einsetzen, und rieten anderen, dasselbe zu tun. [10]

Anfang 2020 wurden AOC und andere von der DSA unterstützte Kongressabgeordnete im Rahmen der Kampagne #ForceTheVote (Stimmen erzwingen) zu Medicare for All (Gesundheitsvorsorge für alle), einer der wichtigsten Strukturreformforderungen der DSA, unter Druck gesetzt, ihre Unterstützung für Nancy Pelosi als Sprecherin des Repräsentantenhauses zurückzuhalten, bis eine Abstimmung garantiert sei. AOC und die DSA-Führung wiesen diesen Druck in einer offiziellen Erklärung zurück und beriefen sich dabei auf technische Schwierigkeiten. [11]

Nun hat eine Welle der Empörung darüber, dass DSA-Mitglied und Kongressabgeordneter Jamaal Bowman für Militärhilfe an Israel gestimmt und an einer offiziellen, von der israelischen Regierung organisierten Reise nach Israel teilgenommen hat, entgegen der klaren DSA-Politik, die die palästinensische Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel unterstützt, eine neue Krise ausgelöst. Vorhersehbar hat der rechte Flügel eine Erklärung gegen die Forderung nach seinem Ausschluss veröffentlicht, in der er sich für „Einigkeit, nicht Einstimmigkeit“ ausspricht. Diese Rückkehr zu Harringtons Sichtweise der DSA als „linker Flügel des Möglichen“, der innerhalb der Demokratischen Partei dahinvegetiert, zeigt, dass all die radikalen Denkanstöße, Debatten und die Geschichte des Klassenkampfes in Jacobin, so wertvoll sie auch sind, kaum mehr als ein Deckmantel für das „Weiter so“ waren.

Der Parteitag 2021 war also eher eine Formalisierung der DSA-Praxis als eine dramatische Verschiebung nach rechts. Wenn überhaupt, dann verbarg der Antrag von 2019 den zunehmenden Einsatz der Demokrat:innen, und die wichtigere Veränderung liegt wohl eher in der Organisation als in der Sprache. Das Nationale Wahlkomitee stellt bereits sicher, dass die Wahlarbeit die einzige ist, die eine maßgebliche, gut ausgestattete nationale Leitung hat, und stellt damit die ohnehin schwache Demokratisch-Sozialistische Laborkommission in den Schatten (Arbeit in Arbeiter:innenorganisationen ist auch eine Priorität der DSA, wenn auch nicht als „einzigartig“ deklariert). [12] Resolution 8 fügt eine weitere Organisationsebene mit landesweiten Gremien zur Unterstützung der Wahlarbeit hinzu. In einer zersplitterten DSA, die nur auf Ortsgruppen- und Wohnviertelebene organisiert ist, wird die DSA dadurch noch stärker auf diesen opportunistischen Wahlkampf ausgerichtet (und zentralisiert).

Die Linke unterlag auf dem Parteitag auf ganzer Linie, indem sie Entschließungen oder Änderungsanträge verlor, die auf eine Stärkung oder Beschleunigung der Schritte zum „schmutzigen Bruch“ abzielten. Die prodemokratische Ausrichtung spiegelt zweifellos die Ansichten der Mehrheit der DSA-Mitglieder wider, zu denen Zehntausende von relativ neuen, unerfahrenen und oft inaktiven Mitgliedern gehören, die im Rahmen dieser Taktik angeworben wurden. Die Zahl der DSA-Mitglieder hat sich seit Beginn der Coronapandemie fast verdoppelt, aber nur 10 – 15 Prozent nehmen regelmäßig an Aktivitäten teil.

In einer neuen Wendung schließt sich die DSA mit Entschließung 14 dem Forum von São Paulo an und erklärt sich unkritisch mit dessen sozialdemokratischen und linkspopulistischen Parteien und Regierungen solidarisch, einschließlich des autoritären Regimes von Maduro in Venezuela, obwohl dies mit 35 Prozent abgelehnt wurde. Die zunehmende antiimperialistische Politik, die sich innerhalb der DSA entwickelt, ist zu begrüßen, aber dies ist ein Rückschritt und bis zu einem gewissen Grad ein Zurückrudern hinter die Entscheidung des Parteitags von 2017, die reformistische, weitgehend neoliberalisierte Zweite Internationale zu verlassen, und sagt gleichzeitig viel darüber aus, welche Art von Partei die DSA aufbauen will. Sozialistinnen und Sozialisten müssen eine bedingungslose Verteidigung dieser Parteien vor der Rechten, national und international, mit praktischer Solidarität und Unterstützung für den linken Flügel, die Arbeiter:innenklasse oder unterdrückte Gruppen verbinden, die sich ihren Kürzungen und Kompromissen an der Macht widersetzen. Sie sind die einzige Kraft, die diese Regierungen wirklich von unten verteidigen, weitere Reformen von ihnen erzwingen und schließlich über ihre Grenzen hinausgehen kann, um den Weg zum Sozialismus zu öffnen, durch Massenkampf und Revolution.

Trotz des scheinbaren Konsenses zeichnet sich innerhalb der DSA eine Polarisierung ab, wie die Abstimmungen zu wichtigen Resolutionen zeigen. Die Plattform selbst wurde nur mit einer knappen Mehrheit von 43 Prozent angenommen, und 23 Prozent stimmten gegen die Resolution R8 zu den Wahlen. Neue Fraktionen und Tendenzen haben sich auf dem linken Flügel der DSA ausgebreitet, am dramatischsten mit dem Beitritt der Sozialistischen Alternative (SAlt), der größten verbliebenen Organisation, die sich in den USA als trotzkistisch bezeichnet, die einen Teil ihrer Mitglieder entsandt hat, darunter das prominente Mitglied und Abgeordnete des Stadtrats von Seattle Kshama Sawant, die 2014 gegen die Demokrat:innen gewählt wurde. Der dominierende Brot-und-Rosen-Caucus, der sich in der Mitte der DSA befindet, spaltete sich in seiner Unterstützung für Änderungsanträge zur Beibehaltung der 2019 eingegangenen Verpflichtung, eine unabhängige Partei zu gründen, mit 45 Prozent dagegen, was die Möglichkeit einer politischen Neuzusammensetzung zeigt, die die B&R-Linke befreien würde.

Die große Zahl der oppositionellen Stimmen zeigt das Potenzial für eine Organisierung, die sich von der Demokratischen Partei löst. Die Teilnahme an Streiks und Kämpfen in den kommenden zwei Jahren ist neben der politischen Debatte von entscheidender Bedeutung, um die vielen neuen Mitglieder als Aktivist:innen und ihr Verständnis für sozialistische Strategien zu entwickeln. Die Frage bleibt, ob ein bedeutender Teil der DSA-Linken seine eigene Verwirrung über den schmutzigen Bruch aufklären, ihn als „Taktik“ zurückweisen und sich zusammenschließen kann, um für einen sauberen Bruch mit den Demokrat:innen und eine neue Arbeiter:innenpartei entschlossen aufzutreten.

