Die zahlreichen Krisen unserer Zeit und unsere Antworten: Zentrale Eckpunkte eines Aktionsprogramms für Österreich

Michael Märzen und Alex Zora, Arbeiter*innenstandpunkt, zuerst veröffentlicht in Flammende 3, Frühjahr 2023, Infomail 1221, 21. April 2023

Unser aktuelles Aktionsprogramm für Österreich „Reaktion oder Sozialismus!“ stammt aus dem Jahr 2019 und seine Erarbeitung fiel in eine Zeit, als das Land von der schwarz-blauen Regierung unter Sebastian Kurz regiert wurde. Wenige Wochen nach Veröffentlichung des Aktionsprogramms brach dann die rechte Bürger:innenblockregierung im Zuge der Ibiza-Affäre zusammen. Seitdem hat sich die innenpolitische und internationale Situation massiv geändert (schwarz-grüne Koalition, Rücktritt von Sebastian Kurz, Inflation, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, …). Außerdem arbeiten wir seit Anfang 2020 im Wiener Parteiaufbauprojekt LINKS mit. Eine Aktualisierung unserer programmatischen Vorschläge ist deshalb eigentlich mehr als überfällig. Hier ist aber nicht der Platz um das in größerem Umfang zu tun. Vielmehr wollen wir hier unsere programmatischen Vorstellungen exemplarisch darlegen und unsere Methode anhand der wichtigsten Thematiken darlegen.

Multiple Krisen als Krise des Kapitalismus

Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine ist die Weltwirtschaft in ein „realwirtschaftliches Ungleichgewicht“, wie es die Neue Zürcher Zeitung nennt, gefallen. Schon seit Mitte 2021 erleben wir in Europa relevant steigende Inflationsraten. Inwiefern sich diese nun bei einer Hochinflation  um 10 Prozent „stabilisiert“ hat oder noch weiter steigen wird, ist noch nicht ganz absehbar. Was aber außer Frage steht ist, dass die schon stattgefundene Teuerung die Lebenssituation der lohnabhängigen Bevölkerung in Österreich massiv belastet. Ebenfalls offenkundig zeigt sich  die Gefahr einer Rezession, also eines Schrumpfens der Wirtschaftsleistung, in diesem Jahr. Darin sind sich mittlerweile die meisten bürgerlichen Ökonom:innen und Institute einig. Ausführlicher wird das in unserem Artikel „Wirtschaftskrise und politische Instabilität“ in dieser Ausgabe der Flammenden diskutiert.

Neben den aktuellen wirtschaftlichen Problemen, wie der Inflation und deren massiven Auswirkungen wie Teuerung und Reallohnverlusten, hat uns das letzte Jahr deutlich vor Augen geführt, dass das kapitalistische Weltsystem immer mehr auf eine bewaffnete Konfrontation zwischen den imperialistischen Machtblöcken zusteuert. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt uns klar, dass eine Welt dominiert von einzelnen imperialistischen Großmächten immer auch einen Kampf um Absatzmärkte und Einflusssphären bedeutet, sowie reaktionäre Ideologien wie Nationalismus in sich führt. Die Herrschenden in Europa rüsten aktuell ihre Streitkräfte für ebensolche direkte Konfrontationen mit Russland oder China hoch. Eine mutige antimilitaristische und internationalistische Politik ist essenziell um eigenständige Klassenpolitik machen zu können und nicht zum Weggefährten der Kapitalist:innen im eigenen Land zu werden.

Doch nicht nur eine mögliche Konfrontation zwischen den bis an die Zähne mit Atomsprengköpfen bewaffneten Großmächten gefährdet die Zukunft der Menschheit. Die Umweltkrise und insbesondere der Klimawandel mit seinen direkten Auswirkungen sind mittlerweile von einer abstrakten Zukunftsperspektive zur realen Gefahr für Millionen Menschen auf dem ganzen Globus geworden. Pakistan erlebte 2022 eine massive Flutkatastrophe, Madagaskar eine akute Hungersnot und Inselstaaten im Pazifik sind überhaupt in ihrer Existenz bedroht.

In Österreich ist währenddessen die Regierungskoalition seit dem Skandal rund um Sebastian Kurz immer noch stark angeschlagen. Die Kanzlerpartei ÖVP ist in Umfragen nur noch auf Platz 3 – hinter FPÖ und SPÖ. Eine neue Welle des Rassismus erfasst alle etablierten Parteien von den Regierungsparteien bis zu FPÖ und SPÖ. Die wirtschaftlich schwierigen Aussichten machen eine Neuorientierung der österreichischen Bourgeoisie und ihrer Regierungszusammensetzung möglich. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind noch immer alles andere als überwunden, das österreichische Gesundheits- und Pflegesystem ist weiterhin am Rande des Zusammenbruchs.

Was es braucht ist eine Kraft zur Überwindung dieses Systems. Das kann nur erfolgreich sein mit einem klaren programmatischen Verständnis, welches sich aus einer Analyse der politischen Lage, deren Möglichkeiten und Notwendigkeiten sowie der Erfahrungen des Klassenkampfs begründet. Auf den folgenden Seiten wollen wir versuchen aktuelle Ansätze dazu zu geben.

Inflation und Rezession

Die Inflation des letzten Jahres war nach vielen Jahren der Niedrigstinflation für viele Menschen kaum vorstellbar. Die größten Auswirkungen – wie die, für viele Menschen noch ausstehenden, Energierechnungen des Winters – stehen teilweise noch bevor. Die Bundesregierung beschränkte sich darauf, durch Einmalzahlungen und Zuschüsse die schlimmsten Folgen abzufedern. Die realen Einkommensverluste zu kompensieren, wird sich damit aber kaum ausgehen. Schon jetzt zeigt sich sehr deutlich, wie sehr sich die Inflation auf den Lebensstandard der Menschen in Österreich auswirkt. Zwei Drittel der Menschen in Österreich, die dieses Jahr keinen Winterurlaub machen, geben an, dass die Teuerung dafür hauptverantwortlich ist;[i] 41 % der Menschen in Österreich haben Sorgen, sich bei weiteren Preissteigerungen verschulden zu müssen[ii] und mehr als die Hälfte beginnt sich beim Essen einzuschränken[iii]. Auf die sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften war wie so oft kein Verlass. Stolz verkündeten sie Abschlüsse, die teilweise deutlich unter der aktuellen Inflation zurückbleiben. Eine richtige Mobilisierung zum Arbeitskampf blieb bisher aus. Statt die Ansätze zum Arbeitskampf in unterschiedlichen Branchen hin zu einem branchenübergreifenden Kampf gegen die Inflation vorzubereiten und dann zu eskalieren, gab es unterschiedlich schlechte Abschlüsse in unterschiedlichen Branchen. Die Abschlüsse wurden nach der traditionellen Herangehensweise der durchschnittlichen Inflation der letzten 12 Monate verhandelt, womit die Gewerkschaftsbürokratie Abschlüsse deutlich unter der aktuellen (und prognostizierten) Inflation als Reallohnerhöhungen verkaufte. Statt einen der Situation angemessenen Kampf gegen die Teuerung zu führen blieb man lieber im guten alten Trott – wenig verwunderlich, wenn man sich ansieht, dass die Gewerkschaftsspitzen ein Vielfaches der Gehälter ihrer Mitglieder bekommen. Die Teuerung trifft sie also relativ wenig[iv].

Die Inflation ist aber nicht nur ein Problem für die Lohnabhängigen, sondern auch für große Teile des Kapitals. Von Seiten der Zentralbanken wird versucht mit Erhöhungen der Leitzinsen der Inflation entgegen zu wirken. Damit wird aber gleichzeitig massiv auf die wirtschaftlichen Aussichten gedrückt. Die Wahl, vor die uns das Kapital und seine Regierung stellen, ist Inflation und Teuerung auf der einen Seite und Rezession und Arbeitsplatzverluste auf der anderen Seite. Am Ende ist es nicht unwahrscheinlich, dass uns beides treffen wird. Die aktuelle Prognose der Europäischen Kommission sieht für das Jahr 2023 für Österreich ein Wirtschaftswachstum von 0,3 % vor[v]. Arbeitsplatzverlust, Kurzarbeit und Lohneinbußen sind also schon quasi vorprogrammiert. Was es braucht ist ein mutiges Programm gegen die Teuerung, aber auch vorbereitend ein Programm gegen die Auswirkungen einer wahrscheinlichen Rezession, damit der Widerstand dagegen frühzeitig vorbereitet werden kann. Das bedeutet für uns zu fordern:

  • Automatische Anpassung von Löhnen, Pensionen und Sozialleistungen an die Inflationsrate, kontrolliert durch Komitees aus Beschäftigten, Betroffenen und die Gewerkschaftsbewegung
  • Festlegung der Warenkörbe für die Inflationsberechnung durch Komitees aus Vertreter:innen der Gewerkschaftsbewegung
  • Gegen Armut: Massive Anhebung von Löhnen und Einkommen (Mindestsicherung, Arbeitslosengeld, Pensionen) auf mindestens 1800,- netto/Monat
  • Abschaffung von indirekten Massensteuern
  • Einführung einer Energiegrundsicherung. Enteignung der Energiekonzerne und deren Gewinne und Fortführung unter Kontrolle der Beschäftigten
  • Bei (drohenden) Betriebsschließungen: Enteignung und Weiterführung unter Verwaltung der Beschäftigten
  • Einsicht in die Geschäftsbücher für Komitees der Beschäftigten und der Gewerkschaften um dem Kapital und seinen Machenschaften auf die Finger zu schauen!
  • Gegen Arbeitslosigkeit: Massive staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Sozialbereich sowie für den ökologischen Umbau!

Gewerkschaften zurückerobern!

Die österreichische Gewerkschaftsbewegung ist zwar seit den 80er Jahren am absteigenden Ast was Mitgliedschaft und gesellschaftlichen Einfluss anbelangt, aber mit mehr als einer Million Mitgliedern ist der ÖGB immer noch der größte und mächtigste, wenn auch bürokratischste, Ausdruck der Arbeiter:innenbewegung in Österreich. In den letzten Jahren gab es innerhalb der Gewerkschaftsbewegung neue politische Entwicklungen. Die traditionelle Speerspitze des ÖGB – die Metaller:innen – wurde durch die Politik der Gewerkschaftsführung immer mehr abgestumpft. Gleichzeitig haben sich in neuen Sektoren wie dem Sozialbereich oder bei den Pädagog:innen neue kämpferische – und streikfähige – Sektoren herausgebildet. Auch die Eisenbahner:innen haben in den letzten Jahren immer wieder am Vollstreik gekratzt und im Kampf gegen die Teuerung 2022 den bedeutendsten Arbeitskampf geführt.

Insgesamt bleibt die Gewerkschaftsbewegung aber immer noch in der Ideologie der Sozialpartner:innenschaft gefangen. Während der Hochphase der Pandemie waren die Spitzen der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführung wieder froh darüber, dass sie in die Verwaltung der Krise auf Kosten der Arbeiter:innen miteinbezogen wurden, doch seit mehr als 2 Jahrzehnten hat die organisierte Kapitalist:innenklasse in Österreich nur mehr sehr selten Bedarf an einem ernsthaften Ausgleich mit den Spitzen der Gewerkschaften. Aber anstatt dem geänderten Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter:innenklasse und Kapital mit einer klassenkämpferischen Ausrichtung zu begegnen, versucht die Gewerkschaftsbürokratie lieber durch möglichst zahme Politik ihre Kompromissbereitschaft zu signalisieren. Das Kapital nimmt die Kompromissbereitschaft der Gewerkschaften gerne an, macht aber selbst kaum Zugeständnisse. Ganz im Sinne der bürgerlichen „Standortlogik“ spielt die Gewerkschaftsführung bei staatlichem Rassismus oder Umwelt- und Klimapolitik nur zu oft eine reaktionäre Rolle.

Gleichzeitig stützt sie sich weiterhin vor allem auf die privilegierten Teile der Klasse. Weibliche oder migrantische Arbeiter:innen sind deutlich unterrepräsentiert – in der Gewerkschaftsführung noch einmal deutlich mehr als  in der ohnehin verbesserungswürdig zusammengesetzten Basis. Es braucht hier bewusste Schritte um sozial unterdrückte Teile der Klasse zu organisieren.

Von selbst werden die sozialdemokratisch geführten Apparate ihre Politik nicht ändern, es braucht vielmehr eine systematische Intervention linker und klassenkämpferischer Kräfte innerhalb der Gewerkschaften und in den Betrieben. In manchen Branchen wie im Sozial- und Gesundheitsbereich gibt es auch erste vielversprechende Ansätze dafür. Ziel muss sein nicht nur die Führung auszutauschen und linke Betriebsrät:innen zu etablieren, sondern von Grund auf die Organisationen zu revolutionieren. Es braucht die Verbindung des Kampfes für demokratische Gewerkschaften mit einer klar klassenkämpferischen Ausrichtung!

  • Für eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Gewerkschaften um sie wieder zu demokratischen Kampforganisationen der Arbeiter:innenklasse zu machen!
  • Für die Organisierung der Unorganisierten. Für eine gewerkschaftliche Organisierungskampagne insbesondere in prekär besetzten Branchen wie Lieferdiensten, Pflegebereich oder Einzelhandel
  • Aufbau gewerkschaftlicher Basisorganisationen, um die Gewerkschaftsmitglieder in ihren Betrieben und in den Gewerkschaften zu organisieren
  • Für einen durchschnittlichen Facharbeiter:innenlohn für alle Gewerkschaftsfunktionär:innen
  • Verpflichtende Urabstimmungen der Beschäftigten über KV-Abschlüsse

Soziale Unterdrückung bekämpfen

Die kapitalistische Krise verschärft das Elend all jener, die abseits bzw. zusätzlich zu der Unterdrückung und Ausbeutung durch Lohnabhängigkeit aufgrund anderer Kriterien, wie Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung, Alter und Einschränkung unterdrückt werden. Denn es sind diejenigen, die aufgrund bestehender Marginalisierungen, Abhängigkeit und Prekarität am einfachsten anzugreifen sind, sowie auch von allgemeinen Verschlechterungen stärker getroffen werden. Rassismus und Sexismus sind zwei Unterdrückungsmechanismen, die in unserer Gesellschaft besonders weit verbreitet sind. Dahinter steht aber ein tief mit dem Kapitalismus verwurzeltes System sozialer Unterdrückung. Teilweise mit tiefen ideologischen und strukturellen Wurzeln in vorkapitalistischen Gesellschaften, ermöglicht es heute den Herrschenden eine Politik der Spaltung und Ablenkung und erleichtert auf diese Weise die Ausbeutung von Arbeitskraft.

Der beliebteste Mechanismus bürgerlicher Politik zur Ablenkung von ihren Machenschaften im Interesse des Kapitals ist die rassistische Hetze gegen Geflüchtete, Migrant:innen und Personen of Color. Über 100.000 Asylanträge wurden im Jahr 2022 in Österreich gestellt[vi], mehr als in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Geflüchtete werden in Zelte gepfercht, der ÖVP-Innenminister forciert einen Ausbau der „Festung Europa“ mit neuen Zäunen und blockiert den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Die FPÖ fordert Grenzschließungen und spricht von einer „Festung Österreich“. Die SPÖ propagiert eine „Bodenseekoalition“ um „irreguläre Migration“ zu verhindern. Es wird zwischen guten Geflüchteten und Zugewanderten aus der Ukraine und schlechten Geflüchteten aus Afghanistan, Indien oder Tunesien gespalten.

Zum Teil noch viel akzeptierter und im Alltag allgegenwärtig ist der Sexismus, welcher der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen entspringt und sich über heterosexistische Geschlechternormen auch gegen LGBTQIA+ Personen richtet. Der materielle Kern der Frauenunterdrückung liegt in der unbezahlten Reproduktionsarbeit (Hausarbeit, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen etc.), welche überwiegend von Frauen verrichtet wird und häufig mit einer Mehrfachbelastung, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation einhergeht. Eine Entwicklung in Österreich, welche die Lage der Frauen, sowie von Sexismus Betroffenen, gefährlich zu verschärfen droht, besteht in der drastischen Personalnot in Pflege und Kindergärten. Bis 2030 braucht es 100.000 zusätzliche Pflegekräfte[vii] und rund 14.000 – 20.000 Kindergartenbetreuer:innen[viii]. Diese Entwicklung bedroht die soziale Stellung der Frauen heute mit einem gewaltigen Rückschritt zu unbezahlter Care-Arbeit und damit verbunden ökonomischen Abhängigkeiten.

