Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Die Führungskrise des Proletariats

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 2, Sommer 1989

Sogar in seiner Todeskrise wird der Kapitalismus nicht von selbst verschwinden. Er muß bewußt durch die Arbeiterklasse gestürzt werden. Dazu ist die Bildung einer neuen revolutionären Vorhut notwendig, die einen bewußten strategischen Plan, ein Programm und eine proletarische Avantgardepartei braucht.

Auch heute ist das zentrale Problem der Menschheit: Wer führt die Arbeiterklasse? Am Vorabend des letzten Krieges zwischen den imperialistischen Mächten war der Kapitalismus von einer allgemeinen ökonomischen Depression erfaßt, die die ganze Welt unabänderlich in eine revolutionäre Krise stürzte. Trotzkis Übergangsprogramm, das in diesen Jahren geschrieben wurde, erklärte, daß die Krise der Menschheit auf die Führungskrise reduziert war. Heute wäre jedoch eine einfache Wiederholung der Feststellung, daß alle gegenwärtigen Krisen „auf eine Führungskrise reduziert“ seien, falsch.

Das Proletariat steht noch nicht weltweit vor der schroffen Alternative, entweder die Macht zu ergreifen oder bei der Zerstörung all seiner vergangenen Errungenschaften zuzusehen. Dennoch erreicht die Führungskrise in vielen Ländern, sogar ganzen Kontinenten, eine außerordentliche Schärfe. Sogar in Ländern, wo dies nicht der Fall ist, quält die Arbeiterorganisationen eine chronische Krise, die ihnen infolge des wiederholten Verrates durch die reformistischen Führer Niederlage, Stagnation und sogar Niedergang bringt. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, die grundlegenden Bedürfnisse der Millionen zu befriedigen, macht die Umwandlung defensiver Kämpfe der Arbeiter und armen Bauern in den Kampf um die Macht sowohl möglich als auch notwendig. Doch ist keine der existierenden Führungen willens oder fähig, so einen Kampf durchzuführen. Sie sind entweder an die Interessen der Bourgeoisie oder der parasitären Bürokratie der stalinistischen Staaten gebunden.

Seit langem hat die imperialistische Bourgeoisie ihre Ressourcen dazu verwendet, Spaltungen im Proletariat zu fördern und sogar die Existenz einer privilegierten Schicht, der ‚Arbeiteraristokratie‘, deren Lebensstandard wesentlich höher als der der Arbeitermassen war, zu akzeptieren. Dieser Teil der Arbeiterklasse bildete die hauptsächliche Grundlage für eine ‚Arbeiterbürokratie‘, deren Rolle es war, mit dem Kapital zu verhandeln, und deren spontane politische Auffassung daher die Klassenzusammenarbeit war.

1914 wurden die proletarischen Massenparteien Europas bereits von der Politik der Kollaboratoren beherrscht. Dies stimmte sowohl für Parteien wie die britische Labour Party, die seit ihrer Gründung eine reformistische Partei war, als auch für die sozialdemokratischen Parteien, die formal am Marxismus festhielten. Im Verrat der Zweiten (Sozialistischen) Internationale an der Arbeiterklasse fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt. 1914 rührten sie die Werbetrommel für den imperialistischen Krieg. Als dann die Welle von Revolutionen durch Europa fegte (1917-23), stellten sie sich offen auf die Seite der bürgerlichen Konterrevolution gegen die arbeitenden Massen.

So nahm die Sozialdemokratie ihre grundlegende Gestalt an. Sie wurde strategisch an die kapitalistische Ökonomie und den kapitalistischen Staat, wenn auch in den idealisierten Formen des Staatskapitalismus und der bürgerlichen Demokratie, gebunden. Dies war sogar dort der Fall, wo der Kapitalismus noch keine voll entwickelten Arbeiteraristokratien und -bürokratien herausgebildet hatte. In Rußland zum Beispiel waren die Menschewiki, die für eine lange Periode der bürgerlichen Demokratie als einer notwendigen Entwicklungsstufe argumentierten, gegen die proletarische Revolution und ergriffen sogar die Waffen gegen sie. Direkte Aktion und militärische Gewalt waren für die Reformisten Mittel, die nur gegen die Gegner des bürgerlich-demokratischen Ziels verwendet werden konnten, niemals jedoch, um die Gegner der Arbeiterklasse zu schlagen.

Die Degeneration der Komintern

Die Komintern wurde von den konsequenten Kämpfern und Kämpferinnen gegen den Verrat der Sozialdemokratie in der revolutionären Periode nach 1917 gebildet. Ihre ersten vier Kongresse begannen, das revolutionäre Programm für die imperialistische Epoche wiederzuerarbeiten. Doch unter dem Einfluß der politischen Konterrevolution in der Sowjetunion degenerierte sie nach 1923 in den bürokratische Zentrismus. Das Ziel der Weltrevolution wurde durch die reaktionäre Utopie des „Sozialismus in einem Lande“ ersetzt. Die zentristisch-kommunistischen Parteien führten die Arbeiterklasse in China (1927) und Deutschland (1933) in blutige und unnötige Niederlagen.

Nach der Niederlage der deutschen Massen 1933 betrachtete Trotzki die Komintern als nicht mehr reformierbar. Später im gleichen Jahr erklärte er die Komintern, obgleich sie noch bürokratisch zentristisch war, für nicht reformierbar und „tot für die Ziele der Revolution“, nachdem sie sich als unfähig erwies, ihre Fehler zu erkennen und aus den Niederlagen zu lernen. Daher forderte er zuerst den Aufbau einer neuen Partei in Deutschland und dann einer neuen weltweiten Internationale, obwohl die Stalinisten noch nicht endgültig ins Lager der Konterrevolution übergegangen waren.

1934-1935 vervollständigte die Komintern ihre Verwandlung in eine konterrevolutionäre Internationale mit dem Ziel einer strategischen Allianz mit der Bourgeoisie der sogenannten „demokratischen“ Imperialismen im Namen einer neuen „Strategie“, der Volksfront. Diese klassenkollaborationistische Politik wurde den Sektionen der Komintern von der Kreml-Bürokratie auferlegt, um deren diplomatischen Interessen zu dienen. Die stalinistische Bürokratie versuchte, eine utopische „friedliche Koexistenz“ mit den „demokratischen“ Imperialismen und deren Verbündeten zu errichten und verwandelte die kommunistischen Parteien dieser Länder in reformistische Parteien, die die Zusammenarbeit und die „friedliche Koexistenz“ der Klassen predigten. Sie empfahl den Massen, ihre eigenen Imperialismen zu verteidigen, und folgte so der Sozialdemokratie ins Lager der Konterrevolution. Die Wende zum Sozialpatriotismus fiel mit der Liquidierung der alten bolschewistischen Vorhut in den Moskauer Schauprozessen zusammen. In der zweiten Phase des Zweiten Weltkrieges, nach dem Einmarsch der Nazis in der UdSSR, wurden die Stalinisten in den Staaten, die nicht zu den Achsenmächten gehörten, zu Superpatrioten, und in jenen, die von den Nazis besetzt waren oder gegen diese Krieg führten, gewannen die Stalinisten einen neuen Massenanhang.

Heute stehen diese Parteien der proletarischen Revolution, der Emanzipation der Arbeiterklasse und der Diktatur des Proletariats, die sich auf Sowjets stützt, feindlich gegenüber. Trotz des gestohlenen Banners des Kommunismus bleiben sie dem Ziel des Kommunismus, d.h. einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft, feindlich gesinnt. Als solche sind sie kein Gegenstück zur Sozialdemokratie, sondern deren Zwilling, der mit ihr die Ideologie des Sozialpatriotismus und des Reformismus teilt. Die Loyalität der stalinistischen Parteien gegenüber ihren eigenen Bourgeoisien kann aufgrund der Unterstützung, die sie der Bürokratie der degenerierten Arbeiterstaaten geben und die sie von dieser erhalten, nicht so vollkommen sein wie die der Sozialdemokraten. Trotz der fortgeschrittenen Tendenzen in Richtung „Sozialdemokratisierung“, die gewisse Parteien vorweisen, können sie sich nicht einfach ohne Bruch in eine Sozialdemokratie verwandeln. Sogar dort, wo die stalinistischen Parteien ihre sozialdemokratischen Rivalen als dominierende Kraft der Arbeiterklasse praktisch in den Schatten gestellt haben und sie eine politische Praxis verfolgen, die im wesentlichen der der Sozialdemokraten anderer Länder gleicht, unterscheiden sie verschiedene Herkunft, Struktur und Tradition sowohl in den Augen der Arbeiterklasse als auch in denen der Bourgeoisie.

Dennoch ist die Unterscheidung zwischen Sozialdemokratie und Stalinismus eine Unterscheidung innerhalb des Reformismus. Von beiden ist es unvorstellbar, daß sie sich ohne interne Spaltungen in rein bürgerliche Parteien verwandeln, bloß weil sie ideologisch die programmatische Verpflichtung auf „gesellschaftliches Eigentum“ oder die „proletarische Diktatur“ aufgegeben haben. Dazu wäre ein Bruch mit ihren organischen Verbindungen mit dem Proletariat notwendig. Sogar der Faschismus konnte den sozialdemokratischen und den stalinistischen Reformismus nicht vollständig ausrotten. Deren Existenz kann nur dann beendet werden, wenn Revolutionäre die politische Vorherrschaft in der Klasse gewonnen haben.

Sowohl die stalinistischen als auch die sozialdemokratischen Parteien sind Diener der bürgerlichen Weltordnung, doch sind sie beide in den Organisationen, die das Proletariat zum Kampf für seine Klasseninteressen geschaffen hat, verwurzelt. Beide werden sie von einer privilegierten Bürokratie dominiert, die der imperialistischen Bourgeoisie dient. Die grundlegenden Wurzeln der Sozialdemokratie liegen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, die historischen Wurzeln des Stalinismus aber in der bürokratischen Degeneration der Sowjetunion und daher in nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnissen. Doch ist der Stalinismus um nichts weniger Diener der Bourgeoisie als die Sozialdemokratie. Durch seine politische Diktatur, die er in der Sowjetunion und den anderen degenerierten Arbeiterstaaten ausübt, blockiert er das Fortschreiten zum Sozialismus und diskreditiert gerade das Ziel einer klassenlosen, staatenlosen Gesellschaft – den Kommunismus. Durch die Verbreitung von Chauvinismus und Klassenkollaboration hemmt er die Internationalisierung der Revolution. Objektiv fördert er das Potential für kapitalistische Restauration in den Arbeiterstaaten, und in einer entscheidenden Krise wird er aus seinen oberen Kreisen die Kader für die gesellschaftliche Konterrevolution stellen.

Der widersprüchliche Charakter, den Stalinismus und Sozialdemokratie teilen, kann am besten durch ihre Charakterisierung als bürgerliche Arbeiterparteien zusammengefaßt werden. Keine von beiden ist qualitativ besser oder schlechter. Dabei muß eines klar sein: Die Tatsache, daß eine Partei eine sozialdemokratische oder stalinistische Ideologie besitzt, beweist für sich nicht, daß sie eine bürgerliche Arbeiterpartei ist. Eine bedeutende Anzahl von Parteien in der Sozialistischen Internationale sind bürgerlich-nationalistische Parteien ohne irgendwelche entscheidenden organischen Verbindungen zu ihrem eigenen Proletariat. Andererseits gibt es stalinistische Parteien, deren soziale Basis die Bauernschaft oder das städtische oder ländliche Kleinbürgertum ist. Doch als weltweite Strömungen behalten beide den Charakter von bürgerlichen Arbeiterparteien.

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelten sich in gewissen Ländern revolutionäre Kämpfe (z.B. in Italien, am Balkan und in Frankreich). Doch die vereinten Kräfte von Sozialdemokratie und Stalinismus zerstreuten entschieden den spontanen Willen der Massen, mit ihren diskreditierten Bourgeoisien die Rechnungen zu begleichen. Nachdem die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien ihre Rolle als Agenten der demokratischen Konterrevolution gespielt hatten, wurden sie von den Kapitalisten beiseite gestoßen, die dann, wo immer dies möglich war, in den blühenden Wirtschaften der 1950er und 60er Jahre offen bürgerliche Parteien ans Ruder brachten.

In den imperialistischen Kernländern leiteten die späten 1960er Jahre eine neue Periode heftigen Klassenkampfes ein, der beständig von unten durch eine selbstbewußte und gut organisierte Arbeiterklasse begann. In ganz Europa bemühten sich die stalinistischen und sozialdemokratischen Führer und ihre Verbündeten in den Gewerkschaften erfolgreich, diese Kämpfe zu zügeln und in den Grenzen der Legalität und der offiziellen Organisationen zu halten. In Frankreich, Portugal und Spanien wurde dem Stalinismus und der Sozialdemokratie Gelegenheit gegeben, ihre konterrevolutionäre Loyalität gegenüber dem Kapitalismus einmal mehr zu demonstrieren. Durch schwere Niederlagen in vielen Ländern Westeuropas bis Mitte der 1970er Jahre wurde die europäische Arbeiterbewegung zurückgeworfen und für die nächste Periode ruhiggestellt.

Am Anfang der zweiten großen Krise, der von 1979 bis 1982, hatten die bestehenden Führungen den Widerstand der Arbeiterklasse bereits erfolgreich demobilisiert und das Proletariat der imperialistischen Länder für ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Sparpolitik (der Austerity-Programme), der Anti-Gewerkschaftsgesetze und der Angriffe auf demokratische Rechte geöffnet. In der Regierung waren die Verräter nur zu glücklich, diese Angriffe zu initiieren und anzuführen. So nimmt in den 1980ern in den imperialistischen Kernländern die Führungskrise die Form der Unfähigkeit der Arbeiterklasse an, mit ihren eigenen bestehenden Parteien, Gewerkschaften und Strategien gegen die Attacken von Wirtschaftsliberalen a‘ la Thatcher und Reagan erfolgreichen Widerstand zu leisten.

Indem sich die keynesianische, sozial-liberale Sozialstaatlichkeit, mit ihrer „gemischten Wirtschaft“ und der Staatsintervention in die Wirtschaft diskreditiert hat, werden die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in eine ideologische und politische Krise gestürzt. Die Bourgeoisie will deren altes Programm nicht, und gleichzeitig ist dieses Programm für die Bedürfnisse der von Austerität und Arbeitslosigkeit getroffenen Arbeiterklasse denkbar unzureichend. Die Gewerkschaftsbürokratie kann keinen effektiven Widerstand gegen die Angriffe organisieren. Die zentristischen Kräfte der 70er Jahre sind geschrumpft und demoralisiert. Dennoch hat die Arbeiterklasse gegen ihre Feinde zurückgeschlagen. Massive und erbitterte Arbeiterkämpfe haben die 80er Jahre gekennzeichnet, doch in keinem Fall gelang es, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Nur mit einer neuen Führung und einem neuen Programm kann die chronische Krise in der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Kernländern gelöst werden.

In den degenerierten Arbeiterstaaten hat es die stalinistische Bürokratie geschafft, gerade die Idee des Sozialismus und des Kommunismus in den Augen der Arbeiterklasse zu diskreditieren. Den herrschenden Kasten gelang es nicht, ihre Rolle in diesen Gesellschaften zu legitimieren, sie haben versagt, den grundlegenden Einwand bezüglich ihrer eigenen Existenz zu entkräften: sie sind für das System der geplanten Eigentumsverhältnisse unnötig – und stellen tatsächlich eine Belastung für das System dar.

In den Nachkriegsjahrzehnten hat diese Kaste versucht, ihre Herrschaft durch ein Schwanken zwischen Marktexperimenten (um die Stagnation zu überwinden) und einer Straffung des bürokratischen Kommandos in der Wirtschaft abzusichern. Diese Erfahrung hat zu einem Fraktionskampf in den Bürokratien und sogar zu politischen Möglichkeiten für eine Opposition von unten geführt.

Die Arbeiterklasse der degenerierten Arbeiterstaaten hat sich wiederholt als die entschiedenste Kraft in dieser Opposition erwiesen. Mehr als einmal hat sie gegen bürokratische Privilegien und politische Unterdrückung gekämpft. In der Nachkriegszeit hat dieser Kampf die Arbeiter und Arbeiterinnen fast zur proletarischen politischen Revolution geführt. Dies hat sich durch die Schaffung von Sowjets (Ungarn 1956) und von Vorformen von Arbeiterräten (wie den fabrikübergreifenden Komitees in Polen 1980 und China 1989) gezeigt.

Doch in Abwesenheit einer politisch-revolutionären Strategie wurden die Arbeiter und Arbeiterinnen in jeder wesentlichen politisch-revolutionären Krise geschlagen. Ihre spontanen Kämpfe haben Vorstellungen hervorgerufen, die sowohl dazu dienten, die Macht der Bürokratie zu erhalten, als auch – unter bestimmten Bedingungen – die Kräfte der kapitalistischen Restauration zu stärken.

1956 führten in Ungarn und Polen falsche Hoffnungen in einen Teil der Bürokratie die Arbeiterklassen schließlich in die Niederlage. Syndikalismus und bloßes Gewerkschaftsdenken, wie bei Solidarnosc in Polen, führten den Kampf weg vom Ziel der politischen Macht und leiteten ihn um in einen utopischen Kampf für unabhängige Gewerkschaften, die gemeinsam mit bürokratischer Herrschaft existieren. Sogar der linke Flügel von Solidarnosc verbreitete die Illusion, daß selbstverwaltete Betriebe und nicht Arbeiterverwaltung über die zentralisierten Planmechanismen die Krise der Kommandowirtschaft überwinden könnte.

In der UdSSR stärkt der Nationalismus die Kräfte der bürgerlichen und klerikalen Restauration. In Osteuropa und China ersehnen sich die Arbeiter und Arbeiterinnen parlamentarische Demokratie – ein Gefühl, das aus der Erfahrung mit einer erdrückenden Autokratie ersteht. Das blutige Massaker an den mutigen Kräften der chinesischen „Demokratiebewegung“ durch die Tyrannen der Chinesischen Kommunistischen Partei führte lediglich zur Stärkung der bürgerlich-demokratischen Strömung in der Oppositionsbewegung.

Doch diese Hoffnungen in „Demokratie“, entleert von ihrem proletarischen Klasseninhalt, sind ein grausamer Betrug, der vom Imperialismus gefördert wird, um das Übergehen der Massen dieser Länder in das Lager der kapitalistischen Ausbeutung zu erleichtern. Ohne eine revolutionäre Führung und ein revolutionäres Programm wird das Zerbrechen des Stalinismus in seinen Kernländern nur für eine herrschende Minderheit in diesen Staaten von Nutzen sein. Im Gegensatz dazu wird eine Mehrheit der multinationalen Konzerne in den imperialistischen Ländern einen Aufschwung erleben.

Ohne eine revolutionäre Führung können die Möglichkeiten für eine politische Revolution, die in den Ereignissen von Ungarn 1956 und China 1989 beinhaltet waren, nicht verwirklicht werden. Ohne eine solche Führung werden die herrschenden stalinistischen Parteien weiterhin entweder die Handlanger der kapitalistischen Restauration oder die Vorboten einer militärisch-bürokratischen Vergeltung sein.

Stalinismus versus permanente Revolution

Der konterrevolutionäre Charakter des Stalinismus zeigt sich auch in seiner gewalttätigen Opposition gegen die Perspektive und das Programm der permanenten Revolution in den Halbkolonien und überall dort, wo bürgerlich-demokratische Fragen eine revolutionäre Bedeutung erlangen. Die Sozialdemokratie ist in den Halbkolonien weniger ausdauernd. In diesen Ländern ist die Arbeiteraristokratie und die Gewerkschaftsbürokratie aufgrund des unterentwickelten Charakters des Kapitalismus weniger fest etabliert. Auch hat der noch feigere Legalismus und Parlamentarismus der Sozialdemokratie dazu geführt, daß sie vollständiger als der Stalinismus verschwindet, wenn Demokratie und Parlament selbst Opfer von Bonapartismus und Diktatur werden.

Von Indonesien über Chile bis zu Südafrika heute hat der Stalinismus an der Perspektive einer demokratischen Etappe, die den Kampf um die Arbeitermacht ausschließt, jedoch alle möglichen bürgerlichen, kleinbürgerlichen, klerikalen und militärisch-bonapartistischen Verbündeten einschließt, festgehalten. Diese Volksfrontstrategie, die die demokratische Konterrevolution nach 1945 einleitete, hat seither zu blutigen und entscheidenden Niederlagen in revolutionären Schlüsselsituationen geführt.

Die Kommunistische Partei in Indonesien, die größte stalinistische Partei der kapitalistischen Welt, trat in die linksnationalistische Regierung von Sukarno 1965 ein und behauptete, daß sie an der Spitze eines „Volksstaates“ stünde. Unbewaffnet und nicht gewarnt durch ihre Führer wurden die Massen der PKI durch das Militär dahingemetzelt. Dieses Desaster ist direkt vergleichbar mit den Ereignissen in China 1927 und Deutschland 1933.

In Chile führten der Stalinismus und die sozialdemokratische Sozialistische Partei die Arbeiter und armen Bauern ins Unglück. Die Regierung Allende, die 1970 installiert wurde, war eine Volksfront, deren Programm auf bestimmte Reformen beschränkt war. Von Beginn an lehnte Allende die Bewaffnung der Arbeiter und Arbeiterinnen ab und garantierte dem reaktionären Oberkommando ein Monopol über die Armee. Dennoch führte die spontane Militanz der Arbeiterklasse zur Schaffung von „cordones industrial“, Vorformen von Sowjets, und sogar von schlecht bewaffneten Milizen. Sie führte zur Forderung nach Enteignung, gegen die sich Allende entschieden stellte. Die ökonomische Krise und Sabotage schafften das Klima für einen Staatsstreich durch Pinochet im September 1973, der Tausende in den Tod, die Folter oder die Gefangenschaft führte und Hunderttausende zur Flucht aus dem Land zwang.

Im Iran nahm die stalinistische Tudeh Partei am Sturz des Schahs durch die Massen teil, nur um danach die Durchsetzung von Khomeinis Islamischer Republik zu unterstützen. Im Namen der revolutionären Loyalität stand Tudeh der islamischen Reaktion beim Niedermetzeln der Arbeitermassen, der Linken und der kurdischen Rebellen bei. Im Gegenzug dafür entfesselte Khomeini seinen repressiven Apparat gegen Tudeh selbst.

Als führende Kraft im African National Congress (ANC) verschwendete die Südafrikanische Kommunistische Partei eine revolutionäre Gelegenheit durch ihre Politik, die Revolten in den Townships zur Erreichung von Verhandlungen mit dem „aufgeklärten“ Flügel des südafrikanischen Imperialismus zu verwenden. Nun zieht sie sich im Interesse der „weltweiten Stabilität“, die der Kreml anstrebt, von allen Formen der revolutionären Aktivität zurück.

Der Bankrott des Stalinismus und der Sozialdemokratie hat das Leben des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus in weiten Teilen der halbkolonialen Arbeiterklasse verlängert. Trotz ihrer gelegentlichen Fähigkeit, radikaler zu sprechen und zu handeln als die Arbeiterparteien, bleiben die nationalistischen Massenbewegungen und -parteien unfähig, die Misere der Arbeiter und Bauern zu lösen. Garcias APRA in Peru, die mexikanische PRI, die FSLN in Nicaragua, die PLO in Palästina und Sinn Fein in Irland bleiben alle strategisch an den Kapitalismus gebunden. Ihre Widerstandsaktionen werden nur so lange durchgeführt, als die Arbeiterklasse als unabhängige Kraft vom Kampf fern bleibt. Einmal herausgefordert durch die ausgeprägten Forderungen der Ausgebeuteten, werden diese „Antiimperialisten“ zu getreuen Verteidigern des Imperialismus.

Sofern nicht eine revolutionäre Partei all diese Kräfte aus der Führung der Arbeiterklasse hinauswerfen kann, drohen sie, ihre Fehler in den mächtigen Klassenkämpfen, die vor uns liegen, zu wiederholen. Um dies zu verhindern, ist es entscheidend, daß sich die bewußte Avantgarde der Arbeiter und armen Bauern in dem Zeitraum, der vom zwanzigsten Jahrhundert noch übrig bleibt, weltweit um ein internationales Übergangsprogramm neugruppiert.




Gegen die kapitalistische Restauration! Für die proletarische politische Revolution!

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 5, Neufassung angenommen am 3. Kongress der LRKI, Sommer 1994

Trotz der schon fast ein halbes Jahrhundert alten Rivalität zwischen UdSSR und USA fungierte die Sowjetunion als eine der beiden Zentralsäulen der imperialistischen Weltordnung.

Von 1945 bis 1991 haben sich der Kreml, seine Satelliten und tatsächlich auch seine stalinistischen Nebenbuhler als Agenten zur Verhinderung und Ablenkung der Entwicklung einer weltrevolutionären Woge betätigt, die in der Lage gewesen wäre, den Imperialismus zu isolieren und schließlich zu besiegen. Die begrenzten Kriege mit dem Imperialismus in Korea und Vietnam, die logistische Unterstützung für verschiedene nationale Befreiungskämpfe durch stalinistische Staaten und insbesondere der Sturz des Kapitalismus von China bis Kuba durch stalinistische Parteien verbargen die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus vor Millionen Menschen. Heute erscheint der Zusammenbruch der UdSSR vielen, die weltweit gegen Imperialismus und Kapitalismus kämpfen, als eine absolute Katastrophe.

Der Kollaps der UdSSR und anderer degenerierter Arbeiterstaaten stellt einen enormen materiellen und moralischen Sieg für den Imperialismus dar. Aber der Sieg ist voller Widersprüche. Ihm wohnt nicht nur die Fast-Vernichtung der historischen ökonomischen Errungenschaft der Oktoberrevolution inne, sondern auch die Zerstörung einer konterrevolutionären Agentur des Imperialismus in den Bewegungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten auf dem Erdball. Die konterrevolutionären Konsequenzen des imperialistischen Sieges sind unmittelbar und augenfällig. Im kommenden Jahrzehnt aber wird er sich gnadenlos als Pyrrhussieg erweisen. Die Krise, die wir gerade im Prozeß der Restauration des Kapitalismus erfahren, trägt stark zur Vertiefung der allgemeinen Krisenperiode bei, die das Ende des 20.Jahrhunderts charakterisiert.

Nach 1945 stieg das Ansehen des Kreml durch seinen Sieg über den deutschen Imperialismus und seine darauffolgende territoriale Ausweitung nach Ost- und Zentraleuropa enorm an. Die wesentliche Rolle der Planwirtschaft – einer Schlüsselerrungenschaft der Oktoberrevolution – beim Erringen des Sieges der UdSSR als auch beim Überleben und Wiederaufbau nach dem Krieg waren die materiellen Vorbedingungen für die Schaffung einer Reihe von neuen degenerierten Arbeiterstaaten, von politischen und ökonomischen Abbildern der Sowjetunion. Die bloße Existenz der UdSSR und die Verteidigungsmanöver der stalinistischen Bürokratie gegen den Imperialismus in der ersten Periode des Kalten Krieges führten zur Niederlage und zum Sturz einer Reihe von geschwächten Kapitalistenklassen in Osteuropa und später in der kolonialen und halbkolonialen Welt.

Dieser Sturz des Kapitalismus wurde entweder herbeigeführt durch die Agentur der Sowjet-Streitkräfte oder durch stalinistische Parteien bzw. Guerrillatruppen unter ihrer Führung. Im Fall Kubas assimilierte sich eine kleinbürgerlich nationalistische Bewegung an den Stalinismus und verwandelte die Insel in einen degenerierten Arbeiterstaat. Unter stalinistischer Kontrolle führten diese Siege über den Kapitalismus nicht in einer internationalen Ausbreitung der proletarischen Revolution, sondern vielmehr zur Etablierung eines relativ stabilen Kräftegleichgewichts zwischen UdSSR und Imperialismus. Die stalinistischen Parteien waren der Garant dafür, daß alle Elemente unabhängiger Arbeiterklassenorganisierung noch vor der Zerstörung des Kapitalismus liquidiert wurden. Für das Weltproletariat waren die Konsequenzen der sozialen Umbrüche im gesamten konterrevolutionär.

Tempo und Umstände dieser bürokratischen gesellschaftlichen Umwälzungen variierten notwendigerweise, doch trugen sie eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen: Jedesmal kamen stalinistische Parteien oder proto-stalinistische nationale Befreiungsbewegungen an die Führung mächtiger Streitkräfte im Kampf gegen Faschismus und Imperialismus. Die Waffenträger des bürgerlichen Staates wurden besiegt und durch die stalinistischen Kräfte aufgelöst. Die Bourgeoisie wurde ihrer politischen Macht völlig oder größtenteils beraubt.

Nach der Machtübernahme schritten die Stalinisten zur Zerschlagung aller unabhängiger Arbeiterorganisationen und verhinderten die Bildung von gesunden Arbeiterstaaten, die auf Arbeiterdemokratie fußen. Damit sicherten sie die Etablierung politischer Regimes, die mit der bürokratischen Tyrannei Stalins in der UdSSR ident waren.

Trotz weitreichender Nationalisierungen der Industrie und Enteignungen des halbfeudalen Grundbesitzes fand ursprünglich keine systematische Enteignung der gesamten Bourgeoisie statt. Getreu ihrem konterre volutionären Etappenprogramm hegten die Stalinisten ursprünglich nicht die Absicht, den Kapitalismus zu stürzen, sondern gedachten ihn über die offene oder versteckte Volksfront – einem Bündnis mit der nationalen oder lokalen Bourgeoisie – und durch den Versuch, Bündnisse mit den imperialistischen Mächten aufrecht zu halten. Die ‚Volksdemokratien‘ waren keineswegs als ’sozialistische‘ Staaten angelegt.

Während dieser Phase verhinderten die Stalinisten aktiv jeden Versuch der Arbeiterklasse selbst, der tatsächlich daniederliegenden Bourgeoisie die Macht zu entreißen. In Osteuropa liquidierten die sowjetischen Besatzungsbehörden systematisch die revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse und wirklich alle unabhängigen politischen Parteien, Gewerkschaften Fabrikkomitees oder sowjetähnlichen Organe. Sie verteidigten die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und versuchten sie andererseits durch Nationalisierungen, gemischte Unternehmen usw. für den Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft auszunützen.