Marxismus und die DSA

Neben der Position zu den Wahlen und der Demokratischen Partei stellt sich die Frage nach der sozialistischen Strategie der DSA, die mit ihrem Anspruch verbunden ist, die Ideen von Marx zu vertreten. Es bleibt die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll: durch Massenkämpfe der Arbeiter:innenklasse, die durch eine Revolution eine alternative, demokratische Macht zum kapitalistischen Staat schaffen, oder dadurch, dass eine sozialistische Mehrheit in die Regierung gewählt wird und über Jahre oder Jahrzehnte hinweg der Staat und der Kapitalismus in den Sozialismus umgewandelt werden, friedlich, wie sie hoffen. Der springende Punkt ist, ob die DSA für die Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse und ihre politische Unabhängigkeit steht, das Herzstück der Marx’schen Politik, oder für eine Version des Sozialismus „von oben“, die in Wirklichkeit den sozialistischen Übergang blockiert und es dem Kapitalismus ermöglicht fortzufahren oder, schlimmer noch, sich an der Bewegung zu rächen.

Der linke Flügel der DSA um die Zeitschrift Jacobin würde empört gegen die Bezeichnung „Sozialismus von oben“ protestieren. Doch das gesamte Meinungsspektrum ist sich über diese grundlegenden Punkte einig. Der der Sozialdemokratie nahestehende Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara legt seine Version des demokratischen sozialistischen Schemas oder der Strategie in seinem 2019 erschienenen Buch The Socialist Manifesto (Das sozialistische Manifest) vor, das weithin als die wichtigste Fibel für demokratisch-sozialistisches Denken gilt:

„Demokratische Sozialist:innen müssen sich entscheidende Mehrheiten in den Parlamenten sichern und die Vorherrschaft in den Gewerkschaften gewinnen. Dann müssen unsere Organisationen bereit sein, unsere soziale Macht in Form von Massenmobilisierungen und politischen Streiks einzusetzen, um der strukturellen Macht des Kapitals entgegenzuwirken und sicherzustellen, dass unsere Führer:innen die Konfrontation der Anpassung an die Eliten vorziehen. Nur so können wir nicht nur unsere Reformen dauerhaft machen, sondern mit dem Kapitalismus ganz brechen und eine Welt schaffen, in der der Mensch vor dem Profit steht.“ [13]

In dem radikaleren, populären Jacobin-Buch über die DSA-Strategie, Bigger than Bernie (Größer als Bernie Sanders), sehen die Autor:innen eine gewählte demokratische sozialistische Regierung voraus, „die die Staatsmacht ausübt, um den Weg für diese Bewegungen freizumachen, während sie sich ihren Klassenfeind:innen stellen“, obwohl sie zugeben, dass es kein „Kinderspiel sein wird, den Kapitalismus zu beseitigen, selbst mit unseren Leuten an der Macht“! [14] Eric Blanc, der in Bigger than Bernie zitiert wird und der radikalste der B&R/Jacobin-Führer ist, erkennt an:

„Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie einen Generalstreik und eine Revolution erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“ [15]

Wie alle demokratischen Sozialist:innen lehnt er jedoch jede Strategie der Doppelherrschaft und des Aufstands zugunsten einer gewählten demokratischen sozialistischen Regierung, die den sozialistischen Übergang überwacht, entschieden ab. Jede Strategie, die Doppelherrschaft und Aufstand ablehnt, in welcher Form auch immer, d. h. die Machtergreifung gegen den alten Staat, ist ein Bruch mit Marx und der Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse.

Der Begriff „Doppelherrschaft“ wurde erstmals von Lenin verwendet, um die Situation in Russland nach der ersten demokratischen Revolution im Februar 1917 zu beschreiben, als Arbeiter:innenräte (oder, auf Russisch, Arbeiter:innensowjets), unterstützt durch die Waffen revolutionärer Soldat:innen und Betriebs- und Parteimilizen, neben einer bürgerlichen Regierung existierten. Die Bolschewiki führten den erbitterten Kampf gegen die Unterdrückung dieser Räte, die die bürgerlichen Regierung schließlich in der Oktoberrevolution stürzten, und setzten eine Räteregierung ein, um die Revolution zu vertiefen, zu verteidigen und im Ausland zu verbreiten. Sie verstanden ihre Revolution als die erste von vielen in ganz Europa, die gemeinsam den Weg zum Ziel des Sozialismus, ihrem Ziel des Sozialismus, sichern würden. Andere revolutionäre Bewegungen, vor allem die in Deutschland, wurden jedoch besiegt und ließen Sowjetrussland isoliert zurück. Obwohl es einen schrecklichen Bürger:innenkrieg überlebte, führte diese Isolation dazu, dass sich innerhalb des Parteistaats eine mächtige Bürokratie entwickelte, die Jahre später, 1928, unter Stalin die Macht übernahm. [16]

Doppelherrschaft ist ein Merkmal jeder größeren Herausforderung des Kapitalismus, von Russland 1917 über Spanien in den dreißiger Jahren bis zu Chile in den siebziger Jahren. Sowjetähnliche Einrichtungen entstanden in Krisenzeiten aus verschärften Klassenkämpfen, die um Kontrolle über die Produktion rangen und schließlich die Macht des kapitalistischen Staates herausforderten. Das bedeutet in erster Linie, die Bewegung gegen Polizei und faschistische Banden zu verteidigen und schließlich die Armee zu spalten, um einen Teil auf ihre Seite zu bringen. Nur eine mächtige Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse hat die soziale Macht und vor allem die politische Autorität, um einen solchen Appell auszusprechen, die Soldat:innen zu gewinnen und den Einsatz der Armee durch die Kapitalist:innen zu verhindern, wie neuere Beispiele aus Argentinien, Bolivien und Venezuela aus den frühen 2000er Jahren zeigen.

Nur wenn solche Bewegungen Arbeiter:innenräte hervorbringen, können sie die Macht als „Kommune“staat übernehmen, der auf Arbeiter:innendemokratie und bewaffneter Macht beruht. Marx nannte dies die Diktatur des Proletariats, weil die Arbeiter:innenklasse durch ihre demokratischen Räte die herrschende Klasse sein würde, die die alten Ausbeuter:innenklassen und ihre Konterrevolution in Schach hält, bis sie im sozialistischen Übergang entscheidend absterben.

Die revolutionäre Dritte Internationale einte die Vorstellung, es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass eine echte Arbeiter:innenregierung, die sich der Abschaffung des Kapitalismus verschrieben hat, durch Wahlen an die Macht kommen kann. Sie könne sich aber nur dann halten und mit dem Kapitalismus brechen, wenn sie sich auf Arbeiter:innenräte und Milizen stützt, wenn sie eine andere, die Doppelmacht entwickelt, die letztlich an die Stelle von Polizei und Militär tritt. [17]

Die erste Frage, die sich den „Jacobins“ stellt, lautet, wie sie die Entwicklung der Doppelherrschaft in den radikalen Massenkämpfen, die ihrer Meinung nach notwendig sind, verhindern würden. Durch Demobilisierung der Arbeiter:innenklasse über die Gewerkschaftsbürokratie? Oder durch die gewalttätigeren Methoden der Polizei, wie es die deutsche Sozialdemokratie in der Revolution von 1918 tat? Welche andere Kraft könnte sie aufhalten? Noch grundlegender ist, dass, wenn Arbeiter:innenräte ausgeschlossen werden, nur eine Macht übrig bleibt: die Regierung der demokratischen Sozialist:innen, und diese ist die Agentur für den Aufbau des Sozialismus. Die Ablehnung der Doppelherrschaft bedeutet also nicht die Ablehnung eines revolutionären Weges zum Sozialismus zugunsten eines demokratisch-sozialistischen Weges. Es bedeutet, dass nicht die Arbeiter:innenklasse durch ihre eigenen Organisationen, sondern die demokratisch-sozialistische Regierung die Trägerin der Emanzipation ist. Dies ist eindeutig eine Version des „Sozialismus von oben“, und alles Gerede über parallele Bewegungen und Volksinstitutionen dient nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass Erstere in diesem Schema keine Macht haben.