Die traditionellen Rollenbilder und Geschlechtsidentitäten zu hinterfragen, ist in annähernd progressiven Gesellschaftsschichten inzwischen normal, besonders unter jungen Menschen. Die LGBTQIA+ Community erhält Zulauf sowie Solidarität von liberalen Politiker:innen und so manchen Konzernen. Doch oft steckt dahinter nur ein profitables „pink washing“. Die ökonomischen Verhältnisse und die gesellschaftlichen Strukturen, wie insbesondere die bürgerliche Kernfamilie, welche die sozialen Geschlechter prägen, sind nicht verschwunden und können im Kapitalismus nicht verschwinden. Gerade in der Krise können sich diese Verhältnisse durch ökonomische Zwänge wieder stärker bemerkbar machen. Es droht ein queerfeindlicher Backlash.

  • Öffnet die Grenzen für alle Geflüchteten! Gegen rassistische Grenzpolitik, Grenzzäune, Obergrenzen für Geflüchtete und Push-Backs! Zugang zum Arbeitsmarkt für Geflüchtete und sowie gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen!
  • Recht auf Staatsbürger:innenschaft und Wahlrecht für alle mit Lebensmittelpunkt in Österreich!
  • Für das Recht auf Muttersprache auf Behörden und Ämtern! Ausbau von mehrsprachigem Unterricht an Schulen!
  • Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit! Gewerkschaftliche Organisierungskampagnen in von Frauen dominierten Berufen und Erkämpfung höherer Löhne!
  • Kürzere Arbeitszeiten sowie bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen in Pflege und Kindergärten! Um den Anreiz zu erhöhen müssen die Ausbildungen für diese Berufe bezahlt werden!
  • Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit! Massiver Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, Pflegeeinrichtungen, kollektiven Wohnformen, öffentlichen Kantinen und Waschküchen!
  • Für einen Ausbau von Gewaltschutzzentren! Organisierter Schutz von Frauen und LGBTQIA+ Personen gegen sexistische und sexualisierte Gewalt!

Krieg dem Krieg!

Schon seit Jahren zeichnet sich auf geopolitischer Ebene eine Verschärfung im Kampf um eine Neuverteilung der Welt an. Sei es in Syrien oder dem südchinesischen Meer, die Welt war gekennzeichnet von sich zuspitzenden Widersprüchen. Vor allem zwischen den alteingesessenen imperialistischen Großmächten, die die Nachkriegsordnung in ihrem Interesse prägen konnten (USA, EU und Japan) und der aufstrebenden imperialistischen Großmacht China mit Russland im Gepäck, das ebenfalls wenig Interesse an der „regelbasierten Weltordnung“ hatte.

Mit Russlands Krieg in der Ukraine sind diese Konflikte in einer noch nicht dagewesenen Intensität ausgetragen worden. Der russische Imperialismus möchte sich zurückholen, was er fälschlicherweise als seine „Einflusssphäre“ betrachtet. Die Leidtragenden sind vor allem die Menschen in der Ukraine, sowie alle von massiver Repression betroffenen Kriegsgegner:innen und Eingezogenen in Russland. Gleichzeitig präsentiert auch die „demokratische Wertegemeinschaft“, wie sich der westliche Imperialismus gerne bezeichnet, keine fortschrittliche Lösung. Sie steht vielmehr für den Status quo aus globalem Ausbeutungsregime und Umweltzerstörung und hat ihr eigenes Ausbeutungsinteresse an der Ukraine. Aufgrund der enormen Involvierung des Westens, sowie der kompletten Abhängigkeit des ukrainischen Regimes davon, ist für uns im aktuellen Krieg das Element des innerimperialistischen Konflikts dominant. Auch wenn es noch in weiter Ferne scheint, braucht es schon jetzt das Eintreten für eine unabhängige Antwort der Ausgebeuteten und Unterdrückten in allen Ländern und auf allen Kontinenten. Eine ausführlichere Diskussion zum Krieg in der Ukraine findet sich im Artikel „2022 – ein Jahr des Kriegs um die Ukraine“.

Für Österreich heißt das insbesondere, dass wir uns gegen jede Form der Aufrüstung und Militarisierung aussprechen. Nach deutschem Vorbild (wo ja das größte Rüstungspaket seit 1945 beschlossen wurde) soll hier der Krieg in der Ukraine dafür instrumentalisiert werden, die eigenen Streitkräfte massiv auszubauen. Gleichzeitig wird es in den nächsten Jahren mehr Versuche von Seiten der EU geben, eine gemeinsame „Verteidigungs“politik zu definieren und die einzelnen nationalen Armeen besser aufeinander abzustimmen. Eine gemeinsame EU-Armee ist zwar unwahrscheinlich muss aber trotzdem schon jetzt bekämpft werden.

Wir stehen beim Kampf gegen Krieg und Militarisierung aber nicht für pazifistische Neutralität. Wir sagen klar, dass dieses System mit all seiner Gewalt und seinem Leid nur durch die  organisierte und militante Arbeiter:innenklasse in einer Revolution gestürzt werden kann. Wir verteidigen zwar die positiven Aspekte der österreichischen Neutralität (keine Beteiligung an imperialistischen Militärbündnissen wie der NATO, etc.) aber kritisieren gleichzeitig die Illusionen die mit einem Ruf nach Neutralität verbunden sind. Österreich war nie wirklich neutral, schon zur Zeit des Kalten Kriegs war es im Lager des Kapitalismus angesiedelt, auch wenn es oft viel Spielraum in der Außenpolitik hatte.

Gleichzeitig ist die Verteidigung der Neutralität kein positives Programm: Wenn die Arbeiter:innenklasse in Österreich die Macht übernehmen würde, müsste ihre Außenpolitik alles andere als neutral, sondern auf die Unterstützung der Ausgebeuteten und Unterdrückten mit allen geeigneten Mitteln, ausgerichtet sein. Wir lehnen deshalb Rufe nach einer Neutralität Österreichs ab und vertreten stattdessen den Kampf um einen proletarischen Antimilitarismus.

  • Kompromissloser Kampf gegen die Militarisierung Österreichs und der EU. Kein Cent für die imperialistischen Armeen. Nein zu jeder Form der Aufrüstung, kein Ausbau der Militärkooperation und einer EU-Armee.
  • Enteignung der Rüstungsindustrie! Kein Export von Waffen an kapitalistische, reaktionäre Regime und für reaktionäre oder imperialistische Kriegsparteien!
  • Für den sofortigen Abbruch aller Kooperationen Österreichs mit der NATO wie der „Partnerschaft für den Frieden“ oder dem „Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat“! Konsequente Ablehnung aller Überflugs- und Transittransportrouten über und durch Österreich! Gegen jegliche NATO-Osterweiterung!
  • Gegen alle Auslandseinsätze des Bundesheers.

Die Klimakatastrophe aufhalten

Die Klimakrise ist im wahrsten Sinne des Wortes die brennendste Frage unserer Zeit. Die Klimakatastrophe bahnt sich nicht erst bedrohlich an, wie eine etwaige Dystopie am Ende des Jahrhunderts. Sie ist schon längst da und wir befinden uns mitten in ihr.

Kurz vor der 27. Klimakonferenz in Ägypten sorgte ein vorläufiger Bericht der Weltorganisation für Meteorologie für Aufsehen. Demnach sollen die vergangen acht Jahre die Wärmsten seit Anbeginn der Messgeschichte gewesen sein. Die Geschwindigkeit des Meeresanstiegs habe sich seit 1993 verdoppelt. Am höchsten Punkt von Grönland fiel dieses Jahr zum ersten Mal Regen. Ähnliche Meldungen lesen wir inzwischen tagtäglich in den Medien: Hitzewelle in Pakistan mit 51 °C, Dürre und Waldbrände, dann Rekordregenfälle, welche ein Drittel das Landes unter Wasser setzten und 33 Mio. Menschen vertrieben, 10.000 Hitzetote in Frankreich, Austrocknung des Po in Italien.

All das und vieles mehr ist Ausdruck davon, dass sich die globale Durchschnittstemperatur schon 1,2 °C über dem vorindustriellen Temperaturniveau befindet. Trotzdem war die Klimakonferenz 2022 eine Enttäuschung – schon wieder. Dabei hatten sich die Staaten dieser Erde mit dem Abkommen von Paris im Jahr 2015 darauf festgelegt, die Erderwärmung auf unter 2 °C zu begrenzen und Anstrengungen zu unternehmen, um 1,5 °C einzuhalten. Mit den bisher eingereichten nationalen Klimaplänen (NDCs) wird nicht einmal das Ziel von 2 °C erreicht. Schon jetzt erreichen wir wohl gefährliche Kipp-Punkte, bei denen das Klima weiter unkontrollierbar angeheizt wird.

Auch in Österreich spüren wir die Klimakatastrophe. Die Hitze im Sommer, die Trockenheit, welche die Landwirtschaft beeinträchtigt, Waldbrände, und geringere Wassermengen in Flüssen und Seen. Letztere wirkten sich 2022 negativ auf die Stromproduktion aus Wasserkraft aus, sodass selbst im Sommer Strom importiert werden musste. Und trotz dieser negativen Entwicklungen werden laut Prognosen die Treibhausgasemissionen wieder steigen, wenn das Gas wieder etwas billiger wird. Österreich droht seine Klimaziele einer Emissionssenkung um 36 % gegenüber 2005  sowie der Klimaneutralität bis 2040 zu verfehlen. Und die schwarz-grüne Regierung versagt in der Verabschiedung wichtiger Gesetze wie des Erneuerbaren-Ausbau-Gesetzes.

Der Kampf gegen die Erderwärmung ist keineswegs vergebens. Es macht einen enormen Unterschied, ob wir die Erderwärmung heute und in der Zukunft weiter begrenzen oder nicht. Eine lebenswerte Zukunft für unsere Generationen und die uns nachfolgenden steht auf dem Spiel. Es rettet uns keine noch zu entwickelnde „grüne Zukunftstechnologie“, wir müssen die Erdwärmung jetzt stoppen. Es reicht auch nicht, individuell klimafreundlicher zu konsumieren, weniger das Auto zu nutzen oder weniger Flugreisen zu tätigen, auch wenn das sinnvoll ist. Was uns im Weg steht ist das kapitalistische System, welches mit Privateigentum, Konkurrenz und Profitlogik einen effektiven Weg aus der Klimakrise verunmöglicht. Die Lage erfordert radikale Maßnahmen, die nur in der Begrenzung und letztlich Brechen der Macht des Kapitals bestehen können! Dazu muss eine antikapitalistische, ökologische Bewegung aufgebaut werden, die sich auf die organisierte Macht der Arbeiter*innenklasse stützt.

  • Enteignung der Energiekonzerne unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten! Einsatz der Gewinne aus fossiler Energie für einen klimafreundlichen Umbau!
  • Massive Investitionen in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, insbesondere der Zugverbindungen, sowie weg vom individuellen PKW! Gratis Öffis für Alle.
  • Ausstieg aus fossiler Energie bei schnellstmöglichem Ausbau erneuerbarer Energie wie Photovoltaik, Windkraft, Wasserkraft und Geothermie. Gezielte Förderung für Forschung und Einsatz von Speichertechnologien!
  • Aufbau einer demokratischen Planwirtschaft zum umfassenden und nachhaltigen Umbau unseres Wirtschaftssystems!

Für eine revolutionäre Partei

Viele insbesondere junge Menschen haben die Ungerechtigkeiten und die zerstörerischen Seiten des Kapitalismus erkannt und engagieren sich dagegen und für eine bessere Zukunft. Doch so wichtig das konkrete Engagement auch ist, es reicht nicht aus, wenn es nicht gleichzeitig ein Kampf gegen das zugrunde liegende kapitalistische System ist. Wie können wir also einen solchen Kampf führen?

Viele linke Organisationen und Parteien in der Vergangenheit haben sich darauf beschränkt für konkrete Verbesserungen innerhalb des Systems zu kämpfen. Für bessere Arbeitsbedingungen, gegen rassistische oder sexistische Unterdrückungen usw. Wenn sie von Alternativen zum Kapitalismus gesprochen haben, dann als abstraktes Fernziel, losgelöst von ihrer konkreten Politik. Wir nennen solche Organisationen und Parteien innerhalb der Linken und der Arbeiter:innenbewegung reformistisch, weil ihre Politik nicht über Verbesserungen oder Abwendung von Verschlechterungen im Rahmen des Kapitalismus hinausgeht. Das prominenteste und unrühmlichste Beispiel in Österreich ist die SPÖ, welche sich weitestgehend mit dem Kapitalismus ausgesöhnt hat und diesen immer wieder in der Regierung mitverwaltet. Den fortschrittlicheren Aktivist:innen ist klar, dass es eine linkere Alternative zu dieser Partei braucht.

Manche Aktivist:innen wenden sich als vermeintliche Alternative der KPÖ zu. Sie ist eine Option auf Wahllisten und hat in letzter Zeit, insbesondere durch Verjüngung ihrer Führung mit Kräften u.a. aus der Jungen Linken, ihr Image verbessert, sich modernisiert und vom Wahlerfolg in Graz profitiert. Doch auch wenn die KPÖ immer wieder vom Kapitalismus spricht und diesen in Worten überwinden möchte, ist ihre Politik letztlich eine reformistische. Denn ihre Strategie zielt auf die Eroberung des kapitalistischen Staates durch Wahlen ab, Erweiterung durch partizipative Demokratie und letztlich eine nicht klar definierte solidarische Gesellschaft, zu deren Weg ein Bedingungsloses Grundeinkommen eine zentrale Rolle spielen soll. Diese Vorstellung einer „Transformation“ des Kapitalismus verkennt die Notwendigkeit unabhängiger proletarischer Machtorganisation und die Ersetzung des bürgerlichen Staates durch einen rätedemokratischen Halbstaat. Ähnliche und andere Spielarten eines solchen neuen Reformismus findet man bei den Parteien der Europäischen Linken, zu denen die KPÖ neben der deutschen Linkspartei oder der griechischen Syriza zählt.

Abseits von SPÖ und KPÖ finden wir in Österreich eine Menge an kleinen, verhältnismäßig unbedeutenden Organisationen der radikalen Linken. Sofern diese in stalinistischer / maoistischer Tradition stehen, sind sie nicht nur für viele Menschen unattraktiv aufgrund ihrer fehlenden Aufarbeitung der bürokratischen Herrschaft der stalinistisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten, sondern verfolgen meist selbst wieder reformistische Irrwege der „Volksfront“ (eine Unterordnung unter bürgerliche Kräfte in einer gemeinsamen Allianz), etwa in Form einer anti-monopolistischen Demokratie. Andere Organisationen, meist aus trotzkistischer Tradition, verfolgen historische Konzepte, die eine zentristische Politik bedeuten, das heißt eine die sich gerne revolutionär gibt aber zwischen Reform und Revolution schwankt. Dazu zählen wir beispielsweise den Funke, die ISA (ehem. SLP) oder die Linkswende. Aufgrund der Schwäche in Bezug auf Verankerung, verknöcherter politischer Methode sowie Programmatik schließen wir im aktuellen Zustand eine gemeinsame politische Organisation mit diesen Kräften abseits einer größeren Umgruppierung aus.

Eine revolutionäre, kommunistische Partei hat die Aufgabe den Kommunismus mit der Arbeiter:innenbewegung zu vereinen. Dazu muss sie der Bewegung politisch Voranschreiten und mit ihrer Strategie, ihren Taktiken und geeigneten Forderungen das Bewusstsein der lohnabhängigen Massen heben. Das geht selbstverständlich nur durch eine enge Verbindung mit den Lohnabhängigen und der organisierten Arbeiter:innenbewegung.

Davon sind wir noch weit entfernt. Trotzdem oder gerade deswegen muss der revolutionäre Kommunismus in Österreich für seine eigenständige Programmatik in der Arbeiter:innenbewegung kämpfen. Deshalb lehnen wir Strategien zum Parteiaufbau ab, welche auf eine Auflösung in eine pluralistische Partei münden. Wir sind aber auch keine Sektierer:innen, die sich der Notwendigkeit von Zusammenarbeit und gemeinsamer Organisierung mit anderen linken Kräften verwehren. Gegen Angriffe der Regierung und der Kapitalist:innen sowie bei Kämpfen im Interesse der Arbeiter:innenklasse suchen wir die Zusammenarbeit im Rahmen einer Einheitsfront, das heißt in gemeinsamen Aktionen und möglichen dazugehörigen Organisationsformen, aber unter Beibehaltung unserer politischen und programmatischen Unabhängigkeit. Einheitsfronten zwischen verschiedenen Kräften der Arbeiter:innenbewegung oder linken Organisationen werden immer wieder nötig sein, um die Kampfkraft zu erhöhen. Sie können aber auch taktische Anknüpfungspunkte sein, um die reformistischen Apparate der Arbeiter*innenbewegung mit ihrem Massenanhang in eine Mobilisierung zu ziehen und deren Führungen in die Verantwortung zu ziehen und darin ihre verräterische Rolle zu offenbaren.