Die Armee des bürgerlichen Staates wurde von den stalinistischen Kräften besiegt und zerschlagen. Dennoch waren die Folgestaaten ursprünglich keine Arbeiterstaaten. Es lag in der Absicht des Stalinismus, weiter die Existenz des Kapitalismus zu bewahren und das taten sie auch. Stalins Ziel war die absolute Unterordnung dieser Staaten unter die UdSSR und sie als Pufferzone oder eine Art Verteidigungsglacis zu verwenden. Die stalinistische Bürokratie führte vorbeugend eine bürokratische Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft durch und erstickte die heraufziehende revolutionäre Situation, die der Zusammenbruch der Nazi-Macht schuf. Hierbei konnten sich die Stalinisten der aktiven Assistenz der einheimischen Bourgeoisie und der imperialistischen Mächte gewiß sein. Auf die Art etablierte sich eine Form von Doppelmacht, wobei der bewaffnete Arm der Stalinisten die der Bourgeoisie ersetzte.

Diese Situation war nicht von langer Dauer und konnte es auch nicht sein. Die Brechung der revolutionären Nachkriegswelle und die Zerschlagung jeglicher unabhängiger proletarischer Klassenkräfte durch die Stalinisten mußte den Imperialismus und die verbliebenen bürgerlichen Kräfte in Osteuropa zur neuerlichen Offensive ermuntern. Der fortwährende Druck der stalinistischen Verbände auf dem Balkan (ohne Stalins Billigung) und die Unfähigkeit des britischen Imperialismus, sie ohne Beistand zu bekämpfen, lieferte der neuen US-Administration einen Vorwand für eine ökonomische und militärische Kampagne zur Stärkung der bürgerlichen Staaten des Kontinents.

Truman setzte den Marshall-Plan als Zuckerbrot und die Rückkehr großer US-Truppenteile als Peitsche ein, um jeden weiteren Erfolg der Stalinisten zu verhindern und eine Gegenoffensive in Mittel- und Osteuropa zu begünstigen. Aber die ersten Versuche der lokalen bürgerlichen Kräfte Osteuropas, die Widersprüche von Doppelmacht und Volksfrontregierungen zu nutzen, um Druck auf die Stalinisten zu machen, die Marshall-Hilfe anzunehmen oder ihren Zugriff auf die Armee zu lockern, rief einen Defensivreflex hervor, der sich fatal auf das Schicksal des Kapitalismus in Osteuropa auswirkte.

Nun nutzten die Stalinisten ihre Kontrolle über den staatlichen Unterdrückungsapparat und beseitigten die Gefahr von Imperialismus und dessen einheimischen bürgerlichen Agenten. Sie warfen die bürgerlichen Vertreter aus der Regierung und enteigneten die ganze Kapitalistenklasse. Die stalinistischenÜbergangsregierungen, die die bürokratischen Gesellschaftsumwandlungen dürchführten, können am besten als „bürokratisch-antikapitalistische“ Varianten der „Arbeiterregierung“-Kategorie bezeichtnet werden, wie sie von der Komintern beschrieben wurden. Durch eine Anzahl bürokratischer und militärischer Maßnahmen wurde das kapitalistische System entwurzelt. Industrie und Land wurden nationalisiert und ein System bürokratischer Befehlsplanung nach dem Vorbild der UdSSR wurde eingeführt.

Diese bürokratische Umwälzung zerstörte den Kapitalismus, mündete aber nicht in der Schaffung eines gesunden Arbeiterstaates, weil die Arbeiterklasse als unabhängige und bewußte Kraft von der Revolution der Eigentumsverhältnisse ausgeschlossen wurde. Für wirklich revolutionäre Kommunisten (Trotzkisten) sind das Bewußtsein, die Kampfkraft und die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse selbst entscheidend für die Durchführung der echten proletarischen Revolutionen. Hätte es die Möglichkeit gegeben, so wären begrenzte Einheitsfronten der revolutionären proletarischen Kräfte mit den stalinistischen Parteien und Regimen im Verlauf der bürokratischen Revolutionen erlaubt gewesen. Doch das strategische Ziel von Trotzkisten hätte die Brechung der stalinistischen Kontrolle über die Zerstörung des Kapitalismus, der Kampf für echte Organe der Arbeiterdemokratie und die Erzwingung des Abzugs der Roten Armee aus Osteuropa sein müssen. Nur so hätte der Weg zum sozialistischen Übergang geöffnet werden können, anstatt von Beginn an blockiert zu sein.

Die bürokratische Sozialrevolution war trotz der Enteignung der Produktionsmittel der Bourgeoisie in der Essenz ein konterrevolutionärer Akt. Sie spielte sich gegen den Rhythmus und Strom des Klassenkampfs ab. Sie konnte nur stattfinden, weil Arbeiterklasse und Bourgeoisie zuvor entwaffnet worden waren und die Staatsgewalt in Händen der Stalinisten lag. Nichtsdestotrotz bedeutete die Enteignung der gesamten Kapitalistenklasse und die Unterdrückung der Wirkweise des Wertgesetzes, daß der Staat proletarische Eigentumsverhältnisse verteidigte, obschon von einer totalitären Bürokratie kontrolliert. So waren diese Staaten wie die UdSSR, von deren Agenten sie direkt oder indirekt geschaffen worden waren, degenerierte Arbeiterstaaten. Im Gegensatz zur UdSSR waren sie nie gesunde Arbeiterstaaten, gestützt auf die Macht von Arbeiterräten. Sie hatten keinen Degenerationsprozeß aus einem einstmals gesunden Arbeiterstaat durchlaufen – sie waren von Beginn an degeneriert.

Während der Etablierungsphase dieser Staaten verhinderten die stalinistischen Regierungen unabhängige Arbeitermobilisierungen. Diese hätten den Schwung des Siegs über die Bourgeoisie ausnützen können, um die politische Diktatur und die schmarotzerhaften Privilegien der Stalinisten anzugreifen und damit eine politisch revolutionäre Krise heraufzubeschwören, in der die Staatsmacht der Arbeiterräte als Alternative zur totalitären Diktatur aufgeworfen worden wäre. Die Umstürze wurden von den stalinistischen Kräften durchgeführt als Schutzreaktion gegen den Imperialismus und als vorbeugende Maßnahme gegen eine proletarische soziale Revolution. So gesehen waren die bürokratischen sozialen Umwälzungen zugleich politische Konterrevolutionen gegen das Proletariat. Ihr Ergebnis war die Blockade des Übergangs zum Sozialismus, der Versuch, die reaktionäre Utopie vom ‚Sozialismus in einem Land‘ anstelle einer internationalen Revolution zu verwirklichen. Dies war konterrevolutionär vom Standpunkt der historischen und strategischen Ziele des Proletariats.

In Kuba spielte die Bewegung des 26.Juli um die Caudillofigur F. Castro die Schlüsselrolle in einem im wesentlichen ähnlichen, bürokratischen Sturz des Kapitalismus. Sie war eine Volksfront mit bürgerlich nationalistischem und linksstalinistischem Flügel. Auf dem Weg zur Macht und im ersten Regierungsstadium blieben ihre allgemeine Taktik und Programm die eines kleinbürgerlich revolutionären Nationalismus. Die unerbitterliche Feindschaft der USA gegenüber ihrem Sieg und ihren Angriffen auf US-Investitionen in Kuba leiteten Mitte 1960 eine Gegenoffensive der kubanischen Bourgeoisie ein. Dies zwang Castro an die Seite der Linksstalinisten in der Bewegung, zum Versuch, sich mit der kubanischen kommunistischen Partei zu verbünden und später zu verschmelzen und massive Wirtschafts- und Militärhilfe von der Kremlbürokratie zu erhalten. Diese unterstützte die Entwicklung aus ihren eigenen militärstrategischen Erwägungen (Stationierung von Nuklearraketen) als auch um ihren ideologischen Einfluß in der Dritten Welt auszudehnen. Von Mitte 1960 bis Anfang 1962 enteignete eine bürokratisch-antikapitalistische Arbeiterregierung die einheimisch-kubanische Bourgeoisie und die imperialistischen Liegenschaften, institutionalisierte einen bürokratischen Plan und errichtete einen degenerierten Arbeiterstaat.

Obwohl die degenerierten Arbeiterstaaten den konterrevolutionären Charakter der UdSSR tragen, sind sie nicht in gleicher Weise entstanden. In der UdSSR wuchsen die anfänglichen bürokratischen Deformationen in einem gesunden Arbeiterstaat, bis ein qualitativer Sprung, der Sowjet-Thermidor (politische Konterrevolution), den Staat in einen degenerierten Arbeiterstaat umwandelte. Die anderen Staaten wurden demgegenüber als Duplikate der UdSSR gebildet, sie waren von Beginn an degeneriert. Das Programm der politischen Revolution, wie es von trotzki als die einzige proletarische Strategie gegen die bürokratische Diktatur Stalins entwickelt worden war, war demzufolge auf diese Staaten schon seit ihrer Errichtung anwendbar. Wie in der UdSSR haben die Bürokratien dieser Staaten beständig und überall im Sinne einer Zurückhaltung und Ablenkung von antikapitalistischen und antiimperialistischen Kämpfen gehandelt. Ihr strategisches Ziel war die friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus.

Der Stalinismus engte die Planwirtschaft auf die jeweiligen Landesgrenzen ein. Er verhinderte aktiv die Ausbreitung der proletarischen Revolution auf wirtschaftlich entwickeltere Regionen. Er schnitt die Ökonomien der degenerierten Arbeiterstaaten von den Vorteilen eines Zugangs zur höchsten Konzentration an Produktionsmitteln und von der Integration in die internationale Arbeitsteilung ab. Das Außenhandelsmonopol gewährt einen unverzichtbaren Schutz für den Arbeiterstaat gegen Konkurrenz durch billigere kapitalistische Güter. Aber das Ziel dieses Monopols ist nicht, alle agrarischen und industriellen Sektoren innerhalb der Grenzen eines jeden Arbeiterstaats einzurichten, die es im Rest der Welt gibt. Dieser Weg erwies sich als utopisch (z.B. Nordkorea und Albanien) und führte zu unnötigen und unnützen Opfern, die von der Arbeiterklasse in diesen Ländern mit einer Planwirtschaft erbracht wurden. Nur die Ausbreitung der sozialen Revolution in die Metropolen des Weltkapitalismus wird einen entscheidenden Durchbruch zum Aufbau des Sozialismus und einer globalen Planwirtschaft bringen. Das beschränkte, nationalistische Programm des „Sozialismus in einem Land“ ließ die Entwicklung der Produktivkräfte zurückbleiben – zuerst relativ, doch schließlich absolut.

Gerade die Unterdrückung der Arbeiterdemokratie sorgte dafür, daß der Plan der stalinistischen Bürokratie schlecht informiert war und die Bedürfnisse der Gesellschaft und der tatsächlichen Wirtschaft ignorierte. Die bürokratische Planung erzielte in den ersten Jahrzehnten einige Erfolge, als sie v.a. eine Angelegenheit der industriellen Ausweitung war. Zunehmend aber überstiegen Innovation und ständige technologische Erneuerung die Fähigkeiten bürokratischer Planung. Die herrschende Kaste hatte den dynamischen Quell der Konkurrenz abgeschafft und war zugleich unfähig und nicht bereit, die unmittelbaren Produzenten mit ihrem schöpferischen Eigeninteresse am Planungsprozeß teilnehmen zu lassen. Das Ergebnis war ein unvermeidbarer Fall der Arbeitsproduktivität und ein weiteres verheerendes Zurückbleiben hinter dem imperialistischen Kapitalismus.

Die Bürokratien verstanden es, wirtschaftliche Ressourcen für den eigenen üppigen Konsumbedarf und zur Absicherung ihrer Tyrannei einzusetzen. Je weiter Produktions- und Verteilungssektoren von diesen Prioritäten entfernt waren, desto mehr wurden Mängel und schlechtere Warenqualität zur Norm. Der Militär- und Verteidigungssektor einschließlich des riesigen Polizeiapparates genossen absoluten Vorrang, was Ausgaben anbelangte, und arbeiteten relativ effizient. Aber betreffs der Konsumbedürfnisse der Massen erwiesen sich die bürokratischen Planmechanismen als unfähig, hochwertige und massenhafte Güter herzustellen, die Arbeit zuhause oder in der Produktion zu erleichtern oder zu verkürzen und das Ausmaß und die Qualität der Freizeit zu steigern. Nach erstaunlichen Anfangserfolgen in Erziehung und Wohlfahrt wurden selbst sie Opfer der Stagnation bürokratischer Planung. Die Erfahrung von Versagen und Niedergang untergrub letztenendes national wie international selbst die Idee der ‚geplanten‘ Produktion im Bewußtsein der Arbeiterklasse. Die bürgerliche Propaganda konnte immer erfolgreicher die ‚Lehre‘ verbreiten, daß dies das notwendige Resultat aller Versuche, eine Wirtschaft zu planen, sei.

Aber die stalinistische Bürokratie war und ist kein Ausdruck der Planlogik selbst. Effektive Planung setzt die Kontrolle über die Produktion durch den zentralisierten und bewußten Willen der Produzenten selber voraus. Die Ziele der stalinistischen Kommandoplanung wurden durch einen winzigen Kern von Planern abgesteckt, die ihnen wiederum von einer bonapartistischen Clique von Spitzenbürokraten vorgeschrieben wurden. Die Wirkweise des Plans wurde wiederholt aus dem Gleichgewicht gebracht und unterbrochen durch rivalisierende Schichten von Partei und Wirtschaftsbürokratie. Die atomisierten und entfremdeten Arbeitskräfte, die weder über die Planziele entschieden noch sie verstanden, traten der Produktion zusehends mit Apathie entgegen. Eine chronische Stagnation steuerte in den 1980er Jahren auf eine kritische Lage zu und stürzte die herrschenden Bürokratien in immer tiefere politische Krisen.

Von Moskau bis Peking, von Belgrad bis Hanoi war die herrschende Kaste in einander befehdende Fraktionen gespalten. Alle Versuche, ihr System durch Beimengungen von ‚Marktelementen‘ und den sogenannten Marktsozialismus wiederzubeleben, waren zum Scheitern verurteilt; diese Maßnahmen zerrissen und desorganisierten den bürokratischen Plan, ohne ihn durch eine wirklich kapitalisische Ökonomie zu ersetzen, zunächst in Ungarn und Jugoslawien, am spektakulärsten dann unter Gorbatschow in der UdSSR. Die Zersetzung und der Zusammenbruch der Produktion, ein blühender Schwarzmarkt und Korruption, gigantische Budgetdefizite und Unternehmensbankrotte, aufgeschoben nur durch Hyperinflation, markieren die schreckliche und letzte Todesagonie der bürokratischen Planwirtschaft.

Für die Arbeiterklasse ist der Zweck der postkapitalistischen Eigentumsverhältnisse der Übergang zu einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Sie ermöglichen die Planung der Produktion nach menschlichen Bedürfnissen, das Ende von Unterdrückung und die fortschreitende Beseitigung von Ungleichheiten. Dies zu erreichen erfordert die aktive und bewußte Teilnahme der Arbeiter als Produzenten und Konsumenten. Planung erfordert die Souveränität der unmittelbaren Produzenten, die – erstmals in der Geschichte – ein eigenes unmittelbares Interesse sowohl an der Entwicklung der Produktivkräfte als auch an deren schöpferischer Anwendung haben.

Arbeiterstaaten müssen einen Weg zunehmender ökonomischer Integration und gemeinsamer Planung einschlagen, um von der internationalen Arbeitsteilung, die selbst für eine sozialistische Ökonomie notwendig ist, den effektivsten Gebrauch zu machen. Die stalinistischen Bürokratien waren nicht fähig, diese Vorteile zu nutzen. Der erste Schritt eines gesunden Arbeiterstaats in diese Richtung würde die Errichtung von gemeinsamen Planungseinrichtungen für wichtige Branchen und gemeinsame Pläne für eine Gruppe von Staaten verbunden mit einer gemeinsamen Währung. Ein solches System kann nur durch die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse selber, die ihre Ziele bewußt verfolgt, ins Werk gesetzt werden. Obwohl sich die bürokratische Planung überall im Todeskampf befindet, hat der Kapitalismus des ausgehenden 20.Jahrhunderts keine Fähhigkeit gezeigt, schnell einzuspringen und den Restaurationsprozeß zu finanzieren. Eine ausgedehnte Krisenperiode, in der das todgeweihte, seiner zentralen Schaltstelle beraubte Plansystem den endgültigen Triumph des Wertgesetzes behindert, eröffnet der Arbeiterklasse die Möglichkeit, die Illusionen in den Markt abzustreifen und das Programm des demokratischen Plans und der Rätedemokratie wiederzuentdecken.

Die stalinistischen Bürokratien sind historisch illegitime Kasten ohne Anrecht auf Privilegien. Von ihrer Entstehung an neigten sie zur Herausbildung von Fraktionen und Flügeln als Antwort auf den langfristigen Druck seitens des Imperialismus und der Arbeiterklasse. In UdSSR, Ungarn, Jugoslawien und China entwickelten sich Fraktionen, die allmählich dominanter wurden, und den Plan insgesamt demontieren und Preise, Löhne und Produktion durch ‚Marktmechanismen‘ bestimmen lassen wollten. Sie versuchten, den Soziallohn in Form der subventionierten Lebensmittel, Sozialdienste und Annehmlichkeiten, die den Arbeitern als Ergebnis der Beseitigung des Kapitalismus zugute kamen, abzuschaffen.

Diese Anwälte der Dezentralisierung, des freien Marktes und der Öffnung ihrer Ökonomien für die imperialistischen multinationalen Konzerne legten eine immer offener restaurationistische Haltung an den Tag und verzweifelten nicht nur an der bürokratischen Zentralplanung, sondern auch an der Fähigkeit ihrer Kaste, sich an der Macht zu halten.

Diese Fraktion war mit der Direktorenschicht eng verwoben und erhoffte sich eine Etablierung als direkte Agenten, wenn nicht gar Mitglieder einer neuen Kapitalistenklasse. Solche bewußten Restaurationisten waren, wie die Ereignisse in der UdSSR nach 1990-1991 zeigten, mit bemerkenswerter Geschwindigkeit imstande, ihr stalinistisches Hemd gegen sozialdemokratische, liberale, christdemokratische oder protofaschistische Farben einzutauschen.

In den späten 30er Jahren erwartete Trotzki, ein kleiner revolutionärer Kern würde aus den Reihen der Bürokratie kommen und sich mit der Arbeiterklasse in einer politischen Revolution verbünden. Er traute dieser Fraktion aber keine unabhängige geschweige denn führende Rolle in der Revolution zu. Fünfzig Jahre später in der Todeskrise des Stalinismus ist diese Fraktion nicht aufgetaucht; ihr Entstehen war und ist auch nicht zwingend.

1938 konnte Trotzki auf Ignaz Reiß verweisen, der 1937 vom KGB zur 4. Internationale gestoßen war. Für Trotzki repräsentierte Reiß einen solche Flügel der Bürokratie. Als anderes Extrem konnte er Fjodor Butenko als Repräsentanten des faschistisch-restaurationistischen Flügel der Bürokratie anführen, einen Sowjetdiplomaten bei der Botschaft in Rumänien, der 1938 zu Mussolini überlief. Trotzki sah bei der Mehrheit der Bürokratie unter Stalin den Versuch, durch immer wildere totalitäre Maßnahmen einer Zerschmetterung durch Restauration oder proletarische politische Revolution zu entgehen. Während sich Stalin seiner Einschätzung nach immer näher auf das restaurative Lager (in seiner faschistischen Form) zubewegte, schloß Trotzki nicht aus, daß Stalin und seine Fraktion einem offen restaurationistischen Angriff widerstehen könnten, Unter solchen Bedingungen sah Trotzki eine Notwendigkeit für revolutionäre Kommunisten, eine beschränkte militärische Einheitsfront zur Verteidigung der UdSSR zu bilden.

Die letztgenannte Perspektive erwies sich als richtig. Nach Trotzkis Ermordung wurde die defensive Einheitsfront zur Notwendigkeit, als der deutsche Inperialismus im Zweiten Weltkrieg in der UdSSR einmarschierte.

Durch den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wurde die Todesagonie des Stalinismus um 40 Jahre hinausgeschoben. Die fraktionellen Konstellationen in der Kremlbürokratie und den anderen Arbeiterstaaten änderten sich in dieser Periode von Grund auf.

Der Triumph der imperialistischen Demokratien im Krieg und die nach dem Krieg stattfindende, drei Jahrzehnte andauernde Ausdehnung der Produktivkräfte hauchte dem liberalen freien Marktkapitalismus neues Leben ein. Dies übte wiederum einen veränderten Druck auf die Bürokratien der UdSSR und der neuen degenerierten Arbeiterstaaten aus. Das Verstreichen vieler Jahre und die Zerstörung der revolutionären Generation 1917-1923, die revolutionäre Führungskrise und die Zerstörung von Trotzkis 4. Internatio nale Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre trugen zum Verschwinden der „Reiß-Fraktion“ bei. Nur eine teifgehende Entwicklung von unabhängigen Klassenorganisationen in einer revolutionären Krise und das Wiedererstehen einer bedeutenden internationalen revolutionären Kraft könnten zum Wiederauftauchen eines solchen Flügels in der Bürokratie führen, aber eine solche Entwicklung ist nicht, und war es auch für Trotzki nicht, ein wesentlicher Bestandteil von Perspektiven oder Programm der politischen Revolution.

Die mehrheitliche Fraktion der Bürokratie in der Todeskrise des Stalinismus nach 1985 wurde vom marktsozialistischen Flügel gestellt. Zur gleichen Zeit wurden offen restaurationistische Kräfte innerhalb und außerhalb der Bürokratie immer stärker. Gorbatschow, der Elemente des Bucharinismus wiederholte, strebte nicht die Restauration des Kapitalismus an. Vielmehr versuchte er am Beginn, die Marktmechanismen zu benutzen, um die Diktatur der Bürokratenkaste auf der Grundlage der nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse abzustützen. Aber seine Maßnahmen und die Allianz mit offen restaurationistischen Kräften zerbrachen letztenendes die bürokratische Diktatur und schuf eine Doppelmachtsituation mit der alten Bürokratie. In den letzten beiden Jahren war Gorbatschow gezwungen, sich immer mehr über die gespaltenen Lager zu erheben und einer schwachen Form von Bonapartismus Raum zu geben. Da er nur über ein utopisches, undurchführbares wirtschaftliches und politisches Programm verfügte, wand sich Gorbatschows Bonapartismus zwischen den beiden Lagern und verwendete die Stärke des einen Lagers, um den Druck des anderen aushalten zu können.

Schließlich begingen die Spitzen der KPdSU-Parteibürokratie und der inneren Sicherheit im August 1991 einen mißlungenen Putschversuch, um den Aufstieg der offen pro-imperialistischen und zur Auflösung der UdSSR bereiten Kompradorenkräfte unter Jelzin zu vereiteln. Der fehlgeschlagene Putsch enthüllte deutlich den Mangel an einer soliden sozialen Basis für die konservative Bürokratie in der Bevölkerung, aber ebenso einen mangelnden Glauben an die eigene Mission auf Seiten der Hardliner in der Bürokratie. Als Folge dieses Fehlschlags beerbte Jelzin die Gorbatschowsche Exekutiv- und Präsidialmaschinerie, stärkte deren Macht und benutzte sie im Dienst einer restaurativen Wirtschaftspolitik mit Blitzschocktherapie. Aber das Scheitern des Putschversuches und Jelzins Übernahme der Exekutive lösten die Doppelmacht zwischen den rivalisierenden Sektionen der Bürokratie nicht auf, sondern verschärften den Widerspruch nur und brachten die Fraktionen in direkten Konflikt miteinander ohne die Bremsung durch Gorbatschows Bonapartismus.

In den degenerierten Arbeiterstaaten Osteuropas wirkte die Gorbatschow-Politik nach 1985 wie ein Katalysator und beschleunigte die Entwicklungen in der Ökonomie und brachte die entscheidende Auseinandersetzung zwischen konservativen Bürokraten und bürgerlichen Restaurationisten immer näher. 1989 signalisierte Gorbatschow, daß die in Osteuropa stationierten, sowjetischen Streitkräfte die nationalen Bürokratien nicht vor heimischem Protest und Forderungen nach radikalen Reformen schützen würde. Der rasche Aufschwung der undifferenzierten „demokratischen“ Massenbewegungen stellte eine solide Grundlage für die demokratische Intelligenz und den Marktflügel der Bürokratie her – soziale Schichten, die in Osteuropa weit größer waren als in der UdSSR. 1989/1990 zerbröckelten der Parteiapparat, die Geheimpolizei und die Streitkräfte in ganz Osteuropa angesichts des Massenprotests. Zwischen 1989 und 1991 brachten Parlamentswahlen Regierungen an die Macht, die sich aus bürgerlichen Kräften oder Parteien, klassenübergreifenden Volksfrontregierungen oder Reformflügeln der stalinistischen Parteien (wie in Rumänien oder Bulgarien) zusammensetzten. Dieser Prozeß schloß die Lostrennung der baltischen Republiken von der UdSSR mit ein. Die einzige Ausnahme bildete Serbien. Im Gegensatz zu Rußland war die Doppelmacht und der Zerfall des staatlichen Überbaus nicht von langer Dauer. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lag der Grund für den sich länger hinziehenden Restaurationsprozeß ausschließlich in den objektiven ökonomischen Schwierigkeiten bei der Umwandlung der wesentlichen Produktionsmittel in Kapital.

In China hat Deng Xiaoping – im Gegensatz zu Gorbatschows Strategie, Umstrukturierung (Perestroika) mit Öffnung (Glasnost) und schließlich Demokratisierung zu verbinden – versucht, radikale Marktreformen mit entschiedener Verteidigung der Parteidiktatur zu verbinden und dabei zu blutiger Unterdrückung am Platz des himmlischen Friedens gegriffen. Die chinesische Bürokratie hat eine kurzfristige Chance für dieses Amalgam; Polizeidiktatur für die Arbeiter und die städtische Intelligenz einerseits, ein fast freier Markt für die Bauernschaft sowie enorme Zugeständnisse an den Kapitalismus in besonderen Wirtschaftszonen andererseits. Die historische Gegebenheit, die diese Chance hervorbrachte, ist die Riesengröße und das soziale Gewicht von Chinas Bauernschaft und ihre Rolle nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Kasernen. Deng hat einen fast völlige Marktwirtschaft gestattet, um das Land zu entwickeln. Seine Fraktion hat für eine begrenzte Zeit die passive oder sogar aktive Unterstützung der Bauern erkauft und dadurch den historischen Grundstein für den Bonapartismus gelegt. Aber die ganze Logik des raschen Wachstums der Marktkräfte im ländlichen China und in den Sonderzonen wird auf die chinesische Bürokratie Druck ausüben und sie entzweien. Wenn sie sich spaltet und gezwungen ist, ihren gegenseitigen Vernichtungskrieg auf der Straße auszutragen (wie in den 60er und 70er und dann wieder Ende der 80er Jahre), wird China vor der krassen Alternative soziale Konterrevolution oder proletarische politische Revolution stehen. Auch in China wird die revolutionäre Führung der entscheidende Faktor sein, der den Ausgang der Krise bestimmt.

Die Erfahrungen von China, Rußland und den anderen degenerierten Arbeiterstaaten bestätigen, daß nicht alle Befürworter von Schocktherapien und rascher Restauration, die aus der stalinistischen Bürokratie kamen, bürgerliche Demokraten oder Liberalisierer sind.

Ebenso wenig sind die meisten der autoritären bürokratischen Konservativen der Verteidigung der bürokratisch geplanten Eigentumsverhältnisse verbunden. In der UdSSR zum Beispiel hat sich der konservative Flügel der Bürokratie schnell zur großrussisch-chauvinistischen und antisemitischen Kraft gemausert und benutzt populistische und nationalistische Parolen, um die rückständigste Teile der Gesellschaft gegen die demokratischen Rechte der Arbeiter und unterdrückten Minderheiten aufzuwiegeln. Faschistische und vorfaschistische Gruppen mit direkten Verbindungen zum früheren KGB und zur Armee sind entstanden. Gruppen wie Naschi und Schirinowskis Liberal Demokratischen Partei lehnen die Zusammenarbeit mit dem westlichen Imperialismus ab, aber nur deshalb, weil ihr Programm auf die Restauration eines spezifisch russischen Imperialismus abzielt.

Die autoritärsten Elemente in der Bürokratie erkennen in solchem Proto-Faschismus ein Bollwerk gegen die Bedrohung einer proletarischen politischen Revolution und eine mögliche Alternative zur zukünftigen Beherrschung durch ausländisches Kapital. Das Wachstum von faschistischen und halb-faschistischen Kräften spiegelte sich am klarsten im Sieg von Schirinowski bei der Dumawahl vom Dezember 1993 wider. Die zukünftige Entwicklung des Faschismus hängt zum Teil vom Ausmaß der Belebung der Arbeiterbewegung in den kommenden Jahren ab. Wenn der Widerstand der Arbeiterklasse den ökonomischen und politischen Angriffen der Restaurationisten gewachsen ist, steigt die Gefahr einer faschistischen Massenbewegung, die diesen Widerstand zerschlagen könnte. Ein weiterer Faktor, der diese Entwicklung fördert wäre ein Anhalten der Schwäche der russischen embryonalen Bourgeoisie und eine fortdauernde Stagnation des Restaurationsprozesses selbst. Dies könnte jenen Flügel in der Bürokratie fördern, der einen staatskapitalistischen Weg zum Kapitalismus einschlagen will. Um sich eine Massenbasis zu verschaffen, könnten sich diese Kräfte einer Mobilisierung von lumpenproletarischen und kleinbürgerlichen Massen durch chauvinistischen und faschistische Parolen bedienen und sie zur Zerschlagung ihrer Rivalen in der Bürokratie und der Drohung einer Explosion von Widerstand der Arbeiterklasse zu verwenden.