Eine solche Regierung würde nämlich selbst mit dem Rest des Staatsapparats konfrontiert werden, der immer noch verfassungstreu ist und zweifellos regierungsfeindliche Mobilisierungen fördert. Unabhängig davon, wie links die Führer:innen der Regierung auch sein mögen, ist dies nicht ein fataler Fehler in dem Modell? Sicherlich lassen die Erfahrungen von Sanders, AOC und anderen wie Bowman einen Übergang zum Sozialismus mit ihnen am Ruder unwahrscheinlich erscheinen. Das linke DSA-Schema für eine gewählte Regierung ist ein Rezept für das Scheitern und in Wirklichkeit ein Bruch mit dem Marxismus, zu dem sich Sunkara, Blanc, Jacobin und die DSA selbst alle bekennen.

Marx und Engels vertraten „von Anfang an“ den Grundsatz, dass „die Emanzipation der Arbeiter:innenklasse das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein“ muss. (18) Zweitens hielten sie die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse für grundlegend, um sie zu einer „herrschaftsfähigen“ Klasse zu machen, die über die Organisation, die Erfahrung und das Bewusstsein verfügt, die notwendig sind, um die Macht durch Revolution zu erringen, ihren Arbeiter:innenstaat und ihre Regierung zu verteidigen und den Sozialismus aufzubauen. Dies war die wichtigste Lehre, die sie unmittelbar aus der Niederlage der Revolution von 1848 zogen. [19] Statt der demokratisch-sozialistischen Strategie der „Umwandlung“ des Staates in einen sozialistischen, schrieb Marx, dass der kapitalistische Staat „zerschlagen“ werden müsse. Wie dies genau geschehen konnte, zeigte 1871 die Pariser Kommune, deren Herrschaft durch abrufbare Delegierte Marx als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnete. Dieses Konzept war so wichtig, dass Marx und Engels sagten, es sei die einzige größere Änderung, die sie am Kommunistischen Manifest von 1848 vorgenommen hätten, wenn es nicht bereits ein historisches Dokument gewesen wäre, das sie nicht ändern durften. [20]

Insbesondere betonten sie zustimmend, dass die Kommune „kein parlamentarisches, sondern ein arbeitendes Organ“ sei, das legislative und exekutive Funktionen verbinde, das auf abrufbaren Delegierten auf der Grundlage des Durchschnittslohns der Arbeiter:innen beruhe, die aus den Arbeiter:innenbezirken und Basisorganisationen gewählt würden, was die Erfahrungen der Sowjets in Russland vorwegnahm. Und natürlich kam die Pariser Kommune durch einen erfolgreichen Aufstand der plebejischen Nationalgarde gegen die offizielle Armee an die Macht, was die DSA-Mitglieder vergessen, wenn sie versuchen, sie der bolschewistischen Erfahrung gegenüberzustellen.

Die DSA und die Jacobin-Anhänger:innen erheben keine dieser Maßnahmen zur Kontrolle und Rechenschaftspflicht. Sie klammern sich an das Schema einer normal gewählten Regierung, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützt und den Sozialismus im Laufe vieler Legislaturperioden und sogar Jahrzehnte einführt, ohne auch nur einen Grad der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse zu erreichen, der einer Doppelherrschaft gleichkäme.

Marx und die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse

Als Marx gegen den Verrat der „kleinbürgerlichen Demokrat:innen“ in den Revolutionen von 1848 in Europa argumentierte, wies er sogar ausdrücklich das Argument des „kleineren Übels“ zurück, das in der einen oder anderen Form vorgebracht wird, um die Wahl der Demokratischen Partei heute in den USA zu rechtfertigen, und demontierte jedes seiner Argumente:

„Selbst dort, wo es keine Aussicht auf eine Wahl gibt, müssen die Arbeiter:innen ihre eigenen Kandidat:innen aufstellen, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, um ihre eigene Stärke zu messen und um ihre revolutionäre Position und ihren Parteistandpunkt in der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Sie dürfen sich nicht von den leeren Phrasen der Demokrat;innen in die Irre führen lassen, die behaupten werden, dass die Arbeiterkandidat:innen die demokratische Partei spalten und den reaktionären Kräften die Chance auf einen Sieg bieten würden. All dieses Gerede bedeutet im Endeffekt, dass das Proletariat betrogen werden soll. Der Fortschritt, den die proletarische Partei durch eine solche unabhängige Arbeit machen wird, ist unendlich wichtiger als die Nachteile, die sich aus der Anwesenheit einiger weniger Reaktionär:innen in der Vertretungskörperschaft ergeben.“ [21]

Bei allen schrecklichen Folgen des Trump-Siegs 2016 erwies sich diese Einschätzung von Vorteil und Nachteil als richtig, was durch den Sieg Bidens unterstrichen wurde, dessen magere Sozialmaßnahmen, so willkommen sie auch waren, bevor sie vom demokratischen Kongress ausgeweidet wurden, einfach in eine Kluft der sozialen Not gefallen wären, die sich in den letzten Jahrzehnten in den neoliberalen USA entwickelt hat. Marx und Engels waren unerbittlich gegen britische Gewerkschaftsführer:innen, die als Liberale auftraten, entgegen der lächerlichen Behauptung von Blanc, dass dies die Kräfte für die Gründung der Labour Party stärkte. Sie tat dies nur negativ, als Ablehnung und Reaktion auf diesen groben Opportunismus, der die Entwicklung zu einer Arbeiter:innenpartei jahrzehntelang blockierte. Die Sozialistische Partei von Eugene Debs, auf die sich Sanders und die DSA berufen, sowie Karl Kautsky, der marxistische Theoretiker der Zweiten Internationale, der in DSA-Kreisen immer beliebter wird, bestanden unbeirrt auf politischer Unabhängigkeit von den Parteien der Bourgeoisie und waren keines Sinnes, die Demokrat:innen zu unterstützen, geschweige denn als solche aufzutreten! [22]

All diese Zitate und Positionen sind der DSA-Linken wohlbekannt, ebenso wie die Formel, die den Opportunismus als das Ausnutzen kurzfristiger Vorteile auf Kosten von Prinzipien definiert. Das gilt auch für die nichtjakobinische Linke in der SAlt, den Reform und Revolution Caucus, die Tempest (Sturm)-Webseite oder marx21, die sich ihr anschließen: Keine von ihnen war in der Lage, der Anziehungskraft in Richtung Demokratische Partei zu widerstehen, die mit Sanders begann. Alle diese „revolutionären“ Alternativen zum B&R-Caucus akzeptieren, wenn auch widerwillig, die „Taktik“ der Wahlkampflinie der Demokratischen Partei, zumindest für den Moment. Ja, es ist eine Taktik, eine opportunistische Taktik. Die Taktik sollte sich aus der Strategie ergeben, und die Priorität der sozialistischen Linken in den USA sollte darin bestehen, sich mit allen Mitteln des Klassenkampfes, einschließlich Wahlen, für eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu engagieren. Das hindert Sozialist:innen nicht daran, bei Wahlen anzutreten, wo dies sinnvoll ist, aber es bedeutet, sich von den Demokrat:innen zu lösen und die Kandidatur von Arbeiter:innen in Groß- und Industriestädten mit der Agitation für eine neue Partei zu verbinden, die sich an die Linke in den Gewerkschaften, die radikalen Flügel der sozialen Bewegungen und Jugendorganisationen wie die DSA-Jugendverbände richtet.