Eine neue linke Partei auf revolutionärer programmatischer Grundlage, gestützt auf die Arbeiter:innenklasse, muss in Österreich erst mühsam aufgebaut werden. Das wird unserer Einschätzung nach erst durch größere Verwerfungen in der politischen Landschaft und erfolgreichere linke Bewegungen und neue Organisierungen möglich sein, wie derzeit mit LINKS in Wien. Doch es ist notwendig in Vorbereitung darauf die revolutionären Kräfte zu sammeln, an den linken Bewegungen und relevanten Strukturen teilzunehmen und diese für den Aufbau einer revolutionären, kommunistischen Partei zu gewinnen, in Österreich und international!

Endnoten


[i] https://oesterreich.orf.at/stories/3187100/

[ii] https://www.vienna.at/jeder-zweite-oesterreicher-zu-einsparungen-gezwungen/7723816

[iii] https://www.kleinezeitung.at/home/klistenspecial/klistegross/6231088/CaritasPraesident-Landau_Ich-wuensche-mir-einen-politischen

[iv] https://www.oegb.at/der-oegb/organisation/offenlegung

[v] https://www.oenb.at/dam/jcr:e24197cc-d44a-4ef6-a0ec-fc0857dc719a/Konjunktur-aktuell-12_22.pdf

[vi] https://www.derstandard.at/story/2000141394444/100-000-asylantraege-heuerin-oesterreich-echte-staatskrise-oder-populistisches-ablenkungsmanoever

[vii] https://orf.at/stories/3228640/

[viii] https://orf.at/stories/3298709/




Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Frauen und die Revolution im Iran

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken.

Über 500 Menschen wurden von den bewaffneten Kräften der Staatsmacht, von Polizei, Geheimdiensten oder den sog. Revolutionswächtern, ermordet. Tausende wurden verletzt, über 20.000 festgenommen. Seit Monaten werden Aktivist:innen der Bewegung und bekannte Oppositionelle nach Schauprozessen öffentlichkeitswirksam hingerichtet, um die Massen einzuschüchtern und die Anhänger:innen des Regimes zu stärken.

Nach Monaten des heroischen Kampfes droht die Bewegung, durch die Konterrevolution der Mullahs zerschlagen zu werden. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird dieser „Sieg“ nicht von Dauer sein. Sie können zwar möglicherweise den Protest niederschlagen – die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime, die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Eine Revolution der Frauen

In den letzten Jahrzehnten erschütterten immer wieder Massenproteste den Iran. 2009, bei der sog. grünen Revolution, bildeten vor allem die städtischen Mittelschichten – Intellektuelle, das Kleinbürger:innentum sowie reformorientierte Unternehmerschichten, die ihre Hoffnungen in den damaligen Präsidentschaftskandidaten Chātami setzten – die soziale Basis der Bewegung.

2017 und vor allem 2019 änderte sich die Lage. Die „Unterschichten“, d. h. vor allem die Arbeiter:innenklasse, schwangen sich zur sozialen Trägerin des Kampfes auf. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes waren bei den Massen verflogen. Umso drängender rückten die sozialen Fragen in den Vordergrund.

2022 standen von Beginn an Frauen, Studierende und die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten im Zentrum.

Natürlich wurde dies auch durch den Mord an einer jungen Kurdin, Jina Mahsa Amini, durch die „Sittenpolizei“ befördert. Dass die Protestbewegung vor allem von jungen Frauen und Studentinnen getragen und vorangetrieben, sie mit gewissem Recht als feministische Revolution bezeichnet wurde, verweist auf tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Frauen, Arbeit und Bildung

Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft und Unterdrückung ging mit einer widersprüchlichen, teilweise geradezu paradoxen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen, teilweise auch in der Arbeitswelt einher.

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und insbesondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben 35 – 50 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend angesichts von massiver Inflation und ökonomischer Stagnation.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. So liegt der Anteil von Frauen an den Beschäftigten noch immer bei nur 17,26 % (er überstieg in der Islamischen Republik nie 20 %). Auch wenn dies den realen Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen nicht reflektiert, weil ein großer Teil der in der Landwirtschaft Beschäftigten (Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 % der Arbeit auf dem Dorf von Frauen erledigt wird) wie auch nicht offiziell registrierte Beschäftigung rausfallen, werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt schon nach amtlichen Zahlen massiv diskriminiert.

Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen (https://de.theglobaleconomy.com/Iran/) mit offiziell 18,96 % im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89 %). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21 %. Mit fast 89 % extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen.

Die Anzahl studierender Frauen ist seit Jahren vielen Mullahs an Dorn im Auge. Unter dem erzkonservativen Einpeitscher Ahmadineschād wurde nicht nur auf propagandistischer und ideologischer Ebene gegen diesen „Auswuchs“ angegangen, sondern wurden auch Männerquoten in verschiedenen, vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eingeführt. Der „Erfolg“ war mäßig, da selbst regimetreue, sozial-konservative Väter (einschließlich hoher Kleriker) aller reaktionären Gesinnung zum Trotz ihre Töchter an die Unis schicken und gut ausgebildet haben wollten.

Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nimmt daher viel stärker die Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt an.

Für beschäftigte Arbeiterinnen kommt „natürlich“ auch noch Sexismus am Arbeitsplatz hinzu. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist, so dass dieser einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet.

Von der halben Revolution zur ganzen Konterrevolution

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Anders als heute gern von den bürgerlichen Medien vereinfacht dargestellt wird, war die iranische Revolution zu Beginn am Ende der 1970er Jahre keineswegs eine „islamische“.

Im Kampf gegen das Schahregime stellten die Linken, die Arbeiter:innenklasse und auch eine starke Frauenbewegung eine zentrale Kraft dar. Politisch kann die iranische Revolution als Kampf dreier Kräfte betrachtet werden. Erstens das prowestliche despotische Schahregime, das sich auf den Imperialismus, den iranischen Staatsapparat und einen Teil der herrschenden Klasse stützte, zweitens die von liberalen, mehr und mehr aber auch von den lslamist:innen vertretene oppositionelle Bourgeoisie und Mittelklasse.

Schließlich die Arbeiter:innenschaft und bäuerliche Schichten. Sie bildeten nicht nur eine zentrale Kraft beim Sturz des Schah, sondern die Arbeiter:innenklasse errichtete auch Formen der Doppelmacht, vor allem in verstaatlichten Betrieben und auf den Ölfeldern (Schoras = Räte).

Aber die stalinistische Doktrin der iranischen Linken erwies sich selbst als Hindernis für die Revolution. Gemäß ihrer Vorstellung war das Land für eine sozialistische Umwälzung noch nicht reif, vielmehr stünde als nächste Etappe eine antiimperialistische, bürgerliche Revolution an, die die „nationale Bourgeoisie“ zuerst an die Macht bringen müsste. Vor diesem Hintergrund wurden Khomeini und seinen Anhänger:innen als Verkörperung der antimonarchischen, nationalen Revolution betrachtet.

Politisch bedeutete dies, die Interessen der Arbeiter:innenklasse wie aller Unterdrückten – und das hieß vor allem jene der Frauen – denen der „nationalen“ Bourgeoisie und damit den Islamist:innen unterzuordnen.

Dies und die eng mit ihnen verbundenen Sektoren der Kapitalist:innenklasse, insbesondere die in Teheran ansässigen Handelskapitale (Bazaris), hatten ihrerseits längst die Linke und die Arbeiter:innenklasse als unversöhnlichen Gegnerinnen ausgemacht. Das lag nicht zuletzt auch an deren Stärke. Die Eroberung des Flughafens Teheran durch bewaffnete Guerillaeinheiten, die die Armee vertrieben, und die Errichtung von Arbeiter:innenräten beunruhigten alle kapitalistischen und reaktionären Kräfte. Zu Recht fürchteten sie (wie auch die westlichen Regierungen), dass die Revolution auch die Eigentumsverhältnisse in Fragen stellen könnte.

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass eine solche, ihrem Wesen nach sozialistische Revolution gesiegt hätte. Aber die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft unter die herrschende Klasse konnte ihrerseits nur zum Sieg der Konterrevolution führen. Khomeini und die islamistischen Kräfte vernichteten alle Kräfte der Arbeiter:innenbewegung und der demokratischen Opposition – einschließlich vieler, die ihn als „Antiimperialisten“ gepriesen hatten. Tausende und Abertausende wurden gefoltert, liquidiert oder „verschwanden“. Die Arbeiter:innenklasse erlitt eine historische Niederlage. Die halbe, im Kampf um die Demokratie stehengebliebene Revolution endete mit einer ganzen Konterrevolution.

Konterrevolution und Entrechtung

Deren Sieg bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft.

Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, as islamische Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage. Hier einige zentrale Folgen für die Frauen:

  • Frauen sind strengen Kleidervorschriften, die u. a. die Zwangsverschleierung umfassen, unterworfen.

  • Frauen sind vor Gericht den Männern nicht gleichgestellt. Ihre Aussage zählt nur halb so viel wie die eines Mannes. In manchen Fällen sind sie erst gar nicht als Zeuginnen zugelassen.

  • Frauen sind von bestimmten Berufen (Armee, Richterinnen) ausgeschlossen.

  • Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.

  • Sie haben faktisch keinen Anspruch auf Sorgerecht.

  • Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt, Abtreibungen wurden verboten.

  • Männer haben das „Recht“, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau gewaltsam durchzusetzen. Vergewaltigung in der Ehe ist daher legal.

  • Geschlechtertrennung wurde in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt, zum Beispiel im Personennahverkehr, beim Sport, in Bildungsinstitutionen und bei der Gesundheitsversorgung.

Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der „kulturellen Revolution“ der Mullahs in den Jahren 1980 – 1983 eingeführt, in einer Art konzertierter Aktion zur Auslöschung aller Errungenschaft der Frauen. Auch wenn einige wenige Gesetze seither etwas gelockert wurden, blieb das System der institutionellen Unterdrückung bis heute intakt und stellt einen Eckpfeiler der klerikalen Diktatur dar.

Diese Form begünstigt Sexismus und Gewalt bis hin zu Femi(ni)ziden in Familien, in der Öffentlichkeit und durch staatliche Repressionsorgane. So sind Folter, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen durch Pasdaran (Iranische Revolutionsgrade), Sittenpolizei und andere Reaktionswächter weit verbreitet. Im Extremfall wurden Vergewaltigungen vor Hinrichtungen sogar durch sog. „Zeitehen“ gegen den Willen der Frauen von Geistlichen legalisiert.

Welche Revolution?

Die Erfahrungen der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen (sowie armen Bauern und Bäuerinnen sowie unterdrückten Nationalitäten) im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nichtmonarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student:innen und Arbeiter:innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen und Mittleren Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden. Und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können.

In einer Situation, in der die Repression immer erdrückender gerät, ist es jedoch schwieriger denn je, eine offene Debatte über Strategien zu führen. Hierbei könnten wohl im Exil Lebende eine wichtige Rolle spielen, doch es bleibt zentral, dass die linken Organisationen vor Ort sich dieser Debatte nicht verschließen. Andernfalls verblasst das Potenzial erneut.

Denn klar ist: Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Habeck und der Gas-Notfallplan: Nein zur Preiserhöhung! 

Leo Drais, Infomail 1191, 24. Juni 2022

Wirtschafts- und angeblich auch Klimaminister Habeck hat die zweite Stufe des sogenannten Gas-Notfallplans ausgerufen, der Arbeiter:innenklasse drohen massive Gaspreisanstiege. Sie wird sie zahlen müssen, wenn wir keine Gegenwehr aufbauen.

Es sind die Kosten des Krieges, die auf die Arbeiter:innenklasse abgewälzt werden. Während Kanzler Scholz rätselt, ab wann man eigentlich Kriegspartei ist, bekommen wir die Kosten von Waffenlieferungen und einem nie dagewesenen Sanktionsprogramm sehr konkret zu spüren. Die grüne Partei des deutschen Imperialismus ist da ein bisschen ehrlicher. Robert Habeck hat die jüngste Drosselung der russischen Gaslieferungen um etwa die Hälfte als „Waffe gegen Deutschland“ bezeichnet. Und wo kommen Waffen zum Einsatz? Im Krieg, natürlich, im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, den die Ukraine stellvertretend für Deutschland und die NATO gegen Russland ausfechtet – und deren Bevölkerung weit mehr als horrende Gaspreise dafür zahlt. 

Kalt und teuer

Unmittelbar verantwortlich für die Gasdrosselung, wie für den Überfall auf die Ukraine auch, ist natürlich der russische Imperialismus. Aber deshalb schlagen wir uns nicht auf die Seite des deutschen Imperialismus mit seinen Werten, die er schon im Kosovo und in Afghanistan so glänzend verteidigt hat, und seiner Demokratie, die über Nacht 100 Milliarden an der Bevölkerung vorbei ins Militär steckt.

Das ist nicht unser Krieg. Von einem Schulterschluss mit den Herrschenden profitieren nur westliche Kapitale wie Shell und Rheinmetall sowie ihre politischen Vertreter:innen – von Biden bis Macron, von Baerbock bis Selenskyj. Wir werden auch nicht für sie frieren. Wir werden frieren, weil wir uns das Heizen und Duschen und Kochen mit blauer Flamme bald vielleicht nicht mehr leisten können. 

Eine Preiswelle rolle auf Deutschland zu, die faktisch nicht mehr abzuwenden sei, so Habeck. Das klingt wie eine Naturkatastrophe, Schulterzucken, da kann man nichts machen. Die jetzt ausgerufene Stufe zwei des Gas-Notfallplans beschreibt Erdgas nun als knappes Gut in Deutschland. Die Folgen zeigen die kommenden Wochen. Schon vor diesem Schritt wurde für einen Haushalt mit einem Verbrauch von 20.000 Kilowattstunden pro Jahr errechnet, dass 1000 – 2000 Euro Zusatzkosten auf ihn zukommen. Eine drohende drei- bis vierfache (400 %!) Gaspreiserhöhung ist für viele – der Zusammenbruch. Der Markt befiehlt, diese vom Kapitalismus erschaffene Pseudonatur. Preisgarantien sind nichts mehr wert. Auf den Markt wird gehofft. Habeck will der Industrie Anreize zum Energiesparen geben, bei Auktionen sollen Firmen eingespartes Gas versteigern dürfen. Wer dieses Spekulationsspiel wohl am Ende bezahlt? 

Die Gaskonzerne werden wahrscheinlich die Kosten an die Verbraucher:innen und die Industrie direkt weitergeben dürfen, die Industrie wird die Kosten an die Verbraucher:innen weitergeben, die Verbraucher:innen sind im wesentlichen die Arbeiter:innenklasse, die lohnabhängigen Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum. In Habecks Geldbeutel wird die Gaspreisexplosion genauso wenig Kratzer hinterlassen wie in den Taschen der deutschen Kapitalist:innen. Bei uns entstehen klaffende Spalten. Es ist ideologischer Bullshit, dass wir jetzt alle den Gürtel enger schnallen. Wir kriegen den Gürtel von denen enger geschnallt, bei denen er weiter im weitesten Loch sitzt.

Wenigstens für‘s Klima gut?

Viele werden mit dem Gas sparen – sparen müssen, Rechnungen und Kontostände sprechen eine eindeutige Sprache. Manchen hilft es dann, sich unter der kalten Dusche mantraartig „Es ist gut für‘s Klima, es ist gut für‘s Klima,…“ vorzubeten. Aber, davon wird vielleicht die Gänsehaut verschwinden, der Klimawandel wird damit nicht gestoppt, nicht mal im kleinsten Ansatz. 

Denn die Konsequenzen der Ampelregierungen aus dem Krieg und der Abhängigkeit vom russischen Gas sind ja nicht, einen schnellstmöglichen Ausstieg aus fossiler Energie zu forcieren. Nein. Es geht um den Ausstieg aus russischerfossiler Energie, und selbst der dauert. An die Stelle des sibirischen Gas tritt die rheinische RWE-Braunkohle, das den Krieg im Jemen finanzierende saudische Öl und das vollkommen zerstörerische, abgefrackte Schiefergas aus den USA, von rußkotzenden Flüssiggastankern einmal um die halbe Welt geschippert. Unterm Stich – eine Katastrophe für‘s Klima. 