Die restaurationistischen Regierungen erwarten alle Beistand vom Imperialismus. Aber dieser, obwohl er die endgültige und völlige Wiederherstellung des Kapitalismus in den degenerierten Arbeiterstaaten sehnlichst herbeiwünscht, besitzt einfach nicht die Ressourcen, eine rasche Umwandlung frei von revolutionären Krisen zu gewährleisten. Nur in einem Staat, der DDR, war eine solche rapide Restauration möglich, was die stärkste europäische imperialistische Macht gewaltig belastet. Trotz der Errichtung von restaurativen Regierungen gibt es eine ausgedehnte Periode, in dem das Programm der politischen Revolution mit einem antikapitalistischen, antirestaurationistischen Programm verbunden werden kann und muß.

Die verbliebenen Errungenschaften der Arbeiterstaaten müssen bis zum bitteren Ende verteidigt werden, wie schon Leo Trotzki sagte. Nur jene, die fähig sind, die alte Errungenschaften zu verteidigen, werden auch neue schaffen können. Nicht nur die Arbeiterklasse der degenerierten Arbeiterstaaten, sondern die der ganzen Welt wird unter deren völligen Zerstörung leiden. Global würde dies die Arbeiterklasse mindestens für einen bestimmten Zeitraum desorientieren und ideologisch entwaffnen. Außerdem verlieren die anti-imperialistischen Kämpfe der Halbkolonien einen wesentliche, wenn auch letztenendes unzureichende Quelle von Waffen- und Hilfsgüterlieferungen. Der unbeschränkte imperialistische Zugang zu Rohstoffen, billiger Arbeitskraft und Märkten der degenerierten Arbeiterstaaten könnte den Weg für eine neue, wenngleich beschränkte Expansionsperiode in der imperialistischen Epoche eröffnen. Dies könnte nichtsdestotrotz den innerimperialistischen Konkurrenzkampf weiter anheizen und eine Neuaufteilung der Welt beschleunigen. Dieser Prozeß wäre konfliktreich und würde das Gespenst von interimperialistischem Krieg und Revolution aufs Neue heraufbeschwören.

Während sich der bürokratische Plan auflöst. kann nur die proletarische politische Revolution die geplanten Eigentumsverhältnisse verteidigen, wiederherstellen und dann ausdehnen und hierdurch das Wiedererstarken des Imperialismus verhindern.

Das Weltproletariat muß seinen Geschwistern in den degenerierten Arbeiterstaaten Beistand leisten zur Verteidigung der verbliebenen geplanten Eigentumsverhältnisse. Das staatliche Außenhandelsmonopol, die Vergesellschaftung der Industrie und das Planprinzip müssen gegen innere Restauration und imperialistischen Angriff verteidigt werden. Mit diesen wirtschaftlichen Errungenschaften verteidigen wir die Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus, nicht die über sie herrschende Bürokratie.

Gegenwärtig verlassen sich die Imperialisten vornehmlich auf die ökonomischen Hebel für die Durchführung der Restauration des Kapitalismus. Aber jeder Halt, jede ernsthaft Umkehr des Vorgangs der sozialen Konterrevolution könnte zu einer direkten militärischen Intervention führen, um diese Restauration gegen den Widerstand der Arbeiterklasse zu vollenden. Das Weltproletariat muß weiterhin für die bedingungslose Verteidigung der degenerierten Arbeiterstaaten gegen den Imperialismus und seine Agenten eintreten. Deshalb sind wir gegen jede Einschränkung der militärischen Schlagkraft der degenerierten Arbeiterstaaten sowohl atomar wie konventionell, was diese Staaten militärisch oder diplomatisch erpreßbarer machen würde.

Für die Arbeiterklasse ist die beste Verteidigung der geplanten Eigentumsverhältnisse immer noch der Angriff auf die stalinistischen Bürokratien, die sie in den Ruin getrieben haben und dies noch weiter tun. Das Programm für die proletarische politische Revolution, ebenso wie das für den Kampf gegen den Imperialismus, ist keines für die bloße „Demokratisierung“ des existierenden Staates. Es darf auch nicht auf klassenunspezifische Forderungen nach „Volksmacht“ verkürzt werden, die nicht klarstellt, welche Klasse die Macht innehaben soll. Es ist ein Revolutionsprogramm, für die Errichtung einer vollen proletarischen Diktatur und gegen Bürokratie, restaurationistische „Demokraten“ und Imperialisten.

Für eine politische Revolution!

Das Wesen des Programms der politischen Revolution, gleich dem Programm der sozialen Revolution in den kapitalistischen Staaten, liegt in der Verbindung der stattfinden Kämpfe für die unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse mit dem Kampf um die politische Macht. Durch die Verzahnung der unnachgiebigen Verteidigung von Arbeiterinteressen mit den Taktiken der Massenmobilisierung, unabhängiger politischer Organisierung und der Installierung von Arbeiterkontrolle können Revolutionäre die Arbeiterklasse auf die Machtergreifung vorbereiten. In allen Kampfbahnen muß sich das Proletariat seiner besonderen Interessen und Identität bewußt werden, muß zur Klasse für sich werden.

Für unabhängige Organisierung am Arbeitsplatz!

Aufgrund des Wesens der degenerierten Arbeiterstaaten muß jede unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse unmittelbar mit der Macht der bürokratischen Staatsmaschine zusammenstoßen. Gleichgültig, welcher Grund für die Mobilisierung vorliegt, diese Kollision stellt die Arbeiterklasse vor die Notwendigkeit, das Recht auf Organisierung zu erringen. Unabhängige Klassenorganisation und -bewußtsein sind eine Vorbedingung für den Auftritt der Arbeiterinnen und Arbeiter als unabhängige Kraft in den breiten oppositionellen Massenbewegungen gegen den Stalinismus.

Die gesellschaftliche Macht des Proletariats ruht in der Produktion, und die Klasse muß hier organisiert werden. In jedem Betrieb müssen demokratische Massenversammlungen höchste Autorität erhalten. Auf diesen Versammlungen gewählte und abwählbare Arbeiterkomitees müssen sich für Arbeiterkontrolle in jeder betrieblichen Angelegenheit, einschließlich des Streikrechts und des Vetorechts gegen Direktoren- und staatliche Pläne engagieren.

Für freie Gewerkschaften!

Überbetrieblich braucht das Proletariat von den Stalinisten unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element bei seiner Organisation als Klasse. Gleich ob sich diese im Gefolge einer durchgreifenden Säuberung der bestehenden ‚Staats’gewerkschaften oder im Kampf neu formieren, sie müssen verantwortlich vor und kontrollierbar von ihren Mitgliedern sein. Alle Gewerkschaftsfunktionäre müssen gewählt und abwählbar sein, frei von der „führenden Rolle der Partei“, und müssen nach dem Durchschnittsverdienst ihrer Mitglieder entlohnt werden.

Von demokratischen Rechten zu einer wahren Arbeiterdemokratie

In den Auseinandersetzungen, die die Todeskrise des Stalinismus einleiteten, traten die Massen den Kampf gegen die Bürokratie hinter Forderungen nach zentralren demokratischen Rechten an. Die Aufgabe des Aufbaus der revolutionären Partei beinhaltet, die Arbeiterklasse zu drängen, an der Front dieses Kampfes zu stehen, ihn zu führen und revolutionäre und proletarische Organisationsformen zur Durchsetzung der Ziele zu benutzen. Die Arbeiter dürfen der Bürokratie oder einem Flügel davon in diesem Kampf nicht erlauben zu entscheiden, wer Nutznießer demokratischer Rechte sein darf und wer nicht. Die Bürokratie hat sich teilweise oder ganz als Hauptagent der Restauration erwiesen und scheidet auf jeden Fall als vertrauenswürdiger Wächter über die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus. Die Bürokratie ist nur so weitan demokratischen Zugeständnissen interessiert als sie selbst braucht, um Koalitionen mit anderen Kräften eingehen und eine neue Ausbeuterklasse werden zu können. Die Arbeiterklasse hat alles Interesse an der vollsten und revolutionärsten Ausweitung der demokratischen Rechte, um obiges Vorhaben zu vereiteln und um die Entfaltung ihres eigenen Klassenbewußtseins zu beschleunigen, d.h. um sie zum Erkennen von Freund und Feind zu befähigen.

Wo die Kommunistischen Parteien immer noch die Medien und die Wahlvorgänge monopolisieren, kämpfen wir dagegen an.

• Nieder mit den Zensurgesetzen der Bürokratie. Die Arbeiter selber sollen darüber entscheiden, was veröffentlicht und gesendet wird.

• Für den Zugang aller Arbeiterorganisationen zu Presse, Rundfunk und Fernsehen unter Arbeiterkontrolle. Die Arbeiter müssen faschistischer, pogromistischer und rassistischer Propaganda ihren eigenen Bann auferlegen. Genausowenig darf es Pressefreiheit oder Zugang zu den Medien für die prorestaurativen Kräfte geben, die den gewaltsamen Sturz des Arbeiterstaates vorbereiten.

• Alle Wahlkandidaten müssen eine Rechenlegung ihrer Wahlkampffinanzierung geben. Die Massen sollten ein Veto einlegen gegen Kandidaten, die heimlich Gelder vom Regime oder konterrevolutionären Agenturen wie CIA, den Kirchen oder reaktionären nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) erhalten.

• Jedes neue Gesetz, das der „reformistische“ Flügel der Bürokratie vorschlägt, muß in freier Aussprache von den Arbeitern diskutiert werden. Jedes Gesetz muß eine gewählte Arbeitergerichte in den Mittelpunkt der Rechtsmaschinerie stellen. Für die Freilassung aller politischen Gefangenen und Vorführung vor ein Arbeitergericht, das darüber entscheidet, was weiter mit ihnen zu geschehen hat.

• Für das Recht, Parteien zu gründen, außer für Faschisten, Pogromisten, Rassisten, jene Restaurationisten (auch jene, die aus der Nomenklatura stammen), die einen Bürgerkrieg organisieren wollen, und jene, denen aus anderen Gründen ein Verbot von der Arbeiterbewegung erteilt worden ist. Wir verteidigen diese Parteien nicht gegen die Verfolgung seitens konservativ stalinistischer Regimes oder bürgerlich restaurativer Regierungen. Aber gleichzeitig sprechen wir solchen Regierungen das Recht ab, darüber zu urteilen, wer konterrevolutionär ist und wer nicht. Nur eine revolutionäre Arbeiterregierung kann das tun. Die Arbeiter selber, nicht die Bürokratie, müssen entscheiden, welche Parteien sie als loyal zur eigenen Staatsmacht anerkennen.

• Wir treten für die Bloßstellung von arbeiterfeindlichen Programmen verwirrten oder versteckt restaurativer Parteien ein und dafür, ihnen durch politischen Kampf eine Massenbasis zu entziehen. Wir sollten für sorgsame Überwachung ihrer Aktivitäten und strenge Vorkehrungen gegen jeden Umsturzversuch wider die proletarische Diktatur eintreten. Für das Recht jeder Gruppe von Arbeitern und Kleinbauern, Kandidaten bei allen Wahlen aufzustellen.

• Für die Zerschlagung des repressiven Staatsapparat der Bürokratie, dem Werkzeug von Tyrannei gegen die Arbeiterklasse und dem Werkzeug, das die Stalinisten zur kapitalistischen Restauration benützen. Dieser Apparat wurde von der Bürokratie nach dem Bild der kapitalistischen Staatsmaschine entworfen. Die politische Revolution muß ihn auf dem Weg zur Schaffung eines gesunden Arbeiterstaates zerschlagen. Für volle politische Rechte von Soldaten, das Recht auf Abhaltung von Versammlungen in den Kasernen, Soldatenräte ohne Kontrolle durch Offiziere und Befehlshaber zu wählen. Für ihr Recht, Zeitungen herauszugeben sowie das Recht auf Zugang zu den Medien. Außerdem sollen alle einfachen Soldaten und Seeleute das Recht auf freie Wahl der Offiziere haben. Für das Recht aller von ihrer Stationierung im Ausland zurückkehrenden Soldaten auf annehmbare, erschwingliche Wohnungen für sich und ihre Familien und auf Umschulung und eine neue Arbeitsstelle nach ihrer Demobilisierung haben.

• Für die Auflösung der Geheimpolizei und die Bestrafung aller, die Verbrechen an der Arbeiterklasse begangen haben. Ein demokratischer Arbeiterstaat braucht keine Geheimpolizei. Den Komplotten der konterrevolutionären Kräfte kann durch Arbeitersicherheitsausschüsse entlang der Linie der revolutionären Tscheka von 1917 begegnet werden. Für die Auflösung des stehenden Heers der Bürokratie und dessen Ersetzung durch eine revolutionäre Arbeiterarmee, die mit den Territorialmilizen der Arbeiter verbunden ist.

Nieder mit Vorrechten und Ungleichheiten!

Eines der frühesten Anzeichen für den Sieg der stalinistischen politischen Konterrevolution in der UdSSR war die arrogante Verurteilung des Gleichheitsgedankens als kleinbürgerliche Abweichung. Aber im Gegenteil der Wunsch nach Gleichheit und der Haß auf Privilegien sind instinktive und grundlegende Bausteine des proletarischen Klassenbewußtseins, wie Trotzki vorhersagte. Auf dem Weg zur endgültige Ausschaltung der Bürokratenherrschaft müssen die Arbeiter für die sofortige Beendigung jeglicher Mißbräuchekämpfen. Sie müssen gegen den grotesk privilegierten Lebensstil der Bürokratie zu Felde ziehen.

• Die Spezialläden müssen schließen, und die bislang der Bürokratie vorbehaltenen Sanatorien, Heilstätten und Freizeitmöglichkeiten müssen den Arbeitern und armen Bauern offenstehen. Partei- oder Staatsfunktionen dürfen nicht länger Zugang zu Privilegien und Luxus bedeuten. Kein Partei- oder Staatsfunktionär darf mehr verdienen als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn. Im Betrieb muß ein Kampf für das Recht der Arbeiter zur Entlassung aller Funktionäre und Manager, die sich der Korruption oder der Verfolgung von Arbeitern schuldig gemacht haben, entfacht werden.

Arbeiterkontrolle über die Produktion und der Plan

Die ökonomischen Entscheidungen in einer Planwirtschaft sind nicht hinter einer Nebelwand von „Marktkräften“ wie unterm Kapitalismus verborgen. Sie sind politische Entscheidungen, die die Bürokratie fällt. Jedes Aufbegehren gegen die Entscheidungen der Bürokratie, egal in welchem Bereich, ist demzufolge zugleich ein Angriff auf das Recht der Bürokratie, den Wirtschaftsplan zu kontrollieren. Da diese Kontrolle Stagnation und Niedergang gebiert, versuchen der Marktflügel der Bürokratie und andere restaurationistische Kräfte, den Arbeiterkampf vom Staat abzulenken, indem die Arbeitern ermuntert werden, „Selbstverwaltung“ ihrer Unternehmen, frei von der bürokratischen Einmischung des Zentralplans zu fordern. Diese Doktrin des „Marktsozialismus“ ist eine reaktionäre Ablenkung, die dazu gedacht ist, die beschränktesten Formen der Betriebsisolationismus zu fördern, das Proletariat als Klassenkraft zu spalten und den Zentralplan selber auszuhebeln. Dagegen müssen Revolutionäre auftreten, damit durch die Forderung nach Arbeiterkontrolle über den Plan jeder Arbeiterkampf zu einem bewußten Affront gegen die Macht der Bürokraten wird.

• Dies muß auf Betriebsebene mit der Öffnung der Bücher für Arbeiterinspektionen beginnen und auf Orts-, Regional- und landesweiter Ebene fortgesetzt werden. Dieser Kampf muß die Arbeiter in den Planungsministerien einbeziehen, um die wirklichen Prioritäten der Sitzen der Bürokratie und ihren Betrug, ihre Korruption und schiere Unfähigkeit zu enthüllen.

Durch die Abwehr der bürokratischen Planung und die Einführung der Klassenprioritäten im Plan schützt die Arbeiterklasse nicht nur ihren Lebensstandard und ihre Lebensbedigungen, sondern bildet die Organisationen, die die Grundlage eines revolutionären Arbeiterstaates darstellen werden. Diese Organisationen sind der Mechanismus, durch den der Arbeiterstaat eine demokratisch zentralisierte Planwirtschaft erreichen wird. Ein isolierter revolutionärer Arbeiterstaat muß mit den Marktkräften leben und sie benützen, aber gleichzeitig danach streben, sie zu überwinden. Fraglos haben Elemente der stalinistischen bürokratischen Ausblendung des Marktes tatsächlich dazu gedient, die Entwicklung von Sektoren der Sowjetwirtschaft zu verzögern. Dies ist nirgends deutlicher geworden als in der Landwirtschaft und bei Massenkonsumgütern. In diesen Bereichen muß unser Programm auf folgenden Elementen aufbauen:

• Nieder mit der Sklaverei von Arbeitern auf staatlichen und kollektivierten landwirtschaftlichen Betrieben. Für kollektivierte Landwirtschaftsbetriebe, die von den Werktätigen selber bewirtschaftet werden. Keine Rückkehr zur privaten Familienklitsche.

• Für die demokratische Reorganisation der Landwirtschaftsbetriebe, die auf der Demokratie der in der Landwirtschaft Tätigen, nicht auf den Launen der Funktionären fußt. Für Landarbeiterräte, deren Repräsentanz nach Arbeitskolonnen festgelegt ist und ihnen unmittelbar verantwortlich sind. Die landwirtschaftliche Erzeugung muß in den landesweiten Produktionsplan eingebaut sein.

• Für eine massive Finanzspritze zur Angleichung des materiellen und kulturellen Niveaus des Landes an das der Städte und damit zur Überwindung der himmelschreienden Unterschiede der Lebensbedingungen von beiden Lebensräumen.

• Gegen alle Reformen, die den Einfluß des imperialistischen Finanzkapitals auf die Ökonomien der Arbeiterstaaten verstärken; gegen die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols, gegen Joint Ventures, wo die Arbeiterrechte im Vergleich zum Standard in den Staatsbetrieben gemindert werden. Wir treten der Unterwerfungspolitik der Bürokratie unter das Diktat des IWF entgegen. Deren verheerende Folgen sind am klarsten schon in Jugoslawien, Polen und Ungarn zu sehen.

• Wir fordern von der Bürokratie die Nichtigkeitserklärung aller Schulden an das internationale Finanzkapital. Ein revolutionäres Arbeiterregime wird entscheiden, welche Verpflichtungen vom Standpunkt revolutionärer Zweckmäßigkeit einzulösen sind. Ein Arbeiterrätestaat wird die ausgebeuteten Massen überall zur Mobilisierung für eine vollständige Zurückweisung aller Außenschulden und die Enteignung der imperialistischen multinationalen Konzerne aufrufen.

Parlamentswahlen und -versammlungen

Die Folge von Jahrzehnten politischer Unterdrückung und ökonomischer Inkompetenz seitens der Bürokratie haben sich weitreichende Illusionen in die bürgerlich parlamentarische Demokratie aufgebaut. Sowohl Bürokratie wie probürgerliche Opposition haben diese Illusionen genutzt, um die Selbstorganisierung der Arbeiterklasse abzublocken und insbesondere die Herausbildung solcher Arbeiterräte zu ersticken, wie sie während der ungarischen Revolution 1956 oder auf niedrigerem Niveau in Polen und Tschechoslowakei in den politisch revolutionären Situationen der 50er und 60er Jahre und 1980-1981 auftauchten. Nur in Rumänien im Aufstand 1989-1990 entstanden embryonale Arbeiterkomitees und spielten eine wichtige Rolle bei den Streiks, die die Ceaucescu-Regierung zu Fall bringen halfen. Anderswo wurden hastig Mehrparteien-Parlamentswahlen anberaumt, um den Weg für die Arbeiterselbstorganisation, direkte Demokratie und für die Beteiligung der Massen an der Politik zu blockeren.

Unser Programm zielt nicht auf die Errichtung bürgerlicher Parlamente in den Arbeiterstaaten. Gewählt durch eine atomisierte Wählerschaft, unfähig, ihre Vertreter zur Rechenschaftslegung anzuhalten, und getrennt von der vollziehenden Gewalt können Parlamente niemals ein angemessener Ausdruck von Arbeitermacht sein. Diese Einrichtungen assistieren direkt den restaurativen Plänen der Bürokratie oder aufkommenden Bourgeoisie. Die parlamentarischen Repräsentanten, die von ihren Wählern nicht abberufen werden können, sind eminent korrumpierbar von den Wohlstands- und Machtträgern. Wenn die herrschende Bürokratie versucht, ihre Herrschaft durch die Implementierung von Parlamentswahlen zu stabilisieren, setzen wir dem die proletarische Demokratie der Arbeiterräte entgegen. Wir wollen ihre Formation als Kampforgane gegen die Bürokratie und als Demokratieorgane eines revolutionären Arbeiterstaates durchsetzen.

Aber wo solche revolutionären Losungen noch keinen Widerhall im Bewußtsein oder Erfahrungsschatz der Massen finden, wäre es eine sektiererische Bankrotterklärung, wollte man sich damit zufrieden geben. Wir müssen jede Chance zur Organisierung der Arbeiterklasse ausloten, damit sie als politisch unabhängige Kraft in die jetzige politische Lage eingreifen kann. Und wenn es – im Gegensatz zu unseren Vorstellungen Parlamentswahlen sind, dann müssen die Arbeiter auch dort kämpfen.

• Wir sind gegen jeden Versuch der Bürokratie, den Wahlvorgang durch Verbote für Kandidatenlisten oder wählbare Parteien zu manipulieren oder zu beschränken. Wir bekämpfen Wahlmanipulationen der Bürokratie. Wir setzen uns für die Prinzipien und gewisse Formen der proletarischen Demokratie ein. Wir kämpfen dafür, daß Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, die auf Arbeiterversammlungen in Betrieben und Arbeiterbezirken gewählt worden sind. Wir kämpfen dafür daß sie auf einem Arbeiterprogramm stehen gegen Bürokratenherrschaft, Privilegien und alle Formen der Restauration. Dieses kämpferische Aktionsprogramm muß für die Verteidigung der Rechte nationaler Minderheiten, aller Arbeiterrechte und -errungenschaften aufgreifen. Wir kämpfen dafür, daß alle Kandidaten den Arbeiterversammlungen gegenüber Rechenschaft ablegen müssen und nur Bezüge in Höhe des Durchschnittslohn eines Facharbeiters erhalten.

Revolutionäre Kommunisten übernehmen keine Verantwortung für die Form eines bürgerlichen Parlaments in einem Arbeitsstaat. Die Volkskammer ebenso wie der Oberste Sowjet waren Schöpfungen der Stalinisten. Sie haben die eigentlichen Sowjets entweder zerstört oder nicht gewagt, derartiges zu schaffen. Dennoch müssen wir die demokratischen Illusionen der Massen ernsthaft aufgreifen, insbesondere wo die aufkeimenden bürgerlichen Kräfte die „Demokratisierung“ solcher Parlamente zur Schaffung eines permanenten und stabilen Instrumentes für die Restauration des Kapitalismus nutzen wollen. Unser Ziel ist die Verhinderung der Errichtung einer solchen stabilen parlamentarischen Regimes. Wenn die Restaurationisten eine legale und institutionelle Grundlage für die kapitalistische Herrschaft schaffen wollen, durch bonapartistische Plebiszite oder Abstimmungen in bestehenden undemokratischen Versammlungen, wo Arbeiter noch keine Erfahrung mit Sowjets haben oder die Erinnerung daran ausgelöscht worden ist, können und sollen Revolutionäre zur revolutionär demokratischen Forderung nach einer souveränen verfassunggebenden Versammlung zurückkehren. Das ist kein Ruf nach einem Parlament (d.h. permanentem Gesetzgeberorgan, Element der Gewaltenteilung der bürgerlichen Herrschaft), sondern der Versuch, eine Arena zu schaffen, in der sich die Vertretungen der widerstreitenden Klassen treffen und sich um die politische Form und den eigentlichen Klasseninhalt des Staates, wie in der Verfassung niedergelegt, kämpfen. Wir glauben natürlich nicht, daß die Schlacht zwischen Restauration und proletarischer Macht in einer Versammlung entschieden werden kann, aber die versteckten und offenen Agenten der Restauration können dort vor den Augen der Massen bloßgestellt werden.

Unter diesen Verhältnissen ist es die Aufgabe von revolutionäre Kommunisten, zur Vorhut im revolutionär demokratischen Kampf zu werden, um nach Möglichkeit diese Waffe der politischen Demokratie den inkonsequenten (halb-bonapartistischen) bürgerlichen Demokraten zu entwinden. Wir sollten die Losung der verfassungsgebenden Versammlung vorbringen, um die Restaurationisten zu überflügeln, die demokratische Slogans für sich monopolisieren wollen, in Wirklichkeit aber nichts anderes im Schilde führen, als die Macht des Parlaments extrem zu beschneiden und es mit bonapartistischen Kontrollen zu umgeben, falls diese Institution zu sehr unter den Druck der Massen geraten sollte. Wir können diese mit dem Kampf für das revolutionär demokratische Recht auf Abrufbarkeit tun.

• Jeder Abgeordnete muß der sofortigen Abwahl durch die Wählermehrheit unterworfen werden. Wir müssen uns dafür einsetzen, daß der Großteil der Wahlkampagne auf Massenversammlungen in Betrieben stattfindet, wo die Kandidaten mit ihrem Programm auf Herz und Nieren geprüft werden können. Wir müssen für freien und gleichen Zugang zu den Medien für alle Kandidaten außer Faschisten oder gewaltsamen Umstürzlern der Planwirtschaft kämpfen.

Selbstredend kann jede verfassungsgebende Versammlung sich als Moment der Konterrevolution, der Zerstörung der geplanten Eigentumsverhältnisse im Arbeiterstaat entpuppen. In dem Fall müssen wir ihre Absichten vor den Augen der Massen demaskieren und die Arbeiter dazu mobilisieren, die verfassungsgebende Versammlung aufzulösen.

Für Demokratie der Arbeiterräte

Um die Diktatur der Bürokratie zu stürzen, muß sich die Arbeiterklasse eigene Mittel zur Ausübung der Staatmacht suchen. Die im Kampf gegen die Bürokratie entstandenen unabhängigen Organisationen müssen zu echten Arbeiterräten zusammengeschweißt werden. Diese Räte werden den massenhaften Aufstand der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, der ländlichen Armut, und die Zerschlagung der ganzen repressiven Maschinerie des stalinistischen Staatsapparats, dem Mittel zur Aufrechterhaltung der politischen Diktatur der Bürokratie über das Proletariat organisieren. Wie beim bürgerlichen Staat, nach dessen Vorbild er geformt ist, sind die wesentlichen Elemente der stalinistischen Staatsmaschine die ’spezialisierten bewaffneten Organe‘ und ihr Apparat von Spitzeln, Kerkermeistern und Folterknechten. Selbst wo die bürokratische Kaste intern gespalten ist, nutzt sie, solange die vorherrschende Fraktion diesen Apparat kontrolliert, ihn auch zur Verteidigung gegen die aufständischen Massen, wie das Massaker vom Tiananmen-Platz wieder einmal bestätigt hat. Die Speerspitze des Programms der politischen Revolution ist also die Bildung von Arbeiterräten und die Bewaffnung des Proletariats.

Wie die russische Revolution zeigte, ist der Arbeiterrat die Form zur Machtausübung der Arbeiterklasse in einem gesunden Arbeiterstaat. Verankert in den Fabriken, den Arbeiterwohnvierteln und den unterdrückten Schichten der Gesellschaft organisieren die Räte die großen Massen der ehemals Ausgebeuteten, um die Herrschaft im eigenen Staat anzutreten. Die Delegierten in den Arbeiterräten werden auf Arbeitermassenversammlungen direkt gewählt. Sie sind ihrer Wählerschaft verantwortlich und deshalb jederzeit von ihr abberufbar. Arbeiterräte sind Organe der Klassenmacht, d.h. Kapitalisten sind von den Wahlen ausgeschlossen. Den herrschenden Sektionen der Bürokratie muß ebenfalls das Stimmrecht entzogen werden. Wir bekämpfen politisch jene Vertreter der Bürokratie, in die die werktätigen Massen noch Illusionen haben. Die politische Revolution kann nur erfolgreich sein, wenn die Bürokraten aus den Arbeiterräten verjagt sind.

Der Arbeiterrat vereint in sich vollziehende und gesetzgeberische Funktionen, was einer lebendigen Rätedemokratie ermöglicht, die Staatsbürokratie zu kontrollieren, zu reduzieren und sie langfristig vollkommen durch die Selbstverwaltung der Gesellschaft zu ersetzen. Solche Organe haben nichts gemein mit den Sowjets, dir in der UdSSR 1936 installiert wurden und eine pseudo-parlamentarische Form angenommen haben, oder den ‚Volkskomitees‘ auf Kuba, die nur dazu sind, die Beschlüsse der Bürokratie abzunicken.

Nieder mit der sozialen Unterdrückung!

Der Thermidor in der UdSSR markierte nicht nur die Errichtung der bürokratischen Tyrannei über Wirtschaft und Staat, sondern auch die Umkehr vieler Reformen nach 1917 zur Bekämpfung sozialer Unterdrückung. Die Wiedereinführung reaktionärer Gesetze und moralischer Normen hat seither als Vorbild für andere degenerierte Arbeiterstaaten gedient.

Die siegreichen Bürokratien haben alle danach getrachtet, die bürgerliche Familie zu stärken und ihre Größe nach Maßgabe der jeweiligen ökonomischen und militärischen Bedürfnisse festzulegen. Die bürokratische Planung gab das Ziel der Sozialisierung von Kinderbetreuung und Hausarbeit auf. Die Frauen blieben durch die Dreifachlast von Beruf, Haushalt und Kindererziehung preisgegeben. Die ‚Reformer‘ hegen natürlich auch keinesfalls die Absicht, die Auswirkungen des Stalinschen Thermidors auf die Familie zu beseitigen. Im Gegenteil stärkte Gorbatschows Perestroika-Politik ein reaktionäres Frauenbild. Die „Reformer“ wollen die Frau auf die Gattin- und Mutterrolle beschränken und sie aus gewissen Produktionszweigen vertreiben.