In diesem Sinne hat der von Schwarzen angeführte Aufstand gegen die Polizei im Jahr 2020 mehr Reformen angestoßen und mehr dazu beigetragen, die Legitimität und den Handlungsspielraum der Polizei zu untergraben, als jede noch so große Anzahl von DSA-unterstützten Progressiven oder Strukturreformkommissionen, die sich mit Medicare for All oder dem Green New Deal beschäftigen. Lenin unterstrich die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für die Entwicklung des Klassenbewusstseins mit Worten, die speziell für dieses historische Ereignis hätten geschrieben werden können, dessen Folgen noch nicht vollständig abzusehen sind:

„Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals von ihrem selbstständigen politischen und vor allem revolutionären Kampf getrennt werden. Nur der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse. Nur der Kampf offenbart ihr das Ausmaß ihrer eigenen Macht, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeiten, klärt ihren Verstand, schmiedet ihren Willen.“ [23]

Der Beweis dafür, dass das Eintreten für die Demokratische Partei auf deren Wahlzetteln nicht nur eine Taktik, sondern eine Strategie ist, wird durch die Entwicklung der Intervention der DSA bei den Demokrat:innen selbst erbracht. Anstelle des alten sozialdemokratischen Slogans „keinen Mann, keinen Pfennig“ für dieses verrottete System, folgen DSA-Politiker:innen der Parteidisziplin, wenn sie für den Haushalt stimmen oder sich enthalten. DSA-Mitglieder im Amt haben sogar (direkt gegen die DSA-Politik) als Teil der Demokratischen Partei für Polizeibudgets gestimmt, während drei DSA-Kongressabgeordnete (AOC, Jamaal Bowman und Rashida Tlaib) sich eher der Stimme enthielten, als gegen die Erhöhung der Mittel für die Kapitolspolizei im Zuge des Trump-Putsches zu stimmen. Diese Kräfte werden hauptsächlich gegen Proteste der Linken, der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten eingesetzt. [24] AOC lehnt wie die anderen DSA-Politiker:innen eine Stimme für rechte Demokrat:innen nicht ab und rief beispielsweise 2018 dazu auf, sich „hinter alle  Kandidat:innen der Demokratischen Partei zu stellen“, einschließlich Andrew Cuomo, dem rechtsgerichteten Ex-Gouverneur von New York. [25] Das sind keine Sozialist:innen im Kongress, sondern linke Demokrat:innen, die zum „progressiven“ Flügel gehören. Sie haben nicht die Absicht, sich von der Demokratischen Partei zu trennen, es sei denn, sie werden ausgeschlossen. Im März 2021 erreichte die Ausrichtung auf die Demokratische Partei eine weitere Stufe, als fünf von der DSA unterstützte Kandidat:innen, vier davon Mitglieder, tatsächlich die Führung der DP von Nevada gewannen und die Partei nicht mehr nur „benutzten“, sondern leiteten! Die Schlussfolgerung ist klar: Die Demokratische Partei gehört nicht zum Taktikarsenal der DSA, die DSA ist der linke Flügel dieser Partei!

Das fast völlige Fehlen von Mechanismen oder einer Debatte über die Rechenschaftspflicht, selbst in der DSA-Linken, ist der konkreteste Beweis für das oberflächliche Engagement für eine weit entfernte sozialistische Transformation zugunsten von kurzfristigem Erfolg und Wachstum. In der offiziellen Wahlstrategie der DSA, die sich über vierzehn detaillierte Seiten erstreckt, wird die Frage der Rechenschaftspflicht für ihre Kandidat:innen nicht einmal erwähnt, ebenso wenig wie in der Resolution 8 des Konvents, während die Änderungsanträge, die zumindest versuchten, den Kandidat:innen einige Kriterien aufzuerlegen, abgelehnt wurden. [26] Jacobin seinerseits enthält nur wenige Artikel, wenn überhaupt, die sich mit der Frage der Rechenschaftspflicht befassen. Bigger than Bernie, das sich als großes Buch über die Strategie der demokratischen Sozialist:innen darauf konzentrierte, den Erfolg des DSA-Wahlkampfs und der Unterstützung für die Demokratische Partei zu rechtfertigen (und zu übertreiben), ist an mehreren Stellen gezwungen, das Thema anzusprechen. Doch am Ende kann es nur die lahme Schlussfolgerung ziehen, dass die DSA „keine vollständig durchdachte Methode zur Disziplinierung ihrer Wahlkandidat:innen hat“. Ihre unzureichende Lösung besteht darin, mehr Kader zu „prägen“ und sie als Kandidat:innen aufzustellen, „die organisch aus der DSA selbst hervorgegangen sind … echte DSA-Kandidat:innen, die vom politischen Programm der Organisation durchdrungen sind und sich als engagierte sozialistische Organisator:innen erwiesen haben“. (27)

Doch die Geschichte ist voll von Linken, die unter den undemokratischen Strukturen der Gewerkschaften zu Bürokrat:innen wurden, oder von reformorientierten Politiker:innen, die im Amt dem Druck durch übertrieben komplizierte Beschränkungen und Vorschriften, Unternehmenslobbyist:innen und anderen mächtigen Interessen erlagen. AOC selbst hat diesen enormen Druck eingeräumt, und er erklärt viele ihrer Zugeständnisse. Nur Sozialist:innen, für die Wahlen eine Taktik sind, nicht der Königsweg zu sozialistischem Wandel, und die sich der Parteidisziplin unterordnen, könnten einem solchen Druck standhalten oder zumindest auf Linie gehalten werden.

Das „Big-Tent“-(Großes Zelt)-Parteimodell der DSA ist in Verbindung mit dem Wahlsystem nur ein Rezept dafür, dass die Amtsinhaber:innen ein nicht rechenschaftspflichtiger, aber immer mächtigerer Kern über der Demokratie der Partei bleiben. Der Pluralismus, der gegen die vermeintlich „monolithische“ revolutionäre Linke gefeiert wird, ist letztlich nur für sie. [28] Der heuchlerische, in sich widersprüchliche Ruf der Rechten nach „Einheit, nicht Einstimmigkeit“ in der Bowman-Kontroverse unterstreicht dies: Sein Recht, seine eigene politische Linie zu bestimmen, bricht in Wirklichkeit die Einheit mit den Mitgliedern und ihren demokratischen Entscheidungen. Dieser Stab von Politiker:innen und der Wahlapparat der DSA werden auf Kosten der Demokratie, der Radikalität und letztendlich der Stabilität der DSA wachsen. Die Linke tut gut daran, einen Blick auf die griechische Linkspartei Syriza zu werfen, die ebenfalls auf Wahlen fokussiert ist, und wie sie sich parallel zu ihren Wahlerfolgen in Richtung Bürokratie entwickelt hat, wobei die neuen Strukturen die Linke zunehmend marginalisieren. [29]

Dieser Flügel der Partei will eine DSA, die sich stark von den Mitgliedern unterscheidet, die in vielen Städten den Wunsch geäußert haben, über den Wahlkampf hinauszugehen und sich im Klassenkampf zu engagieren. Wenn er Erfolg hat, würde das alle Probleme der alten Sozialistischen Partei von Debs wieder aufleben lassen, in der die 1.000 gewählten Mandatsträger:innen rechts von den Mitgliedern standen, in der Praxis reformistisch waren und oft andere bürgerliche Vorurteile wie Rassismus an den Tag legten und sich jeder echten Kontrolle entzogen, und letztlich die Linke besiegten und vertrieben. Doch diese Lektion in Sachen Rechenschaftspflicht wird nicht nur von der Rechten, sondern auch Linken in der DSA ignoriert. [30] Stattdessen ist eine Übertreibung des Radikalismus der linken Demokrat:innen, ob DSA-Mitglieder oder nicht, zwangsläufig Teil der DSA-Orientierung und notwendig, um sie zu rechtfertigen. Dies ist auch ein schwerwiegender Fehler in der gesamten Arbeit von Jacobin.