Dabei gebe es Möglichkeiten jetzt und sofort viel mehr fossile Energie und auch Gas einzusparen. Zum Beispiel indem der größte deutsche Industriesektor schnellstmöglich restrukturiert wird. Die Autoindustrie produziert sowieso im Minutentakt eine Verkehrsweise, die weder ökologisch, noch sonst in irgendeiner Weise sinnvoll ist.

Wir zahlen nicht!

Die Gaspreisexplosion ist eben nicht das, was Habeck uns weiß machen will. Sie ist keine unabwendbare Katastrophe, schon gar nicht eine natürliche. Ein angeblicher Klimaminister sollte die Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft besser kennen. Aber gut, Habeck ist ja auch das glatte Gegenteil eines Klimaministers. Die aktuelle Gaspreisexplosion hilft der Absicherung deutscher Konzerne im Ringen mit Russland auf unsere Kosten und die unserer Lebensgrundlage. Nichts anders.

Dafür zahlen wir nicht! Der Kampf gegen den Krieg, Waldbrände in Brandenburg und das völlige Abgebrannt-sein unserer Ersparnisse hat gemeinsame Nenner: 

  • Für die sofortige, entschädigungslose Enteignung der gesamten Energieindustrie unter demokratischer Arbeiter:innenkontrolle!

  • Sofortiger Preisstopp! Keine Gassperre für Privathaushalte! Für Preiskontrollkomitees der Gewerkschaften und der Konsument:innen aus Arbeiter:innenklasse und Kleinbürger:innentum! Keine Subventionierung der Energiekonzerne, sie sollen für Mehrkosten zahlen! 

  • Gegen die Weitergabe der Kosten an uns! Wir zahlen nicht für Krieg und Klimakrise! Für einen demokratischen Sofortnotfallplan der Arbeiter:innenklasse zum schnellstmöglichen Ausstieg aus fossiler Energie, bezahlt durch die Profite und Kapitale von Rheinmetall, Shell, RWE, Vattenfall und Co! Energie sparen durch eine ökologische, demokratische Kreislaufplanwirtschaft!

  • Bei etwaiger Knappheit an Erergie: Geplantes Herunterfahren nicht lebensnotwendiger Bereiche unter Arbeiter:innenkontrolle anstatt Hoffen und Bangen auf den Markt!

  • Umbau unnötiger Industrien wie der Autobranche hin zu einer sinnvollen Produktion! Umschulung statt Entlassung, keine einziger Job darf gestrichen werden, Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich! Sofortige Anhebung des Mindestlohns! Automatische Anpassung der Löhne, Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation!

  • Verbindung der laufenden Tarifrunden mit dem Kampf gegen die Preissteigerung! Die DGB-Gewerkschaften müssen mit ihrer Unterordnung unter die Regierungspolitik brechen! Für eine bundesweite Massendemonstration und politische Massenstreiks gegen die steigenden Lebenshaltungskosten!



Sri Lanka: Präsident verhängt den Notstand

Peter Main, Infomail 1184, 3. April 2022

Zwei Tage, nachdem er sich im Fernsehen an die Nation gewandt hatte, um sein jüngstes Versprechen zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu verkünden, hat Präsident Gotabaya Rajapaksa den Notstand ausgerufen. So will er die Flut der Proteste, die seine Herrschaft bedrohen, eindämmen.

Was war der Grund für diese plötzliche Ankündigung? Tausende Verzweifelte demonstrierten vor seinem Haus und forderten nicht nur seinen Sturz als Präsident, sondern auch seine Ausweisung aus dem Land.

Wirtschaftskrise

Ihre Verzweiflung wird durch den faktischen Zusammenbruch der Wirtschaft der Insel angetrieben. Die Währung hat allein in den letzten zwei Wochen mindestens 30 Prozent ihres Wertes verlorgen. Die Devisenreserven waren im Februar auf 2,2 Mrd. US-Dollar gesunken, aber in diesem Jahr müssen 7 Mrd. zurückgezahlt werden. 12-stündige Stromausfälle sind jetzt die Norm. Vier Menschen sind an Erschöpfung gestorben, während sie in immer längeren Schlangen auf Lebensmittel warteten.

Rajapaksa und seine Brüder, der Premierminister und der Finanzminister, sind hauptverantwortlich für diesen raschen Absturz in die Hölle nach Jahren des langsamen, aber unerbittlichen Niedergangs. Diese Schuldenrückzahlungen sind das direkte Ergebnis der Herrschaft von Mahinda Rajapaksa, als er riesige Prestigeprojekte wie den Hafen von Hambantota und einen neuen „internationalen Flughafen“ mit Darlehen aus China finanzierte.

Allein die Zinszahlungen für diese Kredite – 53 Millionen US-Dollar an die China Development Bank, 77 Millionen US-Dollar an die Export Import Bank – zeigen, was diese „weißen Elefanten“, die Monumente ihrer Herrschaft sind, kosten.

Die schiere wirtschaftliche Rücksichtslosigkeit, mit der sie das Land ausgeraubt haben, wird durch eine einzige Statistik unterstrichen: Zwischen Januar 2020 und März 2022 hat die Zentralbank 23 Mal mehr Geld gedruckt als im gesamten Zeitraum 1952 bis 2020! Der Zusammenbruch der Rupie war garantiert, und die große Masse des Volkes sieht sich nun mit der Aussicht auf eine Hyperinflation konfrontiert.

Kein Wunder also, dass Tausende das Haus des Präsidenten belagerten. In den Medienberichten wird betont, dass der Protest „spontan“ war. Es gab keine Parteifahnen, keine Reden von Politiker:innen, nur Tausende von wütenden Einwohner:innen. Aber wie Trotzki über die Februarrevolution von 1917 sagte, bedeutet „spontan“ nur, dass wir nicht wissen, wer ihn organisiert oder zumindest die Initiative ergriffen hat, ihn Freund:innen, Nachbar:innen und Arbeitskolleg:innen vorzuschlagen. Tausende von Menschen beschließen nicht plötzlich, alle zur gleichen Zeit das Gleiche zu tun.

Krise der Arbeiter:innenbewegung

Sicher ist leider, dass es nicht die Arbeiter:innenparteien oder Gewerkschaften waren, die ihn organisiert haben. Das macht nur allzu deutlich, dass es den Sozialist:innen in Sri Lanka trotz der vielen Krisen der letzten Jahrzehnte nicht gelungen ist, die Organisierung der Arbeiter:innenklasse wiederzubeleben. Die Gewerkschaftsbewegung ist in Hunderte von Organisationen zersplittert, von denen die meisten winzig und ineffektiv sind, während diejenigen, die sich mit der revolutionären Tradition identifizieren, in eine Reihe von kleinen Gruppen gespalten sind, auch wenn sie sich oft Parteien nennen.

Dennoch erfordern soziale Krisen des Ausmaßes, mit dem Sri Lanka konfrontiert ist, drastische Lösungen, die zu einer Wiederbelebung der Linken führen könnten. Unter diesen Gruppen und Gewerkschaften gibt es Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Menschen, Männer und Frauen, die nicht nur die Notwendigkeit einer Organisation der Arbeiter:innenklasse sehen, sondern auch über eine Fülle von praktischen Erfahrungen verfügen, um diese trotz aller Widrigkeiten aufrechtzuerhalten. Das Gleiche gilt zweifellos für viele lokale Gemeindegruppen, Mieter:innen-, Frauen- und Student:innenorganisationen.

Die Aufgabe der Sozialist:innen besteht jetzt darin, all diese Aktivist:innen zu ermutigen, sich kollektiv und demokratisch zu organisieren, um ihre Interessen und Rechte zu verteidigen, trotz des Notstands und sogar der Gefahr der Verhängung des Kriegsrechts.

Alle diese massenhaften, demokratischen Organisationen sind wichtig, aber am wichtigsten ist die Organisierung am Arbeitsplatz. Die Gewerkschaften sollten sicherlich Rekrutierungskampagnen starten, aber Massenversammlungen aller Beschäftigten sollten die Grundlage für die Wahl von Ausschüssen bilden, die die gesamte Belegschaft vertreten. Wenn sich die Gewerkschaften als effektiv erweisen, werden sie Mitglieder werben, wenn nicht, haben sie keinen Anspruch auf eine automatische Führungsrolle.

Die bestehenden Gewerkschaftsführungen, insbesondere die größeren und einflussreicheren, haben sich oft als Hindernis für wirksame Maßnahmen zur Verteidigung von Löhnen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätzen erwiesen. Allzu oft sind sie über politische Parteien, deren einziger Zweck es ist, die Interessen der Geschäftswelt zu vertreten, in Regierungs- und Wirtschaftskreise eingebunden.

Haltung zu Gewerkschaften

Dies ist eine fatale Schwäche der Gewerkschaftsbewegung und hat einige Sozialist:innen zu der Idee geführt, dass die Gewerkschaften ignoriert werden sollten, oder, wie die Socialist Equality Party (Sozialistische Gleichheitspartei), zu dem Glauben, dass die Gewerkschaften nur existieren, um ihre Mitglieder zu betrügen. Ihre Antwort beseht darin, solche Führer:innen zu denunzieren und zu versuchen, eine alternative Arbeiter:innenbewegung aufzubauen.

Das ist eine bankrotte Strategie. Die Denunziation von der Seitenlinie aus ändert nichts an der Fähigkeit dieser Führer:innen, zu betrügen und in die Irre zu führen. Ihre Stärke liegt in der einfachen Tatsache, dass sie wichtige Teile der Klasse kontrollieren, deren Arbeit die Grundlage für die gesamte Gesellschaft stabilisiert. Die andere Seite der Medaille ist jedoch, dass diese Arbeiter:innen einen gewissen Nutzen von ihrer Mitgliedschaft erwarten.

In der gesamten internationalen Geschichte der Arbeiter:innenbewegung hat sich immer wieder gezeigt, dass die Beseitigung solcher Führer:innen am besten durch die Mobilisierung dieser Erwartungen gegen sie erfolgt. Statt zielloser Denunziationen sollten die Arbeiter:innen klare Forderungen an diese Führer:innen stellen, zum Beispiel, wie derzeit, Lohnforderungen, die einen Schutz vor Inflation beinhalten.

Jedes Gewerkschaftsmitglied kann erkennen, wie wichtig das ist. Die entscheidende Rolle des Sozialist:innen besteht darin, die Arbeiter:innen zu warnen, sich nicht auf ihre Führer:innen zu verlassen, sondern sich zu organisieren, um ihre Forderungen selbst durchzusetzen, wenn die Führer:innen nicht liefern, was sie im Allgemeinen nicht tun. Hier zeigt sich der Wert einer demokratischen Betriebsorganisation, die alle über Fortschritte oder deren Ausbleiben informiert, Taktiken erörtert, Aktionen wie Demonstrationen organisiert und eine direkte Vertretung bei Verhandlungen fordert.

Auf diese Weise kann eine andere, zuverlässigere und demokratischere Führung aufgebaut werden – stark genug, um nicht nur die falschen Anführer:innen zu ersetzen, sondern es mit den Bossen selbst aufzunehmen.

Programm

Wo immer möglich, sollten betriebliche Organisationen ihre Aktivitäten koordinieren, mit der Perspektive, andere Massenorganisationen einzubeziehen, um lokale oder städtische Delegiert:innenräte zu bilden. Solche Organisationen sind unerlässlich, aber sie sind kein Selbstzweck. Eine ihrer Hauptaufgaben besteht darin, eine Strategie, ein Programm für die gesamte Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten zu diskutieren und beschließen, um die Offensive der Regierung zu bekämpfen und besiegen.

Ein Vorschlag für ein solches Programm wurde bereits von der Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) unterbreitet. Zu Recht fordert sie gegen die Entscheidung Rajapaksas, das Diktat des Internationalen Währungsfonds zu akzeptieren, zum Beispiel den Erlass der Schulden bei den imperialistischen Banken, die Kontrolle des Kapitalverkehrs, Investitionen in wichtige Industrien, die Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien unter Arbeiter:innenkontrolle, Preisüberwachung und einen Mindestlohn.

Was jedoch fehlt, ist eine klare politische Strategie für die Umsetzung dieser wesentlichen Maßnahmen – denn Rajapaksa wird sie sicher nicht durchführen. Zwar ruft die VSP zum Sturz der gegenwärtigen Regierung auf, zu Streiks, sogar Generalstreiks durch die Gewerkschaften und sie fordert auch eine „nationale Volksversammlung, um alle am Kampf Beteiligten zusammenzubringen“. Gut, aber wenn ein Generalstreik Rajapaksa zu Fall bringen würde, was dann?

Das VSP-Programm wird als Vorschlag und nicht als Ultimatum präsentiert, und in diesem Sinne schlagen die Unterstützer:innen der Liga für die Fünfte Internationale vor, die Arbeiter:innenkontrolle in alle ihre Forderungen zu integrieren, sowohl um ihre Umsetzung zu gewährleisten als auch um die Fähigkeit der Arbeiter:innen zur Kontrolle der Wirtschaft zu entwickeln. In Anbetracht des Ausnahmezustands möchten wir auch die Notwendigkeit betonen, dass die proletarischen Organisationen die Sicherheit ihrer eigenen Demonstrationen und Versammlungen durch die Bildung und Ausbildung von Selbstverteidigungsstrukturen gewährleisten.

Darüber hinaus sollten wir den Aufbau demokratischer Arbeiter:innenorganisationen, letztendlich von Arbeiter:innenräten, in allen Bezirken betonen, und dass es diese Gremien sind, die ihre eigene „Nationalversammlung“ einberufen sollten, um den Kampf auf nationaler Ebene zu führen. Dieser Kampf wird nicht nur auf den Sturz des Rajapaksa-Clans abzielen, sondern auch darauf, dass der landesweite Arbeiter:innenrat selbst zur Grundlage der Regierung wird und mittels der Organisationen regiert, die in dem aktuellen Kampf aufgebaut wurden, der nicht so schnell vorbei sein wird.

Die Unterstützung für eine solche Strategie zu gewinnen, wird nicht spontan oder automatisch erfolgen, sondern erfordert einen entschlossenen Kampf gegen alternative, vermeintlich sicherere oder schnellere Strategien. Diejenigen, die die Notwendigkeit einer revolutionären Strategie erkennen, müssen sich organisieren, unabhängig davon, welcher Gewerkschaft oder Gruppierung sie heute angehören, um dafür in allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie unter den unterdrückten Schichten der Gesellschaft, den Frauen, der Jugend und den nationalen Minderheiten zu kämpfen. Auf diese Weise kann die herannahende Krise zum Dynamo für die Entstehung einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei in Sri Lanka werden.




Ampelkoalition und Abtreibung: Grünes Licht für die Selbstbestimmung?

Emilia Sommer (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

Im Koalitionsvertrag der Ampel (SPD, FDP und Grüne) werden allerhand Verbesserungen zu Schwangerschaftsabbrüchen versprochen, die auf den ersten Blick gar nicht mal so schlecht klingen. So wirbt sie mit der Streichung des Paragrafen 219a StGB, welcher das öffentliche Bereitstellen von Infos zu diesen durch Ärzt_Innen bisher kriminalisiert hatte (Werbeverbot) , einem Ausbau der Beratungsstellen sowie der Integration von Schwangerschaftsabbrüchen in die medizinische Aus- und Weiterbildung. Was davon in der Realität umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Feststeht jedoch, dass all dies noch lange nicht ausreichend ist.

Aktuell ist die Lage für Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen möchten, im als Paradebeispiel für legale Abtreibungen geltenden Deutschland prekär. Durch den Paragrafen 218 ist ein Abbruch illegal und bleibt nur dann straffrei, wenn 1.) die Schwangere den Abort verlangt und dem/r Arzt/Ärztin durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2). der Schwangerschaftsabbruch von einem/r MedizinerIn vorgenommen wird (der/die nicht die Beratung durchführt) und 3.) seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Beratungsstellen bilden hierbei eine große Hürde: In vielen Fällen sind sie nicht flächendeckend ausgebaut und bieten vor allem keine objektive Aufklärung. Zudem sind kirchliche Träger nicht dazu verpflichtet, einen Beratungsschein auch tatsächlich auszuhändigen. Erschwerend kommt der aktuell noch geltende Paragraf 219a hinzu, welcher das „Werben“ für Schwangerschaftsabbrüche untersagt und es Betroffenen somit extrem schwer macht, Kliniken für Abbrüche zu finden.