Der Jugend wird ihr ‚rechtmäßiger Platz‘ in den Bildungseinrichtungen gelehrt, sie wird verdummt mit der reaktionären Moral des Stalinismus, ihr wird ein freier kultureller Ausdruck verwehrt. Ebenso sind große Errungenschaften der Oktoberrevolution, in der gesetzliche Verteidigung der Rechte von Homosexuellen schon längst zerstört, und der Alltag für Lesben und Schwule von Kuba bis Osteuropa und GUS heißt Unterdrückung oder Verfolgung. Gegen Unterdrückung aufgrund von Geschlecht oder Sexualität fordern wir:

• Gegen die Unterdrückung von Frauen – für wirkliche Vergesellschaftung der Hausarbeit. Für einen Plan zur Bereitstellung von Kinderkrippen, die dies ermöglichen. Für ein massives Bauprogramm von Gastwirtschaften, Kantinen und sozialen Annehmlichkeiten, die Frauen von ihrer Bürde befreien.

• Für das Recht von Frauen auf Arbeit und Chancengleichheit in Berufen, die nicht Schutzgesetzen unterstehen. Zur Bekämpfung des Erbes von männlichem Chauvinismus und Unterdrückung, das von der Bürokratie konserviert wurde, verfechten wir eine unabhängige Frauenbewegung auf proletarischer Grundlage.

• Keine Einschränkung des Abtreibungsrechts. Freie Verhütungsmittel für alle, um Frauen wirkliche Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit zu geben. Nein zu jedem Zwang zu einer bestimmten Familiengröße durch die Bürokratie.

• Abschaffung der reaktionären Gesetze gegen Homosexualität. Freilassung aller in dieser Hinsicht Inhaftierten und in psychiatrische ‚Spitäler‘ Eingewiesenen. Beendigung aller Formen der Diskriminierung von Lesben und Schwulen. Für die offene Anerkennung, daß es Aids auch in diesen Staaten gibt. Für ein staatlich finanziertes Programm zur Erforschung, Behandlung und Aufklärung über den Virus, um jene mit AIDS zu behandeln und die Verbreitung der Krankheit zu verhindern oder zu begrenzen.

• Weg mit der Unterdrückung der Jugend. Für Schüler-, Eltern- und Erzieherkontrolle über die Schulen. Für Jugendausschüsse zur Kontrolle ihrer eigenen Gestaltung von Unterhaltung, Sport, Kultur, Klubs usw. Weg mit der Zensur, die die Jugend nicht vor reaktionären Ideen schützt, sondern ihren Intellekt und Kampfgeist lähmt, und sie so erst für solche Ideen anfällig macht. Abschaffung aller die Jugend in Arbeit und Gesellschaft diskriminierenden Gesetze.

Gegen nationale Unterdrückung!

Seit seiner Gründung hatte der revolutionäre Sowjetstaat einen föderalen Charakter. Wie mit allen anderen Aspekten bolschewistischer politischer Praxis verfuhr der Stalinismus auch hier. Er wahrte die Form, entleerte sie aber ihres revolutionären Inhalt. Fernab jeder freiwilligen Föderation von Völkern wurde die UdSSR zum Gefängnis für Nationen.

Das Muster der Verweigerung von Rechten für nationale Minderheiten wurde in anderen degenerierten Arbeiterstaaten wiederholt, ungeachtet dessen, ob sie föderal strukturiert sind (wie in Jugoslawien), Einheitsstaaten mit angeblich ‚autonomen Regionen‘ (wie in China), oder ob sie die Existenz von Minderheiten verfassungsmäßig gar nicht anerkennen (wie in Rumänien). Der Kreml hat auch Nationen außerhalb der Grenzen der UdSSR unterdrückt und Invasionen veranstaltet, um proletarische Aufstände gegen die Bürokratenherrschaft zu zermalmen. Die Opposition gegen die herrschenden Bürokratien trägt daher oft einen nationalistischen Charakter. Unter diesen unterdrückten Völkern fordern Revolutionäre in vorderster Linie demokratische Rechte für Nationalitäten als Teil ihres Kampfes um die politische Revolution.

• Wir treten jeder Manifestation des großrussischen, chinesischen und serbischen Repressionsnationalismus entgegen. Wir unterstützen das Recht auf vollste kulturelle Selbstäußerung für alle unterdrückten Nationalitäten. Das bedeutet volle Unterstützung für das Recht auf eigene Sprache in allen öffentlichen und staatlichen Angelegenheiten wie auch auf Unterricht in der eigenen Sprache. Wir sind gegen jede Diskriminierung im Beruf. Wir treten für das Recht unterdrückter Nationalitäten ein, ein Veto gegen die Einwanderungspolitik einlegen zu können, die von den Bürokratien von Unterdrückernationalitäten festgelegt wird. Umgekehrt sind wir auch gegen jede Diskriminierung ehemaliger nationaler Mehrheiten, die nun in neuen unabhängigen Staaten zu Minderheiten geworden sind (bspw. die Russen in den baltischen Staaten).

• Alle multinationalen Arbeiterstaaten sollten freie Föderationen von Arbeiterrepubliken sein. Allgemein streben wir nicht die Zerstückelung von degenerierten Arbeiterstaaten in ihre nationalen Bestandteile an, weil wir die größtmögliche territoriale Zusammengehörigkeit für günstig erachten, um die Entfaltung der Produktivkräfte voranzutreiben, und weil der Nationalismus die Arbeiterklasse spaltet und sie für die Einsicht in die Notwendigkeit der Vernichtung von Bürokratie und Imperialismus blendet. Es kann dazu führen, daß die Arbeiter gemeinsame Sache mit der ‚eigenen‘ nationalen Bürokratie machen, oder daß sie glauben, es sei möglich, ‚Unabhängigkeit‘ durch kapitalistische Restauration und mit Hilfe des Imperialismus zu erlangen.

Die kapitalistische Offensive trachtet danach, alle Elemente von Klassenidentität und kollektivistischem Bewußtsein zu zersetzen und an ihrer Statt individualistische, religiöse oder nationalistisch-ethnische Ideen in den Köpfen der Bevölkerung zu züchten. In verschiedenen Republiken, Regionen, kleineren Landstrichen oder gar Unternehmen versuchen die Restaurationisten die Idee zu verbreiten, daß nur völlige Unabhängigkeit vom offiziellen Staat ihnen einen besseren Zugang zum internationalen Markt, höheren Exportpreise und günstigeren Bedingungen für die Einfuhr von Gütern und das Anlocken von Investoren bietet.

Die UdSSR ist in fünfzehn unabhängige Republiken zerfallen, und es gibt viele weitere autonome Republiken und Regionen innerhalb dieser, die starke separatistische Tendenzen haben. Die Bürokraten und Nationalisten hinter diesen Unabhängigkeitsbewegungen versuchen bürgerliche Kleinst-Halbkolonien zu errichten. In den meisten von ihnen leiden andere ethnische Minderheiten unter Diskriminierung und Unterdrückung. In den baltischen Staaten zum Beispiel werden die slawischen Minderheiten nicht als Staatsbürger anerkannt und erleiden eine Art neue Apartheid. Im früheren Jugoslawien, im Kaukasus, Moldawien, Zentralasien und anderen ehemaligen ’sozialistischen Blockstaaten befinden sich Völkergruppen gegeneinander in blutigen und reaktionären Kriegen.

Eine wirkliche Unabhängigkeit für eine der gegenwärtig unterdrückten Nationalitäten in den Arbeiterstaaten ist allerdings nur erreichbar auf Grundlage von demokratisch geplanten proletarischen Eigentumsverhältnissen. ‚Unabhängigkeit‘ unter Führung von Restaurationisten kann nur in einer Unterwerfung jedes neu konstituierten Staates unter den Imperialismus als Halbkolonie enden. Damit wäre die Arbeiterklasse noch direkter durch den internationalen Kapitalismus ausgebeutet, und ihre demokratischen Bestrebungen würden im Namen des Profits brutal unterdrückt werden. Wir treten von uns aus nicht für Abtrennung ein, weil sie den Arbeiterstaat schwächt und die Entfaltung der Produktivkräfte behindert. Aber in einem konkreten Fall, wo innerhalb einer bestimmte unterdrückten Nation die große Mehrheit der Arbeiterklasse Illusion in die Abtrennung hat, stellen wir die Forderung nach einer unabhängigen Arbeiterräterepublik auf.

Auf wessen Seite sich die Arbeiter in einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der Unabhängigkeitsbewegung einer unterdrückten Nation und dem zentralisierten stalinistischen Apparat stellen sollen, hängt von den jeweiligen konkreten Umständen ab. Wenn diese Bewegung andere Minderheiten durch Pogrome verfolgt oder ein Waffenbündnis mit dem Imperialismus eingeht, um gegen den degenerierten Arbeiterstaat Krieg zu führen, wäre es notwendig, auf Seiten der stalinistischen Maschinerie zu stehen, ohne sie politisch zu unterstützen. Gleichzeitig würden wir die Losung nach einer unabhängigen oder autonomen Arbeiterräterepublik (wie in Aserbaidschan 1990) ausgeben.

Wenn wir andererseits eine legitime Bewegung mit Basis in der arbeitenden Bevölkerung antreffen, könnten wir auf deren Seite gegen militärische Unterdrückung durch die Stalinisten stehen, ohne ihre politischen Ziele oder ihre volksfrontartige Führung dabei zu unterstützen (wie in Litauen 1990/1991).

Die Entfremdung so vieler Nationalitäten vom degenerierten Arbeiterstaat ist das Produkt von Jahrzehnten grausamer nationaler Unterdrückung. Die Vorhut der politischen Revolution muß mit den energischsten Mitteln versuchen, diesen Völkern ihre Ängste zu nehmen und sie für die Seite der Erhaltung ihrer eigenen geplanten Eigentumsverhältnisse zu gewinnen. Das muß getan werden, indem ihr Recht auf Selbstbestimmung, die Lostrennung eingeschlossen, bedingungslos unterstützt wird.

Wo die Mehrheit eines Volkes in Massenkundgebungen, Arbeiterversammlungen, Wahlen oder Volksabstimmungen nach Unabhängigkeit ruft, unterstützen wir dieses Ziel rückhaltlos. Sonst würden wir uns von dem ausdrücklichen demokratischen Willen der Arbeitermassen isolieren und damit zulassen, daß sie der Führung reaktionärer Kräfte anheimfallen. Nur die proletarische politische Macht und die proletarischen Eigentumsverhältnisse können die Unabhängigkeit, nach der solche Mobilisierungen streben, gewährleisten. Aus dem Grund lautet unsere positive Losung unter diesen Gegebenheiten ‚Für einen unabhängigen Arbeiterrätestaat‘.

Selbst wo sich separatistische Bewegungen auf eine offen konterrevolutionäre Plattform begeben haben, verteidigen wir noch das Recht auf staatliche Unabhängigkeit, setzen aber den Kampf gegen die Restauration fort. Die Restauration des Kapitalismus läuft nicht simultan zur nationalen Unabhängigkeit. Die Beendigung nationaler Unterdrückung lockert die Bindungen zwischen der Arbeiterklasse und den Repräsentanten ihr entgegengesetzter Klasseninteressen. In den neuen, unabhängigen Staaten müssen revolutionäre Kommunisten die Arbeiter weiter für die bewaffnete Verteidigung der nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse organisieren. Jedoch im Fall eines Krieges (Bürgerkrieg oder Krieg nach außen), in den ein Arbeiterstaat verwickelt sein könnte, könnten wir allerdings gezwungen sein, das Recht auf Abtrennung vorübergehend der Verteidigung des Arbeiterstaates gegen die Attacken der Kräfte des Imperialismus und der Konterrevolution unterzuordnen.

Als Ausdruck unserer Gegnerschaft zu der reaktionären Utopie des Aufbaus vom Sozialismus in einem Land stehen wir für die weitestgehende Föderation von Arbeiterstaaten beginnend mit Regionalverbünden. Die siegreiche politische Revolution wird die Republiken der ehemaligen UdSSR, Osteuropas und darüberhinaus auf einer freiwilligen und gleichen Grundlage neu vereinigen. In den Regionen, wo der Stalinismus und seine Erben nationale Antagonismen und Kriege gesät haben, kämpfen wir für Föderationen von Arbeiterstaaten (z.B. auf dem Balkan und in Indochina) als Schritt zur Integration in eine sozialistische Weltrepublik.

Für die Rückkehr zum proletarischen Internationalismus Lenins und Trotzkis

Die Stalinisten haben die Losung des proletarischen Internationalismus durch die Gleichsetzung mit der Unterordnung unter die staatlichen Interessen der Sowjetbürokratie befleckt. Die Außenpolitik eines revolutinären Arbeiterstaates zielt nicht zuallererst auf die eigene Verteidigung oder Schutz und Unterstützung anderer Arbeiterstaaten, sondern stellt die Interessen aller, die gegen Kapitalismus und Imperialismus kämpfen, in den Mittelpunkt. Die Verteidigung eines einzelnen Arbeiterstaates oder einer Gruppierung solcher Staaten ist Teil der Weltrevolution und ihr untergeordnet. Das ist das unverfälschte Programm des proletarischen Internationalismus. Es ist das genaue Gegenteil zur Außenpolitik der degenerierten Arbeiterstaaten im letzten halben Jahrhundert, die dem stalinistischen Ziel einer friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus dienen sollte.

Die Stalinisten haben die Kämpfe der Arbeiterklasse und Kolonialvölker überall zynisch manipuliert und verraten. Seite an Seite mit der Stärkung der Marktmechanismen und der kapitalistischen Kräfte im Arbeiterstaat sind die verbleibenden herrschenden Bürokratien überall vor dem Imperialismus auf dem Rückzug. Der Stalinismus hat stets eine dem Wesen nach konterrevolutionäre Politik in und außerhalb der eigenen Grenzen betrieben. In den 80er Jahren hat die UdSSR in Afghanistan, Kambodscha, Mittelamerika und Südafrika eine konterrevolutionäre Rolle gespielt, sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus.

Die Geheimdiplomatie, mit der die stalinistische Bürokratie operierte, muß vollständig abgeschafft werden. Diese Politik war Teil des bürokratischen Informationsmonopols in den degenerierten Arbeiterstaaten und diente nur zur Desinformation und Täuschung der Arbeiterklasse. Verhandlungen zwischen Arbeiterstaaten und kapitalistischen Staaten oder anderen Arbeiterstaaten müssen vor den Augen der Arbeiterklasse durchgeführt werden. Die Forderungen beider Seiten sollten öffentlich gemacht werden. Verhandlungen müssen genützt werden, um revolutionäre Propaganda zu machen. Das Wesen der Verhandlungen muß den Massen aufgedeckt werden.

Beziehungen mit kapitalistischen Staaten müssen ebenso als Waffe für den Arbeiterstaat genützt werden. Diplomatische Verbindungen und Handelsbeziehungen zu jedem Land müssen sorgfältig untersucht werden. Die Stalinisten verwendeten diplomatische Verbindungen mit kapitalistischen Staaten, um das Ertränken der Arbeiterbewegung dieser Staaten in Blut zu entschuldigen und das Prestige der Schlächter zu erhöhen (z.B. China‘ s Beziehungen mit Pinochet). Das war eine übliche Praxis unter den Stalinisten. Handels- und diplomatische Beziehungen müssen dazu verwendet werden, den Aufbau eines Arbeiterstaats zu unterstützen und dürfen die Bildung von revolutionären Bewegungen nicht begrenzen oder schädigen.

Wenn ein Arbeiterstaat direkt militärisch angegriffen wird, egal ob in einer politisch revolutionären Krise oder nicht, ist es legitim, mit den Truppen eines anderen Arbeiterstaates eine bewaffnete Einheitsfront zu suchen. In dieser Einheitsfront darf die Arbeiterklasse ihre Verbände nicht denen ihrer Verbündeten unterordnen, sondern muß versuchen, Waffen und Hilfe unter die Kontrolle ihrer Organisationen zu bekommen, und muß unter den verbündeten Streitkräften der degenerierten Arbeiterstaaten die Idee der internationalen politischen Revolution verfechten.

Wir verteidigen das Recht der degenerierten Arbeiterstaaten auf Besitz von Atomwaffen und sie auch in Kriegen mit dem Imperialismus zur Verteidigung der Arbeiterstaaten einzusetzen, wenn es militärisch erforderlich ist. Aber wir stellen uns gegen die allgemeine Verteidigungs- und Militärpolitik der Bürokratie, deren Ziel die Verwirklichung des reaktionären Traums von der friedlichen Koexistenz mit dem Weltimperialismus ist.

Die Außenpolitik eines Arbeiterstaates muß einer revolutionären Internationale untergeordnet sein. Eine wirkliche Internationale kann die Außenpolitik eines Arbeiterstaates in den richtigen Zusammenhang im Kampf um die Weltrevolution stellen. Nur eine Internationale kann den Arbeiterstaat effektiv gegen eine imperialistische Intervention schützen, indem Mobilisierungen der Arbeiterklasse in den verschiedenen imperialistischen Ländern koordiniert werden.

Baut leninistisch-trotzkistische Parteien auf!

Das Programm der politischen Revolution, verknüpft ein Verbundsystem von Forderungen mit den strategischen und taktischen Mitteln zu ihrer Durchsetzung. Es kann nicht durch die spontanen Kämpfe der Arbeiterklasse in den degenerierten Arbeiterstaaten entwickelt werden. Die Erfahrung mit Ungarn, Polen und China zeigt auf tragische Weise, daß Spontaneität wie unterm Kapitalismus mit dem wissenschaftlichen Klassenbewußtsein in der organisatorischen Gestalt einer revolutionären Partei geharnischt sein muß. Der erste kleine Kern einer solchen Partei mag zwar der Intelligenz entspringen, die Prüfung für ihren ‚Kommunismus‘ wird aber die Anerkennung der Notwendigkeit, die im antibürokratischen Kampf erstandenen Arbeitervorhut zu gewinnen und zu organisieren, sein. Alle Regeln der Mitgliedschaft, Organisation, Innenleben und Außenaktivität sind wie von der leninistisch bolschewistischen Partei und später den linken Opposition und der Trotzkisten dargelegt anwendbar.

Wir weisen die ‚führende Rolle‘ der stalinistischen Parteien zurück. Es sind Parteien der Bürokratie, nicht der proletarischen Avantgarde. Die Erfahrung der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei 1968 und der ‚Horizontalbewegung‘ in der polnischen Arbeiterpartei auf dem Höhepunkt des Kampfes von Solidarnosc legen jedoch nahe, daß proletarische Mobilisierungen einen Widerschein in den herrschenden, kommunistischen Parteien finden und zwar deshalb, weil eine große Anzahl von Arbeitern Zwangsmitglieder dieser Parteien sind. Wir lehnen die Illusion ab, daß die herrscheden Parteien zu zentristischen Formationen reformiert werden oder sich friedlich dazu umbilden können. Diese Parteien müssen als Werkzeuge der Massenmobilisierung zugunsten der repressiven und privilegierten Bürokratie zerschlagen werden. Nichtsdestotrotz dürfen wir nicht vergessen, daß in einer sich zuspitzenden politisch revolutionären Situation die Führung unter den Druck von Teilen der Mitgliedschaft oder der Arbeiterklasse geraten kann. Die Einheitsfronttaktik, bezogen auf diese Kräfte und Oppositionsgruppen außerhalb der Partei, wird zentral sein, um die Massen von ihren alten und neuen falschen Führern loszubrechen. Wo wir Elemente der proletarischen Basis nicht direkt für den Trotzkismus gewinnen können angesichts dessen, daß eine solche Opposition oftmals der erste Ausdruck von politischer Unabhängigkeit für jene Arbeiter darstellt, sollten wir sie ermuntern, die Kommunistische Partei, in der sie bleiben, unter folgenden Forderungen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen:

• Wahlen auf allen Ebenen, mit offenen Plattformen und politischer Wettstreit in offener Diskussion. Für die Aufhebung des Fraktions- und Plattformverbots, das lediglich als vorübergehende Maßnahme in der russischen kommunistischen Partei von Lenin und Trotzki 1921 verhängt worden war, unter Stalin aber zur repressiven Norm gemacht wurde.

• Die im Kampf neu geschmiedete revolutionäre Partei muß den Sturz der stalinistischen Diktatur, den Aufbau einer Arbeiterrätedemokratie, die Einsetzung eines demokratischen Plans und vor allem die internationale Ausdehnung der Revolution auf die Fahne schreiben. Wenn die Arbeiterstaaten eine revolutionäre Neugestaltung durchleben, dann wird die Todesglocke für Imperialismus und Klassenherrschaft auf der ganzen Welt läuten. Verwandelt die bürokratischen Gefängnisse wieder in Festungen der Weltrevolution!

Das Programm im Restaurationsprozess

Eine neue Form von Übergangsperiode, des Übergangs von degenerierten Arbeiterstaaten zum Kapitalismus, ist angebrochen, zurückzuführen auf den Berg von Verrat seitens der stalinistische Bürokratie und die verlängerte Krise der revolutionären Führung. Die Revolutionäre müssen nun ihr Programm umorientieren auf die Führung eines Kampfes gegen die Reste bürokratischer Tyrannei und Desorganisation sowie gegen die Restauration des Kapitalismus.

Die Tür zur Restauration ist in den meisten Fällen durch den Aufstieg einer Bürokratenfraktion aufgestoßen worden, die dann eine Reihe von Zugeständnissen an den Markt auf Schiene gesetzt hat. Diese marktorientierten Maßnahmen sind mit wachsendem Nachdruck von Wirtschaftsfachleuten aus den Reihen der Bürokratie seit den 60er Jahren befürwortet worden (Liberman, Ota Sik usw.). Sie wurden in bedeutsamem Umfang zunächst in Ungarn durchgeführt. Sie konzentrierten sich auf eine stufenweise Schwächung und Einengung des Planhorizonts, die Herstellung von realen oder simulierten Marktmechanismen zwischen Unternehmen, die Durchlöcherung des staatlichen Außenhandelsmonopols, auf den Beitritt zu ökonomischen Einrichtungen des Weltkapitalismus, wie dem IWF. Der utopische Aspekt dieses Programms war die Idee, daß es die Effizienz, das Niveau der technischen Erneuerung oder die stärkere Anpassung der Wirtschaft an die Wünsche der Verbraucher erhöhen würde. Stattdessen aber behinderte und störte es das Wirken der Planwirtschaft, während jene wiederum die Entwicklung eines echten Marktes behinderte, dafür aber eine breite ’schwarze Ökonomie‘ schuf. Das erzeugte eine große Klasse von Kriminellen, bevor es eine Bourgeoisie hervorbrachte.

Sowohl in Staaten, wo die Marktfraktion der Bürokratie versuchte, dieses Programm mit demokratischen Reformen durchzuführen, als auch wo sie ihre politische Diktatur aufrechterhalten wollte, war das Resultat jedesmal das gleiche – eine ernste politische Krise, in der sich drei fundamentale Alternativen stellten:

a) die Restauration der bürokratischen Diktatur und ein Stillstand oder Verlangsamung der Marktreformen

b) die Machtergreifung durch ein offen restauratives Regime, das sich anschickt, das zentrale Planungssystem zu zerstören und rasch zur Wertgesetzlichkeit als dominanter Kraft in der Ökonomie überzugehen.

c) die proletarische politische Revolution, die Arbeiterdemokratie und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Nur die beiden letzten Alternativen waren und sind grundsätzlich gangbar. Die bürokratische Diktatur kann niemals die Todeskrise der bürokratischen Planung lösen, auch wenn sie noch so blutig wiederhergestellt und aufrechterhalten wird. Sie entfremdet sich den Massen und treibt sie den demokratischen Restaurationisten in die Arme. Obwohl die Bürokratie in China, Korea, Vietnam und Kuba versucht, mit Unterdrückungsmethoden dem Schicksal Gorbatschows zu entgehen, ist die Entwicklung von vorrevolutionären und revolutionären Situationen unabwendlich. Das Ergebnis dieser Krisen wird eine Situation der Doppelmacht sein – von größerer oder geringerer Dauer – in der die Kräfte der alten Bürokratie zersplittern werden und in der die Kräfte der proletarischen politischen Revolution oder der bürgerlichen Konterrevolution einen Kampf um Leben oder Tod ausfechten müssen. Wenn die Kräfte der politischen Revolution es nicht schaffen, sich zu entwickeln und die Macht zu übernehmen, ist die Restauration früher oder später unausweichlich.

Bis heute sind jene Kräfte, die bewußt die Planwirtschaft und andere proletarische Errungenschaften verteidigen schwach. Das hatte zur Folge, daß eine Reihe von bürgerlich restaurativen Regierungen die Macht übernommmen hat. Diese haben sich als erstes daran gemacht, die Reste von Doppelherrschaft durch Säuberungen des Staatapparates zu beseitigen. Diese Säuberung wird je nach der politischen Geschlossenheit der Armee unterschiedlich ausfallen. Wo ein bedeutender Teil noch von der Lebensfähigkeit der bürokratischen Herrschaft überzeugt ist, kann die Auseinandersetzung gewaltsame Formen annehmen, selbst bis zum Bürgerkrieg.

Die Auflösung dieser Doppelmacht und die Verhinderung, daß die Arbeiterklasse eigene Machtorgane etabliert, sind wesentlich für einen erfolgreichen Restaurationsprozeß. Aber selbst die Errichtung eines zuverlässigen Staatsapparats, der nicht der Form eines bürgerlichen Staates ähnlich, sondern aktiv die wachsenden Elemente des Kapitalismus verteidigt und die sich zerfallenden Reste der Planwirtschaft attackiert, bedeutet nicht das Ende des Restaurationsprozesses. Erst die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus über die des bürokratischen Plans dominieren, erst wenn die wirtschaftliche Grundlage des Arbeiterstaates zerstört ist, kann man sagen, daß dieser Prozeß abgeschlossen und der Kapitalismus wiederhergestellt ist.

Die Wirtschaftsprogramme der kapitalistischen Restauration sind sehr verschieden. Der eine sofortige ‚Erfolg‘ war die Integration der DDR in den imperialistischen westdeutschen Staat durch eine verlängerte Verbindung von staatskapitalistischen und Privatisierungsmaßnahmen, nachdem die Zentralorgane der Planwirtschaft abgeschafft worden waren. In den anderen Staaten, wo die Ressourcen einer wesentlichen imperialistischen Macht nicht verfügbar waren, ist die neoliberale Schocktherapie angewandt worden. Das hieß Freigabe der Preise, Auflösung der zentralen Plan- und Rohstoffzuteilungsinstanzen, Abschaffung des alten Staatsbankmonopols und Ersetzung mittels eines durchkommerzialisierten Kreditsystems, in dem Verlustunternehmen bankrott gehen können und müssen und Umwandlung der Unternehmen in privat- und/oder staatskapitalistische Konzerne.

Der massive ökonomische Niedergang, der Ergebnis dieser Politik ist, schafft selber wiederholte politische Krisen und vorrevolutionäre Situationen. Nur eine Vertiefung des Klassenbewußtseins und der Militanz des Proletariats sowie das Erscheinen von antirestaurativen Verteidigern der Arbeiterdemokratie kann solche Krisen in eine voll entfaltete Revolution ummünzen. Diese Revolution wird einen kombinierten Charakter haben. Sie muß politische Revolution sein,insofern als sie die Enteignung einer sozialen Klasse – der Bourgeoisie – nicht zum zentralen Ziel hat. Dennoch hat eine solche Revolution enorme gesellschaftliche, d.h. antikapitalistische Aufgaben zu bewältigen. Als politische Revolution ist sie nichtsdestotrotz gegen ein bürgerliches Regime gerichtet, das die ganze oder Teile der Staatsmacht in Händen hält. Ihr bleibt die Aufgabe der Eroberung der Staatsmacht und der Gründung eines Arbeiterstaats, gestützt auf Sowjets.

In den todgeweihten degenerierten Arbeiterstaaten, wo restaurative Regierungen mit der Durchsetzung der Restauration des Kapitalismus befaßt sind, müssen revolutionäre Kommunisten Verfechter eines Programms von Sofort- und Übergangsforderungen sein, um die soziale Konterrevolution aufzuhalten und umzukehren; ein Programm, das in seiner Gesamtheit nur das Programm einer revolutionären Arbeiterregierung sein kann.

• Für einen Mindestlohn, der zum Leben ausreicht und den Kauf eines üblichen Güterkorbes gewährleistet und von Arbeiterbasisorganisationen festgelegt wird.

• Für eine gleitende Lohnskala, eine automatische angepaßte Lohnerhöhung bei jedem Preisanstieg, festgelegt von gewählten Komitees, bestehend aus Arbeitern, im besonderen Frauen und Rentnern, der jeden Preisanstieg kompensiert.

• Schluß mit allen Preiserhöhungen! Preise für Nahrungsmittel, Kleidung, Transport, Mieten und Brennstoff dürfen nicht steigen. Die einzige Währungsreform, die den Interessen der Werktätigen und nicht der Spekulanten dient, ist jene, die von einer Arbeiterregierung durchgeführt wird.

• Alle privaten und staatlichen Warenhäuser und Lebensmittelvorratslager unter Kontrolle von bewaffneten Arbeitereinheiten, unter Arbeiterinspektion und -verteilung. Beschlagnahme aller von Bürokraten, Schwarzmarkthändlern oder Privatgeschäften gehorteten Güter. Arbeiter müssen alle Hilfslieferungen aus imperialistischen Ländern kontrollieren und verteilen.

• Gewählte Arbeiterausschüsse müssen die Konten von Unternehmen und Planungsministerien, von Spezialläden für die Bürokratie und von neuen Spekulanten inspizieren. Nur dann wird das Ausmaß von Korruption, Aneignung und Diebstahl am Produkt des Arbeiterstaates aktenkundig, können die Schuldigen bestraft werden und kann ein neuer Produktions- und Verteilungsplan entstehen.