Die Kontroverse, die über Jamaal Bowman ausgebrochen ist, ist nicht die erste, sondern nur die eklatanteste Zerrüttung der DSA-Politik im Amt. DSA-Mitglieder und -Aktivist:innen müssen auf seinen Ausschluss drängen, als ersten Schritt zur Neuausrichtung der Partei weg von den Demokrat:innen und zum Aufbau von Verantwortlichkeit für Führungskräfte und gewählte Amtsträger:innen, ohne die es keine sinnvolle Demokratie gibt.

Die Linke debattiert über den schmutzigen Bruch

Die weit verbreitete Begeisterung für die Idee des „schmutzigen Bruchs“ hat dazu geführt, dass sie unter den jungen radikalen Aktivist:innen der DSA zu einer neuen Orthodoxie geworden ist, die durch die Wahlerfolge nur noch gefestigt wurde. Die DSA-Linke ist gegen diesen Druck nicht immun, ein Teil bewegt sich nach rechts mit einer eher unschlüssigen Annäherung an die Frage der „Neuausrichtung“, während die Fraktionen der „revolutionären“ Linken die Taktik des schmutzigen Bruchs prinzipiell akzeptiert oder es vermieden haben, sie im Fall von SAlt direkt anzugreifen, und lediglich darüber debattiert haben, wie man sich von ihr entfernen kann.

Die wichtigste linke Fraktion, Brot und Rosen, lehnt eine Neuausrichtung der Demokrat:innen ab und steht für den endgültigen Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter:innen. In einer Diskussion über die Unterstützung eines Änderungsantrags zu Resolution 8, in dem die Notwendigkeit eines schmutzigen Bruchs bekräftigt wird, spaltete sich die Fraktion jedoch mit 55 % Ja- und 45 % Nein-Stimmen. Aufgrund der knappen Abstimmung beschloss die Fraktionsführung undemokratisch, den Änderungsantrag nicht zu unterstützen. Eric Blanc, das prominente DSA- und Brot-und-Rosen-Mitglied, das die radikale „Schmutziger Bruch“-Linie geprägt hat, argumentierte nun gegen die Durchsetzung dieser Linie als schädliche „Propaganda“. Er übertrieb die Bilanz von Sanders und AOC und behauptete, sie würden etwas Neues tun, weil sie versuchten, eine „unabhängige sozialistische Organisation und ein unabhängiges Profil“ aufzubauen. In Wirklichkeit tun sie nur sehr wenig, um die DSA aufzubauen, aber er argumentierte, dass es für das „demokratische Establishment eine wichtige Propagandawaffe gegen uns bedeutet“, wenn man die Organisation für den schmutzigen Bruch in den Vordergrund stellt, indem man als Unabhängige kandidiert oder sogar offen als Anti-Demokrat:innen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei erscheint, als ob sie nicht schon alle von der DSA unterstützten aufständischen Kandidat:innen verleumden und versuchen würden, sie zu besiegen.

Es kommt noch schlimmer. In seinem ursprünglichen Artikel aus dem Jahr 2017, in dem er die Idee des schmutzigen Bruchs vorstellte, wies er Versuche, die Demokratische Partei neu auszurichten, als „Illusion“ zurück, aber jetzt hat er dies umgekehrt und stellt jede Annahme in Frage, dass die „Demokratische Partei keine Arbeiter:innenpartei sein wird“:

„Wir klingen wie Dogmatiker:innen, wenn wir die Möglichkeit ausschließen, dass Linke den nationalen Parteigipfel der Demokrat:innen durch eine feindliche Übernahme mittels klassenkämpferischer Vorwahlen erobern, die sowohl die Präsident:innenschaft als auch die Führung des Kongresses gewinnen. Bisher hat noch niemand überzeugend dargelegt, warum dieser Ansatz garantiert scheitern wird.“

Unterstützt wurde dies durch verzerrte Argumente, dass frühere Versuche in den 1930er und 1960er Jahren gescheitert seien, weil sie „auf die Arbeit innerhalb der offiziellen demokratischen Strukturen angewiesen waren“. Doch so verhängnisvoll es auch war, die Unterstützung der Kommunistischen Partei für Roosevelt in den 1930er Jahren war kaum eine Arbeit innerhalb der Demokrat:innen. Die Katastrophe bestand darin, dass sie statt für den Zusammenschluss der lokalen Arbeiter:innenparteien zu einer neuen, nationalen Partei, die die Linke und die Arbeiter:innenklasse auf eine neue Ebene gebracht hätte, zu kämpfen, diese Bewegung deckelte und in ihren politischen Verfall förderte. [31]

Weitere Brüche in Brot und Rosen haben sich abgezeichnet. Die Fraktion Reform und Revolution, eine frühere Abspaltung von SAlt, die sich als revolutionär-marxistischer Flügel der DSA ausgibt, organisierte im März 2021 eine Diskussion über den schmutzigen Bruch mit Redner:innen aus den wichtigsten linken Fraktionen. Darunter waren Referent:innen aus der gesamten Linken: Jeremy Gong, Co-Vorsitzender von Brot und Rosen und Mitglied der Arbeiter:innenpartei-Linken, die „revolutionären“ Marxist:innen der Tempest-Webseite (Ex-ISO) und Reform und Revolution selbst sowie Aktivist:innen der größten lokalen linken Fraktionen Emerge (Empor, New York Stadt) und Red Star (Roter Stern, San Francisco). [32) Alle waren sich einig, dass es vorerst keine Alternative zur Wahl der Demokrat:innen gab, aber die Diskussion drehte sich darum, wie man den schmutzigen Bruch für eine neue Arbeiter:innenpartei vorantreiben könnte.

Mit erfrischender Offenheit nahm Gong die üblichen Begründungen zum Einsatz für die Demokratische Partei auseinander. Er wies das (in Resolution 8 wiederholte) Argument zurück, dass die Demokrat:innen nicht wirklich eine Partei sind, sondern eine diffuse Koalition von Kräften mit einer leeren, neutralen Wahlliste, die es auszufüllen gilt, das Feigenblatt für die Taktik:

„Sie sieht aus wie eine Partei, sie redet wie eine Partei, die Leute denken, dass sie eine Partei ist, sie muss eine Partei im US-amerikanischen Kontext sein … in unserer Zeit ist die Demokratische Partei eine Partei, und ich denke, eine Wahlliste ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was eine Partei zu sein hat … [und das ist der Grund, warum] es wichtig ist, dass wir uns formell trennen und eine neue Partei gründen.“ [33]