Ursprung der Paragraphen

Paragraf 218 wurde im Jahre 1871 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und war Ergebnis von bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts geführten Diskussionen. Neben der Frage nach Rechten des (ungeborenen) Kindes bzw. der Frau spielten immer auch bevölkerungspolitische Interessen eine entscheidende Rolle. Das ungeborene Kind wurde als Vorstufe eines Menschen gewertet und dem Staat eine Berechtigung zu dessen Schutz erteilt. Paragraf 219a wurde im März 1933 aufgrund des Ermächtigungsgesetzes ohne parlamentarische Beratung eingeführt als Resultat einer langen rechtspolitischen Debatte seit dem deutschen Kaiserreich. Er sollte angeblich Frauen vor einer Kommerzialisierung ihrer Notlage schützen und dem Entstehen eines Marktes für Schwangerschaftsabbrüche entgegentreten. Tatsächlich haben aber beide Paragrafen zum Ziel, das Selbstbestimmungsrecht von weiblichen Körpern stark einzuschränken. Dies nutzt in erster Linie der herrschenden und besitzenden Klasse, denn die bürgerliche Familie, also Mutter-Vater-Kind mit Fokus auf Monogamie und geschlechtlicher Arbeitsteilung, dient der sicheren Vererbung von Eigentum. Aber auch auf die Arbeiter_Innenklasse wirkt sich dies aus. Zwar hat das Proletariat in der Regel nicht sonderlich viel zu vererben, dennoch haben Kapitalist_Innen ein großes Interesse daran, dass es weiterhin Arbeitskräfte gibt, die sie ausbeuten können.

Aber wir können nicht davon sprechen, dass die bürgerlichen Staaten eine demographische Strategie der Bevölkerungszunahme um jeden Preis verfolgen. So hat z. B. die UNO im Interesse der imperialistischen Staaten eine Geburtenkontrollkampagne in Ländern der sog. 3. Welt verfolgt (Sterilisation von Frauen), also ganz das Gegenteil. Die Bevölkerungszunahme in Europa zur Zeit des frühen Industriekapitalismus ist mehr auf die Aufhebung der Bindung der Eheschließung an eine eigene Wirtschaft in Dorf und Stadt zurückzuführen als auf ein geltendes Abtreibungsverbot. Sie schuf erst das Eherecht auch für Besitzlose, v. a. Proletarier_Innen. Außerdem sorgt die Kapitalakkumulation durch Ersatz von Arbeitskräften durch Maschinen für eine Reservearmee von Arbeitslosen und ruiniert den Kleinbesitz. Auch damit schafft sie ein zusätzliches Lohnangebot. Die Arbeitsmigration ist eine Folge davon. Schließlich geht es dem Kapital auch um die Mobilisierung zusätzlicher Lohnarbeit durch weibliche Arbeitskräfte, insbes. hoch qualifizierter. Das steht im Widerspruch zur Rolle der proletarischen Frau „nur“ als Hausfrau mit zahlreicher Nachkommenschaft am Rockzipfel. Das Koalitionspapier bewegt sich mit seinen Reförmchen innerhalb dieses Widerspruchs. Zu guter Letzt führte die von der Arbeiter_Innenbewegung erkämpfte gesetzliche Rentenversicherung dazu, dass auch innerhalb der proletarischen Familie das Interesse an vielen Nachkommen zwecks Altersversorgung der „Nachproduktiven“ nebensächlich geworden ist.

Also bestehen Verbote wie das der Abtreibung vor allem deshalb, um die auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung basierende Unterdrückung der Frau in der Familie durch eine repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über den eigenen Körper, Fixierung der weiblichen Sexualität auf das Gebären von Kindern usw. aufrechtzuerhalten. Reproduktionsarbeit ist fürs Kapital v. a. Privatsache und soll es auch bleiben. Kurz gesagt, um die repressive, frauenfeindliche Struktur auch in der Arbeiter_Innenklasse zu reproduzieren. Die vorurteilsbehaftete Unterteilung der Klasse in Geschlecht, Nationalität, Religion etc. hilft hierbei, sie zu spalten und die verschiedenen Kämpfe damit zu schwächen.

Es gibt einen weiteren Klassenunterschied in der Abtreibungsfrage: Während es sich Frauen der herrschenden Klasse leisten können, den Eingriff auch in anderen Ländern durchführen zu lassen, beispielsweise nach Überschreitung der 12-Wochen-Frist, müssen die Arbeiter_Innen diesen in der Illegalität über sich ergehen lassen. Auch legal erfolgende Abbrüche erfordern aufgrund des Mangels an Kliniken und Praxen oft einen weiten Anreiseweg, welcher sowohl logistischen Aufwand bedeutet als auch eine finanzielle Belastung darstellt. Daher galt der Paragraf 218 schon kurze Zeit nach seiner Einführung als „Klassenparagraf“, da vor allem Proletarierinnen vom Verbot der Abtreibung betroffen waren. Besonders hart trifft die repressive Abtreibungsgesetzgebung auch Jugendliche, da diese nicht nur ökonomisch und sozial abhängig, sondern auch noch rechtlich benachteiligt sind.

Warum diese Problematik erst mit der neuen Ampelkoalition angegangen wird, lässt sich am ehesten mit der WählerInnenschaft der beiden Parteien FDP und Grüne beantworten. Beide haben einen starken Zuspruch im akademischen Milieu. Diese Frauen gilt es, weiterhin stärker in den Produktionsprozess einzubinden und ein Rollback zurück in die 1950er Jahre zu verhindern. Dies könnte schließlich wichtige WählerInnenstimmen kosten.

Aktuelle Lage

Im Jahre 2020 fanden in Deutschland 99. 948 statt, 96,2 % davon mit der Beratungsregelung, d. h. nicht durch medizinische (gefährdete Gesundheit der austragenden Person) oder kriminologische Indikation (Schwangerschaft beruht medizinisch feststellbar auf einem Sexualdelikt). Es ist nicht klar herauszufinden, wie viele Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen es aktuell in Deutschland gibt, allerdings ist von ca. 1.600 auszugehen. Dabei beschäftigen sich diese nicht ausschließlich mit der Konfliktberatung. Sie bildet nur einen Teilbereich von Verbänden wie Pro Familia. Ebenso ist ein beachtlicher Anteil konfessionsgebunden. Ähnlich verhält es sich mit Kliniken und Ärzt_Innen, welche Abtreibungen durchführen. In der offiziellen Liste der Bundesärztekammer sind aktuell 360 Praxen und Kliniken zu finden. Die Aufnahme in diese Liste ist freiwillig und man kann davon ausgehen, dass viele dies bewusst nicht tun, da noch immer eine ernstzunehmende Gefahr von Abtreibungsgegner_Innen ausgeht. Im Medizinstudium wird das Verfahren eines Schwangerschaftsabbruchs kaum bis gar nicht behandelt. Studierende müssen sich nötiges Wissen durch zusätzliche Seminare und Workshops selbst erarbeiten.

Schauen wir uns die Zahlen nun an, so fällt sehr schnell ein massiver Notstand auf. Zu wenige Beratungsstellen und Abbruchsmöglichkeiten sowie mangelnde Informationen erschweren Betroffenen die ohnehin nervenzerrende Prozedur noch weiter. Hinzu kommt, dass bislang die Kosten von selbstbestimmten Abbrüchen nur in selten Fällen teils oder ganz übernommen werden.

Zwar verspricht die Ampel wichtige Verbesserungen wie zum Beispiel einen flächendeckenden Ausbau von Beratungsstellen und Kliniken, dass Abbrüche Teil von ärztlicher Fort- und Weiterbildung werden sollen und diese kostenfrei möglich sein müssen, sie verrät jedoch nicht, wann und in welcher Form das passiert. Dies soll sich wohl in einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ entscheiden, welche bislang allerdings keine konkreteren Formalien hat. Der Paragraf 219 a soll zwar abgeschafft werden, von Paragraf 218 jedoch, welcher Abtreibungen eigentlich kriminalisiert, ist keine Rede.

Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht und gegen das Abtreibungsverbot ist also noch lange nicht gewonnen. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass wir als Arbeiter_Innen und Schüler_Innen selbst Strukturen schaffen, die über die Zusammenhänge zwischen Abtreibungsverboten und dem kapitalistischen System aufklären und dafür kämpfen, dass auch für Arbeiter_Innen und ärmere Menschen Verhütung und Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen kostenlos und ohne Zwangsberatung zugänglich sind. Dafür ist es wichtig, durch den Aufbau von basisoppositionellen Strukturen innerhalb der Gewerkschaften Druck auf die Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen. Wir müssen uns auch innerhalb der Schule oder Uni organisieren und gemeinsam auf die Straße gehen, um gegen den Kapitalismus und die darauf fußenden Unterdrückungsmechanismen zu protestieren.

Daher fordern wir:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagrafen sowie der Beratungspflicht ohne Altersbegrenzung!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft, wenn Frauen durch die momentanen Umstände zur Entbindung gedrängt werden! Für einen Ausbau staatlicher Kinderversorgungs- und Adoptionsmöglichkeiten!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Strategiepapier der Linkspartei: Nicht einmal alter Wein in neuen Schläuchen

Susanne Kühn, Neue Internationale 262, Februar 2022

DIE LINKE beschwört einmal mehr den Aufbruch. Das tun schließlich alle Parteien, die gerade eine vernichtende Niederlage erlitten haben und eine solche hat sie bekanntlich bei den Bundestagswahlen 2021 eingefahren. Auch für die kommende Landtagswahl im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sieht es nicht gerade rosig aus.

So soll der Jahresauftakt am 16. Januar wenigstens Mut machen. „Die Linke wird gebraucht“, versichert sich die Parteiführung selbst – und verdeutlicht mit dieser Beschwörungsformel ungewollt, dass sie selbst ihrer eigenen Existenzberechtigung nicht sicher ist. Gefordert wird vor allem das, was der Partei fehlt: Einigkeit, Geschlossenheit, Zusammenhalt, Solidarität, Vision, Strategie.

Die Parteispitze will daher Abhilfe schaffen. Die beiden Vorsitzenden, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, präsentieren ein sog. Strategiepapier: „Für eine LINKE Transformation. Sozial UND klimagerecht“.

Transformationsstrategie?

Alter Wein in neuen Schläuchen ist noch eine höfliche Beschreibung für einen Text, der an saueren Essig erinnert. Im Grunde unterscheidet das „Transformationskonzept“ von älteren Papieren aus den Reihen der Grünen, der SPD, diverser NGOs oder Umweltverbände nur, dass DIE LINKE diesen Parteien eine Abkehr von ihren Versprechungen einer sozial gerechten und ökologisch wirkungsvollen Transformation vorhält. Trotzig wiederholt das Papier, was auch diese Parteien jahrelang in Wahlprogrammen oder Sonntagsreden beschworen haben: Klimaneutralität bis 2035, Kohleausstieg bis 2030, Klimacheck für alle Gebäude bis 2025, gerechter Lastenausgleich, ehrgeiziger und rascher Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, Ausbau des öffentlichen Verkehrs.

Das Papier spricht sich für staatliche Eingriffe und Regularien aus, weil es der Markt allein nicht richten wird. Marktwirtschaft und Privatkapitalismus werden an keiner Stelle in Frage gestellt. Allerdings sollen nur noch solche Unternehmen gefördert und subventioniert werden, die soziale Standards einhalten, nach Tarifverträgen zahlen, Arbeitsplätze erhalten, den Betrieb demokratisieren und ökologischen Umbau vornehmen. Für diese winken Gelder aus einem staatlichen Transformationsfonds. So sollen AktionärInnen, InvestorInnen und private Konzerne „in die Pflicht genommen“ werden. Außerdem wollen Wissler/Hennig-Wellsow auch die Übernahme von krisengeschüttelten Unternehmen durch die Belegschaften fördern. Diese müssten ein Vorkaufsrecht beim Verkauf von Unternehmen genießen.

Schließlich sollen auch die öffentliche Daseinsvorsorge gefördert und die Armut durch Transferleistungen oberhalb der Armutsgrenze abgeschafft werden. Am Schluss schlägt DIE LINKE auch noch eine „echte“ Agrarwende vor.

Das war es dann auch. Diese Kernpunkte der „Transformationsstrategie“ sind selbst für ein reformistisches Programm überaus handzahm. In besseren Zeiten hatten nicht nur Grüne und SPD, sondern auch die Linkspartei Weitergehendes und Umfassenderes zu bieten.

An manchen Stellen – z. B. beim Vorschlag, krisengeschüttelte Betriebe in Belegschaftseigentum umzuwandeln – geht das Transformationspapier sogar in eine direkt falsche Richtung und würde sich nur als Fallstrick für die Beschäftigten erweisen, die zu Verantwortlichen für die Sanierung ihres eigenen Betriebes mutieren würden.

Was erst gar nicht erwähnt wird

Bemerkenswert am Papier ist freilich weniger die dünne politische Bettelsuppe, die darin zusammengebraut wurde, sondern was erst gar nicht erwähnt wird. Wohlgemerkt, das Strategiepapier soll nach Aussage von Janine Wissler „Konturen eines inhaltlichen Aufbruchs“ darstellen. Zu diesem gehören folgende Themen und Fragen (Aufzählung unvollständig) offenkundig nicht:

Internationale Fragen

Am Beginn des Textes wird zwar festgehalten, dass die vom Kapitalismus verursachte Ungleichheit und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen den Fortbestand unseres Planten bedrohen würde. Das war es dann aber auch. Im Papier finden Weltmarkt, Imperialismus, Kriegsgefahr, Militarismus, Aufrüstung, rassistische Abschottung oder die globale Dimension der ökologischen Katastrophe erst gar keine Erwähnung. Die Transformationsstrategie endet an der Landesgrenze.

Bei früheren Strategiepapieren oder inszenierten Auftaktveranstaltungen hatte sich die Linkspartei gern als Friedenspartei, als Anti-NATO-Partei, als Kritikerin von Auslandseinsätzen, Rüstungsexporten und Interventionen präsentiert. Manche beschworen sie gar als „Bewegungspartei“, konsequente antirassistische Kraft oder wollten sie als Partei für eine „neue Klassenpolitik“ fit machen. Natürlich stand das auch damals im Gegensatz zur Regierungspraxis in verschiedenen Bundesländern und/oder zur mangelnden Mobilisierung. Beim diesjährigen Jahresauftakt verzichtet die Führung der „linken“ Opposition im Bundestag gleich von vornherein darauf.

Streitpunkte

Das hängt sicher auch damit zusammen, dass mittlerweile jede wichtige politische Frage in der Linkspartei eine Streitfrage ist. Das betrifft Auslandseinsätze, die Haltung zur EU, Migration, Regierungsbeteiligung, Pandemiepolitik, Eigentumsfrage, Identitätspolitik und vieles mehr. Das Strategiepapier umschifft möglichst alles, was in der Partei strittig ist. So beschränkt sich die ökologische Transformation für Leute wie Klaus Ernst, der etwa zur Zeit der Jahreswende zum Vorsitzenden des Umweltausschusses ernannt wurde, bekanntlich auf die Umrüstung der PKWs von Verbrennungs- auf Elektromotoren. Das empört zu Recht Tausende GenossInnen der Linkspartei, die den offenen Brief „Nicht Euer Ernst“ an die Bundestagsfraktion der Partei unterzeichneten.

Zwischen solchen, letztlich unvereinbaren Richtungen versucht das Strategiepapier zu vermitteln, indem es den kleinsten gemeinsamen Nenner der Partei als Zukunftsvision schönredet. Dieser Etikettenschwindel, der den Autorinnen bewusst sein mag oder auch nicht, kann jedoch die Krise der Linkspartei allenfalls fortschreiben. Wo die Partei auseinanderdriftet, helfen Beschwörungsformeln nichts, zumal wenn sie diese von den Regierungsparteien SPD und Grüne, die man zu bekämpfen vorgibt, nur schwer unterscheidbar machen.

Die Regierungsfrage

Kein Wunder also, dass die Regierungsfrage im Strategiepapier nicht vorkommt. Wie die bescheidenen Vorschläge der Partei gegen die herrschende Klasse durchgesetzt werden sollen, ob auf der Straße, in Klassenkämpfen oder durch imaginierte parlamentarische Kombinationen – dazu hüllt sich die Parteispitze vornehm in Schweigen.