• Organisierung des unmittelbaren Austausches zwischen Stadt und Land. Die ländliche und städtische Arbeiterschaft sollen gemeinsam faire Austauschraten und sogar -preise zwischen Industrie- und Landwirtschaftsprodukten regeln.

• Wiederherstellung des Rechts auf Arbeit und der Gelegenheit dazu. Den gegenwärtig Arbeitslosen muß eine Arbeitsstelle angeboten oder der durchschnittliche Industrielohn bezahlt werden. Nein zu allen Entlassungen ohne gleichrangigen Ersatzarbeitsplatz bei gleicher Entlohnung. Besetzung aller Fabriken, Bergwerke, Läden und Büros, die Entlassungen verfügen oder schließen wollen. Die müßigen Angehörigen der Bürokratie, die Unternehmensmanager und die schmarotzenden Spekulanten sollen nützliche Arbeit in den Fabriken und auf dem Land zum Durchschnittsverdienst eines Arbeiters verrichten.

• Für Arbeiterverwaltung in jedem Unternehmen. Keine Privatisierung, auch nicht in Form von veräußerbaren Betriebsbeteiligungen, die ganz oder teilweise an die Belegschaft ausgegeben werden. In einem Arbeiterstaat gehören die Fabriken bereits per Gesetz den Arbeitern. Keine Enteignung von Arbeitereigentum.

• Keine Kürzungen im Sozialwesen. Für ein massives Programm zur Wohnungsinstandsetzung und zum Bau von neuen Wohnungen, Kinderkrippen, Schulen und Kliniken. Niemand sollte arbeitslos sein und niemand müßig sein, während es anderen am elementar Notwendigsten fehlt.

• Mindestlohn für alle, der zum Leben ausreicht; Renten, die nicht darunter liegen und geschützt durch eine gleitende Skala.

• Notmaßnahmen zur Linderung der Wohnungsknappheit. Beschlagnahme der Datschen und großen Appartements der Altbürokraten und Neureichen. Besetzung aller Staatsgebäude, die nicht dem Gemeinwohl der Arbeiterklasse dienen und Umwandlung in Unterkünfte für junge Familien und Arbeitslose.

• Arbeiterkomitees müssen eine Inventur des Staatseigentums nach dem Stand vor Regierungsantritt der restaurativen Regierung machen. Die Bereicherung und das Horten der früheren Bürokratie muß ans Licht, und alle Ressourcen des Arbeiterstaates in gemeinschaftliches Eigentum rückgeführt werden. Jede ‚Enteignung‘ von Staatseigentum muß rückgängig gemacht werden.

• Nieder mit dem nationalen Chauvinismus. Kollektive Hinrichtung der Organisatoren von Pogromen und ‚ethnischen Säuberungen‘. Gnadenlose Unterdrückung von Faschisten und Antisemiten, Rassisten und Chauvinisten, die Angriffe auf nationale Miderheiten, Frauen, Lesben und Schwule und die Arbeiterorganisationen anzetteln. Keine Plattform, keine ‚demokratischen Rechte‘ für dieses Ungeziefer.

• Respekt vor den Beschlüssen der minderheitlichen Nationalitäten für Unabhängigkeit, wenn es ihre Wahl ist. Bedingungslose Verteidigung der demokratischen Rechte aller Nationalitäten gegen die stalinistische Unterdrückung alten Stils oder die nationalistische oder religiöse Unterdrückung neuen Stils. Genauso wie wir die demokratischen Rechte aller Minderheiten in Jugoslawien, China oder den Staaten der früheren UdSSR verteidigen, gilt dies auch für alle großrussischen, serbischen oder han-chinesischen Arbeiter in Gegenden, wo sie nun die Minderheit darstellen und Unterdrückung erleiden könnten.

• Für Arbeitermiliz zum Schutz der Arbeiterkämpfe, zur Zerschlagung der Faschisten und Pogromorganisatoren und zur Niederwerfung der bewaffneten Aufstände der Konterrevolutionäre.

Um die Wiederherstellung des Kapitalismus zu verhindern, wartet auf die Arbeiter eine kombinierte Aufgabe, der Kampf gegen die bürgerlichen Vollzugsorgane und ein Kampf zur Rettung der Überbleibsel der geplanten staatseigenen Produktions- und Verteilungsmittel. Für diesen zweiten Teil müssen sie den Kampf zum Sturz der restaurativen Regierungen aufnehmen und Arbeiterregierungen, gestützt auf Arbeiterräte an die Macht bringen. Die restaurativen Kräfte können nicht durch friedliche Mittel allein aus dem Amt entfernt werden, doch je entschlossener und stärker die Arbeiter mobilisieren, desto weniger teuer wird ein solcher Sieg sein. Eine Arbeitermiliz muß die einfachen Soldaten für ihre Sache gewinnen.

Es besteht kein Mangel an Waffen oder an Gelegenheit, sie zu bekommen. Die meisten Arbeiter haben einen Militärdienst absolviert. Die Arbeiter können und müssen sich bewaffnen. Mit der Waffe in der Hand können Arbeiter die Flammen des nationalistischen Hasses ausblasen, alle Minderheiten, die Streiks und Besetzungen schützen. Sobald die Gelegenheit zur Machteroberung kommt, können bewaffneten Einheiten in Verbindung mit den Sowjets diese Aufgabe durchführen und ein Arbeiterregierung errichten. Die Arbeiterregierung müßte Wahlen für Arbeitertribunale organisieren, um alle Verbrecher gegen die arbeitende Bevölkerung aus der Zeit der stalinistischen Diktatur oder der restaurationistischen Regimes vor Gericht zu stellen.

Die zentrale Aufgabe einer Arbeiterräteregierung ist die Zerschlagung der restaurativen Pläne und die Organisierung der Weltarbeiterbewegung zu seiner Verteidigung gegen unvermeidbaren imperialistischen Druck und Blockade. In der Ökonomie muß die Arbeiterregierung einen Notplan entwickeln und durchführen, um die Wirtschaft vor der völligen Auflösung zu retten. Er muß von den Arbeitervertretern aufgestellt und von der Arbeiterklasse selber in Gang gesetzt werden. Die dringendsten Maßnahmen eines solchen Plans sollten sein:

• Wiederherstellung des staatlichen Außenhandelsmonopols, Kontrolle des gesamten internationalen Handels durch gewählte Organe der Arbeiterinspektion. Die Hafen-, Flughafen-, Kommunikationsnetz- und Bankarbeiter können schnell entscheiden, welcher Handel im Interesse des Arbeiterstaats liegt und was Spekulation oder schädliche Profitmache ist. Druck auf die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern, ihre Regierungen zu zwingen, Handelsvereinbarungen zum Wohl des Notplans abzuschließen.

• Schluß mit allen Privatisierungen von großen Produktionsmitteln und Wiederverstaatlichung aller schon ausverkauften Wirtschaftszweige. Schließung der Aktien- und Warenbörsen. Untersuchung aller bisherigen Transaktionen und Bestrafung aller arbeiterfeindlichen Profiteure.

• Wiederherstellung des staatlichen Bankmonopols. Verstaatlichung aller Privatbanken unter Arbeiteraufsicht und -einsichtnahme. Beschlagnahme der Dollarberge der Spekulanten, joint ventures, Pseudo-Kooperativen und Privatkonten der Bürokraten durch den Arbeiterstaat.

• Nichtanerkennung der Auslandsschulden, Schluß mit allen Zahlungen und Bruch aller Ketten an IWF, Weltbank und europäische Bank der Restauration! Raus mit allen imperialistischen ‚Wirtschaftsberatern‘.

• Durchführung einer Geldreform im Interesse der Werktätigen. Geld als Wertmaß muß die für Industrie- und Landwirtschaftsprodukte aufgewendete Arbeitszeit so genau wie möglich messen. Die Inflation aus den letzten Jahren der bürokratischen Mißwirtschaft muß beendet werden, so daß die Arbeiterschaft eine rationelle Buchführung, ohne die Planung unmöglich ist, vornehmen kann.

• Umwandlung der kollektiven Agrarbetriebe in wirklich demokratische Kooperativen auf der Grundlage eine Arbeitskraft – eine Stimme. Errichtung von Arbeiterkontrolle auf den Kolchosen. Hilfestellung als Anreiz für kleine Höfe zu Kooperativ- Zusammenschlüssen durch Versorgung mit gemeinschaftlichen Ressourcen.

• Kleine Privatunternehmen im Bereich von industrieller Produktion, Verteilung, Einzelhandel und Dienstleistung sollten ihr Gewerbe betreiben und in Sphären zahlenmäßig sogar aufstocken können, wo Staat und Kooperativen die Nachfrage nicht abdecken können. Dieser Bereich von privatem Kleinkapital und Kleinbürgertum kann dem Arbeiterstaat sogar von Nutzen sein, vorausgesetzt, daß die dort Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind und ihre Arbeitsbedingungen und -zeit von den Ortssowjets reguliert werden, und vorausgesetzt, daß ihre Konten der Inspektion zugänglich sind und die Besteuerung zu Gunsten des Arbeiterstaates angesetzt ist.

• Reorganisierung eines Zentralausschusses zur Plankoordination und Aufbau ähnlicher Ausschüsse auf lokaler, regionaler und städtischer Ebene. Die Fachleute für Statistik, Wirtschaft und Verwaltung müssen zusammengezogen werden und unter Kontrolle von gewählten Arbeitervertretungen arbeiten. Es darf kein Wiederauftreten bürokratischer Privilegien geben. Kein Experte darf mehr verdienen als ein Facharbeiter, und alle Planungsorgane müssen die Beschlüsse der zuständigen Körperschaften der Arbeiterdemokratie ausführen.

• Der Notplan muß ein massives Bauprogramm zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur beginnen: Hausbau und Instandsetzungen, Kliniken und Krankenhäuser, Ausbau der Kindergärten, Schulen sowie höhere Schulen.

• Der Notplan muß das Kommunikations-, Verteilungs- und Transportsystem schnell verbessern. Militärfahrzeuge und Flugzeuge müssen in ein effektiviertes Frachtsystem eingebaut werden, so daß die Nahrungsmittel nicht verderben, bevor sie den Verbraucher erreicht haben. Ein längerfristiges Straßen- und Schienenbauprogramm, ein optimiertes Telekommunikationssystem, der Aufbau eines landesweiten Netzwerks von Warenhäusern, Kühlhäusern und Gefriertechnikanlagen können dafür sorgen, daß die Arbeit der Bauern nicht vergeudet ist.

• Der Notplan muß als ein zentrales Ziel die Einführung einer Reihe von Maßnahmen haben, die die Bedingungen der Frauen erleichtern. Verbesserungen bei der Qualität von Gütern, Verteilung und Einkaufsmöglichkeiten müssen den Frauen die erdrückende Bürde der Nahrungssuche und des endlosen Schlangestehens abnehmen. Fortschritte im Bereich Wohnungen, Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrichtungen, bei Kranken- und Altenpflege sollten dem Ringen um die Vergesellschaftung von Hausarbeit förderlich sein und die Frauen befreien, damit sie schließlich auch eine vollkommen gleichwertige Rolle im sozialen und öffentlichen Leben einnehmen können.

• Für das Recht der Frauen auf Arbeit bei gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit; Verteidigung des Mutterschaftsurlaubs mit Lohnfortzahlung und Schutz der Frauen vor gesundheitsschädigender Arbeit. Widerstand gegen Versuche, die Frauen zu Teilzeitarbeit mit Lohnverlust und schlechteren Arbeitsbedingungen zu zwingen – Wochenarbeitszeitverkürzung für alle Arbeiter. Verteidigung des Rechts der Frauen auf Abtreibung und Ausweitung des Zugangs zu Verhütungsmitteln.

• Die Kirchen, Tempel und Moscheen haben begonnen, Anspruch zu erheben auf die Einrichtung von Schulen sowie Kultur und Erziehung zu reglementieren. Sie dürfen keine Kontrolle über Schulen, Krankenhäuser oder Medien ausüben. Für wissenschaftliche und rationale Sexualerziehung ohne kirchlichen Aberglauben und Tabus.

Für internationale Solidarität

Die Arbeiterregierung muß entschieden, und das sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene, mit der konterrevolutionären Politik der Walesas, Jelzins oder Havels brechen. Die Verbündeten eines Arbeiterstaates können keine imperialistischen Welthaie und Ausbeuter des Proletariats der kapitalistischen Länder sein.

Die siegreiche politische Revolution muß sich an die Arbeiterbewegung der ganzen Welt und besonders an die Basis um Hilfe und Unterstützung wenden.

Die erfolgreiche russische Revolution 1917 hat massive Unterstützung in Europa, Asien und den Amerikas versammeln können, so daß der heldenhafte Widerstand der russischen Arbeiter die imperialistische Intervention abschütteln konnte. Die internationale Politik der siegreichen politischen Revolution muß im Gegenzug den Kämpfen der Arbeiter und unterdrückten Völker auf der ganzen Welt Wirtschafts- und Militärhilfe anbieten.

• Imperialisten, Hände weg von Kuba, Vietnam, Nordkorea und den anderen bürokratisch beherrschten Arbeiterstaaten. Militärischer und wirtschaftlicher Beistand gegen die US-Embargos, -Blockaden oder Interventionen. Für die sozialistische Wiedervereinigung von Korea, nein zu einer kapitalistischen Wiedervereinigung!

• Hilfestellung für die Arbeiter dieser Staaten zur Durchführung einer politischen Revolution. Nur revolutionäre Regierungen der Arbeiter- und Bauernräte werden imstande sein, diese Staaten zu retten. Für ein weltumspannendes Bündnis von Arbeiterstaaten, das in eine Föderation münden soll. Für die wirtschaftliche Koordination des Plans aller Arbeiterstaaten.

• Unterstützung für alle nationalen Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus. Hilfe für alle Arbeiter und unterdrückten Völker, die gegen Austeritäts- und Privatisierungspläne kämpfen, die vom IWF angeordnet sind.

• Opposition gegen alle Ausverkaufsgeschäfte und Verrätereien im Nahen Osten, in Südafrika, Südostasien, Afghanistan und Mittelamerika.

• Unterstützung für alle Kämpfe der Arbeiter in Osteuropa gegen die kapitalistische Restauration.

• Unterstützung für die unmittelbaren und revolutionären Klassenkämpfe der Arbeiter in der gesamten kapitalistischen Welt.

• Für eine neue freiwillige Föderation der sozialistischen Republiken der ehemaligen UdSSR; für eine neue freiwillige Föderation der sozialistischen Republiken auf dem Balkan.

• Für eine sozialistische Weltföderation von Arbeiterräterepubliken.




17. Juni 1953: Aufstand der Arbeiter:innen

Jürgen Roth, Infomail 1226, 18. Juni 2023

Auf der 2. Konferenz der SED im Juli 1952 wurde der „Aufbau des Sozialismus“ proklamiert: Forcierung der Schwerindustrie, Kollektivierung der Landwirtschaft und Aufbau der Nationalen Volksarmee. Daraufhin auftretende Engpässe bei Konsumgütern wurden zunächst dem Privatsektor angelastet. Dann senkte die Partei- und Staatsführung aber auch den Lebensstandard der Arbeiter:innen u. a. durch Preiserhöhungen, Senkung der Sozialversicherungsleistungen und Streichung von Subventionen. Das Kleinbürger:innentum flüchtete verstärkt in den Westen.

Am 9.6.1953 vollzog die SED dann eine Kehrtwendung. Der „Neue Kurs“ brachte große Zugeständnisse an Bürger:innentum und Mittelklassen: günstige Kredite, mehr Bewegungsspielraum für bürgerliche Parteien und Kirche, teilweise Rückgabe von Fabriken an die alten Besitzer:innen, Lockerung der Abgabepflicht für die Bäuer:innenschaft, Recht auf Austritt aus der LPG.

Die Arbeiter:innenklasse dagegen wurde durch Normerhöhung und Teuerung zusätzlich belastet. Ein Regierungsdekret vom 28. Mai verfügte neue Akkordsätze für die Bau- und Metallindustrie. Die Kampagne der SED für „freiwillige“ Normerhöhung traf auf erbitterten Widerstand besonders der Berliner Bauleute, die trotz freiwilliger Einsätze ihr Soll nur zu 77% erfüllt hatten.

Eine Resolution der Großbaustelle Stalinallee an „ihre“ Regierung zur Zurücknahme der Steigerungen wurde nicht beantwortet. Die am 15. in den Streik getretenen Berliner Baustellen verlangten von Grotewohl die Rücknahme der Normenerhöhung. Dem schloss sich am 16. die Stalinallee an, nachdem ein Artikel im Gewerkschaftsorgan „Die Tribüne“ die Akkordsteigerung energisch verteidigte. Nach der Verhaftung zweier Streikender wurde beschlossen, die tags zuvor verabschiedete Resolution Ulbricht und Grotewohl zu überbringen. 6000 Leute vor dem Haus der Ministerien warteten jedoch vergeblich auf sie.

Ein Sprecher verlas die Forderungen: „Sofortige Verringerung der Normen um 10%! Sofortige Preissenkung für den Grundbedarf um 40%! Entlassung der Funktionäre, die schwere Irrtümer begangen haben. Demokratisierung von Partei und Gewerkschaften von unten. Man soll nicht auf die Initiative der Bonner Regierung zur Wiedervereinigung warten. Die DDR-Regierung soll umgehend die trennenden Barrieren niederreißen. Man muss das Land durch allgemeine, freie und geheime Wahlen einigen und einen Sieg der Arbeiter bei diesen Wahlen sichern.“

Ein anderer Arbeiter rief den Generalstreik für den folgenden Tag in ganz Berlin aus. Eine Delegation zum Westberliner Rundfunksender RIAS konnte zwar ihre Forderungen bekannt geben, durfte aber nicht den Generalstreik erwähnen!

Generalstreik

Am folgenden Tag streikten ca. 150.000 Beschäftigte in Ostberlin. 30.000 forderten im Walter Ulbricht-Stadion den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung, welche die Sache der Wiedervereinigung den Händen der Reaktion entreißen und praktisch durchführen soll. Die Streikenden wahrten bewundernswerte Disziplin. Das änderte sich mit dem Eindringen reaktionärer Provokateur:innen aus dem Westteil; sie holten die rote Fahne vom Brandenburger Tor, provozierten die Volkspolizei und brandschatzten am Potsdamer Platz.

Um 13 Uhr verkündete der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand. Obwohl Panzer rollten, leerten sich die Straßen erst abends. Nach verschiedenen Quellen gab es 16 bis 19 Tote. Einige Betriebe streikten trotzdem noch bis zum 21. Juni.

Im übrigen Land gingen Streiks und Solidaritätsbekundungen von den Großbetrieben der Industriezentren aus, die schon 1919-23 die Hochburgen der KPD und KAPD waren: Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leipzig. Aber auch in Jena, Görlitz, Erfurt, Gera, Brandenburg und Rostock fanden blutige Straßenschlachten mit der Polizei statt, wurden SED-Büros gestürmt, Akten verbrannt, Funktionäre verprügelt, Gefängnisse geöffnet, Rathäuser und Verwaltungsgebäude besetzt. Sozialdemokratische Illusionen drückten sich in Parolen aus wie „Fort mit Ulbricht und Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer“ (damaliger SPD-Vorsitzender).

Entgegen der westlichen Propagandalüge war der 17. Juni kein Volksaufstand für die Eingliederung der DDR in den „Freien Westen“, aber auch kein faschistischer Umsturzversuch, wie es die SED behauptete. Er war ein im Kern ein Arbeiter:innenaufstand. Nicht zufällig bildeten die strategisch bedeutsamen Grundstoff- und Schwerindustrien die Zentren des Widerstands.

Der erste unabhängige Schritt der Belegschaften bestand in der Einberufung von Versammlungen, oft noch auf dem „Dienstweg“ über die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL). Dann bestimmten sie ein unabhängiges Streikkomitee. Die Streikausschüsse setzten zumeist die Direktor:innen ab, lösten die SED-Betriebszelle auf, sicherten die Betriebe gegen Sabotage und organisierten den Notdienst.

Die klassenbewussteste Belegschaft im ganzen Land war wohl die des Leuna-Werks „Walter Ulbricht“, die am 17.6. forderte: Schluss mit der Normenkampagne, Entwaffnung des Werkschutzes, Absetzung der BGL, Namensänderung des Werks und Rücktritt der Regierung. Das Werk war besetzt, ein Fabrikkomitee gab Informationen und Anweisungen übers Radio. 1500 Betriebsangehörige wurden nach Berlin entsandt, um den Generalstreik zu vereinheitlichen. Der Streik dauerte trotz zahlreicher Verhaftungen bis zum 23.

Im Industriedreieck Halle – Bitterfeld – Merseburg waren die Doppelherrschaftsorgane am weitesten entwickelt und umfassten neben der Industriearbeiter:innenschaft auch andere Teile der Bevölkerung: Angestellte, Kaufleute, Hausfrauen, Student:innen. Sie wurden teilweise auf öffentlichen Plätzen durch Zuruf gewählt, nahmen die Verwaltung in ihre Hände: Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Feuerwehr, Lokalrundfunk, Druckereien.

In Bitterfeld kontrollierten Kampfgruppen der Arbeiter:innen die Stadt, schalteten Polizei und Verwaltung aus und befreiten politische Gefangene. Trotz dieser guten Ansätze entwickelte sich in der kurzen Zeit aus dem spontanen Generalstreik keine landesweite Kampfführung.

Instinktiv hatten die Arbeiter:innen aber begriffen, ihre Bewegung auf ganz Deutschland ausweiten zu müssen. Deshalb wurde der Generalstreik auch für Gesamtberlin ausgerufen!

Dem Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski wurde verboten, zum Solidaritätsstreik aufzurufen, ja das Wort auch nur in den Mund zu nehmen! Bourgeoisie, westliche Stadtkommandanten und sozialdemokratische Arbeiter:innenbürokratie in Partei und Gewerkschaft fürchteten eine Ausweitung des Streiks wie der Teufel das Weihwasser. Solidaritätsbekundungen, wie von der Sozialistischen Jugend und einigen Betrieben gefordert, wurden verboten. Nur BRD-staatstragende Protestversammlungen gemeinsam mit den Westalliierten, CDU und FDP erlaubt.

Auswirkungen

Die SED übte nach den Juniereignissen „Selbstkritik“ und senkten die Normen um 10%. Die meisten Gefangenen wurden entlassen; Wohnungsbau und Konsumgüterindustrie erhielten Ressourcen aus dem Schwerindustriefonds. Formal gestand der Justizminister sogar das Streikrecht zu.

Trotzdem forderten die Arbeiter:innen weiter die Absetzung bestimmter Funktionäre. Mit dem Vorwurf des „Sozialdemokratismus“ wurden viele Parteimitglieder ausgeschlossen. Wie lügnerisch dieser ist, kann man daran sehen, dass die „Abweichlerzentren“ ehemalige KPD-Hochburgen waren. Der Anteil ausgeschlossener SEDlerinnen, die bereits vor 1933 in der KPD organisiert waren, betrug in Halle 71%, in Leipzig 59%, 52% in Magdeburg, 68% in Ostberlin, 61% in Bautzen!

Paradoxerweise rettete der Generalstreik das Regime Ulbrichts und kostete seine Konkurrenten (Herrnstadt, Zaisser u. a.) ihre Posten. In der UdSSR stürzte Berija. Die sowohl utopischen wie reaktionären Deutschlandpläne der SU, die den degenerierten Arbeiter:innenstaat DDR zugunsten eines wiedervereinigten bürgerlichen, aber blockfreien Deutschland opfern wollten, waren danach ebenfalls vom Tisch.

Die revolutionäre Situation, die der Arbeiter:innenaufstand schuf, konnte aufgrund des Fehlens einer revolutionären trotzkistischen Arbeiter:innenpartei nicht in eine politische, antibürokratische Revolution münden. Sie war aber Signal für die Arbeiter:innen anderer „Volksdemokratien“: 1953 in Workuta (UdSSR), 1956 in Ungarn, Polen und der CSSR, 1968 wiederum in der CSSR, 1970, 1976 und 1980/81 in Polen sowie ab 1989 in ganz Osteuropa und der UdSSR bedrohten Unruhen, Aufstände und Revolutionen die Herrschaft der stalinistischen Kaste.

Die Ereignisse von 1989 zeigten, dass deren Stabilität viel geringer als die einer Klasse ist, weil sie kein eigenes soziales Fundament und darauf begründete politische Legitimation besitzt. In ihrer Rolle als politische Agentur des Weltimperialismus innerhalb der degenerierten Arbeiter:innenstaaten verteidigte sie deren Grundlagen nur auf Kosten des Verrats an der internationalen Revolution, der Unterdrückung der eigenen Arbeiter:innenklasse und nur solange, wie sie die Privilegien der Nomenklatura garantierten.

Aktionsprogramm

Ein kommunistisches Aktionsprogramm für die Situation 1953 musste auch die Frage der Wiedervereinigung beantworten. In der DDR hatte bereits eine soziale Umwälzung stattgefunden, wenn auch unter der Knute einer stalinistischen Bürokratie. Wiedervereinigung bedeutete folglich, unter keinen Umständen eine bürgerlich-kapitalistische Wiedervereinigung zuzulassen. Das lag aber auch nicht in der Absicht der Streikenden. Allerdings gab es auch demokratische Illusionen nach freien Wahlen in der Arbeiter:innenklasse der DDR. Die Forderung nach einer revolutionären verfassunggebenden Versammlung, die sich auf die Räte und Streikkomitees stützt und eine Planwirtschaft unterstützt, wäre eine zentrale Losung gewesen. Die Ausdehnung der Komitees auf Westdeutschland war Voraussetzung einer revolutionären Wiedervereinigung.

Abgesandte Delegierte der Streikkomitees zu den Westberliner Betrieben, um Versammlungen abzuhalten, gewerkschaftliche Aktionseinheit und Verbindungskomitees für einen Generalstreik von unten, gekoppelt mit Aufrufen an Gewerkschafts- und SPD-Führung den Streik zu führen, entschädigungslose Verstaatlichung der Schwerindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle, Abzug der alliierten Besatzungstruppen der NATO hätten zentrale Forderungen sein müssen. Der Sturz Adenauers und Ulbrichts müsste in der Losung nach einer Arbeiter:innenregierung, gestützt auf die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse, kulminieren. Die Schaffung einer revolutionären Partei stand in dieser Situation unmittelbar auf der Tagesordnung.




Ukraine: Nationale Frage und die Frauen

Susanne Kühn / Oda Lux, Fight!, Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig: in den Medien und im Alltag. Man sieht vor allem Bilder von kämpfenden Männern, geflüchteten Frauen oder von Daheimgebliebenen in zerstörten Häusern. Das erfasst die Lebensrealität und die Lage der Frauen in der Ukraine nur zum Teil. Denn obwohl unter anderem aufgrund des Kriegsrechtes, welches ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise verbietet, ein sehr großer Teil der Menschen, die Westeuropa erreichen, Frauen sind, wird die Frage, wie es eigentlich um ihre Situation in diesem Konflikt und der Ukraine generell steht, verhältnismäßig wenig gestellt.

Um deren Lage – wie die Situation in der Ukraine – selbst zu verstehen, ist es jedoch auch erforderlich, kurz auf die nationale Unterdrückung seit dem Zarismus einzugehen.

Wir halten dies allerdings für dringend notwendig, weil bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am ukrainischen Nationalismus Ingoranz gegenüber der nationalen Frage in der Ukraine vorherrscht – nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit oder bei unverbesserlichen Putinist:innen, sondern auch in weiten Teilen der „radikalen“ Linken.

Dies ist umso wichtiger, weil der reaktionäre und barbarisch geführte Krieg Russlands nicht nur abertausenden ukrainischen Zivilist:innen das Leben gekostet, hunderttausende obdachlos gemacht und verarmt, sondern Millionen – vor allem Frauen – zur Flucht gezwungen hat. Er hat auch einem reaktionären und historisch eher schwachbrüstigen bürgerlichen Nationalismus massiven Zulauf verschafft. Und es ist klar, dass dieser ohne Lösung der ukrainischen nationalen Frage nicht entkräftet werden kann.

Genau darin, in der Anerkennung der Bedeutung der nationalen Unterdrückung als einer Schlüsselfrage in der Ukraine bestand die historische Errungenschaft Lenins – eine Errungenschaft, die allerdings auch schon zu seinen Lebzeiten in der Bolschewistischen Partei umstritten war. Unter dem Stalinismus wurde letztlich die nationale Unterdrückung nur in anderer Form reproduziert.

Ukraine und ihre nationale Unterdrückung

Im 19. Jahrhundert, in der Phase der Herausbildung der Nation, waren die Ukrainer:innen in ihrer großen Mehrheit Bewohner:innen des zaristischen Russland, Gefangene eines Völkergefängnisses (ein bedeutender Teil der Westukraine gehörte zur Habsburger Monarchie).

Die Existenz der ukrainischen Nation wurde vom Zarismus bestritten, ja bekämpft. Sie wurden ganz im Sinne des großrussischen Chauvinismus als „Kleinruss:innen“ bezeichnet. Im Zuge der Russifizierungspolitik wurden ukrainische Literatur und Zeitungen ab 1870 verboten, um so diese Kultur zwangsweise zu assimilieren. Die Revolution von 1905 erzwang zwar die Aufhebung dieser Gesetze bis 1914, aber im Ersten Weltkrieg wurde das Verbot der ukrainischen Sprache wieder eingeführt. Erst die Revolution 1917 hob diese wieder auf.

Die entstehende ukrainische Nation setzte sich in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern/Bäuerinnen zusammen, die eine gemeinsame Sprache und auch ein Nationalbewusstsein pflegten. Die herrschenden Klasse und die kleinbürgerlichen städtischen Schichten setzten sich aber vorwiegend aus Nichtukrainer:innen zusammen – westlich des Dnepr waren es vor allem polnische Grundbesitzer:innen, östlich des Dnepr russische. Die städtischen Händler:innen waren vor allem Juden/Jüdinnen.

Die Industrialisierung der Ukraine setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Donbass (Donezbeckens) ein. Die Arbeiter:innen in den Bergwerken wie auch die Kapitalist:innen waren zum größten Teil großrussische Migrant:innen.