Einen weiteren Mythos spießte er auf, indem er argumentierte, dass die gesetzlichen Wahlrechtsbeschränkungen in den Bundesstaaten nicht so entscheidend seien. In Kalifornien, „größer als Spanien“, gebe es keine, außer bei den Präsident:innenschaftswahlen, und in New York City sei „der Ortsverband stark genug, mit 10.000 DSA-Mitgliedern und der fortschrittlichsten Organisation und Erfahrung, um diese Hindernisse zu überwinden und unabhängige Kandidat:innen aufzustellen“. Andere merkten an, dass ein Kandidat auf der von der DSA unterstützten Liste der in den Stadtrat von Chicago gewählten Delegierten ein Unabhängiger war – was wäre, wenn alle sieben unabhängig gewesen wären? Der Vorsitzende von Labor Notes, Kim Moody, wies in seinem 2018 erschienenen Buch On New Terrain (Auf neuem Gebiet) (geschrieben vor dem Sieg von AOC) darauf hin, dass gewerkschaftlich unterstützte Kandidat:innen in „mittelgroßen industriellen oder ehemals industriellen Stadtzentren mit einer großen Arbeiter:innenbevölkerung“, in denen die Demokrat:innen so hegemonial sind, dass ihre übliche Erpressung, die Republikaner:innen ins Rennen zu schicken, nicht funktioniert, allmählich Fuß fassen.“ [34]

Gong wies darauf hin, dass die Aufstellung unabhängiger Kandidat:innen im Grunde „ein politisches Problem“ sei:

„Ich würde sagen, es wird viel darüber geredet, dass es so schwer ist, eine unabhängige Wahlliste zu haben. Die Gesetze sind schwierig, aber ich denke, das ist ein Ablenkungsmanöver. Es ist eigentlich gar nicht so schwer. Man muss nur den Willen haben, es zu tun. Und im Moment ist dieser Wille bei einer sehr kleinen Anzahl von Leuten vorhanden, das ist das eigentliche Problem … Ich würde einen analogen Punkt anbringen, wie wir uns zu DSA verhalten, es gibt ein geringes Maß an Kampf und Erfahrung für DSA-Mitglieder in vielen dieser Fragen.“

Er argumentierte, dass die Bedingungen für eine unabhängige Partei heute nicht gegeben sind, da das Niveau des Klassenkampfes im Gegensatz zu den 1930er und 1940er Jahren niedrig ist, aber trotzdem „konnten sie damals keine Arbeiter:innenpartei gewinnen“. Er nimmt die Führungskrise in der Arbeiter:innenbewegung mit dem Verrat der KP an dieser Bewegung nicht zur Kenntnis, aber die gleiche Frage stellt sich heute, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt aus: Wie blockiert die Linke die Entwicklung einer solchen Bewegung? Und ist der Klassenkampf wirklich so niedrig? Zeigen die explosiven Kämpfe von 2018 und 2020 nicht, dass eine DSA, die sich bei jedem Streik, jeder Protestbewegung und jedem Aufstand für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse einsetzt, Fortschritte machen könnte, was das Bewusstsein, die Organisation und, ja, die Kandidat:innen angeht?

Die Konzentration von Mitgliedern und Erfahrungen in den großen städtischen Zentren, New York, Chicago und einigen anderen, würde zumindest den Versuch erlauben, unabhängige gewerkschaftliche oder sozialistische Kandidat:innen aufzustellen, auch wenn dies in kleineren Gebieten schwierig wäre. Gong wies auf diese hin und erklärte: „Einige müssen führen“. In seinem Artikel forderte Eric Blanc die Linke auf, es irgendwo zu versuchen. Dies würde eine starke linke Organisation in der DSA voraussetzen, aber selbst dann sollte die Linke nicht einfach „alternativ“ experimentieren, während sie den Rest der DSA ignoriert, wenn dieser damit fortfährt, demokratische Kandidat:innen zu unterstützen, sondern sie sollte dies ablehnen.

Ironischerweise halten die zentristischen Sozialist:innen, die in Tempest und Brot und Rosen in die DSA eingetreten sind, an der Mehrheitslinie fest, obwohl aus ihren Argumenten klar hervorgeht, dass sie nicht wirklich dafür sind, auf der demokratischen Liste zu stehen, während Blanc den „schmutzigen Bruch“ abstellen oder sogar aufgeben will und die DSA sich in der Praxis davon weg entwickelt. Anstatt den Brot-und-Rosen-Linken entgegenzukommen, die immer noch an der DSA festhalten, und sich im Kreis zu drehen, wie und wann man mit der Demokratischen Partei brechen oder sich darauf vorbereiten sollte, sollte die marxistische Linke die Schlussfolgerungen aus der Entwicklung der DSA und der Bilanz ihrer Mitglieder in den Ämtern ziehen und jetzt für den „sauberen Bruch“ agitieren, indem sie sich für eine neue Arbeiter:innenpartei einsetzt.

In den Groß- und Industriestädten könnten die Fraktionen aller Sozialist:innen, die für den Bruch sind, für unabhängige Arbeiterkandidat:innen werben und sich kollektiv weigern, Kandidat:innen zu wählen, die auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei stehen oder von ihnen unterstützt werden. Wenn die Rechte sich 2020 gegen die „Niemand außer Bernie“-Linie auflehnen kann, warum kann die Linke dann nicht offen die Unterstützung für demokratische Kandidat:innen ablehnen? Sie sollten Druck auf Brot-und-Rosen-Linke wie Gong (mit 45 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder vor dem Kongress) ausüben, um den Caucus dazu zu bringen, ihn zu unterstützen oder sich von ihm abzuspalten. Dies erfordert nicht, dass irgendeine der Tendenzen oder Fraktionen, seien sie „revolutionär“ oder demokratisch-sozialistisch, ihre eigene Organisation oder ihre Programme aufgibt, sondern dass sie die Einheitsfront nutzen, um die Forderung nach einer neuen Partei innerhalb und außerhalb der DSA voranzutreiben. In der Zwischenzeit könnten sie auch darauf drängen, dass die Sektionen Streiks unterstützen und Aktionskomitees für soziale Kämpfe aufbauen, um sie zu demokratisieren, ihr Wachstum zu fördern und Siege zu erringen, während sie gleichzeitig über die Politik debattieren, die die DSA mit kämpferischen Klassenkampftaktiken in sie einbringen möchte.

Wohin weiter?

In England folgte auf die stürmische Zeit des Chartismus der Arbeiter:innenklasse (1838 – 48) und die Beteiligung der Gewerkschaften an der Seite von Marx in der Ersten Internationale (1864 – 72) eine lange Periode der politischen Unterordnung der Arbeiter:innenklasse unter Gladstones Liberale Partei. Ihre materielle Grundlage bildete die Vorherrschaft des britischen Kapitalismus in der Weltwirtschaft und die Ausdehnung seines Kolonialreichs. In dieser Liberal-Labour-Periode saßen viele Gewerkschaftsführer:innen als liberale Abgeordnete im Unterhaus.

In den 1880er Jahren stellte Engels fest, dass der Verlust der Vorherrschaft des imperialen Britanniens im Welthandel zu Angriffen auf die eigenen Arbeiter:innen führen würde, dessen schwindende Position bedeuten würde, dass es „wieder Sozialismus in England geben wird“. [35] Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch ihren demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden, während sie wirtschaftlich seit 2008 im Zentrum der historischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus stehen. Beide Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und eine historische Polarisierung vorangetrieben.