Derweil werkelt Ramelow unverdrossen als Ministerpräsident in Thüringen, kaum unterscheidbar von anderen LänderchefInnen, munter weiter. Die Bourgeoisie hat sich mit dem „Roten“ längst abgefunden. Auch in Berlin, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern führt sich DIE LINKE als handzahme Partnerin an der Regierung auf. Unter SPD-Führung trabt sie brav weiter Richtung Untergang, verrät Massenkampagnen, die sie unterstützt hat oder zu unterstützen vorgibt, wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen, und rechnet sich womöglich noch hoch an, dass sie sich selbst aufgibt, um zu verhindern, dass die SPD in Berlin zur FDP oder in Mecklenburg-Vorpommern zur CDU wechselt.

Klassenkampf

Bei der Transformationsstrategie von Wissler und Hennig-Wellsow findet die Welt außerhalb Deutschlands praktisch nicht statt. Doch auch Ausbeutung, Klassenverhältnisse, Klassenkampf werden erst gar nicht erwähnt. Die Lohnabhängigen treten bloß als Objekte staatlicher und tarifrechtlicher Reformen auf. An der Ausbeutung selbst wird gleich gar nichts grundsätzlich kritisiert, solange sie zu tariflichen Vereinbarungen und oberhalb der Armutsgrenze stattfindet.

In den letzten Jahren präsentierte ein Bernd Riexinger als Parteivorsitzender noch eine linksreformistische Konzeption von Transformation und versuchte, eine neue Klassenpolitik als strategische Grundlage der Partei zu präsentieren, was ihn zum Teil in offenen, zum Teil in verdeckten Gegensatz zum regierungssozialistischen wie auch zum populistischen Flügel um Wagenknecht brachte.

Eigentum

Ein wichtiger Bestandteil dieser linksreformistischen Konzeption war auch das Aufgreifen der Eigentumsfrage, wie sie auch von Kampagnen wie DWe populär gemacht wurde oder in der ökologischen Bewegung vermehrt diskutiert wird. Selbst Kevin Kühnert, damals noch Kritiker der SPD-Spitze und der Großen Koalition, brachte ehedem die Enteignung von BMW in Spiel. Selbst dazu reicht es bei der neuen Führung der Linkspartei nicht. Im krampfhaften Bemühen, alle Unterschiede zwischen den Flügeln der Partei und wohl auch zwischen den beiden Vorsitzenden, jeden als zerstörerisch empfunden Streit zumindest im Strategiepapier aus der Welt zu schaffen, wird es so ausgehöhlt, so schal, belanglos und erbärmlich, dass selbst eine reformistische Sonntagsrede noch als klassenkämpferische Offenbarung erscheinen würde. Unmittelbar werden von solchen Formelkompromissen nur die RegierungssozialistInnen, mag vielleicht auch der populistische Flügel der Partei profitieren.

Ein Teil der Parteispitze DER LINKEN mag es für eine kluge Taktik halten, Differenzen und Richtungsstreit unter den Tisch zu kehren. Der Verzicht auf eine offene Konfrontation zwischen letztlich miteinander unvereinbaren Positionen in der Linkspartei wird den Laden jedoch nicht retten, sondern nur die Krise verschärfen. Er wird Unvereinbares nicht vereinbar machen und schon gar nicht zur Formierung einer linken Opposition beitragen, die den längst überfälligen politischen und organisatorischen Bruch mit dem Reformismus in die Weg leiten könnte. Der Schritt ist längst überfällig, wenn im neuen Schlauch nicht einmal mehr alter Wein aufgetischt wird, sondern nur sauerer Essig.




Frauen, Kapitalismus, Pandemie

Katharina Wagner, Neue Internationale 260, November 2021

Frauen sind die großen Verliererinnen in der Pandemie. Dieser Satz gilt aber nicht nur für Deutschland oder Europa, sondern weltweit. Ihre Situation hat sich in vielen Bereichen, beruflich wie privat, im Zuge der Pandemie und damit einhergehender Maßnahmen deutlich verschlechtert.

Aktuelle Situation weltweit

Die Lage ist trotz der Konjunkturpakete der reichen, imperialistischen Staaten in vielen Ländern, gerade unter den ärmsten, weiter von einer weltweiten Wirtschaftskrise gekennzeichnet, die 2020 den gesamten Globus ergriff. Sie wurde zwar nicht durch die Pandemie verursacht, aber von ihr deutlich verstärkt.

In deren Gefolge wurden viele der ohnedies schon viel zu geringen Maßnahmen der weltweiten Armutsbekämpfung zerstört und zurückgenommen. Eine zunehmende globale Verschuldung sowie eine Zuspitzung imperialistischer Konflikte sind weitere Begleiterscheinungen dieser Krise. Auch hier sind Frauen wieder einmal auf besondere und vielfältige Weise deutlich stärker betroffen.

Der Verlust von Verdienstmöglichkeiten, eine starke Zunahme häuslicher und sexueller Gewalt sowie eine stärkere Belastung durch Sorgearbeit innerhalb des Haushalts und der Familie – das sind nur die Hauptaspekte, mit denen Frauen in der derzeitigen Situation wohl am meisten zu kämpfen haben. Diese negativen Folgen für sie sind nicht neu, wurden aber während der Pandemie nochmals drastisch verschärft.

Im Zuge der Maßnahmen zu deren Eindämmung wurden teilweise ganze Branchen wie die Gastronomie oder andere Dienstleistungsbereiche stark heruntergefahren oder sogar zeitweise ganz geschlossen. Dies betraf vor allem Frauen, da deren Anteil in diesen Berufen doch überdurchschnittlich hoch ist. In Deutschland beispielsweise beträgt dieser rund 64 %.

Konnten die finanziellen Einbußen mithilfe des Kurzarbeitergeldes in reichen Industriestaaten wie Deutschland zumindest abgemildert und Entlassungen vorerst verhindert werden, haben die meisten globalen Beschäftigten keinerlei Zugang zu solchen staatlichen Hilfen. Frauen sind weltweit deutlich häufiger von Entlassungen betroffen als Männer, auch weil sie überdurchschnittlich im sogenannten informellen Sektor beschäftigt sind. Im südlichen Afrika etwa arbeiten rund 92 % aller weiblichen Erwerbstätigen ohne jegliche Absicherungsmaßnahmen wie Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung bei Krankheit.

Covid-19

Ein weiterer wichtiger Beschäftigungssektor für Frauen ist der Gesundheits- und Sozialbereich, hier beträgt ihr Anteil in der Pflege weltweit rund 70 %. Demgegenüber steht allerdings ihre relativ niedrige Quote von 30 % in der ÄrztInnenschaft.

Dieser Umstand spiegelt sich auch sehr gut in den Infektionszahlen für Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitsbereich wider, sind diese doch aufgrund der Tätigkeit selbst einem deutlich erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt – nicht zuletzt auch aufgrund schlechtem oder ungenügendem Zugang zu Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln sowie einer enormen Arbeitsbelastung. In Spanien hatten sich während der Pandemie bisher dreimal so viele weibliche Pflegekräfte mit COVID-19 angesteckt wie männliche Beschäftigte in diesem Bereich.

Hinzu kommen die weiterhin beträchtlichen Lohnunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Erwerbstätigen, größtenteils bedingt durch die deutlich geringeren Verdienste in den oben genannten Bereichen im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren. Laut dem WEF (World Economy Forum) verdienen Frauen weltweit durchschnittlich nur 68 % dessen, was Männer für dieselbe Arbeit erhalten würden, bei den Ländern mit der geringsten Kaufkraftparität sind es sogar nur 40 %. Und auch hier hat die Pandemie die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Erste Untersuchungen deuten bereits darauf hin, dass das Lohn- und Gehaltsgefälle sich im Zuge der Pandemie um 5 % vergrößert hat. Weiterhin gibt es Schätzungen des WEF, dass beim derzeitigen Tempo der „Angleichung“ vermutlich erst in 257 Jahren Lohngleichheit erreicht sein könnte. In weiterer Folge bedeutet dies natürlich auch in Bezug auf die Rente eine deutlich schlechtere Ausgangslage, vielen Frauen droht daher Altersarmut.

Auch im privaten Umfeld hat die Pandemie die Situation vieler Frauen teilweise dramatisch verschlechtert. Bereits im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 konnte eine starke Zunahme häuslicher und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Kindern festgestellt werden. Tatsächlich wird statistisch gesehen jede dritte Frau weltweit Opfer von Gewalt und auch die Anzahl tödlicher Delikte gegen Frauen (Femizide) verzeichnet einen Anstieg von bis zu 23 %, wie Zahlen aus verschiedenen Ländern belegen. Obwohl zahlreiche, darunter auch Deutschland, die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) unterzeichnet haben, werden selbst die dort festgehaltenen Beschlüsse meist nicht vollständig umgesetzt. So fehlte es bereits vor der Pandemie vielerorts an ausreichend vorhandenen Schutzräumen und leicht zu erreichenden Hilfsangeboten für betroffene Frauen.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

Die Ursachen dieser Verschlechterungen müssen im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung betrachtet werden, bei der die Frau auf die Tätigkeit in der sogenannten Reproduktionsarbeit fixiert ist, das heißt auf Aufgaben zur Erhaltung des unmittelbaren Lebens wie Kindererziehung, Pflege von Familienangehörigen oder die Hausarbeit im privaten Umfeld. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um unbezahlte und aus Sicht des Kapitals unproduktive Arbeit, da sie meist keinen Mehrwert generiert. Demgegenüber übernimmt der Mann die produktiven, also Mehrwert generierenden Arbeiten. Mit Entstehung der bürgerlichen Familie als Norm, welche sowohl ideologisch als auch repressiv gegenüber anderen modernen Formen durchgesetzt und verteidigt wird, reproduziert sich die eben angesprochene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bis heute.

Der Kapitalismus hat sich diese lange vorher existierende Arbeitsteilung zunutze gemacht, in dem der Mann einen sogenannten „Familienlohn“ erhält und die Frau quasi als „Zuverdienerin“ das familiäre Haushaltsvermögen aufstockt. Dies erklärt den weiterhin herrschenden Lohnunterschied (Gender Pay Gap) zwischen Männern und Frauen. Global betrachtet stimmt dieses Modell zwar schon lange nicht mehr mit der Realität überein, denn in vielen Fällen ist sogar die Frau mittlerweile die Hauptverdienerin und ein Lohn oft nicht ausreichend, um das Überleben der Familie zu sichern. Dennoch trägt auch dieser Umstand weiterhin zur Festigung der bürgerlichen Familie und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei.

Reserve

Eine weitere Folge letzterer ist die stärkere Betroffenheit von Frauen in Krisenzeiten wie in der derzeit herrschenden Pandemie. Frauen wurden stets von Seiten der KapitalistInnen als sogenannte Reservearmee angesehen, welche in konjunkturell starken Phasen eingestellt und in Krisenzeiten rasch wieder entlassen werden können. In diesen werden zudem die sogenannten Reproduktionsarbeiten aus Gründen der Kostenersparnis sehr gerne zurück ins private und nicht entlohnte Umfeld ausgelagert. Dies bedeutet für viele Frauen eine stärkere Doppelbelastung aus Erwerbs- und Carearbeit, tragen doch sie die Hauptlast der Reproduktionsarbeit. Hinzu kommt eine (stärkere) finanzielle Abhängigkeit vom männlichen Partner, was Betroffenen von Gewalt ein Beenden der Partnerschaft häufig unmöglich macht. Dieser Rollback konnte auch in der derzeitigen Pandemie beobachtet werden.

Schließlich profitiert das Kapital selbst von Spaltungen wie jener zwischen Mann und Frau und nutzt diese zu seinen Gunsten. Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft besonders unter den Pandemiefolgen leiden. Daher darf diese Thematik nicht unabhängig vom kapitalistischen Gesamtsystem betrachtet werden, sondern muss mit der Klassenfrage und dem Kampf gegen es verknüpft werden. Denn aus Sicht von MarxistInnen handelt es sich beim Kapitalismus nicht nur um ein Produktions-, sondern um ein gesellschaftliches System, welches alle Lebensbereiche sowie unser Denken und Handeln beeinflusst und formt. Nicht zuletzt wird dies deutlich durch die gesellschaftlich zugeschriebenen Geschlechterrollen, die anerzogen werden und sich dadurch weiter reproduzieren.

Wofür kämpfen?

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung muss international organisiert und mit der Klassenfrage und dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Auch wenn sich die Situationen von Frauen in verschiedenen Ländern teilweise deutlich unterscheiden, müssen wir global einige gemeinsame Forderungen aufstellen.

Um die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen abzubauen, muss die Forderung nach einem Mindestlohn sowie eine vollständige Abschaffung des informellen Sektors auf die Tagesordnung gesetzt werden. Auch prekäre Arbeitsverhältnisse müssen durch die Einführung von tariflichen Löhnen verschwinden. Dabei müssen die Kontrolle über deren Umsetzung und die Festlegung von Gehältern in die Hände der ArbeiterInnenklasse und der Gewerkschaften gelegt werden. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Forderung, keine Entlassungen zu akzeptieren und während der Schließung ganzer Wirtschaftsbereiche für eine vollständige Auszahlung der Gehälter einzutreten. Diese Auseinandersetzungen müssen wir darüber hinaus mit dem Kampf für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten verbinden: den Ausbau von Kitas, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, des Gesundheitssystems, einer Altersvorsorge für alle usw. unterstützen. Ein solches muss von den Profiten der Unternehmen bezahlt und von den ArbeiterInnen kontrolliert werden.

Um Frauen vor Unterdrückung und Diskriminierung zu schützen, bedarf es des Rechts auf eigene Treffen, sogenannte Caucuse, in allen Organisationen der ArbeiterInnenklasse. Nur so ist gewährleistet, dass sie im Kampf für vollständige Frauenbefreiung und gegen den Kapitalismus eine Schlüsselrolle einnehmen und aktiv gegen Sexismus, Chauvinismus und rechtliche Benachteiligung vorgehen können. Um ihnen eine aktive Beteiligung an politischen Kämpfen zu ermöglichen, ist neben einer massiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich auch eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit notwendig. Nur so können die Doppelbelastung aufgehoben und Arbeiten des täglichen Lebens auf viele Schultern verteilt werden. Statt Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich sind massive Investitionen für den Ausbau von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie öffentlichen Gesundheitssystemen und Kultureinrichtungen einzufordern. Nur so ist es möglich, den herrschenden Rollback zu Ungunsten der Frauen und jungen Mädchen umzukehren.

Frauenbewegung

Zum Schutz von Frauen vor physischer und sexualisierter Gewalt müssen dringend die zur Verfügung stehenden Schutzräume massiv ausgebaut und Selbstverteidigungsorgane innerhalb der ArbeiterInnenklasse aufgebaut werden. Ebenso ist es wichtig, die Forderung nach rechtlicher Gleichheit und einem Scheidungsrecht, welches Frauen nicht benachteiligt, aufzustellen.

Der Kampf gegen die Folgen von Pandemie und Krise, von denen die lohnabhängigen Frauen besonders hart getroffen werden, hat aber auch zu vielen Abwehrkämpfen und Bewegungen geführt, wo Arbeiterinnen an vorderster Front stehen. Diese zeigen, dass Frauen nicht in erster Linie Opfer und Betroffene, sondern vor allem Kämpferinnen sind. Die Frauen*streiks der letzten Jahre, die Bewegungen im Gesundheitssektor und Frauen, die in Afghanistan unter extremen Bedingungen ihre Rechte verteidigen – sie alle zeigen, dass vor unseren Augen auch die Basis für eine neue internationale proletarische Frauenbewegung entsteht.

Lasst uns gemeinsam für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine vollständige Frauenbefreiung kämpfen! Für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung!




Südafrika: Die Armen konfrontieren den ANC mit seiner Verkommenheit

Jeremy Dewar, Infomail 1157, 26. Juli 2021

Südafrika erlebt gerade die schlimmste Gewalt im Land seit dem Fall der Apartheid vor fast drei Jahrzehnten. Fünf Tage lang plünderten und brannten verarmte ArbeiterInnen und städtische Arme Einkaufszentren, Supermärkte und lebensmittelverarbeitende Fabriken im ganzen Land nieder – unter Missachtung von Polizei und Militär. Dies war in erster Linie ein Aufstand der Armen gegen die vom African National Congress geführte Regierung (Afrikanischer Nationalkongress, ANC).

Viele KommentatorInnen, einschließlich der BBC, konzentrierten sich auf die Free-Zuma-Kampagne und ihre Basis innerhalb der ANC-Spitze, die nach der Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma durch das Verfassungsgericht zu Massenprotesten und orchestrierten Sabotageakten gegen wichtige Infrastrukturen wie Straßen und Schienen, Fabriken und medizinische Einrichtungen aufrief. Doch je weiter sich die Unruhen über Zumas Basis in der östlichen Provinz KwaZulu-Natal hinaus ausbreiteten, desto mehr nahmen sie die Form einer Volksrevolte gegen Armut an.