Ende des 19. Jahrhunderts sah die nationale Zusammensetzung der ukrainischen Gouvernements im zaristischen Reich wie folgt aus: 76,4 % Ukrainer:innen, 10,5 % Großruss:innen, 7,5 % Juden/Jüdinnen, 2,2 % Deutsche, 1,3 % Pol:innen und 2,1 % andere. Auf dem Land bildeten die Ukrainer:innen mit 82,9 % die überwältigende Mehrheit, in den Städten machten sie aber lediglich 32,2 % der Bevölkerung aus.

Die nationale Frage in der Ukraine war also eng mit der Agrarfrage verbunden und nahm auch die Form eines Stadt-Land-Gegensatzes an. Zweitens war und wurde die Ukraine im Krieg auch Kampfplatz zwischen Großmächten, die ihre wirtschaftliche und geostrategische Konkurrenz auf ihrem Gebiet austrugen.

Ukrainischer Nationalismus

Der ukrainische bürgerliche Nationalismus entwickelte sich erst spät, in der zweiten Hälfte in den Städten des zaristischen Russland oder im Habsburger Reich, wo die ukrainische Kultur und Sprache weniger extrem unterdrückt wurden. Von Beginn an stützte er sich auf eine relativ schwache ukrainische Bourgeoisie und Intelligenz. Im zaristischen Russland war er außerdem von Beginn an – auch aufgrund der Rolle der orthodoxen Kirche und einer Teile-und-herrsche-Politik des Zarismus – stark antipolnisch und auch antisemitisch geprägt. Zugleich offenbarte er schon früh eine Bereitschaft, sich politisch verschiedenen Mächten unterordnen, was sich im Ersten Weltkrieg, im Bürger:innenkrieg und in extremster Form in der Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen (insb. von Banderas OUN; Organisation Ukrainischer Nationalist:innen) mit den Nazis ausdrückte.

Es wäre aber falsch, ihn als rein reaktionäre Strömung zu betrachten. Neben einem von Beginn an überaus zweifelhaften bürgerlichen Nationalismus bildeten sich auch linkere, oft sozialrevolutionäre, populistische Strömungen heraus, die eine reale Basis unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft besaßen (darunter auch Sozialrevolutionär:innen, später auch halbanarchistische Strömungen, deren bekannteste die Machnobewegung war). Die fortschrittlichste Kraft stellten sicher die Borot’bist:innen dar (linke Nationalist:innen, die sich dem Kommunismus zuwandten und schließlich mit der KP der Ukraine verschmolzen; Borot’ba = dt.: Kampf).

Arbeiter:innenbewegung und Bolschewismus

Die Arbeiter:innenbewegung konnte vor der Oktoberrevolution in der ukrainischen Bevölkerung – das heißt unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft – faktisch keinen Fuß fassen (und sie hat das auch kaum versucht). Nach der Revolution trat Lenin – auch gegen massive Widerstände unter den Bolschewiki – entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein (einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit). Zweifellos stellte dies einen Schlüssel für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft zu Beginn der 1920er Jahre dar. Die bolschewistische Politik in der Ukraine und im Bürgerkrieg war jedoch schon in dieser Periode keineswegs frei von großrussisch-chauvinistischen Zügen, die jedoch innerparteilich vor allem von Lenin bekämpft wurden.

Dass die Bolschewiki schließlich die Ukraine gegen verschiedene konterrevolutionäre und imperialistische Kräfte gewinnen konnten, lag, wie E. H. Carr in „The Bolshevik Revolution“ treffend zusammenfasst, daran, dass sie den Bauern/Bäuerinnen als das „kleinste Übel“ verglichen mit den Regimen aller anderen Kräfte erschienen, die ihr Land ausgeblutet hatten.

In jedem Fall versuchten die Bolschewiki teilweise schon während, vor allem aber nach dem Bürger:innenkrieg, das Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung zu verbessern und sie so praktisch  davon zu überzeugen, dass sie deren nationale Selbstbestimmung anerkannten und den großrussischen Chauvinismus nicht in einer „roten“ Spielart reproduzieren wollten.

Dazu sollten vor allem zwei Mittel dienen:

a) Die Korenisazija (dt.: Einwurzelung), eine Politik, die darauf abzielte, die Kultur und Sprache der unterdrückten Nationen, ihren Zusammenschluss in eigenen Republiken oder autonomen Gebieten zu fördern und Angehörige der unterdrückten Nationen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Staatsapparat und die Partei zu integrieren. Außerdem sollte so auch die Herausbildung oder Vergrößerung des Proletariats unter den unterdrückten Nationen gefördert werden.

b) Die Neue Ökonomische Politik (NEP). Dieser zeitweilige Rückzug auf dem Gebiet der ökonomischen Transformation auf dem Land sollte einerseits die Versorgung der Städte bessern und die Produktivität der Landwirtschaft steigern, andererseits aber auch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stabilisieren, das im Bürger:innenkrieg durch das System der Zwangsrequirierung landwirtschaftlicher Produkte und Not im Dorf extrem angespannt war.

Zwangskollektivierung und großrussischer Nationalismus der Bürokratie

Der entstehenden und schließlich siegreichen Bürokratie Stalins waren jede reale Autonomie und Selbstbestimmung der Nationen in der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Die Politik der Zwangskollektivierung, selbst eine bürokratisch-administrative Reaktion auf ihre vorhergegangenen Fehler, kostete Millionen Bauern/Bäuerinnen in der Sowjetunion das Leben. In der Ukraine nahm diese Politik besonders brutale Formen an. Hilfslieferungen an die hungernden und verhungernden Landbewohner:innen wurden verweigert, Flüchtenden wurde das Verlassen der Ukraine verwehrt.

Damit sollten auch die Reste ukrainischen Widerstandes gebrochen werden. Die Politik der Zwangskollektivierung wird von einer im Kern großrussisch-chauvinistischen Kampagne gegen den „ukrainischen Nationalismus“ und mit der Abschaffung der Korenisazija verbunden.

Der barbarische Hungertod von Millionen Ukrainer:innen erklärt auch die Entfremdung der Massen vom Sowjetregime und warum ein extrem reaktionärer Nationalismus unter diesen in den 1930er Jahren Fuß fassen konnte. Ohne eine schonungslose revolutionären Kritik, ohne einen klaren politischen und programmatischen Bruch mit dem Stalinismus und ohne ein Anknüpfen am revolutionären Erbe der Lenin’schen Politik wird es unmöglich sein, die ukrainischen Massen vom ukrainischen Nationalismus zu brechen.

Frauenpolitik und Stalinismus

Der reaktionäre Charakter der Politik des Stalinismus zeigte sich in den 1930er Jahren auf allen Ebenen, insbesondere auch bei der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Sieg der Bürokratie wird die „sozialistische Familie“ zum Leitbild ihrer Frauenpolitik. In der Sowjetunion (und auch in der Ukraine) wird eine Hausfrauenbewegung gefördert. Auch die werktätige Frau ist zugleich und vor allem glückliche Hausfrau und Mutter.

Mit der Industrialisierung, aber auch im Zweiten Weltkrieg werden Frauen zu Millionen in die Produktion eingezogen, zu Arbeiterinnen. Zugleich werden während des Krieges reaktionäre Geschlechterrollen zementiert und verstärkt. So wird die Koedukation von Jungen und Mädchen in der Sowjetunion 1943 abgeschafft, Scheidungen werden fast unmöglich und unehelich Geborene werden rechtlich schlechter gestellt.

Obwohl Frauen einen relativ hohen Anteil in einzelnen Abteilungen der Roten Armee stellten, tauchen sie in der offiziellen Darstellung kaum auf. Der Faschismus wird, offiziellen Darstellungen zufolge, von den männlichen Helden vertrieben und geschlagen, denen die Frauen in der Heimat, im Betrieb und in der Hausarbeit den Rücken frei halten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wird das reaktionäre Frauenbild weiter ideologisch aufrechterhalten. Trotz einer weitgehenden Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt wurde die Mutterschaft als Hauptaufgabe der Frau betont, gesellschaftlich gefördert und belohnt. So wurden Prämien und Orden für Mütter, die 5 oder mehr Kinder zur Welt brachten, eingeführt. Alleinlebende oder auch kleinere Familien wurden zur Zahlung eine Spezialsteuer verdonnert.

Nach Stalins Tod tritt unter Chruschtschow eine gewisse Liberalisierung ein. So wird die Abtreibung wieder legalisiert. Darüber hinaus gibt es einige Verbesserungen für die Frauen.

Diese zeigen sich vor allem auf dem Gebiet der Bildung. So steigt der Anteil der Absolventinnen von Fachhochschulen bis in die 1970er Jahre auf rund 50 % – ein Anteil, der zu diesem Zeitpunkt von keinem westlichen Staat erreicht wurde. Außerdem wurden eine Reihe von staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderbetreuung oder auch ein flächendeckendes System leicht zugänglicher (wenn auch oft nicht besonders guter) Kantinen oder Speisehallen geschaffen.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Unterdrückung der Frau bleiben jedoch bestehen. Frauen leisten weiter den größten Teil der privaten Hausarbeit. Im Berufsleben waren sie bis auf weniger Ausnahmen weiter auf typische „Frauenberufe“ oder schlechter bezahlte Tätigkeiten (Bildungswesen, Gesundheit, Ärzt:innen, Putz- und Hilfspersonal, Handel, Nahrungsmittelindustrie, Textil, auch generell Fließbandarbeiter:innen) konzentriert. Der Zutritt zu vielen von insgesamt über 450 „Männerberufen“ wurde ihnen verwehrt (darunter z. B. Lokführerin oder Fahrerin von großen LKWs). Der Durchschnittslohn lag in den 1970er und 1980er Jahren immer noch bei nur 65 – 75 % der Männer.

Restauration des Kapitalismus

Die Krise der Sowjetwirtschaft in den 1980er Jahren und die schockartige Restauration des Kapitalismus trafen die Arbeiter:innenklasse, vor allem aber die proletarischen Frauen mit extremer Härte auf mehreren Ebenen:

a) Massive Entlassungen und Schließungen treffen vor allem Frauen in den schlechter bezahlten Tätigkeiten, insbesondere wenn ganze Industrien bankrott gehen.

b) Die Verschuldung und Währungskrisen führen zu massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor (Privatisierungen und Schließungen) und daher auch Massenentlassungen in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.

c) Zugleich werden soziale Leistungen massiv gekürzt, Kitas und Kantinen geschlossen (insbes. die betrieblichen). Die Preise steigen massiv für Wohnungen und Lebensmittel.

d) Zugleich werden ein reaktionäres Frauenbild und reaktionäre Geschlechterrollen ideologisch verfestigt und „neu“ eingekleidet. Sexismus, reaktionäre Familienideologie und Homophobie müssen nicht erfunden werden, sondern greifen Elemente des Stalinismus auf und kombinieren sie mit tradierten bürgerlichen Vorstellungen.

e) Der Anteil an Frauen unter den Beschäftigten sinkt in der Ukraine (wie überhaupt die Beschäftigung sinkt). Zugleich werden mehr Frauen in die Prostitution gezwungen oder verschleppt – sei es aus ökonomischer Not, sei es direkt gewaltsam in illegalen Frauenhandel.

Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetstaaten und der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat veränderte sich also auch das gesellschaftliche Gefüge. Eine Spaltung der Gesellschaft verlief zwischen der prorussischer und proeuropäischer Seite. Die alten KP-Strukturen wurden durch neue ersetzt. Ebenso wie in anderen ehemaligen sowjetischen Staaten setzten sich Oligarch:innen, vor allem Männer, an die Macht und blieben an ihr kleben. Bezeichnend ist, dass es bis heute keine Präsidentin gab und auch nur eine weibliche Premierministerin, Julija Tymoschenko (2005; 2007 – 2010). Die sog. orangene Revolution von 2004 – 2005, die auch mit Generalstreiks einherging, verhalf ihr an die Macht. Allerdings kann sie nicht als eine progressive Führungsfigur eingeschätzt werden, die sich an die Spitze einer Bewegung für mehr weibliche Partizipation hätte setzen können. Auch die Maidanbewegung 2013/14 vermochte es nicht, den Einfluss von Frauen großartig zu steigern.

Was sie allerdings geschafft hat, ist, die Annäherung an den Westen weiter voranzutreiben. Dies umfasst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Einerseits wäre da die Annäherung an die EU, welche zwar Privatisierungen, massive Militärausgaben, Sozialkürzungen und viele weitere Angriffe, welche auch Frauen treffen, zur Folge hatte, aber eben als Nebeneffekt auch politische Reformen voranbrachte, welche aufgrund ihrer Stoßrichtung zur „liberalen“ bürgerlichen Demokratie bessere Bedingungen für einen Kampf zur Frauenbefreiung schaffen. So wurde beispielsweise eine Frauenquote von 30 % bei lokalen Wahlen beschlossen, welche nicht umgesetzt wird, aber trotzdem eine Verbesserung darstellt. Auch die Reformen im Bereich von Justiz und Strafverfolgung sowie Korruptionsbekämpfung kommen vor allem Frauen zugute, da diese am wenigsten von den „Vorteilen“ profitieren und am meisten unter den Nachteilen leiden. Parallel dazu begann 2014 auch ein faktischer Bürger:innenkrieg in der Ukraine, der zur Gründung der Donbassrepubliken und zur Annexion der Krim durch Russland führte.

In der Zwischenzeit ist die starke Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushaltes vom Westen noch gestiegen. Zusammen mit den bereits vorher stattgefundenen Maßnahmen an Sozialkürzungen und Privatisierungen führte dies dazu, dass noch mehr Menschen in Armut stürzen (rund 50 % der Bevölkerung). Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei knapp einem Drittel und es ist über den weiteren Winter mit vielen Stromausfällen und Heizungsengpässen zu rechnen, da knapp zwei Drittel der Energieinfrastruktur zerstört sind. All das trifft Frauen, die in der Ukraine knapp 10 % weniger Beschäftigungsanteil haben als Männer, stärker. Die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie fällt besonders schwer ins Gewicht, wenn der Alleinverdiener stirbt und die nun Alleinerziehende weniger Aussichten hat, einen Job zu bekommen, in dem sie dann auch noch geringer bezahlt wird.

Die Ukraine: nicht nur blau und gelb, sondern auch „rein weiß“?

Die heutige Ukraine ist auch ein Vielvölkerstaat mit diversen Ethnien, Sprachen und Religionen. Neben Ukrainer:innen und Russ:innen umfasst sie mehr als 130 ethnische Gruppen und viele Minderheitensprachgruppen, von denen die größte Gruppe Roma/Romnja sind. Etwa 400.000 leben im Land. Dies ist wichtig zu wissen, da sie nur selten erwähnt werden und historisch überall, wo sie sich aufhielten, diskriminiert und schlimmstenfalls systematisch verfolgt wurden. In den letzten 10 Jahren gab es in der Ukraine mehrere Pogrome gegen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja bei denen Menschen getötet und vertrieben wurden. Besonders rechtsextreme Gruppen hatten es auf sie abgesehen, aber vom Staat gestützt wurden sie dennoch nicht. Auch auf der Flucht sind sie dem Antiziganismus in Osteuropa sowie in Ländern wie Deutschland ausgesetzt. Zum Teil wurden sie an der Ausreise gehindert und es gab sogar Bilder von massakrierten sowie zur Schau gestellten Personen. Schafften sie es doch bis nach Deutschland, so war es für sie schwierig, staatliche Hilfe zu erlangen. Einerseits weil es ein generelles rassistisch motiviertes Misstrauen gegenüber Sinti/Sintizze und Roma/Romnja gibt, andererseits besitzen viele keine Pässe und konnten daher ihre Ansprüche nicht beweisen.

Eine weitere Gruppe, die zeigt, dass die Ukraine nicht so weiß ist, wie auch in den deutschen Medien gerne suggeriert, ist die Gruppe der Migrant:innen aus aller Herren Länder, die zum Arbeiten oder Studieren ins Land gekommen waren. Auch die Ukraine ist und war eine heterogene Gesellschaft. Dies wirkt sich auch auf die Lage der Frau sehr unterschiedlich aus – ein starkes Stadt-Land- wie auch Ost-Westgefälle sind hier zu sehen. Zu oft vergessen wird allerdings, dass auch die Gesellschaft ethnisch und sprachlich vielfältiger ist, als es häufig dargestellt wird, weswegen neben sexistischer Diskriminierung und auf Geschlecht basierender Vulnerabilität noch rassistische Diskriminierung hinzukommt. Egal ob noch im Land selbst oder auf der Flucht, befinden sich diese Personen noch mal in einer besonders prekären Situation.

Der Einmarsch des russischen Imperialismus hat die Lage der Frauen und der Minderheiten noch einmal dramatisch verschlechtert. In der Ukraine überzieht der russische Imperialismus das Land mit einem reaktionären Eroberungskrieg. Zugleich findet der Kampf zwischen dem russischen Imperialismus und den westlichen Mächten statt, nimmt der Krieg wichtige Aspekte eines Stellervertreter:innenkrieges an.

Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer:innen natürlich das Recht, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, sich selbst zu verteidigen. Die historische Entwicklung und der Krieg zeigen jedoch auch, wie untrennbar der Kampf um Selbstbestimmung, gegen die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten mit dem gegen westliches Großkapital, russische Oligarchie und die „eigene“ herrschende Klasse verbunden ist.




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2

Leo Drais, Neue Internationale 271, Februar 2023

Am 2. Februar 1943 kapitulierten die ausgehungerten und halb erfrorenen Reste der 6. Armee im Kessel von Stalingrad. 80 Jahre später, in einer Zeit, in der der Krieg um die Neuaufteilung der Welt wieder auf europäischem Boden tobt, wird von allen beteiligten Seiten die Erinnerung an die Vergangenheit für den eigenen Zweck in die Gegenwart geholt. Es ist das Heute, in dem die Geschichte von gestern geschrieben wird.

Die russische Propaganda bemüht den Heldenmut der Roten Armee, bezieht sich auf die einstige sowjetische Größe, um im Krieg gegen die angeblich faschistisch beherrschte Ukraine eigene imperialistische Ansprüche moralisch zu verkleiden.

In Deutschland wird demgegenüber die Erinnerung an Stalingrad wie immer von einer Zahl begleitet: 6.000. So viele Wehrmachtssoldaten fanden den Weg zurück nach Deutschland und Österreich. 95 Prozent derer, die in Stalingrad kämpften, starben dort oder in Gefangenschaft. Es ist eine der Zahlen, die in der bundesdeutschen Geschichte betont wird, seit es sie gibt. Sie ermöglicht, dass die bürgerlich-demokratische Imperialistin Bundesrepublik als Nachfolgerin des Dritten Reichs gerade in der Erinnerung an die „bis zum Schluss treue 6. Armee“ auch eine psychologisch entlastende Opferrolle spielen kann.

Noch immer hält sich der keinen Fakten standhaltende Mythos einer neben SS und Gestapo „sauberen, unschuldigen“ Wehrmacht, die in Stalingrad zum doppelten Opfer wurde, eingekesselt von der Roten Armee, preisgegeben von Hitler. Auch wenn der Mythos nicht mehr offen aufrechterhalten wird, viele bürgerliche Historiker:innen, WELT und Co. hängen ihm unterschwellig nach – 6.000.

Leben und Schicksal

Weitgehend geschichts- und gesichtslos bleiben in der deutschen Geschichtsschreibung demgegenüber die, die in Stalingrad die Wende brachten und damit die Befreiung vom Faschismus einleiteten.

Wer sich diesem Blick nicht versperren will, sollte die monumentale Stalingrad-Dilogie von Wassili Grossman lesen. Der erste Teil, „Stalingrad“, zeichnet den Weg der sowjetischen Gesellschaft bis zum Wendepunkt der Schlacht, als nur noch wenige hundert Meter die deutschen Soldaten von der Wolga trennten. Er war Thema des ersten Teils der Buchbesprechung (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/08/25/80-jahre-stalingrad-wassili-grossmans-epos-ueber-die-sowjetunion-im-krieg-teil-1/)

„Leben und Schicksal“ greift die Handlung wieder auf und führt sie bis zur Rückkehr evakuierter Stadtbewohner:innen in die Trümmer der Schlacht fort.

Es ist ein Werk, das weit über die Grenzen der Stadt hinausgeht und zu Recht als das „Krieg und Frieden“ des 20. Jahrhunderts gilt. Grossman nimmt uns mit in die Familie Schaposchnikow, deren Mitglieder den Krieg unterschiedlich erleben: Als Sohn, der als Soldat stirbt. Als Mutter, die um ihn trauert. Als Schwiegersohn, der im Kraftwerk „Stalgres“ arbeitet und durch seine Tochter in den Trümmern Großvater wird. Als evakuierte Großmutter, die ihre Tochter in den Bomben der Wehrmacht verlor. Als liebende Menschen vor einer Kulisse voller Tod und Gewalt.

Wir kommen mit in sowjetische Forschungseinrichtungen, wir kommen mit ins berühmte Haus 6-1 (Pawlowhaus), wo wir die Funkerin Katja Wengrowa kennenlernen, eine unterrepräsentative Darstellung der über eine Million Frauen in der Roten Armee.

Wir blättern um und landen in den Nächten der südrussischen Steppe, in den Gräben der Wehrmacht, in den Unterständen der sowjetischen Kommandanten, nachdem wir gerade noch in Kasan, in Moskau waren.

Und wir bekommen das Schicksal der sowjetischen Jüdinnen und Juden gezeigt.

Wassili Grossman hat seiner Figur Viktor Strum in einem fiktiven Brief die Worte geschrieben, die er von seiner Mutter nie erhielt: „Lebe, lebe, lebe ewig … Mama.“

Jekaterina Grossman wurde bei Berditschew (Berdytschiw) zusammen mit 30.000 anderen Jüdinnen und Juden ermordet.

Schoah und sowjetische Verharmlosung

Ihr ist „Leben und Schicksal“ gewidmet. In dem Brief, der ein ganzes Kapitel einnimmt, beschreibt Anna Strum, wie sich mit dem plötzlichen Auftauchen der Wehrmacht auch in der ukrainischen Bevölkerung der eliminatorische Antisemitismus Bahn bricht, Nachbar:innen zu Helfer:innen der Schoah werden. Schließlich werden junge Männer aus dem Ghetto geführt, um vor der Stadt ihre eigenen Massengräber auszuheben.

Mindestens 1.500.000 sowjetische Jüdinnen und Juden wurden in der Schoah ermordet. Obwohl die meisten von ihnen vor Ort erschossen wurden, zeichnet Grossman trotzdem den Weg der Stalingrader Jüdin Sofia Lewinton bis ins Lager und zu ihrer Ermordung in der Gaskammer.

Er verarbeitet dabei seine eigene Erfahrung des Vernichtungslagers Treblinka, dessen Befreiung er als sowjetischer Kriegsreporter miterlebte. Seine Eindrücke der Schoah in Osteuropa flossen ein in seine Mitarbeit am „Schwarzbuch“, das durch das Jüdische Antifaschistische Komitee erstellt wurde und das Schicksal der Jüdinnen und Juden in der besetzten Sowjetunion untersuchen sollte. Noch vor seiner Veröffentlichung wurde es von der sowjetischen Führung unterdrückt. Der großrussische Chauvinismus Stalins bekämpfte die Herausstellung des jüdischen Schicksals im Zweiten Weltkrieg unter dem Vorwand der Gleichheit, die es für nationale Minderheiten sowie Jüdinnen und Juden nicht gab. Stalins Begründung, alle Sowjets hätten gleichermaßen unter dem Faschismus gelitten, war letztlich eine Relativierung der Schoah.

Das und unter anderem die antisemitischen Kampagnen Stalins rund um die angebliche „Ärzteverschwörung“ waren es, die Grossmans Überzeugung in das stalinistische Sowjetsystem erschütterten. Dieser Wandel wird auch in den Unterschieden zwischen den beiden Teilen seines Werkes deutlich. Während „Stalingrad“ gegenüber der Bürokratie weitgehend kritiklos, jedoch auch alles andere als verherrlichend bleibt, offenbart „Leben und Schicksal“ eine scharfe Kritik an der stalinistischen Diktatur.

Abrechnung ohne Ausweg

So wird die Figur Viktor Strums zum Opfer einer antisemitischen Kampagne. Ihm droht, seine Stellung an einer Forschungseinrichtung zu verlieren. Er wird dann aber auf persönliche Intervention Stalins vollumfänglich rehabilitiert – Strum betreibt Kernforschung.

Anders ergeht es Nikolai Krymow, der sich als sowjetischer Emporkömmling und Kommissar bei der Truppe schließlich in der Lubjanka wiederfindet, dem Moskauer Gefängnis des NKWD. Auch wenn es offenbleibt, wird klar, dass sein Weg ins Arbeitslager des Gulagsystems führt.

Von der scheinbaren Freiheit der „Tauwetterperiode“ beflügelt, geht Grossman mit den Tabus des Stalinismus ins Gericht: 1937, den Moskauer Prozessen, der Vertreibung von Minderheiten, dem Hungertod Tausender. Er lässt seine Figuren über Trotzki und andere sprechen, von deren konterrevolutionärer Schuld sie nicht überzeugt sind. Er stellt dar, wie sehr Karrierismus und Intrigen die Köpfe der Wissenschaft, der Fabriken und der Roten Armee prägten. Bezeichnenderweise geht während der Siegesfeier von Stalingrad der betrunkene Armeegeneral Tschuikow gekränkt auf den von Chruschtschow bevorzugten Generaloberst Rodimzew los.

Dem KZ-Insassen Mostowskoi werden von einem SS-Mann die Parallelen des sowjetischen und faschistischen Terrors aufgedrängt. Er wehrt sich dagegen, fühlt die dahinterliegende Amoral des Nazis, und doch kann er sich gegen den Gedanken nur schlecht wehren. Es ist unter anderem diese oberflächliche Ähnlichkeit zweier Gewaltherrschaften, die bis heute den Sozialismus verfemt. Den dahinter stehenden Klasseninhalt des Nationalsozialismus, der den Kapitalismus rettete, und seinen Unterschied zum nichtkapitalistischen „Sozialismus“, der eigentlich Stalinismus war, kennen nur die wenigsten.

Trotzdem ist Grossman anders als andere Dissident:innen kein Restaurator des Kapitalismus. Im Gegenteil brandmarkt er das System und die Kaste Stalins als etwas, das sozialistischen Idealen widerspricht, fordert Demokratie und Freiheit für einen humanistischen Sozialismus. Und am Ende ist es ja dieser Unterschied, der den Kampf der Roten Armee für Revolutionär:innen unbedingt unterstützenswert machte – die Tatsache, dass die Sowjetunion trotz der Diktatur der Bürokratie gegenüber dem Kapitalismus näher am Sozialismus stand, sie geschichtlich betrachtet ein Fortschritt war.

An diesem Punkt offenbaren sich dann auch die Schwächen Grossmans, die allerdings weniger seine Schuld sind. Sie zeigen eher die Tiefe und Gründlichkeit, mit der der Stalinismus revolutionäres Bewusstsein in der Sowjetunion ausgerottet hatte. Der Weg zur Verwirklichung seiner Ideale im Sozialismus, der Gedanke einer politischen Revolution gegen die Bürokratie findet sich in seinem Roman nicht wieder – und er schafft damit ein Bild, das der sowjetischen Gesellschaft selbst entsprach.

Trotz Schwächen: Groß

Denn auch wenn in dem Buch eine Aufbruchstimmung spürbar wird, die die Schrecken der 1930er Jahre hinter sich lassen will, so bleibt Stalingrad doch zugleich auch Ausgangspunkt eines ideologischen Siegeszuges des Stalinismus, der sich als Befreier vom Faschismus gerieren und durchsetzen konnte und letztlich die Ausweitung seiner Herrschaft über Osteuropa erreichte. Revolutionäre Keime waren bald erstickt.

Das Fehlen einer Perspektive, die über Hoffnung und Humanismus hinausgeht, tut der Größe der beiden Romane keinen Abbruch, auch nicht, dass sie an manchen Punkten etwas ahistorisch sind  oder sich Grossman an den Romanfiguren Hitlers und Stalins überhebt. Denn anders als die sowjetische Literatur der Zeit zeigt Grossman kein voluntaristisches Bild vom idealen (eigentlich sich selbst fremden) Sowjetmenschen, sondern eines, das wie der Mensch selbst ist – unvollkommen und widersprüchlich, eines, das mit dem eigenen Gewissen ringt und gerade da zeigt, wie totalitäre Systeme psychisch wirken.

Letztlich scheiterte die Veröffentlichung von „Leben und Schicksal“ an eben diesem System. Anstelle einer Veröffentlichung in einer angeblich entstalinisierten UdSSR Chruschtschows wurde das Manuskript beschlagnahmt. Freund:innen und Bekannte Grossmans schmuggelten eine Kopie in den Westen, die dortige Veröffentlichung erlebte der Autor nicht mehr.

Dichtungen und Erinnerungen sind immer eine Reflexion der Realität, nie die Realität selbst. Hier schließt sich der Kreis zu den unterschiedlichen Betrachtung der Schlacht von Stalingrad.

Heute lernen wir aus den unterschiedlichen Gedenken an Stalingrad vielleicht mehr über die heutigen Historiker:innen, Ideolog:innen und Regierungen als über die Schlacht selbst. Aus Grossmans Prosa und seiner Entwicklung können wir erfahren, wie weit das Bewusstsein und die Hoffnung eines Menschen reichen konnten, der in der Sowjetunion gegen den Strom schwamm und zu einer eigenständigen Kritik an ihrem System fand, als viele vom „Genossen Stalin“ sprachen.

Und obwohl Wassili Grossman „Leben und Schicksal“ erfunden hat, glaubt man ihm hier etwas, was 2023 weder bei russischen noch westlichen Stalingrad-Rezeptionist:innen wirklich glaubhaft erscheint: die Suche nach Wahrheit.