Der spektakuläre Aufstieg der DSA spiegelt nicht nur die Tiefe der Krise des amerikanischen Kapitalismus wider, sondern zeigt vor allem, dass sozialistische Massenstimmung in materielle Organisationsgewinne umgesetzt werden kann, dass Sozialismus und Klassenpolitik vorankommen können. Doch mit dem Anstieg an Mitgliederzahlen wachsen auch die Widersprüche der DSA. Vielleicht wird die Aushöhlung von Bidens Wohlfahrtsreformen die Stimmung gegen die Demokratische Partei und das Wachstum der DSA kurzfristig wiederbeleben, aber ihre zunehmende Absorption in die Demokratische Partei ist eine Sackgasse und zeigt, dass sie trotz ihrer formalen Position, eine Massenpartei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, dies nie ernst genommen hat und sich in Wirklichkeit in die andere Richtung bewegt, tiefer in die Demokratische Partei. Die Mehrheit der relativ neuen, oft inaktiven DSA-Mitglieder, die im Rahmen dieser Taktik rekrutiert wurden, könnten am Ende eine Basis für den rechten Flügel und die Führung abgeben, wenn dies nicht durch die Hinwendung der Sektionen zum Kampf überwunden wird.

Erhebliche Minderheiten gegen die rechtsgerichteten Anträge des Parteitags zeigen das Potenzial, eine Opposition aufzubauen, die sich auf die Neuausrichtung der DSA weg von den Demokrat:innen und hin zum Klassenkampf und den Streit für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse konzentriert. Ein Teil des Hindernisses für die Verwirklichung dieses Potenzials ist die DSA-Linke selbst, die zwar wächst, aber zersplittert ist und, was am schädlichsten ist, die „Taktik des schmutzigen Bruchs“ akzeptiert und die Demokratische Partei „vorerst“ unterstützt. Dies ist eine durch und durch opportunistische Taktik. Die Möglichkeit, diesen Weg freizumachen, besteht darin, zu Marx‘ Position der klassenpolitischen Unabhängigkeit zurückzukehren und die Methode aufzugreifen, die Trotzki für den Aufbau einer neuen Arbeiter:innenpartei im Amerika der 1930er Jahre befürwortete.

Wenn die Linke dies tut, wird sie sich letztlich einem Kampf mit dem Mitte-Rechts-Block in der Führung stellen müssen, der bisher noch keine ernsthafte Herausforderung für seine unausgesprochene Strategie zur Neuausrichtung der Demokratischen Partei erlebt, für die die Strategie des schmutzigen Bruchs als Deckung diente. Die stalinistischen Anti-Trotzki-Memos, die den Beitritt der Sozialistischen Alternative begleiteten, liefern einen kleinen Vorgeschmack auf diese Spannung. Letztendlich wird eine reformistische Führung niemals einen wirklich klassenkämpferischen, revolutionären Flügel dulden, sondern versuchen, ihn zu unterdrücken. Wenn die Linke es zulässt, eine zahme Opposition zu bleiben, die in einer platonischen Debatte darüber gefangen ist, wie und wann Schritte in Richtung des schmutzigen Bruchs unternommen werden sollen, wird sie nur ihre eigene Ohnmacht verlängern.

Die Sozialistische Alternative, die Brot-und-Rosen-Linke und die anderen Fraktionen wiederholen alle, dass es keine objektive Grundlage für eine neue Massenpartei gibt. Dennoch geben viele zu, dass die Politik der DSA selbst das größte unmittelbare Hindernis für Schritte in Richtung Klassenunabhängigkeit und einen schmutzigen Bruch verkörpert. Die Antwort darauf ist eine unermüdliche und konsequente Kampagne, um diese Führungskrise zu lösen, indem wir eine solche Anleitung geben. Die Linke kann sich um eine offene Kampagne für eine neue Arbeiter:innenpartei scharen, die jegliche Unterstützung für Kandidat:innen auf der demokratischen (oder grünen) Wahlliste klar ablehnt. Sie sollte Druck auf Brot und Rosen ausüben, damit es sich wieder dieser Linie widmet oder spaltet. Dies ist der Schlüssel, um die dissidenten Mitglieder über die Caucuses hinaus zu organisieren und die Masse der neuen Mitglieder zu entwickeln, um die Kluft zwischen ihnen und der Linken zu schließen. Die Hinwendung der Sektionen zum Klassenkampf würde nicht nur neue Mitglieder als Aktivist:innen und Kader hervorbringen, sondern auch Militante aus den Streiks und Kämpfen der nächsten zwei Jahre rekrutieren, die der Demokratischen Partei gegenüber misstrauischer sein werden.

Ein Einheitsfrontansatz im Eintreten für einen sauberen Bruch würde auch Debatten über andere Aspekte des Programms erleichtern, als Antwort auf neue Kämpfe wie die Lehrer:innenstreikwelle und die Black-lives-matter-Revolte. Ziel sollte es sein, ein alternatives, revolutionäres Programm zur neuen Plattform zu entwickeln, das deren beste politische Elemente aufgreift und sie mit Übergangsforderungen kombiniert, die die heutigen Massenkämpfe mit dem entschlossenen Vorgehen für den Sozialismus durch Selbstorganisation und Aktivität der Arbeiter:innenklasse verbinden. Dies würde nicht nur mehr Diskussionen zwischen den Gruppierungen ermöglichen, sondern auch ein neues Publikum von Tausenden von Menschen einbeziehen, die eine Rolle dabei spielen könnten, die Politik im Lichte der Geschichte und ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Klassenkampf zu prüfen, indem sie sich daran beteiligen und veraltete oder opportunistische Ideen verwerfen.

Nur durch einen radikalen Richtungswechsel können Sozialist:innen sicherstellen, dass der nächste Parteitag eine echte Herausforderung für den prodemokratischen Konsens darstellt und den Weg für einen weiteren politischen Fortschritt hin zu einer klassenkämpferischen, internationalistischen und revolutionären DSA öffnet. Alle, die die Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung sehen, sollten mit uns Kontakt aufnehmen und gemeinsam daran arbeiten, die immensen Möglichkeiten für den Fortschritt der Arbeiter:inneklasse und eine sozialistische Zukunft zu nutzen, die zum Teil im Wachstum der DSA zum Ausdruck kommen.

Endnoten

1 „Top GOP Pollster: Young Americans Are Terrifyingly Liberal“, [https://theintercept.com/2016/02/24/top-gop-pollster-young-americans-are-terrifyingly-liberal/].

2 Nur Eugene Debs‘ Socialist Party of the USA war mit 113.000 Mitgliedern auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1912 größer, allerdings bei einer Bevölkerung von 95 Millionen, weniger als ein Drittel der heutigen 333 Millionen.

3 Damit stieg die Mitgliederzahl auf 66.000. Fast 30.000 sind seitdem beigetreten.

4 „2020 DSA Convention Reports and Summaries“, [https://www.tempestmag.org/2021/08/2021-dsa-convention/].

5 Rückgang von 42 Kandidaten für sechzehn Positionen im Jahr 2017 auf 33 im Jahr 2019 und 20 im Jahr 2021: Nation, R&R.

6 2021: „Toward a Mass Party in the United States (Electoral Priority)“; 2019: „Class Struggle Elections“.

7 https://jacobinmag.com/about; https://breadandrosesdsa.org/. Der linke B&R Co-Vorsitzende Jeremy Gong sagt, dass B&R 2019 gegründet wurde, um „für eine marxistische DSA zu kämpfen“. Siehe unten: Debatte  über Reform und Revolution.

8 Siehe Resolution 8: „Bigger than Bernie“ von Micah Uetricht und Megan Day behauptet dasselbe, Kapitel 2: „Die beiden großen US-Parteien sind keine wirklichen Parteien im traditionellen Sinne (keine Mitgliedschaftskriterien, keine verbindliche demokratische Entscheidungsfindung, keine politische Bildung, keine Disziplinierung von Kandidat:innen, keine Rechenschaftspflicht gegenüber einer Plattform)“.