Spaltung des ANC – eine Hälfte bis ins Mark so verdorben wie die andere

Natürlich kam es beiden Seiten in dem anhaltenden ANC-Fraktionskampf gelegen, die Unruhen als das Überschwappen ihres politischen Kampfes um die Vorherrschaft auf die Straße darzustellen. Auf diese Weise konnten sie die Notlage der Massen ignorieren, die sich von Woche zu Woche verschlimmert, und das Augenmerk von ihrem Versagen im Umgang mit der Wirtschaft und der Pandemie, ihrer Bestechlichkeit und Korruption, ihrer mörderischen Repression ablenken.

Diesem Narrativ folgend, begannen die Ereignisse Ende Juni damit, dass das Verfassungsgericht Zuma zu 15 Monaten Haft verurteilte, weil er einer Untersuchung von Korruption auf Staatsebene während seiner Präsidentschaft zwischen 2012 und 2018 nicht nachgekommen war. In einer scheinbar taktisch geplanten Kapitulation stellte sich Zuma am 8. Juli.

Dies löste die ersten Demonstrationen aus, Angriffe auf die Polizei, die, wie die auf dem Capitol Hill beim Trump-Putsch, verdächtig untervorbereitet wirkte, und Transportblockaden, Plünderungen von Sanitätshäusern usw. Im Laufe der Woche wuchs die Zahl der Menschen auf den Straßen deutlich an. Zu diesem Zeitpunkt wurden vor allem Einkaufszentren und Lebensmittellager zu den Hauptzielen, da sich die Ausschreitungen auf Johannesburg und die Provinz Gauteng ausweiteten. Insgesamt wurden über 1.000 Supermärkte für Grundnahrungsmittel geplündert.

Dies führte dazu, dass die Free-Zuma-Kampagne in opportunistischer Weise behauptete: „Nur ein freier Präsident Zuma kann sich an unsere Nation wenden und zur Ruhe aufrufen“, um hinzuzufügen, dass die Ermittlungen zu Zumas Förderung von Waffengeschäften „sofort eingestellt werden müssen“ – als ob sich die DemonstrantInnen zu diesem Zeitpunkt auch nur ein Jota um die Gefängnisstrafe des korrupten Zuma oder die „Übernahme des Staates“ durch seine KumpanInnen scherten.

Dies benutzte Präsident und ANC-Vorsitzender Cyril Ramaphosa als Vorwand, um bis zu 25.000 SoldatInnen auf die Straße zu schicken, die „den demokratischen Staat“ verteidigen und einen Putsch verhindern sollten, indem er behauptete: „Die verfassungsmäßige Ordnung unseres Landes ist bedroht.“ Die wirkliche Bedrohung für Ramaphosa bestand allerdings darin, dass die Unruhen zum Auftakt eines anhaltenden Widerstands der ArbeiterInnenklasse gegen die Art und Weise werden könnten, wie er im Namen des in- und ausländischen Großkapitals regiert.

RegierungsbeamtInnen folgten dem und schürten Ängste vor einer „zweiten Phase“ des Putsches, in der das Ziel sei, das Land „unregierbar“ zu machen und Südafrika zu den ethnischen Auseinandersetzungen der letzten Tagen der Apartheid zurückzubringen, alles ohne den geringsten Beweis. Auch Zumas Lager verschärfte die Rhetorik und forderte den Sturz der Regierung. Dazu muss man wissen, dass das Verfassungsgericht am Montag, den 12. Juni, Zumas Gefängnisstrafe aufhob und damit den Weg für einen Deal ebnete, obwohl er noch nicht freigelassen worden ist.

Pandemie und Wirtschaft

Um den wahren Kern der Krise im ANC zu verstehen, muss man sich die südafrikanische Wirtschaft ansehen, die seit fast einem Jahrzehnt stagniert und im Jahr 2020 um rekordverdächtige 7 Prozent geschrumpft ist. Die Arbeitslosigkeit, die schon immer hoch war, liegt bei einem Rekordwert von 43 Prozent, bei der Jugend sogar bei astronomischen 74 Prozent; 2 Millionen Arbeitsplätze wurden während der Pandemie vernichtet.

Ende April hat die Regierung die monatlichen Zuschüsse zur sozialen Notlage (Social Relief of Distress, SRD) gestrichen, eine Leistung im Wert von nur 350 Rand (entspricht etwa 20 Euro), die Arbeitslosen zusteht. Ramaphosa behauptete, die Pandemie sei besiegt und wirtschaftliche Erholung zeichne sich ab. Das Einzige, was wuchs, waren jedoch die Kosten für Lebensmittel, die in den letzten Monaten um 7 Prozent gestiegen waren, wobei sich der Preis für Brot in der Woche vor den Unruhen verdoppelt hatte. Anfang Juli zwang eine dritte Coronawelle, die frühere sogar noch übertraf, Ramaphosa dazu, erneut harte Lockdownmaßnahmen zu verhängen und zugleich viele zu zwingen zu arbeiten, selbst wenn sie krank sind.

Obwohl die offizielle Zählung 64.000 Coronatote angibt, können wir davon ausgehen, dass es in Wirklichkeit 175.000 Tote sind (bei 60 Millionen EinwohnerInnen, also einer Bevölkerung von der Größe Großbritanniens), da der Gesundheitssektor überfordert ist. Nur 2,3 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, obwohl der Impfstoff von Johnson & Johnson vor Ort produziert wird. Arbeiten oder hungern sind die einzigen Optionen für die ArbeiterInnen und das Schlimmste steht ihnen mit ziemlicher Sicherheit noch bevor.

Weder die Aktionen von Ramaphosa noch die aus Zumas Lager haben die Situation verbessert. Die Streichung auch nur der geringsten wirtschaftlichen Unterstützung für Arbeitslose und die Isolation, Plünderung und das Niederbrennen von medizinischen Fabriken und Einrichtungen wird die Zahl der Toten unter den Armen nur erhöhen. Kein/e ArbeiterIn sollte eine der beiden Fraktionen unterstützen, die beide eingeschworene Feindinnen unserer Klasse sind, nicht nur wegen vergangener Verbrechen, sondern wegen der gegenwärtigen Gefahr, die sie darstellen.

Der entscheidende Unterschied zwischen Ramaphosas regierender Fraktion, die von ihren GegnerInnen als „weißer Monopolkapitalismus“ bezeichnet wird, und Zuma, dem die „Übernahme des Staates“ in Absprache mit der Gupta-Familie vorgeworfen wird, besteht darin, wie sie die Wirtschaft wiederbeleben wollen. Was Korruption angeht, sind beide Männer äußerst korrupt, aber das ist nicht die eigentliche Ursache der Verarmung der Massen. Die Lösungen beider Männer sind gleichermaßen nutzlos.

In Wahrheit ist Zumas „radikale wirtschaftliche Transformation“, obwohl sie einige linke Forderungen wie Verstaatlichung der Energieversorgung und Landumverteilung enthält, ein populistischer Schwindel. Wie kommt es, dass er nach acht Jahren im Amt keine einzige seiner Hauptforderungen umgesetzt hat? Wie kommt es, dass Südafrika nach seiner Amtszeit als das ungleichste Land der Welt dasteht? Und das ist nur die Bilanz, noch bevor man sich dem Thema Korruption und „Übernahme des Staates“ zuwendet.

Ramaphosa kann Zuma in Sachen Korruption, Veruntreuung und brutalen Terrors sicher das Wasser reichen, wenn man seine Bilanz über die Jahrzehnte betrachtet wie z. B. die Anordnung zur Erschießung von 34 streikenden BergarbeiterInnen im Jahr 2012. Selbst heute mussten wichtige MinisterInnen wegen der unzulässigen Vergabe von Verträgen an Günstlinge zurücktreten, nur ein Drittel des 5-Milliarden-Rand-Ausgabenpakets hat die vorgesehenen EmpfängerInnen erreicht und seine Polizei und SoldatInnen haben in der letzten Woche bis zu 200 DemonstrantInnen und ZivilistInnen getötet. Was den persönlichen Reichtum betrifft, so übersteigt sein geschätztes Nettovermögen von 450 Millionen US-Dollar die 20 Millionen US-Dollar von Zuma bei weitem – man könnte sagen, dass er mit dieser Form des „Empowerment“ sehr gut gefahren ist.

Doch Ramaphosa folgt letztlich den Interessen einer bestimmten Klasse, vor allem von ausländischen und südafrikanischen imperialistischen InvestorInnen. Sie haben eine doppelte Forderung: die Korruption, die ihre operativen Geschäfte belastet, zu reduzieren und die ArbeiterInnenklasse und ihre Gewerkschaften zu zähmen. Die ausländischen ImperialistInnen kommen heute sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen. Die Aufgabe, vor der SozialistInnen in Südafrika heute stehen, ist, den Kampf für Notmaßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen, Gesundheit, Sozialleistungen und Lebensmitteln mit einem strategischen Kampf gegen das von Zuma und Ramaphosa verteidigte System, den Kapitalismus, zu verbinden. Die Bosse planen, von der Krise zu profitieren, und das sollten die ArbeiterInnen auch.

Die Linke

Die südafrikanische ArbeiterInnenklasse hat eine stolze Kampfbilanz vorzuweisen, und das nicht nur als historische Speerspitze der Anti-Apartheid-Kämpfe in den 1980er Jahren, die das Regime in die Knie zwangen. Im letzten Jahrzehnt hat sie regelmäßig die weltweit höchste Anzahl von Streiktagen zu verzeichnen.

In dieser Zeit begann die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, vor allem in den Gewerkschaften, aber auch in den Townships und unter der Jugend, mit der ANC-Volksfrontregierung zu brechen. Dies war zwar notwendig und ein Schritt in Richtung Klassenunabhängigkeit, hat aber auch weitere Spaltungen und damit Verwirrung produziert. Leider ließ sich vieles davon während des jüngsten Aufstandes beobachten.

Die Partei der Economic Freedom Fighters (KämpferInnen für wirtschaftliche Freiheit, EFF), die von der stalinistischen Kultfigur Julius Malema angeführt wird, kämpfte während der Krise um Aufmerksamkeit. Malema übte keine Kritik an Zuma, den er als glaubwürdigen politischen Akteur und potenziellen Verbündeten ansieht. Da er die Notwendigkeit zur Schärfung des Profils der EFF sah, reagierte Malema aus heiterem Himmel mit einem Tweet auf das Vorgehen der Regierung Ramaphosa: „Keine SoldatInnen auf unseren Straßen! Ansonsten schließen wir uns an. Alle KämpferInnen müssen bereit sein … sie werden uns nicht alle umbringen.“ Nicht nur, dass dies nicht zustande kam, sondern die Farce ist nun in ein Gerichtsverfahren übergegangen, wobei Malema den Führer der oppositionellen Democratic Alliance (Demokratische Allianz, DA) wegen Verleumdung verklagte, als dieser Malema wegen Anstiftung zur Gewalt anzeigte!

Notwendig war nicht ein erbitterter Kampf mit der Armee (auf den sich die EFF nicht vorbereitet hatte und den sie nie auf die Beine stellen konnte), sondern Verteidigungsposten aus der ArbeiterInnenklasse, die die Stadtteile vor der Polizei schützen, sich mit den einfachen SoldatInnen verbrüdern und kriminelle Banden aufhalten konnten, die anrückten, um die Situation auszunutzen. Es gibt einige Berichte darüber, dass dies ansatzweise stattgefunden hat, allerdings nicht unter Führung der EFF.

Dass Malema Zuma stillschweigend unterstützt, ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, wie viele Gemeinsamkeiten sie haben. Sie kommen beide aus dem stalinistischen Lager innerhalb des ANC, beide sind in Korruptionsvorwürfe immensen Ausmaßes verwickelt und  Meister der Demagogie. Aber auch der Präsident der National Union of Metalworkers of South Africa (Nationaler Metallarbeiterinnenverband, NUMSA; größte Einzelgewerkschaft Südafrikas) und Führer der Socialist Revolutionary Workers Party (Sozialistische Revolutionäre ArbeiterInnenpartei, SRWP), Irvin Jim, schloss sich den beiden an und machte zu seiner Hauptbeschwerde über Ramaphosa „dessen Versäumnis, den ehemaligen Präsidenten Zuma beim Namen zu nennen“. Diese beiden falschen Führer würden lieber einen Handel mit Zuma eingehen, als einen Ausweg für die ArbeiterInnenklasse aufzuzeigen.

Wie weiter?

Unruhen, selbst wenn sie authentische Aufschreie der Armen und Verzweifelten sind, angeheizt durch die Wut gegen ihre UnterdrückerInnen, können niemals die Grundlage für einen längeren Kampf bieten. Bestenfalls können sie die Massen ermutigen und eine Minderheit politisieren, indem sie sie mit einer gewissen organisatorischen Grundausbildung ausstatten. Aber am Ende können sie genau die Gruppen von sich entfremden, die mit den Folgen leben müssen: Repression (über 2.500 Verhaftungen), Lebensmittel- und Treibstoffknappheit und weitere Entbehrungen.

Einige in der Linken, insbesondere die Workers and Socialist Party (Sozialistische und ArbeiterInnenpartei, WASP), haben diesen Punkt angesprochen und zu Recht versucht, die Aufgaben des heutigen Kampfes mit dem für den Sozialismus zu verbinden. Um dies zu konkretisieren, plädieren wir für einen vereinigten Kampf und fordern:

  • Bildung von ArbeiterInnenverteidigungseinheiten, die in jeder Ortschaft den Volksversammlungen rechenschaftspflichtig sind, repräsentativ für alle Betriebe und ArbeiterInnenviertel, um sich Polizei, Armee und kriminellen Banden zu widersetzen.
  • Bildung von Aktionsräten in jeder Stadt und jedem Bezirk, um die Krise zu diskutieren, Streiks auszurufen und durchzuführen, kostenlose Lebensmittel für die Bedürftigen zu beschaffen und zu verteilen und Massenaktionen, Demonstrationen, Mietstreiks usw. durchzuführen.
  • Aufruf an alle Gewerkschaftsverbände, insbesondere South African Federation of Trade Unions (Südafrikanischer Gewerkschaftsdachverband, SAFTU) und Congress of South African Trade Unions (Kongress Südafrikanischer Gewerkschaften, COSATU), einen Generalstreik zu starten, um KurzarbeiterInnengeld statt Stellenabbau, wirtschaftliche Unterstützung für Kranke und Arbeitslose, vollständige und schnelle Einführung des Impfstoffs und Sicherheitsmaßnahmen unter ArbeiterInnenkontrolle zu fordern.
  • Eine Basisbewegung in allen Gewerkschaften mit dem Ziel, die Bürokratie zu beseitigen, die Gewerkschaften zunächst im Kampf und dann organisatorisch zu vereinigen und sie zum Aufbau einer revolutionären sozialistischen Partei zu nutzen, die demokratisch von ihren Mitgliedern kontrolliert wird und in ihren antikapitalistischen Aktionen zentralisiert ist.

Keine der bestehenden „Parteien“ links vom ANC hat den Test der letzten Tage bestanden. Ausgehend von der aktuellen Krise kann die südafrikanische ArbeiterInnenklasse nicht nur Ramaphosa davon abhalten, sie für die vielfältigen Krisen bezahlen zu lassen, sondern auch die Basis für eine neue Partei bereiten, die den Kampf für den Sozialismus anführen kann.




Gewerkschaften unter Corona: Versagen auf der ganzen Linie!

Mattis Molde, Neue Internationale 255, Mai 2021

Im letzten Jahr haben über eine Million Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, 477.000 sozialversicherungspflichtig und 526.000 geringfügig Beschäftigte hat es getroffen. Das antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der LINKEN. Darüber hinaus wurden 128.000 regulär Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe entlassen, vor allem in der Metall- und Elektroindustrie. Allerdings sei diese Branche bereits vor der Coronapandemie von einem strukturellen Wandel gezeichnet gewesen sei, schreibt die Regierung.