Literaturempfehlungen zur Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Grossman, Wassili: Stalingrad, Ullstein Berlin 2022

Grossman, Wassili: Leben und Schicksal, Ullstein Berlin 2020

Ehrenburg, Ilja / Grossman, Wassili / Lustiger, Arno: Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, Rowohlt, Reinbek 1995

Sowjetische Sichtweisen auf Stalingrad: Hellbeck, Jochen: Die Stalingrad Protokolle, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014

Zum Schicksal weiblicher Rotarmistinnen: Alexijwitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Suhrkamp Taschenbuch 2015

Marxistische Einordnung der Schlacht und des Krieges: Mandel, Ernest: Der Zweite Weltkrieg, isp-Verlag, Frankfurt am Main 1991




Luxemburg/Liebknecht-Ehrung: in wessen Spuren?

Martin Suchanek, Infomail 1210, 14. Januar 2023

Die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration ist – wie jedes Jahr – eine verschiedener Strömungen, von Linken verschiedener Spektren gegen Kapitalismus, Imperialismus und Ausbeutung. Aber sie ist auch mehr und mehr zu einem leblosen Ritual verkommen, zu einer Mischung aus Gedenken und Gedankenlosigkeit. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Die Demonstration steht nicht wirklich in Bezug zu den aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Damit ist nicht diese oder jene teilnehmende Gruppierung gemeint, sondern vielmehr ihr immer gleicher Ablauf. Der Aufruf zur LL-Demonstration ist – zu Recht – nicht weiter bekannt und im Grunde immer derselbe.

Die Demonstration ist somit für die Klassenkämpfe, Mobilisierungen, Aktionen über den 2. Sonntag im Januar hinaus folgenlos. Einen Versuch, die Lohnabhängigen über die schon organisierte Linke hinaus zu erreichen oder direkt an Mobilisierungen wie dem Kampf um Lützerath anzuknüpfen, gibt es nicht.

Politisch-ideologisch ist die Demonstration v. a. von Gruppierungen geprägt, die aus einer stalinistischen Tradition stammen. Das fängt bei den eigentlichen Organisator:innen an und zeigt sich auch auf der Marschroute selbst. Schon das verleiht dem Gedenken an Liebknecht, Luxemburg und Lenin einen fragwürdigen Charakter. Hier sollen kommunistische Theoretiker:innen und Politiker:innen für eine letztlich dem Kommunismus fremde Tradition, die untrennbar mit der Verteidigung bürokratischer Herrschaft über das Proletariat verbunden ist, missbraucht werden.

Nicht minder abstoßend wirkt, wenn Reformpolitiker:innen der Linkspartei oder gar SPD-Apparatschiks aus der zweiten, vorgeblich linken Jusoriege Karl und Rosa ihre Aufwartung machen und – wie die Stalinist:innen – deren Erbe nur für die eigenen, alles andere als revolutionären und emanzipatorischen Zwecke missbrauchen.

Es gibt also viel zu kritisieren an der LL-Demonstration wie auch an den Feierlichkeiten von Linkspartei und Sozialdemokratie. Und es bedarf auch keiner großen Kenntnis des politischen Werks der beiden Revolutionär:innen, um zu wissen, dass ihnen eine solche „Gedenkform“ zuwider gewesen wäre.

Der beklagenswerte, ritualisierte Charakter des „Gedenkens“ wirft jedoch auch die Frage auf, was eine echte Würdigung Luxemburgs und Liebknechts bedeutet. Es geht hier nicht einfach um die „Verehrung“ zweier heroischer Kämpfer:innen, die, wie auch Hunderttausende, ja Millionen Namenlose Opfer der herrschenden Klasse waren. Es geht v. a. darum, an welche ihrer Positionen revolutionäre, kommunistische Politik heute anknüpfen kann und muss, welche für die gegenwärtigen und zukünftigen Klassenkämpfe fruchtbar zu machen sind.

Im Folgenden wollen wir thesenartig darlegen, an welchen Positionen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht es auch heute anzuknüpfen gilt.

1. Massenstreik als revolutionäres Kampfmittel

Rosa Luxemburg hebt zu Recht die Bedeutung des POLITISCHEN Massenstreiks als eines revolutionären Kampfmittels hervor – zur Vereinheitlichung der Klasse der Lohnabhängigen, gerade, weil der rein gewerkschaftliche Kampf, der Teilkampf der schon Organisierten seine Grenzen hat.

Sie sieht ihn als Mittel der Zuspitzung und Einbeziehung der Massen, zu deren praktischem selbstständig Werden.

Daher richtet sich ihre Kritik nicht nur an die Gewerkschaftsbürokratie und die Parteirechte in der Sozialdemokratie, sondern auch gegen Kautskys Demonstrations-Streikkonzeption und seine „Ermattungsstrategie“.

2. Antimilitarismus und Internationalismus

Liebknechts und Luxemburgs Politik ist untrennbar mit dem Kampf gegen militärische Intervention, gegen die Militarisierung v. a. der Jugend verbunden.

Die imperialistische Politik der „eigenen herrschenden“ Klasse, des Hauptfeinds, der im eigenen Land steht, muss ihnen zufolge mit den Mitteln des Klassenkampfes bekämpft werden. Dazu gehört ihr Eintreten für gemeinsame Aktion der Arbeiter:innenklasse, die Agitation im Krieg, die selbst half, die politischen Grundlagen für Streikaktionen wie jene in der Rüstungsindustrie Anfang 1918 zu legen.

Antimilitarismus war für sie keine auf ein Land beschränkte Sache, sondern untrennbar mit der internationalen Aktion der Klasse verbunden – und damit auch mit dem Kampf für den Aufbau einer neuen Internationale, nachdem die Zweite degeneriert war.

3. Charakterisierung der Epoche als imperialistisch

Luxemburg erkennt wie eine Reihe anderer Theoretiker:innen, dass an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Epochenwechsel stattfindet, dass der Kapitalismus zu einem Hindernis für die gesellschaftliche Entwicklung geworden ist.

Entgegen den Vorstellungen der revisionistischen Theoretiker:innen in der Sozialdemokratie hebt sie hervor, dass wir in eine Epoche der engeren Verschmelzung von Staat und Kapital, der Aushöhlung der Demokratie eingetreten sind. Daher kommt für sie auch die Entwicklung zum Krieg um eine Neuaufteilung der Welt nicht überraschend, sondern wird vorhergesehen. Prägnant wird das in der Formulierung der historischen Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ ausgedrückt.

4. Kritik am Reformismus

Luxemburg erkennt als eine der ersten, dass das reine Gewerkschafter:innentum und der Revisionismus als frühe Formen des Reformismus unbedingt bekämpft werden müssen. Sie erkennt früher als viele andere, dass es sich hier nicht um einen anderen Weg zum gleichen Ergebnis, sondern letztlich auch um ein anderes Ziel handelt – und damit um die Aufgabe des Klassenstandpunktes des Proletariats überhaupt.

Der Sozialismus ergibt sich für Luxemburg „aus den immer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung.”

Und weiter schreibt sie: „Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des Klassenstandpunktes.” (Luxemburg: Sozialreform oder Revolution)

5. Kritik am Versöhnler:innentum

Für Luxemburg ist Reformismus – selbst wenn er den Sozialismus als „Endziel“ einer fernen Zukunft proklamiert – bürgerliche Politik, der „linke“ Flügel der bürgerlichen Ordnung. Sie wendet sich aber nicht nur gegen die Berufsverräter:innen der Bürokratie, welche die Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien bis heute beherrschen. Sie richtet sich auch gegen alle, die den grundlegenden Unterschied zwischen Kommunismus und Reformismus unter den Teppich kehren wollen.

Luxemburg wendet sich daher mit großer polemischer und analytischer Schärfe auch gegen das Versöhnler:innentum, gegen den Zentrismus. So kritisiert sie schon sehr viel früher als andere auch die Politik Kautskys in der Sozialdemokratie.

6. Notwendigkeit der proletarischen Diktatur

Alle Kampfmittel, Teilkämpfe, jede Taktik werden von Luxemburg letztlich als Mittel zum Erreichen des eigentlichen Ziels der Arbeiter:innenklasse, der geschichtlichen Bewegung, des revolutionären Sturzes des Kapitalismus begriffen. Das heißt, dass der Kampf um die politische Machtergreifung, die Errichtung der Diktatur des Proletariats geführt werden muss.

Für Luxemburg entspricht die soziale Revolution einem weltgeschichtlichen Bürgerkrieg, einem zwischen Klassen. Daher muss sich die revolutionäre Klasse auch rüsten, um diesen Krieg zu gewinnen. Prägnant formuliert sie das in „Was will der Spartakusbund?“: „Eine solche Ausrüstung der kompakten arbeitenden Volksmasse mit dem ganzen politischen Arsenal für die Aufgaben der Revolution, das ist die Diktatur des Proletariats und deshalb die wahre Demokratie.“

Zweifellos hatte Luxemburg nichts mit der bürokratischen Diktatur des Stalinismus am Hut. Für sie war Sozialismus die breiteste Demokratie der arbeitenden Massen. Aber sie war auch keine Dutzenddemokratin, die sich davor gescheut hätte, offen die Notwendigkeit auszusprechen, dass die Arbeiter:innenklasse zu ihrer Befreiung die politische Macht nicht nur erobern, sondern auch verteidigen muss.

7. Notwendigkeit der revolutionären Partei

Für Luxemburg steht die Notwendigkeit der Organisierung der Avantgarde, der bewusstesten Teile der Arbeiter:innenklasse zur politischen Partei nie in Frage.

Luxemburg besteht vielmehr – und zwar zu Recht – darauf, dass diese auch die Aktion der Gewerkschaften resp. der Parteimitglieder in Gewerkschaften und Bewegungen bestimmen muss.

Das zeigt sich natürlich auch darin, dass einen zentralen Teil ihres Lebenswerkes der Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei ausmachte: der Sozialdemokratie in Polen und Litauen, der Kampf auf dem linken, revolutionären Flügel der SPD und die Gründung der KPD.

Ihr Verständnis davon kommt deutlich zum Ausdruck in „Was will der Spartakusbund?“: „Der Spartakusbund ist nur der zielbewußteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtliche Aufgabe hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.“

Zweifellos zeigte Luxemburgs Werk auch etliche Schwächen: so ihre Akkumulations- und Krisentheorie; ihr falsches Verständnis der nationalen Frage; ihr Zögern im Kampf um die Gründung der Kommunistischen Internationale (siehe dazu den Beitrag „Luxemburgs Beitrag zum Marxismus“ ).

Zweifellos hat sie in etlichen Abschnitten ihres Werkes und Wirkens die Rolle der Spontaneität im Klassenkampf zu hoch bewertet. Selbst ihren Überspitzungen lag jedoch ein richtiges Element zugrunde, wo es sich gegen die bürokratische, passive und antirevolutionäre Behäbigkeit der Sozialdemokratie und Gewerkschaften wandte.

Die Vorstellung, dass Luxemburg eine grundlegende Alternative zum Leninismus darstelle oder herausgearbeitet habe, ist jedoch eine nachträgliche Konstruktion, die ihr Werk selbst entstellt. Es ist eine Mythologisierung, die Stalinismus und Sozialdemokratie teilen, um die jeweils eigene, nichtrevolutionäre Politik zu legitimieren.




Holodomor: Propaganda und historische Wirklichkeit

Frederik Haber, Infomail 1209, 7. Januar 2023

Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, dass die Hungersnot in der Sowjetunion der frühen 30er Jahre ein Völkermord am ukrainischen Volk gewesen sei. Der stalinistischen Zwangskollektivierung fielen Millionen Tote zum Opfer, besonders in der Ukraine und in Kasachstan. Zugleich ist der Begriff Holodomor politisch fragwürdig, weil er die stalinistische Politik mit einem bewussten Völkermord gleichsetzt.

Tatsächlich ist diese Phase der sowjetischen Geschichte sehr lehrreich. Sie war eine Etappe der Machteroberung der Stalin-Fraktion im Kampf um die Partei, gegen die Arbeiter:innenklasse und gegen die Bäuer:innen. In dem Buch „The Degenerated Revolution“, das demnächst auch auf deutsch erscheinen wird, wird diese Phase beschrieben, die einsetzte, nachdem die Stalin-Gruppe, die politische Vertretung der Staatsbürokratie, um 1927 die Linke Fraktion (Bolschewiki-Leninst:innen) geschlagen und mit Zehntausenden Kommunist:innen aus der Partei gedrängt hatte. Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Abschnitt des dritten Kapitels von „Degenerated Revolution“ (Seite 47 – 50), der sich mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Bürokratie beschäftigt. Er nimmt die inneren Widersprüche der führen Sowjetunion zum Ausgangspunkt und betrachtet die Politik-Stalin-Fraktion in diesem Kontext.

Bürokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

D. Hughes/Peter Main

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe um Stalin also mit dem restaurativen Flügel zusammengearbeitet und damit auch das Wachstum der Kulaken-Landwirtschaft, niedrige industrielle Wachstumsraten und eine ineffektive Planungsmaschinerie toleriert. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung kann man sie als eine politische Tendenz definieren, die im isolierten russischen Staat die politische Macht dadurch zu behalten trachtete, dass sie die bewusstesten Schichten der ArbeiterInnenklasse systematisch politisch enteignete.

Sie unterschied sich von der Rechten darin, dass sie unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, wenn ihre politische Kontrolle über den Sowjetstaat in Gefahr geriet, in der Lage war, sich in bürokratischer Weise gegen das Privateigentum zu wenden und eine Form wirtschaftlicher Planung zu entwickeln und auszuweiten, die mit dem Wertgesetz in Konflikt stand. Ihr Interesse, Formen der Planung zu entwickeln, ergab sich aus der Notwendigkeit, die an sich gerissene politische Macht zu behalten, nicht aus einer sozialistischen Zielsetzung heraus.

Im Laufe des Jahres 1927 kam es dann im Sowjetstaat zu Schwierigkeiten, Getreide in gleicher Menge wie im Jahr zuvor von der Bauernschaft zu bekommen. Ähnliche Probleme hatten die Requirierungsbehörden 1928. Die Thermidorianer:innen ernteten nun die bitteren Früchte industrieller Unterentwicklung und der Zugeständnisse an die Kulak:innen. Die zentristische Stalin-Gruppe vollzog ihre entscheidende Wendung gegen den Bucharin-Flügel und gegen die Politik der späten Neuen Ökonomischen Politik, NÖP. Die Voraussetzung für diesen Linksschwenk war die vorherige vollständige Entfernung der revolutionären Linken aus allen Machtpositionen.

Im Dezember 1927 wurden die lokalen Organisationen der kommunistischen Partei angewiesen, ihre Anstrengungen zur Getreidebeschaffung zu erhöhen – mit geringem Erfolg. Zur gleichen Zeit erklärte Stalin noch immer: „Der Ausweg ist die langsame und stetige Vereinigung der Klein- und Kleinstbauern zu großen Betrieben auf Grundlage der gemeinsamen kooperativen Bewirtschaftung des Landes – nicht durch Druck, sondern durch Überzeugung und das gute Beispiel“ (Zitiert nach Alex Nove, An Economic History of the USSR, Harmondsworth 1972, S. 148). Der Entwurf des Fünfjahresplans, der 1928 angenommen wurde, setzte als erstrebenswertes Ziel, während seiner Laufzeit den Anteil an kollektivierten Betrieben in der Landwirtschaft auf 15 % zu erhöhen.

Von Januar bis März 1928 fanden dann gewaltsame Getreidebeschlagnahmungen unter der Leitung von führenden Stalinist:innen statt – Stalin persönlich, Schdanow, Kossior und Mikojan. Als unvermeidliche Reaktion fuhren die Kleinbauern und -bäuerinnen ihren Anbau von Weizen und Roggen im Jahr 1928 herunter. Die Stalinist:Innen mussten sich entscheiden: entweder Zugeständnisse an die private Landwirtschaft machen, die Preise erhöhen und billige Konsumgüter aus dem Westen importieren und damit ihre politische Macht in Gefahr bringen – oder sich gegen das Privateigentum auf dem Lande wenden. Sie entschieden sich für die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft – allein mit dem Ziel, ihre bürokratische Macht zu behalten, nicht im Sinne irgendwelcher langfristiger Pläne zur Kollektivierung oder möglicher kurzfristiger Vorteile im Agrarsektor. Die sowjetische Industrie war allerdings hoffnungslos schlecht darauf vorbereitet, die kollektivierte Landwirtschaft mit der Ausrüstung zu versorgen, die sie brauchte, um bessere Erträge zu erzielen. 1928 verfügte die UdSSR nur über 27.000 Traktoren statt der eigentlich benötigten 200.000 (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 17).

Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ohne jede formelle Diskussion oder Entscheidungsfindung einer offiziellen Parteistruktur durchgeführt. Sie war das Werk der siegreichen Stalin-Fraktion und Ausdruck ihrer Kontrolle über die Partei zu dieser Zeit. Am 7. November 1929 druckte die Presse einen Artikel Stalins ab, in dem er die „spontane Hinwendung der breitesten Massen der klein- und mittelbäuerlichen Haushalte zu kollektiven Formen der Landwirtschaft“ lobte. Im Dezember begann Stalin eine Kampagne zur Liquidierung der Kulak:innen „als Klasse“, was durch ein Dekret vom 5. Januar 1930 unterstrichen wurde, welches das staatliche Ziel der „vollständigen Kollektivierung“ proklamierte.

Schon sieben Wochen nach dem Erlass waren 50 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen Mitglieder in rudimentären und zusammengestümperten Kollektiven geworden. Aktiver Widerstand führte automatisch dazu, dass Kleinbauern und -bäuerinnen von den Parteiorganen als „Kulaken“ abgestempelt wurden. Bis Juli 1930 waren 320.000 vermeintliche Kulakenfamilien enteignet und deportiert worden – eine Zahl, die bei weitem die am Vorabend der Kollektivierung veröffentlichten stalinistischen Statistiken zu den Kulak:innen überstieg.

Die Mitgliederzahlen der landwirtschaftlichen Kollektive von 1930 widerlegen die durchsichtigen Lügen der Stalinist:innen, die Kollektivierung sei eine spontane Bewegung der Masse der Kleinbauern und -bäuerinnen gewesen. Ein vager Hinweis Stalins, dass der Druck gelockert werden sollte, den er in einem Prawda-Artikel mit dem Titel „Siegestrunken“ im März 1930 formuliert hatte, löste eine wahre Fluchtbewegung aus den kollektiven Betrieben aus. Anfang März 1930 waren 58 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen in Kollektive eingetreten. Bis Juni fiel diese Zahl wieder auf 23%! In der fruchtbaren zentralrussischen Schwarzerde-Region fiel der Anteil im gleichen Zeitraum sogar von 81,8% auf 15,7%.

Die entwurzelten Bäuer:innen fanden in den neuen Kollektiven weder Ressourcen noch Ausrüstung vor. Angesichts des Tempos der industriellen Entwicklung der 1920er Jahre und auch angesichts der Ziele des ersten Fünfjahresplans konnte Kollektivierung zu diesem Zeitpunkt nichts anderes bedeuten, als schlicht und einfach den Mangel, das Elend und die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu verallgemeinern. Der Widerstand der Kleinbauernschaft nahm den Charakter eines Bürger:innenkrieges an. Dort, wo sie keinen anderen Widerstand leisten konnten, schlachteten sie ihr Vieh als letztes Mittel, sich den staatlichen Behörden zu entziehen. Dies belegt der dramatische Rückgang des sowjetischen Nutztierbestandes zwischen 1929 und 1934. In diesem Zeitraum verringerten sich die Bestände an Pferden und Schweinen um 55 %, an Rindern um 40 % und an Schafen um 66 %. Gab es 1930 noch eine gute Ernte, ging die landwirtschaftliche Produktion in den ersten Jahren der Kollektivierung deutlich zurück. 1932 lag die Getreideerzeugung 25 % unter dem Durchschnitt der NÖP-Jahre und die Hungersnot kehrte in schrecklichem Ausmaß in die ländlichen Regionen der Sowjetunion zurück.

Aufgrund des Widerstandes und der desaströsen Wirkung der Kollektivierung auf die landwirtschaftliche Produktion ordneten die Stalinist:innen 1930 eine temporäre Rücknahme ihrer Maßnahmen an. Aber 1931 wurde die Kollektivierungskampagne wieder aufgenommen als Mittel der Stalinist:innen, die landwirtschaftlichen Produktivkräfte der Sowjetunion fest unter Kontrolle zu bekommen. Sie waren bereit, einen Rückgang der Agrarproduktion in Kauf zu nehmen, um diesen für ihr bonapartistisches Regime gewünschten Effekt zu erzielen. Bis 1932 waren 61,5 % der Anbaufläche kollektiviert, es gab 211.100 Kooperativen (Kolchosen) und 4.337 staatliche Landwirtschaftsbetriebe (Sowchosen) (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 19).

Obwohl die Kolchosen formell als Genossenschaften gegründet wurden, wurden ihre Sekretär:innen und Führungskomitees von lokalen Parteiorganen ernannt. 1935 erhielt das Kolchos-System seine endgültige Form. Landwirtschaftliche Maschinen, Agrarspezialist:innen, Mechaniker:innen, Ausbildungspersonal und Tiermediziner:innen sollten alle in staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) konzentriert werden. Die Überwachung der Landwirtschaft durch das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) sollte ebenfalls in den MTS angesiedelt werden. Die Kolchosen sollten Maschinen und Expertise von der MTS erhalten. Auf diese Weise wurde eine Schicht privilegierter Arbeiter:innen in den MTS und zugleich ein perfekter Überwachungs- und Repressionsapparat gegen die bäuerlichen Massen geschaffen.

Das Einkommen der Bauern und Bäuerinnen wurde in Abhängigkeit des Ertrags ihrer Kolchosen bestimmt, nachdem der Staat das Getreide gekauft hatte und die Steuern von der Kolchose eingetrieben hatte. 1935 verdiente ein Durchschnittshaushalt 247 Rubel für ein Jahr Arbeit in der Kolchose – den Preis für ein Paar Schuhe! Zusätzlich wurde den Bauern und Bäuerinnen deshalb erlaubt, eine kleine Fläche von höchstens einem halben Hektar selbst zu bewirtschaften, auf der die bäuerliche Masse das Nötigste für ihren miserablen Lebensunterhalt mühsam erarbeitete. Die Wiedereinführung eines internen Ausweissystems für die Kolchosen-Angehörigen 1933 band diese sehr wirksam an die Kolchosen. Ein Gesetz vom 17. März 1933 legte fest, dass kein Kolchosmitglied ohne Genehmigung der Bürokratie den Kolchos verlassen durfte.

Die sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen erlebten die Kollektivierung daher als Verlust ihrer „Oktobererrungenschaften“. Die bonapartistische Bürokratie hatte ihre politische Macht und ihre materiellen Privilegien bewahrt, indem sie die Basis für beschränkte Warenproduktion der Kulak:innen und der NÖP-Leute zerstört hatte. Die Kleinbauern und -bäuerinnen  verloren jede Möglichkeit, die politische Herrschaft der Bürokratie durch einen Lieferstreik herauszufordern. Das Ergebnis waren nicht nur die Stagnation und Ineffizienz der Landwirtschaft, die der sowjetischen Bürokratie bis zu ihrem Ende zu schaffen machte. Es erzeugte auch eine trotzige und rebellische Bäuer:innenschaft, die durch drastische Repression niedergehalten wurde. Der Sieg der Stalinist:innen über die Landbevölkerung war eine enorme Sprengladung im Fundament des Arbeiter:innenstaates und machte einen riesigen Repressionsapparat nötig, einschließlich Zwangsarbeitslagern, die parallel zur Kollektivierung entstanden, um die Landwirt:innen in den kollektivierten Betrieben zu halten.

Nachsatz der Redaktion

Dieser Repressionsapparat schritt dann auch zur physischen Vernichtung der Kommunist:innen, der bewusstesten Arbeiter:innen, aber auch von Vertreter:Innen aller anderen Schichten, die die persönliche Diktatur Stalins gefährden konnten. Sie traf Angehörige von nationalen Minderheiten im Vielvölkerstaat Sowjetunion oft härter als den russischen Teil der Bevölkerung, da diese Repression natürlich auch mit der Durchsetzung des großrussischen Chauvinismus einhergingen. Die Ukraine war in dieser Hinsicht sowohl aufgrund der großen Bedeutung ihrer Bäuer:innenschaft und Agrarproduktion, aber auch als größte nicht-russischer Republik im Fokus der Stalin-Fraktion. In der Tat führte die Bürokratie einen Krieg gegen die Bäuer:innenschaft, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen und zu sichern, einen Bürger:innenkrieg bei dem sie bereitwillig den Tod von Millionen in Kauf nahm. Ihr historisches Ziel bestand darin, den Sieg der Oktoberrevolution auszulöschen und alle Errungenschaft in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie war ein Schlag nicht nur gegen die Bäuer:innen, sondern auch gegen die Proletarier:innen aller Länder.




Michael Gorbatschow – eine tragische Figur der Weltgeschichte

Martin Suchanek, Infomail 1197, 1. September 2022

Im Alter von 91 Jahren verstarb Michael Gorbatschow am 30. August in Moskau – der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Parteichef der KPdSU.

Putins Beileidsbekundung

Auch wenn Gorbatschow und Putin wenig Sympathie füreinander hegten, so weiß der Präsident des „neuen“, kapitalistischen und imperialistischen Russland nur zu gut, dass es weitaus klüger ist, den politischen Nachlass des Verstorbenen selbst auszuschlachten, als ihn den westlichen Staaten zu überlassen.

So bezeichnete Putin bekanntermaßen die Auflösung der Sowjetunion 2014 als „gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen“ und 2015 „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Dabei meinte er nicht die Wiedereinführung des Kapitalismus, wohl aber den Verlust ganzer Staaten und Nationen, deren Unabhängigkeit und Selbstbestimmung den imperialen großrussischen Ambitionen im Wege stehen. Die reaktionäre, nationalistische Kritik hindert Putin freilich nicht, den Toten nachträglich vorsichtig zu würdigen. In einem Beileidstelegramm heißt es, der Verstorbene hätte  „großen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte“ gehabt und das Land „durch komplexe, dramatische Veränderungen, große außenpolitische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen geführt“.

Putin weiß, dass Gorbatschow politisch schon längst, genauer seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jelzins Machtübernahme, keine Rolle mehr spielte. Die Trauerreden, Nachrufe, Beileidstelegramme und Statements westlicher wie östlicher Politiker:innen drehen sich vor allem darum, die historische Rolle des Verstorbenen für sich zu vereinnahmen, sein „Vermächtnis“ noch einmal für sich zu reklamieren und auszuschlachten.

Nur in diesem Kalkül machen Putins wohlwollende Worte gegenüber einem Mann Sinn, dem er eigentlich eine negative Rolle zuschreibt. Warum aber sollte er die „Würdigung“, also die Vereinnahmung Gorbatschows einem Joe Biden oder Boris Johnson, einem Olaf Scholz oder Emmanuel Macron überlassen? Lieber bringt die russische Administration die Sanktionspolitiker:innen des Westens in die Verlegenheit, Gorbatschows Begräbnis fernzubleiben oder nach Russland zu reisen und womöglich Seit an Seit mit Putin dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.

Westliche Trauer – nicht minder zynisch

Nicht minder zynisch fällt freilich die westliche Trauer aus. Joe Biden spricht von einem „Visionär“, Emmanuel Macron von einem „Mann des Friedens“. Olaf Scholz streicht einmal mehr Gorbatschows Verdienste um die Vereinigung Deutschlands heraus. Für seine Bemühungen um Reformen der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges und einen friedlichen Systemwechsel in Osteuropa, den Abzug der Roten Armee wurde Gorbatschow mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.

Das gleicht dem Trostpreis eines Verlierers. Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion sowie die Restauration des Kapitalismus markieren einen Wendepunkt der Geschichte. Der Kalte Krieg war zugunsten der USA und ihrer westlichen Verbündeten entscheiden, eine neue historische Periode begann.

Die Würdigungen eines George Bush sen., einer Margaret Thatcher, eines François Mitterrand und Helmut Kohl für „unseren“ Gorbatschow waren wenig mehr als Festreden der Sieger:innen für den Besiegten.

Gorbatschow mag an seine eigenen „Visionen“ von einem geeinten „Haus Europa“, von einer globalen Ordnung auf „Augenhöhe“, von einer Demilitarisierung Europas geglaubt haben. Im realen Leben entpuppten sie sich als utopische Konzepte. Gorbatschows „Friedenpolitik“ war nur die letzte Strophe des Liedes von der „friedlichen Koexistenz“, einer Politik, die immer schon von den Klasseninteressen der imperialistischen Bourgeoisie abstrahierte.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der vergleichsweise friedliche Übergang zum Kapitalismus, die Entstehung einer neuen, zu einem beträchtlichen Teil aus der alten Staatsbürokratie geborenen Klasse von Privateigentümer:innen inklusive einer neuen russischen Oligarchie und die Auflösung des Warschauer Pakets spielten alle dem Westen in die Karten.

Das US-amerikanische und europäische, allen voran das deutsche Kapital, erschlossen in wenigen Jahren neue, halbkoloniale Ausbeutungsgebiete in Osteuropa sowie einen Zugang zum russischen Markt. Die NATO, wiewohl deren Expansion 1991 noch offiziell ausgeschlossen wurde, schob sich langsam, aber umso sicherer gegen Osten. Und die kapitalistische Wiedervereinigung formte Deutschland zur ökonomisch führenden imperialistischen Macht Europas, die seither ihre eigenen Machtansprüche weltweit anmeldet.

Keine Frage, ohne Gorbatschow wäre das Ende des Kalten Krieges wahrscheinlich anders verlaufen, hätte der weitgehend friedliche, gewaltfreie Übergang zum Kapitalismus womöglich gewaltsamere Formen angenommen.

Kämpfe wie jene um die baltischen Republiken, vor allem aber der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der blutige Aufstand gegen das Ceaușescu-Regime oder der verunglückte Janajew-Putsch 1991 verdeutlichen, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der von ihr kontrollierten Einflusssphäre ein anderer Gang der Geschichte möglich gewesen wäre.