9 Oder die Partei könnte „theoretisch Kandidat:innen auf der eigenen Wahlkampflinie der Organisation aufstellen“. Seth Ackerman: „A Blueprint for a New Party“, Nov. 2016, https://www.jacobinmag.com/2016/11/bernie-sanders-democratic-labor-party-ackerman/; Eric Blanc: „The Ballot and the Break“, https://www.jacobinmag.com/2017/12/democratic-party-minnesota-farmer-labour-floyd-olson/.

10 Entschließung 15.

11 „Should House Progressives #ForceTheVote on Medicare for All?“, https://www.dsausa.org/statements/should-house-progressives-forcethevote-on-medicare-for-all/.

12 Weit davon entfernt, die Gewerkschaftsarbeit der DSA-Ortsgruppen und -Mitglieder zu leiten und zu koordinieren, wurden die beiden großen nationalen DSA-Laborinitiativen – das 2020 gegründete Emergency Worker Organising Committee und die 2021 gestartete Kampagne zur Lobbyarbeit bei der Bidenregierung zur Verabschiedung des PRO Act (Protect the Right to Organize) – beide vom NPC im Bündnis mit den Gewerkschaften initiiert.

13 Bhaskar Sunkara, The Socialist Manifesto, (London: Verso, 2019), S. 22; siehe: https://fifthinternational.org/content/bhaskar-sunkaras-socialist-manifesto.

14 Meagan Day und Micah Uetrecht, Bigger Than Bernie, (London: Verso, 2020), S. 102 f–

15 Eric Blanc hat sich als antibolschewistischer Theoretiker und Historiker der DSA etabliert, einflussreich, aber auch wie Sunkara eigenwillig – die Jacobin-Linke hat keine einheitliche, kohärente Vision des demokratisch-sozialistischen Übergangs, abgesehen von ein paar groben Punkten – die Demokrat:innen, Wahlen, eine Regierung, kein Aufstand, keine Doppelmacht. Bigger than Bernie hingegen zitiert Eric Blanc und nimmt dessen Position auf. Seine alternative „revolutionäre“ Strategie geht auf Karl Kautsky, den bekanntesten Theoretiker der Zweiten Internationale und Gegner Lenins und der Revolution von 1917 in Russland, zurück. Blanc argumentiert wie die Demokratischen Sozialist:innen im Allgemeinen, dass „das Doppelherrschafts-/Aufstandsmodell von Russland 1917“ für „kapitalistische Demokratien“ nicht relevant sei, und zwar mit dem üblichen liberalen Argument, dass „unter den arbeitenden Menschen die Unterstützung für die Ersetzung des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischen Demokratie durch Arbeiter:innenräte oder andere Organe der Doppelherrschaft immer marginal geblieben ist.“ Das stimmt nur insofern, als keine andere Revolution des 20. Jahrhunderts auf eine Partei wie die Bolschewiki traf, die entschlossen war, sie über den Kapitalismus in Russland hinaus zu führen, und so eine Niederlage erlitt.

Blancs Alternative, die auf seiner fehlerhaften Analyse der Finnischen Revolution 1917 – 18 mit ihrer blutigen Niederlage beruht, hat ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Das hält ihn nicht davon ab, darauf zu bestehen, dass der einzige Weg zum Sozialismus für Sozialist:innen darin besteht, „für eine allgemeine sozialistische Wahlmehrheit in der Regierung/im Parlament zu kämpfen, und (b) Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie Generalstreiks und Revolutionen erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“

Diese defensive Revolution, die in der Realität manchmal notwendig ist (Spanien 1936), würde sich als Strategie als katastrophal erweisen, wie es in Finnland der Fall war.

Der Punkt ist, dass Blanc behauptet, dies müsse gelingen, ohne eine Doppelmacht zu schaffen. Dies ist jedoch ein Widerspruch – das Wesen jeder Revolution besteht darin, dass eine Macht eine andere besiegt und ersetzt, sie stürzt. In Wirklichkeit ist dies – wie der „schmutzige Bruch“ eine weitere Idee Blancs – eher rhetorisch als real, um die Konzentration der DSA auf Wahlen und Reformen gegen sozialistische Kritik zu verteidigen, allerdings mit größerer theoretischer Distanz. BTB 108, 103; Originalzitate von Blanc in „Why Kautsky Was Right (and Why You Should Care)“, Jacobin, und „The Democratic Road to Socialism: Reply to Mike Taber“, Cosmonaut.

16 Dieser Prozess und seine materiellen Wurzeln in der nationalen Isolation sind ausführlich dokumentiert in The Degenerated Revolution: The Rise and Fall of the Stalinist States, (London: Workers Power, 1983, 2012), siehe: https://fifthinternational.org/content/key-documents/degenerated-revolution.

17 „Die vorrangigen Aufgaben der Arbeiter:innenregierung müssen darin bestehen, das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Besteuerung auf die Reichen zu übertragen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen. Eine solche Arbeiter:innenregierung ist nur möglich, wenn sie aus dem Kampf der Massen hervorgeht, von kampffähigen Arbeiter:innenorganen getragen wird, von Organen, die von den am meisten unterdrückten Teilen der arbeitenden Massen geschaffen wurden“, in: „Theses on Comintern Tactics“, Fourth Congress of the Communist International, Marxists Internet Archive (MIA), [https://www.marxists.org/history/international/comintern/4th-congress/tactics.htm].

18 Marx, „IWMA rules“, 1864; Engels, „1888 Preface to the Communist Manifesto“, beide: MIA.

19 „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

20 Marx, „1872 Preface“, MIA.

21 Marx, „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

22 Das Gleiche gilt für Ralph Miliband, den bevorzugten antileninistischen Marxisten von Bread and Roses, [https://breadandrosesdsa.org/where-we-stand/#democratic-road].

23 Wladimir Lenin, Lecture on the 1905, MIA.

24 „Demokrat:innen verabschieden nach chaotischer Verzögerung 1,9-Milliarden-Dollar-Gesetz für die Sicherheit im Kapitol mit einer Stimme Mehrheit“, [https://www.forbes.com/sites/andrewsolender/2021/05/20/democrats-pass-19-billion-capitol-security-bill-by-one-vote-after-chaotic-delay/].

25 „AOC warnt die Demokrat:innen, sich hinter dem/r Kandidat:in zu versammeln, egal wer es ist“ [https://uk.news.yahoo.com/aoc-warns-democrats-rally-behind-221155192.html].

26 „Nationale DSA-Wahlstrategie 2021-2022“, [https://electoral.dsausa.org/national-electoral-strategy/].

27 Day und Uetrecht, Bigger Than Bernie, S. 125 – 127.

28 A. a. O., S. 60 – 61, S. 99.

29 https://fifthinternational.org/content/greece-syriza-congress-eye-witness-report.

30 https://jacobinmag.com/2017/02/rise-and-fall-socialist-party-of-america.

31 https://fifthinternational.org/content/why-there-no-socialism-united-states%E2%80%9D.

32 „Putting the Break in the Dirty Break“, Podiumsdiskussion organisiert von Reform & Revolution. https://www.youtube.com/watch?v=yS8eW83NGEk&t=22s.

33 A. a. O., ab Minute 97.

34 Kim Moody, On New Terrain (Chicago, Haymarket, 2017), S. 162.

35 Engels, „England in 1845 and 1885“, MIA.