Eine Million Menschen verlieren ihre Existenz und die Regierung schiebt das auf Pandemie und Strukturwandel. Sie hat ihr Politsprech schon so verinnerlicht, dass für sie struktureller Wandel gleichbedeutend mit der Zerstörung von Arbeitsplätzen ist. Natürlich sagt die Regierung nicht, was wirklich los ist:

Die Unternehmen lassen die Beschäftigten für die Krise bezahlen. Sie planen, das auch weiterhin zu tun. In der Metallindustrie stehen weitere 300.000 Arbeitsplätze zur Disposition, zigtausende im Handel, und das ist noch lange nicht alles. Die Regierung benennt diese Angriffe nicht. Sie beschwört den „Zusammenhalt der Gesellschaft“, den es für die KapitalistInnen mitnichten gibt. Was sie zusammenhalten, ist ihr Kapital – koste es, was es wolle. Und sie laden die Kosten der Gesellschaft und den arbeitenden Menschen auf.

Eine Situation, in der sich Unmut zusammenbraut. Er richtet sich gegen die Regierung – aber oft unter falschen Vorzeichen und mit rechten und reaktionären Parolen. Regierung und Staat kommt das sehr gelegen: Sie wollen auf jeden Fall diejenigen aus dem Feuer nehmen, die in diesem System profitieren und die es gerade auch in und trotz der Krise tun: die GroßkapitalistInnen.

Dass dieser Unmut nicht die wirklich Verantwortlichen trifft, ist das Verdienst der Gewerkschaften, genauer gesagt ihrer Führungen.

Versagen oder Absicht?

Die Pandemie hat die Krise der Gewerkschaften nicht erzeugt, aber noch offensichtlicher gemacht.

Die Gewerkschaftsführung akzeptiert nicht nur millionenfache Jobverluste, sondern auch Niederlagen bei Lohnrunden und Einbrüche in die Tarifverträge. Sie trägt die Coronapolitik der Regierung im Interesse des Großkapitals mit, verfolgt eine Politik der nationalen Einheit und deckt damit auch den anhaltenden Jo-Jo-Lockdown auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung.

Die Krise trifft unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten auf verschiedene Weise. So kann Kurzarbeit für relative gut bezahlte Beschäftigte eine erträgliche Lösung sein, für andere, z. B. im Niedriglohnbereich, nicht. Viele bekommen sie noch nicht mal angeboten, sondern werden sofort entlassen. Deshalb hilft das Herumdoktern an Teillösungen – und das ist das Maximum, das Gewerkschaften in diesem Jahr geleistet haben – letztlich nicht weiter. Deshalb ist eine übergreifende, also politische Bewegung nötig.

In Zeiten allgemeiner Krise ist eine einheitliche Bewegung ein entscheidender Faktor dafür, Kämpfe in einzelnen Betrieben oder Branchen zu gewinnen. Aber die Gewerkschaftsführungen haben nicht nur die Ansätze für eine allgemeine Bewegung gegen die Abwälzung der Krisenlasten nicht gefördert, sondern bislang aktiv jeden hoffnungsvollen Ansatz im Keim erstickt. Streiks und Tarifrunden wurden in den Sand gesetzt. Solidarität heißt nur noch gemeinsamer Verzicht – wo gemeinsamer Kampf so wichtig wäre!

Entsprechend steht nicht ein einziger Erfolg, nicht ein einziger Sieg für die Gewerkschaftsbewegung zu Buche. Es gibt nur diese schrecklichen Teil„erfolge“, bei denen „Schlimmeres“ vermieden wurde, weil Schlimmes von vornherein akzeptiert worden war: „Erfolge“, für die immer der Preis stets höher war, als das Erreichte wert ist. Und alles wird so schöngeredet oder zurechtgelogen wie eine Verlautbarung von Andreas Scheuer oder Jens Spahn.

Mit ihrem Vorgehen ist die Führung auch dafür verantwortlich, dass Tausende den Gewerkschaften den Rücken gekehrt haben. Die Mitgliederzahlen haben einen neuen historischen Tiefstand in einer Zeit erreicht, wo sie dringend gebraucht würden. Die FunktionärInnen geben die Schuld daran der Basis, die sich nicht wehren kann. In den Organisationsstrukturen kommt sie praktisch nicht mehr vor. Das innergewerkschaftliche Leben wurde noch weiter erstickt, dafür ist Corona immer nützlich. Zu Beginn der Pandemie schon wurde die Anweisung des ver.di-Vorstandes bekannt, dass jede einzelne Verlautbarung von ihm genehmigt werden müsse. Diskussion ist kaum mehr möglich. In Internetforen dürfen Fragen gestellt werden, deren Zulassungen die AdministratorInnen prüfen.

Das hat zu einer Situation geführt, wo für die Mehrheit der Werktätigen Gewerkschaft nicht mehr stattfindet. Sie werden nicht nach Tarif bezahlt und haben keine Betriebsräte. Insbesondere Beschäftigte in Leiharbeit verdanken ihre miese Lage der Zustimmung der Gewerkschaften zu dieser rechtlosen Lage. Aber auch Werkvertrags- und andere prekär Beschäftigte haben weder das Geld übrig für Mitgliedsbeiträge noch wirkliche Vorteile aus einer Mitgliedschaft. Und für die meisten BürokratInnen „lohnt“ es sich auch nicht, Ressourcen für die Organisierung dieser Schichten aufzuwenden. Dies würde nämlich regelmäßig Konflikt mit den Unternehmen bedeuten. Aber sie wollen nicht kämpfen, sie wollen mit ihren SozialpartnerInnen verhandeln.

Natürlich gibt es weiterhin engagierte GewerkschaftssekretärInnen, die versuchen, beispielsweise Beschäftigte im Handel oder in den Fleischfabriken zu unterstützen gegen die widerwärtigen Formen der Ausbeutung, die dort stattfinden. Aber das Gesamtbild der DGB-Gewerkschaften wird dadurch geprägt, dass der mächtigste Einzelverband, die IG Metall, noch nicht mal in „ihren“ Betrieben gegen prekäre Arbeitsverhältnisse vorgeht. In der Automobilproduktion wäre es ein Leichtes, mit Aktionen, Warn- oder Vollstreiks richtig Druck auf die Unternehmen auszuüben. Selbst die Verweigerung von Sonderschichten und Überstunden könnte sie z. B. derzeit empfindlich treffen.

IG Metall

Aber die Betriebsräte und die IGM sind so sehr dem Profit verpflichtet, dass sie akzeptieren, dass bald die Hälfte der Beschäftigten in der Autoproduktion für Werkverträge und Leiharbeit arbeitet. Da geht es nicht nur um Firmenprofite, sondern um internationalen Wettbewerb, um Deutschlands Führungsrolle in Europa und seine Position in der Welt. Diese Arbeit„nehmer“vertreterInnen decken deshalb auch den Abgasbetrug und die Rüstungsexporte. Sie unterstützen Rationalisierung und Digitalisierung, die ihrerseits zehntausende Arbeitsplätze kosten, ja auch Verlagerungen in Niedriglohnländer, die sie dann „sozial“ gestalten, und natürlich die erhöhte Ausbeutung in diesen.

Die abgelaufene Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie verdeutlicht diese Politik exemplarisch:

Es gibt dieses Jahr keine Erhöhung der Löhne und Gehälter oder – um das Tarifvokabular zu benutzen – der Monatsentgelte. Diese wurden zuletzt im April 2018 um 4,3 % erhöht. Die nächste mögliche Erhöhung kann ab Oktober 2022 kommen: also nach mindestens viereinhalb Jahren Stillstand!

Es gibt für 2021 lediglich eine Einmalzahlung von 500 Euro netto. Sie wird Coronaprämie genannt, damit die gesetzliche Regelung dazu genutzt werden kann: Es müssen keine Steuern gezahlt werden. Außerdem wurde ein „Transformationsgeld“ erfunden. Es ist eine jährliche Sonderzahlung, die vierte neben dem „Weihnachtsgeld“, dem Urlaubsgeld und dem „tariflichen Zusatzgeld“ (T-ZUG). Rechnerisch beträgt es 2,3 % des Monatsentgeltes. Dieses muss nicht gezahlt werden. Wahlweise kann auch die Arbeitszeit abgesenkt werden. Das kann jede/r Beschäftigte individuell tun, es können aber auch betriebliche Regelungen zwischen Betriebsrat und Management vereinbart werden.

Weil mit 2,3  % nicht mal eine Arbeitsstunde pro Woche finanziert werden kann, eröffnet der Tarifvertrag auch noch die Möglichkeit, das Urlaubs- und „Weihnachtsgeld“ dafür einzusetzen. Das nennt sich dann „Teillohnausgleich“ und lügt damit: Es ist kein „Lohnausgleich“ in dem Sinne, dass ein Teil der Arbeitszeitverkürzung vom Unternehmen „ausgeglichen“ würde, sondern die Beschäftigten verlieren exakt den Betrag, den sie erarbeitet hätten.

Die Flexibilisierung im Sinne des Kapitals geht also weiter mit neuen Puffern nach unten zur schon länger vereinbarten „tariflichen“ Kurzarbeit und zu den „Entlastungen“ der Unternehmen von Urlaubs- und „Weihnachtsgeld“ bei Kurzarbeit.

Zusammengefasst: keine Erhöhung der Monatsentgelte für 4,5 Jahre, nur Einmalzahlungen und Sonderzahlungen, die auch ohne Zustimmung der Beschäftigten entfallen können.

Prämien für Stammbelegschaften

Das ist das Tarifergebnis. Zugleich haben aber die Stammbelegschaften der Autokonzerne „Prämien“ für das abgelaufene Jahr 2021 erhalten:

  • Bei Daimler erhalten diese zusätzliche 500 Euro und eine „Corona“-Prämie von 1000 Euro.
  • Bei VW sind es 2700 Euro, nach 4950 Euro im letzten Jahr.
  • Bei BMW kann ein/e durchschnittliche/r FacharbeiterIn diesmal mit zusätzlichen 2160 Euro rechnen. In Top-Jahren betrug diese Prämie über 9000 Euro. Dazu ein zusätzlicher Beitrag für die Betriebsrente in Höhe von 450 Euro.
  • Porsche: Die Beschäftigten erhalten für ihre Leistung eine Sonderzahlung von bis zu 7850 Euro.

Damit übersteigen diese „Prämien“ das von der IG Metall so hoch gepriesene Tarifergebnis um ein Mehrfaches. Auch wenn sie dieses Jahr geringer ausfallen, wären sie für die prekär in den Autobuden malochenden ArbeiterInnen das Vielfache eines Monatslohnes. Aber sie bewirken nicht nur eine Spaltung der Belegschaften in diesen Konzernen, sondern auch eine innerhalb der IG Metall: Die Masse bekommt ein Tröpfchen Tariferhöhung, wenn sie es überhaupt bekommt. Die Belegschaften, die von ihrem Organisationsgrad, ihrer Kampfkraft und ihrer wirtschaftlichen Wirkung die stärkste Waffe in einem Tarifkampf darstellen würden, werden aus diesem Kampf rausgenommen und auf Prämienverhandlungen orientiert. Tatsächlich wurde zum Beispiel Daimler Sindelfingen komplett aus der Tarifrunde ausgeklinkt: Überstunden statt Warnstreiks.

Damit wurde aber nicht nur die Kampfkraft dieser Belegschaften für eine echte Lohnerhöhung für alle beeinträchtigt, es wurde auch das zentrale Thema dieser Tarifrunde, die Verteidigung der Arbeitsplätze, sabotiert. Gerade dafür hatten sich viele bedrohte Belegschaften mobilisiert, teilweise weit über die „geplanten“ Aktionen hinaus. Die Tarifrunde war die große Chance, das hohe Engagement von bedrohten Belegschaften mit der hohen Wirksamkeit von überausgelasteten Betrieben zu verbinden.

Es war die bewusste Entscheidung der IG Metall-Führung, genau das nicht zu tun: Kampfbuden aus der Tarifrunde ausklinken, keine Solidarität organisieren, keine gemeinsamen Konferenzen der bedrohten Belegschaften, stattdessen so viele Abwicklungsverträge wie möglich noch vor und während der Tarifrunde unterschreiben: bei Bosch, bei Daimler Untertürkheim, bei Mahle oder Conti.

Der Charakter der Bürokratie

Das Beispiel der IG Metall ist nicht deshalb so wichtig, weil andere Branchen zweitrangig sind oder die dort Beschäftigten nicht kämpfen könnten. Im Gegenteil: Es belegt, dass die Spaltung und Entsolidarisierung der Gewerkschaften auf allen Ebenen eine durchgehende politische Strategie ist, die dem Zweck dient, die Politik der Regierung und die Bedürfnisse des Kapitals durchzusetzen.

Im Tarifkampf des öffentlichen Dienstes übersetzte sich diese dahingehend, das zuvor geschmähte „Diktat der Arbeitgeberverbände“ zu akzeptieren und lediglich das Geldvolumen zwischen den Branchen umzuverteilen, weil klar war, dass aus dem Gesundheitswesen ein stärkerer Druck kam.

Das ist eine durchgängige Politik einer kastenartigen, bürokratischen Schicht, die in den Gewerkschaften eine Politik zugunsten des Kapitals betreibt. Natürlich muss diese als „Interessen“politik verkleidet werden, und das geht nur, in dem jeweils behauptet wird, dass sie im Namen einer bestimmten Gruppe geschehe: Im Interesse der Beschäftigten des Gesundheitswesens sollen die anderen Reallohnverzicht üben. Im Namen der von Entlassung Bedrohten sollen die anderen auf Entgelt verzichten. Ja und natürlich sollen die Porsche-Leute mehr für sich rausholen, wenn sie es können. Aber der eigentliche Gewinner ist immer das Kapital.

Aber weil es Schichten gibt, die tatsächlich bessergestellt werden, und zwar ganz bewusst, weil diese von der Bürokratie dazu erzogen werden, ihre Privilegien höher zu schätzen als die Solidarität aller, verfügt die Bürokratie auch über eine Stütze in den Gewerkschaften, obwohl ihre Strategie letztlich auch die Position dieser ArbeiterInnenaristokratie untergräbt.

Die Bürokratie hat derzeit die nahezu absolute Macht in den DGB-Gewerkschaften, gerade auch weil sie die Industriegewerkschaften beherrscht. Es gibt keinen Flügel im Apparat, der dagegen Widerstand leistet. Auch die AnhängerInnen und Mitglieder der LINKEN ordnen sich dieser Strategie unter, so wie sich diese Partei generell dieser Politik unterordnet, auch wenn sie SPD-Rezeptur reinsten Wassers ist.

Das heißt nicht, dass einzelne Betriebsratsmitglieder oder auch GewerkschaftssekretärInnen im Einzelfall ein offensiveres Vorgehen an den Tag legen können – wenn der Druck von unten stärker wird. Aber das kann und wird keine grundlegende und nachhaltige Veränderung bewirken: Die Strukturen sind so angelegt, dass alle Macht beim Apparat liegt. Wenn die Bewegung erschöpft ist, übernehmen die Apparate wieder.

Das gleiche Spiel läuft ab, wenn Betriebe oder Branchen sich neu organisieren. Natürlich sollen und müssen sich diese neu gewonnenen AktivistInnen mit den KollegInnen derselben Branche  verbinden. Aber die Kontrolle über diese Verbindungen hat die Bürokratie. Wenn diese neuen AktivistInnen nicht von vorneherein verstehen, warum sie von der Bürokratie bisher nicht wertgeschätzt worden sind, wenn sie deren Politik nicht verstehen und bekämpfen können, werden sie deren Manövern hilflos ausgeliefert sein, sich anpassen oder sich rausdrängen lassen.

Eine organisierte Opposition ist nötig!

Es gibt nur einen Weg: Eine klassenkämpferische, antibürokratische Opposition aufbauen, eine, die sich nicht auf den Kampf um einzelne Entscheidungen beschränkt oder auf einzelne Betriebe. Die jeden Konflikt nutzt, um die gesamten Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, seiner Krise und der Politik der reformistischen Gewerkschaften und Parteien aufzuzeigen. Die Niederlagen nicht beschönigt, sondern auf die notwendigen Konsequenzen hinweist.

Eine Opposition aufzubauen, wird nicht leicht fallen, der Apparat ist mächtig. Aber auch wenn seine Konzeption in vielen Fällen funktioniert, wie oben beschrieben, so scheitert sie doch mit Zunahme der Systemkrise immer mehr. Oder um ein Beispiel zu geben: Gegen den Abbau von 400.000 Arbeitsplätzen allein in der Autoindustrie werden 2,3 % „Transformationsgeld“ aus dem neuen Tarifvertrag nicht helfen.

Es gibt kleine Ansätze für eine solche Opposition. Aber sie muss zu einer klassenkämpferischen Basisbewegung werden: Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft mit dem Kapital, Kontrolle der Gewerkschaft durch die Basis anstelle der Bürokratie!