Die grundlegenden Entwicklungslinien hätte das jedoch nicht geändert. Selbst eine erfolgreiche Niederschlagung von antibürokratischen Massenbewegungen hätte keineswegs eine Rückkehr zum „alten“, krisengeschütteten wirtschaftlichen und politisch maroden System der bürokratischen Arbeiter:innenstaaten bedeutet, wie ein Blick nach China nahelegt. Dort zerschlug die Bürokratie die von der Arbeiter:innenklasse und der Intelligenz getragene Bewegung am Tian’anmen-Platz im Juni 1989. Tausende fielen diesem Massaker zum Opfer. Doch nicht der „Sozialismus“ wurde gerettet, sondern der Restauration des Kapitalismus wurde unter Beibehaltung des politischen Monopols der KP der Weg geebnet.

Gorbatschow und die Krise der Sowjetunion

So wenig wie Gorbatschows Rolle beim Zusammenbruch der Sowjetunion vernachlässigt werden kann, so wenig darf sie überhöht werden. Der letzte Staatschef der Sowjetunion war nicht Treibender, sondern Getriebener.

Gorbatschow wurde 1985 Generalsekretär der KPdSU vor dem Hintergrund einer tiefen, strukturellen ökonomischen Krise und einer langjährigen Stagnation der Gesellschaft. Unter Breschnew fiel das Land, damals immerhin die zweitgrößte Ökonomie der Welt, wirtschaftlich und technologisch immer mehr zurück. Das unter Reagan forcierte Wettrüsten kostete die Sowjetunion immer größere Teile ihre gesamten Ressourcen. Zugleich stagnierte der Lebensstandard der Lohnabhängigen, die in der Sowjetunion und Osteuropa unter einem Mangel an Konsumgütern litten.

Vor diesem Hintergrund wurde das System einer starren bürokratischen Planwirtschaft und der umfassenden, tief in die Gesellschaft eindringenden politischen Diktatur über die Arbeiter:innenklasse immer unhaltbarer. Der ökonomische Niedergang verringerte die Möglichkeiten zur sozialen Befriedigung der Massen. Deren Entfremdung von der „sozialistischen“ Gesellschaft trat viel stärker ins Bewusstsein angesichts eines größer werdenden Gegensatzes zwischen stagnierenden oder schlechter werdenden  Lebensbedingungen der Massen und den Privilegien der Bürokratie.

Diese Lage beförderte auch die politische Unzufriedenheit – sei es der Intelligenz, der Arbeiter:innenklasse oder der unterdrückten Nationen und Nationalitäten, sei es in der Sowjetunion oder in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Schließlich entwickelten sich auch die Gegensätze in der herrschenden bürokratischen Kaste selbst. In den KPen und Staatsapparaten bildeten sich zwei politische Flügel – die sog. „Konservativen“ oder „Hardliner:innen“, die starr am bestehenden System festhalten wollten, und die sog. „Reformer:innen“, die diesem durch begrenzte, von oben kontrollierte wirtschaftliche, soziale und auch politische Reformen eine neue Dynamik zu verleihen hofften.

Anders als in den kapitalistischen Ländern, wo die freie Konkurrenz und der damit verbundene Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, für die Steigerung der Arbeitsproduktivität, Disziplin und „Motivation“ der Lohnabhängigen quasi automatisch sorgt, fehlte in den bürokratischen Planwirtschaften dieser Hebel weitgehend. Im Gegensatz zur Stalinära, wo die Arbeitsdisziplin despotisch durchgesetzt wurde, herrschte in der Sowjetunion oder auch Osteuropa der 1970er und 1980er Jahre eine weitgehende soziale Sicherheit vor mit Vollbeschäftigung, Wohnungen und garantierter Gesundheits- und Altersvorsorge.

Andererseits sorgte die zunehmende Entfremdung der Arbeiter:innen von der bürokratischen Planwirtschaft, von „ihren“ Staaten dafür, dass ihr Antrieb zur Verbesserung und Fortentwicklung des ökonomischen und sozialen Systems längst erloschen war. Wo dies noch nicht der Fall war, lief er sich im bürokratischen Getriebe tot.

Um diese Stagnation zu durchbrechen, war es aufgrund der technologischen Entwicklung und der gestiegenen Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskraft ökonomisch faktisch unmöglich, zu den Methoden der Stalinzeit zurückzukehren. Gesellschaftlich und sozial hätten sie womöglich das System noch mehr destabilisiert – und dessen war sich auch die Bürokratie bewusst.

Daher entflammte innerhalb dieser Kaste der Konflikt um die Frage, welche und wie weit gehende ökonomische soziale und politische Reformen durchgeführt bzw. zugelassen werden sollten. Ein Hin und Her kennzeichnete schon die Auseinandersetzungen vor Gorbatschow und die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität war auch mehr oder minder unstrittig. Keineswegs galt dies jedoch bezüglich politischer Reformen.

Als Gorbatschow 1985 Generalsekretär wurde, markierte dies eine Kräfteverschiebung zugunsten des Reformlagers in der Sowjetunion und im Ostblock. „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) wurden zu den Schlagworten, Kampfbegriffen, um die Veränderungen der Gesellschaft voranzutreiben.

Dabei stellten beide von Beginn an keine klar umrissenen Konzepte dar, sondern eine Reihe von Reformmaßnahmen, die selbst im Laufe der Jahre modifiziert wurden und auf Veränderungen in der Gesellschaft eine Antwort zu geben versuchten.

Grundsätzlich zielte die Perestroika darauf, marktwirtschaftliche Mechanismen und Konkurrenz im Rahmen der Planwirtschaft zu deren Belebung einzusetzen, darunter einzelbetriebliche Kostenrechnung, Formen des Leistungslohns, Ausweitung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit und begrenztes Wirken von Joint Ventures. Glasnost bezog sich vor allem auf die öffentliche und politische Ebene und sah eine begrenzte Lockerung der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit vor.

Hinzu kam ein neuer außenpolitischer Kurs der Abrüstung und Entspannung. 1989 zog die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan zurück. Für Europa wurde eine neue Friedensordnung, ein „gemeinsames Haus“ propagiert.

Glasnost und Perestroika kamen jedoch wie die gesamte Politik Gorbatschows (und des gesamten Flügels der Bürokratie, auf den er sich stützte) von Beginn an einer Quadratur des Kreises gleich. Einerseits sollte die Gesellschaft geöffnet, andererseits jedoch die Herrschaft der Bürokratie und deren System der Planung beibehalten werden.

Diese Konzeption war im engen Wortsinn utopisch. Die Politik Gorbatschows löste nicht die inneren Widersprüche des Systems, dessen Krise ihn zum Generalsekretär gemacht hatte, sondern spitzte sie vielmehr weiter zu.

Und zwar auf allen Ebenen. Die ökonomischen Reformen belebten die Wirtschaft nicht, sondern verstärkten den Gegensatz zwischen den Elementen der bürokratischen Planung und der Marktwirtschaft. Sie verbesserten die Lage der Massen nicht, schufen aber zugleich eine Schicht von Manager:innen, Bürokrat:innen, neuen Eigentümer:innen, die Appetit auf mehr, auf die Restauration des Kapitalismus entwickelte.

Die begrenzten Elemente der Presse- und Meinungsfreiheit stießen ihrerseits auf Schritt und Tritt auf die Schranken des Systems, an die Grenzen der bürokratischen Diktatur und der führenden Rolle der Partei. Ähnlich wie die Perestroika schuf aber auch Glasnost die Forderung nach mehr Freiheit, nach mehr demokratischen Rechten, wenn auch über eine ganze Zeit im politischen Windschatten des Reformflügels. So entstand die scheinbar paradoxe Situation, dass der Generalsekretär der KPdSU, also der oberste und mächtigste Exponent der Bürokratie, Mitte bis Ende der 1980er Jahre zum Hoffnungsträger und zur Symbolfigur antibürokratischer Massenstimmungen und -bewegungen geriet. „Gorbi“  mutierte zur Identifikationsfigur und zugleich zum Schrecken mancher besonders reformunwilliger Bürokrat:innen.

Politisch glich Gorbatschow freilich Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die er rief, wurde er nicht los – und anders als im Werk des großen Dichters rettete ihn auch kein mächtiger Zauberer.

Der scheinbar mächtige Führer der KPdSU und Sowjetunion erwies sich als tragische, geschichtlich ohnmächtige Figur. Das von ihm verfolgte Ziel einer reformierten, mit Glasnost und Perestroika aufpolierten Sowjetunion, eines reformierten degenerierten Arbeiter:innenstaates erwies sich als reinste Utopie, die die Interessen keiner einzigen gesellschaftlichen Kraft des alten wie des neuen, entstehenden kapitalistischen Systems befriedigen konnte.

Kein Wunder also, dass Gorbatschows Stern noch schneller unterging, als er aufgestiegen war. Er wurde faktisch zum Vorbereiter der Restauration des Kapitalismus, zum Vordringen der westlichen imperialistischen Staaten und – seines eigenen Sturzes.

1991 versuchten die konservativen Schichten der Bürokratie, mit einem halbherzigen Putsch noch einmal das Rad der Geschichte in der Sowjetunion zurückzudrehen – und scheiterten kläglich. Doch mit ihnen wurde auch Gorbatschow faktisch entmachtet. Die offen restaurationistischen Kräfte der Bürokratie um Jelzin und Sobtschak ergriffen die Initiative, mobilisierten die Massen gegen den Putsch und offenbarten damit zugleich die Ohnmacht Gorbatschows. Am 25. Dezember trat er als Präsident der Sowjetunion ab und damit faktisch von der geschichtlichen Bühne.

Seither wandelt Gorbatschow als mehr oder minder dekoratives Relikt der Geschichte durch die Welt. Als Vorsitzender der nach ihm benannten Stiftung kommentierte er weiter das Weltgeschehen und versuchte sich in der russischen Zivilgesellschaft. Politisch verstand er sich als Sozialdemokrat, kritisierte die innerrussischen Verhältnisse, aber auch den Westen und dessen „Machtarroganz“ und -politik und George W. Bush und Co.

Im Grunde bewegte sich seine ganze Kritik auf der Oberfläche gesellschaftlicher Erscheinungsformen. „Arroganz“, Machtpolitik, also subjektive politische Ausrichtungen und Charakterzüge von Herrschenden stellten für ihn den eigentlichen Kern der politischen Probleme unserer Zeit dar, ob im Westen oder in Russland. Die grundlegenden Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächte, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erwuchs für ihn nicht aus den Krisen des Kapitalismus, ja diese objektiven Entwicklungen stellten für ihn letztlich nebensächliche Faktoren dar, die durch guten (Verhandlungs-)Willen aus der Welt zu räumen gewesen wären.

Selbst hier entpuppt sich Gorbatschow noch als tragische Figur, die den Illusionen einer längst vergangenen Zeit nachhing und bis zum Ende von einem idealistischen Verständnis von Gesellschaft und Geschichte geprägt war.

Mythologisierung

Allerdings war Gorbatschow schon zu Lebzeiten von verschiedenen Seiten zur Projektionsfläche ihrer eigenen Sicht der Geschichte geworden.

Für die westlichen Mächte und die demokratische Öffentlichkeit war er der „gute“ Sowjetführer, denn schließlich trug er zur Niederlage des „Kommunismus“ und zum Sieg im Kalten Krieg bei. Nach 1991 schien es außerdem, dass in Russland nicht nur der Kapitalismus wieder Einzug halten würde, sondern es auch ökonomisch und politisch vom Westen dominiert werden könnte. Mit der Stabilisierung des Putin-Regimes sind die Hoffnungen verflogen.

Die posthume Würdigung Gorbatschows soll gewissermaßen auch die Vorstellung am Leben halten, dass ein prowestlicher russischer Führer möglich sei. Und nebenbei wird das klägliche Scheitern Gorbatschows in Russland auch noch uminterpretiert. Die Verhältnisse und die Schwäche der bürgerlichen Demokratie dort sollen partout nicht auf die Krise der Sowjetgesellschaft und die katastrophalen sozialen und politischen Auswirkungen der kapitalistischen Restauration zurückgeführt werden. Vielmehr wird der russischen Nation eine Neigung zum Autoritarismus und zur Diktatur unterstellt, eine „Unreife“ in Sachen Demokratie, der Gorbatschow und Co. zum Opfer gefallen wären. Daher erscheint der Verstorbene als seltener Glücksfall, den es zugunsten von Demokratie und Marktwirtschaft auszunutzen galt, solange er Einfluss ausübte.

Doch auch Teile der Linken nutzen Gorbatschow bis heute als Projektionsfläche eines verqueren Geschichtsbildes. Ihnen zufolge wären uns der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks, der gesamte Sieg des Westens im Kalten Krieg erspart geblieben, wenn Gorbatschow den Pfad von Glasnost und Perestroika nicht beschritten oder wenigstens die Staaten Osteuropas oder ehemalige Sowjetrepubliken nicht in die Unabhängigkeit entlassen hätte. Dieser Sicht zufolge verkörperten Gorbatschow und sein Aufstieg nicht Ausdruck einer tiefen Todeskrise des Stalinismus, sondern deren Ursache. Die Krise der Sowjetgesellschaft, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus werden so zum weltgeschichtlichen Verrat eines großen, bösen Mannes und noch böserer westlicher Hintermänner. An idealistischer Geschichtsverdrehung stehen sie damit ironischer Weise den westlichen (und auch russischen) Ideolog:innen wenig nach.

Arbeiter:innenklasse

Bemerkenswert und bezeichnend an den verschiedenen posthumen Würdigungen und Nachrufen, sei es von offizieller russischer Seite, westlichen Politiker:innen oder selbst stalinistischen Kräften, bleibt, dass die Arbeiter:innenklasse als gesellschaftliche Kraft nicht vorkommt. Die Lohnabhängigen treten entweder als Unterstützer:innen und zunehmend undankbare Versorgungsobjekte der Bürokratie auf oder als bloße Fußtruppe von Reformer:innen und der westlichen Demokratie.

Diese Sicht verkürzt nicht nur die reale geschichtliche Entwicklung, sondern verkennt auch das Potential der Umbrüche, die sich 1989 zu einer historischen politischen Krise der bürokratischen Herrschaft bündelten.

Die Entwicklung, die Gorbatschow seit 1985 mit den Mitteln bürokratischer Reformen von oben unter Kontrolle zu kriegen versuchte, führte auch zu einer Belebung und einem Erwachen der Arbeiter:innenklasse. In der Sowjetunion entstand Ende der 1980er Jahre eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, zum Beispiel unter den Bergarbeiter:innen. Die antibürokratischen Bewegungen stützten sich 1989 sozial auf Massenunterstützung in der Arbeiter:innenklasse und in einigen Ländern bildeten sich auch betriebliche Organisationen der Klasse. Hinzu kamen politische Differenzierungs- und Gärungsprozesse innerhalb der von der Bürokratie kontrollierten Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, teilweise auch in der Staatspartei.

Aber aufgrund der Zerstörung des Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse nach Jahrzehnten der bürokratischen Diktatur und der damit eng verbundenen Entfremdung der Lohnabhängigen von „ihrem“ Staat und „ihrer“ Wirtschaft, also aufgrund der Ausprägung der Führungskrise des Proletariats in den damaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, dominierten zuerst kleinbürgerliche und bald offen bürgerliche Kräfte die Bewegung.

Wie der Arabische Frühling zeigt, lässt sich dieses Phänomen natürlich nicht nur an der Todeskrise des Stalinismus beobachten. Im Jahr 1989 standen die Sowjetunion und alle Länder Osteuropas vor der historischen Alternative: entweder Sturz der Bürokratie durch die politische Revolution der Arbeiter:innenklasse oder Restauration des Kapitalismus.

Und wie immer, wenn eine Revolution nur halb durchgeführt wird, endet sie in einer ganzen Konterrevolution. Daran ändert auch der Fakt nichts, dass diese eine bürgerlich-demokratische Form annahm. Nachdem Gorbatschow ihr den Weg bereitet hatte, wurde er selbst von ihr hinweggefegt. Am 30. August verstarb dieser Zauberlehrling der Weltgeschichte.

Es gibt keinen Grund, seine konterrevolutionäre Rolle zu beschönigen, aber auch keinen, sie zu überhöhen. Nicht Gorbatschow bildete das eigentliche Problem, sondern die Schwäche der revolutionären Kräfte und Tiefe der Krise der Arbeiter:innenklasse. Letztere manifestierte sich 1989 weitaus stärker als in vorangegangenen Revolutionen und Erhebungen gegen die bürokratische Herrschaft in Osteuropa. So brachten die ungarische Revolution, der Arbeiter:innenaufstand in der DDR oder der Kampf der polnischen Arbeiter:innenklasse klassenbasierte Doppelmachtorgane oder Ansätze in diese Richtung in viel stärkerem Maße hervor als 1989. Dieser Tatsache lagen vor allem zwei miteinander verbundene Ursachen zugrunde. Erstens die viel tiefere innere Krise der bürokratischen Planwirtschaft und damit auch der gesellschaftlichen Basis der Bürokratie, was generell die restaurationistischen Tendenzen schon lange vor 1989 vorbereitet und gestärkt hatte. Zweitens die Entfremdung und Zerstörung von Klassenbewusstsein der Arbeiter:innenklasse, was die spontane Tendenz zur Selbstorganisation und Schaffung eigener klassenspezifischer Organisationen schwächte (auch wenn solche durchaus entstanden).

Hinzu kam aber noch ein Drittes. Weltweit gab es keine revolutionäre Internationale der Arbeiter:innenklasse, die ein kämpfender, politischer Bezugspunkt für die Lohnabhängigen in der Sowjetunion und Osteuropa hätte sein können. Allenfalls existierte sie in Form zersplitterter Kleingruppen, die im Wesentlichen nur propagandistisch in die Ereignisse eingreifen konnten. Diese Führungskrise hat sich seit 1989 eher noch vergrößert. Sie bildet das zentrale Problem nicht nur vor und um 1989, sondern auch in unserer Zeit.




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 1

Leo Drais, Infomail 1196, 25. August 2022

Der Abend des 23. August 1942 gilt als der Beginn der Schlacht um Stalingrad. Deutsche Truppenverbände stießen nördlich der Stadt bei Rynok an die Wolga vor. Ein Bombenangriff der Luftwaffe mit über 600 Flugzeugen tötete Tausende, die nicht aus der Stadt evakuiert worden waren.

Die Schlacht wurde zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, vielleicht nicht unbedingt militärisch, jedoch unbedingt psychologisch. Goebbels sah sich nach der Niederlage zur Ausrufung des „totalen Krieges“ gezwungen. In den von den Deutschen besetzten Gebieten keimte die Hoffnung auf Befreiung.

Die Wehrmacht wurde in Stalingrad eingekesselt, nachdem sie selbst die Stadt umzingelt und die Rote Armee fast daraus verdrängt hatte. Die Armee Hitlers erfror und verhungerte im russischen Winter bei – 30 Grad. Entsetzungsversuche scheiterten. Ende Januar 1943 ging der deutsche Generalfeldmarschall Paulus mit den völlig erledigten Resten der sechsten Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Gerade mal 6.000 sollten aus ihr zurückkehren.

Ab Stalingrad war die Rote Armee die initiative Kraft im Krieg an der Ostfront. Zwei Jahre später fiel Berlin.

Ukrainekrieg und Neuschreibung der Geschichte

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versuchen gewisse Rechte und Konservative, noch stärker geschichtsrevisionistisch das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee aus der deutschen Erinnerung zu tilgen. Eine Entfernung des sowjetischen Ehrenmals auf der Straße des 17. Juni in Berlin wurde ins Spiel gebracht, die Sowjetunion mit dem russischen Imperialismus Putins gleichgesetzt.

Umso wichtiger ist es, die Geschichte zu verteidigen!

Mit der Sowjetunion kämpfte nicht eine imperialistische Macht gegen eine andere – Deutschland – sondern ein Arbeiter:innenstaat, der sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigte, die „chemisch destillierte Essenz des deutschen Imperialismus“, wie Trotzki schrieb.

Letzterer analysierte zugleich auch, dass sich der stalinistische und der faschistische Staat zwar der Form nach ähneln, nicht jedoch in ihrem Inhalt.

Für beide Staatsformen hat sich der Begriff des Totalitarismus durchgesetzt, eine Organisation der Diktatur, die bis in die letzten Ecken der Gesellschaft ihre Fühler ausgestreckt hat, allgegenwärtig ist, einen riesigen Teil der Bevölkerung selbst in ihren Apparat einbindet, um eine umfassende Überwachung und Unterdrückung zu verwirklichen. Dieser Umstand macht es heute so leicht, die Sowjetunion und den Putinismus in eins zu setzen, als Ausdrücke eines antidemokratischen, großrussischen Chauvinismus, wobei es natürlich auch Putin selbst ist, der sich positiv auf die Macht der Sowjetunion bezieht um den eigenen Imperialismus propagandistisch zu verkleiden.

Das ist Erbschleicherei.

Denn der entscheidende Unterschied zwischen der Sowjetunion und dem Drittem Reich ist der, dass beide Staaten unterschiedliche Systeme des Eigentums und der Produktion vertraten und verteidigten. Der NS-Staat war der Inbegriff des kriselnden Kapitalismus, der wild um sich schlug, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Nicht umsonst heißt es vom Imperialismus, dass er das höchste Stadium des Kapitalismus darstellt.

In dieser Betrachtung der Geschichte stellte die Sowjetunion einen Fortschritt dar, einen Ort, wo das Kapital nicht mehr Produktion und Gesellschaft bestimmte. Das ist der Grund, warum die Verteidigung der Sowjetunion wichtig und richtig war – trotz der Deformation durch die Bürokratie, die selbst eine Agentin des Imperialismus auf Weltebene darstellte, fleißig mit Hitler, Großbritannien und den USA paktierte, gegen die Interessen der Arbeiter:innenklasse.

„Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts

Geschichtsschreibung ist immer relativ zur Wahrheit.

Und die bürgerliche Geschichtsschreibung kann nicht anders, als sich selbst immer als den letzten Schluss der Menschheit darzustellen, sei es in bürgerlichen Demokratien oder Diktaturen – das Ende der Geschichte sei erreicht.

Dargestellt wird die Geschichte dabei als die großer Männer, die nach Belieben die Erzählung der Welt bestimmt haben, die aufgetaucht sind und ein Land wie ein Rattenfänger in den Abgrund gestürzt oder es zu glorreichen Siegen gegen fremde Invasor:innen  geführt haben.

In etwa so erscheinen Hitler und Stalin in den Schulbüchern.

Dabei sind die, die Krieg führen, nicht die „großen Männer“, sondern wesentlich die einfache Bevölkerung.

Einer, der dieser Bevölkerung ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist Wassili Semjonowitsch Grossman. Sein Werk wird als das „Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt. Doch während Tolstoi seinen ebenfalls monumentalen Roman viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen schrieb und sie selbst nie erlebt hatte, war Grossman als wehruntauglicher Kriegsberichterstatter selbst über 1.000 Tage an der Front gewesen.

Sein Werk besteht aus einer Dilogie. „Stalingrad“ erzählt die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft im Krieg vom Überfall der Deutschen bis in den Herbst 1942. Der zweite Teil „Leben und Schicksal“ greift hier den Faden wieder auf, entwickelt die Figuren des ersten Teils weiter.

Dabei bauen die beiden Romane auf ihren insgesamt 2.300 Seiten nicht einfach aufeinander auf.

Sie erzählen selbst Grossmans Geschichte und Wandel. Während „Stalingrad“ unter dem Titel „Für eine gerechte Sache“ sehr beschnitten und zensiert noch unter Stalin erschien und eine entsprechende Konformität mit dem Regime ausdrückt, stellt „Leben und Schicksal“ eine Abrechnung nicht nur mit dem Faschismus, sondern auch mit dem Stalinismus dar, die auch der angeblichen Entstalinisierung und Tauwetterperiode unter Chruschtschow zu scharf war. „Leben und Schicksal“ wurde beschlagnahmt, eine Kopie jedoch in den Westen geschmuggelt, wo es posthum nach dem Tod Grossmans veröffentlicht wurde.

Stalingrad auf 1.200 Seiten

Trotzdem ist auch „Stalingrad“ alles andere als ein stumpfes Propagandawerk des Stalinismus – zumal in seiner erst letztes Jahr im Deutschen vollständig erschienenen Fassung. Die Kritik erfolgt hier oft subtil, zwischen den Zeilen. Es ist ein Roman, der sich in einem Spannungsfeld bewegt: „Was darf und kann ich schreiben, was muss, was will ich schreiben?“

Der „große Stalin“ kommt, ganz im Gegensatz zu Schulbüchern, kaum in „Stalingrad“ vor. Das stilistisch im sozialistischen Realismus gehaltene Buch stellt uns die sowjetische Bevölkerung in ihrer Breite vor, belegt, dass der Krieg vor allem ihrer war, dass sie ihn führte, litt und kämpfte. Grossman zeigt uns auch die, die es nicht in die Geschichtsbücher schaffen: Arbeiter:innen, Bäuer:innenfamilien, einfache Soldat:innen.

Dabei beschränkt er sich nicht einfach auf das Geschehen an der Front. Anhand der fiktiven, weit  verästelten Familie Schaposchnikow erfahren wir vom Alltag, von Normalität und Gesprächen abseits des Krieges, von der Arbeit, der Liebe und ihren Irrungen, den Sorgen einer Familie um den Sohn an der Front, der Evakuierung und den Diskussionen über den Krieg.

Wir kommen mit in Fabriken, ins Elektrizitätswerk „Stalgres“ südlich Stalingrads, in Forschungseinrichtungen und Bergwerke am Ural, dahin, wo die wirtschaftliche Stärke im  Krieg zum Tragen kommt – letztlich die entscheidende Größe, anhand derer Trotzki schon zu Beginn des Krieges prognostizierte, dass Deutschland ihn verlieren wird.

Ganz ohne Zahlen zeigt Grossman die Überlegenheit selbst der bürokratisierten Planwirtschaft, ihrer Fähigkeit, in kürzester Zeit ganze Fabriken an den Ural zu verlegen, weg von der Front. Völlig zu Recht betont eine Figur, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft schon Siege errungen wurden, obwohl sich die Wehrmacht immer noch und scheinbar unaufhaltsam Richtung Osten bewegte.

Und natürlich wäre das Werk Grossmans unvollständig, wenn er nicht auch den Blick auf die Offizier:rinnen und Kommissar:innen der Roten Armee, auf Bürokrat:innen und Bezirksvorsitzende werfen würde. Der Apparat ist allgegenwärtig, erfährt in „Stalingrad“ mehr Glorifizierung als Kritik.

Andererseits erzählt Grossman von Bildern des Krieges, die der Stalinismus gern verschwiegen hat. Von Läusen und Diebstahl, von Entkulakisierten, die auf die Deutschen warten, vom Pessimismus und der fast schon routinierten Selbstverständlichkeit, mit der sich die Rote Armee immer weiter zurückzog, bis an die Wolga. Erst Stalingrad brachte ein Bewusstsein dafür, dass der Faschismus besiegt werden kann.

Kollektives Schicksal im Einzelnen

Grossmans Figuren verkörpern nicht diese plumpe Einfachheit, die sonst dem sozialistischen Realismus anhaftet. Sie sind komplex und ambivalent, sie tragen das kollektive, massenhafte Schicksal der sowjetischen Bevölkerung in sich selbst aus.

Aus unterschiedlichen persönlichen Blickwinkeln erleben wir das erste Bombardement, wie die Familie Schaposchnikow zerstreut wird, erfahren vom Hadern und der Hingabe Einzelner ihrem Schicksal gegenüber. Wir lernen einen Soldaten kennen in seinen Sehnsüchten, seinen Erinnerungen an die Familie, von der er aufbrach, seinen Wünschen und seinem Pflichtgefühl, und dann fällt er, mit allen seinen Kampfgenossen.

Nichts von den charakterlosen, redundanten und kitsch-banalen Soldatenschicksalen aus billigen TV-Dokus ist hier zu finden. Bei Grossmann werden sie vielmehr ganz nah und lebendig.

Dafür projiziert Grossman die Innenwelten der Menschen oft fantastisch und expressiv in die Natur Südrusslands, auf die Wolga, die Steppe, den Himmel, der den Feuerschein des brennenden Stalingrads reflektiert.

Wir erleben das Spannungsfeld zwischen dem Krieg, der Massen mit sich zieht, über das Leben einer ganzen Bevölkerung bestimmt und dem, was das für die Einzelnen, aus denen diese Masse besteht, bedeutet, für Gedanken, Handlungen und ihr Bewusstsein. Die allermeisten Menschen handeln aus ihren unmittelbaren, eigenen Erfahrungen heraus.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit, gegen den Faschismus zu kämpfen, finden die Figuren, fanden die Menschen in der Sowjetunion von sich aus. Die Motive waren jedoch unterschiedliche: von der Überzeugung sozialistischer Überlegenheit bis zur Vaterlandsverteidigung – immerhin war ja auch die offizielle Bezeichnung des Krieges der „große, vaterländische“.

Offenes Ende

Der Roman endet nicht mit dem sowjetischen Sieg an der Wolga, sondern mitten in der Schlacht, an dem Punkt, wo der deutsche Vormarsch zum Stillstand kommt.

Auch wenn „Stalingrad“ nur subtil in seiner Kritik ist, ist es trotzdem unbedingt lesenswert und weit davon entfernt, ein Propagandawerk zu sein. Gerade für Revolutionär:innen und Marxist:innen, die sich mit Trotzkis Analysen der UdSSR auskennen, kann es nur bereichernd sein. Es verleiht dem sonst trockenen Geschichtsbewusstsein Lebendigkeit und einen tiefen Einblick in die Breite der sowjetischen Gesellschaft zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Einen Blick, der hilfreich ist, in einer Zeit, wo imperialistische Kriegspropaganda auf allen Seiten Konjunktur hat.

Und endlich ist „Stalingrad“ auch deshalb lesenswert, weil es mit seinem offenen Ende auf den zweiten Teil „Leben und Schicksal“ vorbereitet – eine Abrechnung einerseits, mit verkürzten Schlüssen andererseits.

Demnächst: Stalingrad, Faschismus und Stalinismus: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2