Spanien: Sánchez verdrängt Rajoy, aber was nun?

Dave Stockton, Infomail 1006, 10. Juni 2018

Pedro Sánchez, Vorsitzender der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE), ist jetzt im Moncloa-Palast als Ministerpräsident Spaniens. Jeder fortschrittliche Mensch im spanischen Staat wird froh sein, den Rücken des autokratischen Führers der Volkspartei, Mariano Rajoy, zu sehen.

Der kritische Moment kam, als die Baskische Nationalistische Partei (EAJ/PNV) enthüllte, dass sie zusammen mit Podemos (deutsch: Wir können), zwei katalanischen Pro-Unabhängigkeitsparteien und einer zweiten baskischen Partei (BILDU, linkes baskisches Wahlbündnis; deutsch: versammelt) einen Misstrauensantrag der PSOE als Reaktion auf einen großen Korruptionsskandal, der die PP heimsuchte, unterstützen würde.

Die liberale Partei Ciudadanos (deutsch: BürgerInnen), die vor kurzem in den Wahlen ihre Rivalinnen überholt hat, unterstützte Rajoy, aber Führer Albert Rivera sieht nun eine goldene Gelegenheit, die Volkspartei als Hauptpartei der Rechten zu ersetzen.

Podemos, die einst ihre Entschlossenheit erklärte, die PSOE vollständig zu verdrängen, und die Idee einer Koalition mit ihr ablehnte, forderte Sánchez auf, eine Koalition mit MinisterInnen von ihr zu bilden, ein Angebot, das der PSOE-Führer sofort ablehnte.

Podemos selbst steckt jetzt in einer Flaute. Der Guru der Partei, Pablo Iglesias, wurde kürzlich zu einer Mitgliederaabstimmung gezwungen, um seine Führung nach heftigem internen Widerstand gegen seine Entscheidung, ein 600.000 Euro teures Haus mit Swimmingpool außerhalb Madrids zu kaufen, zu bekräftigen, welche Mitglieder und AnhängerInnen einer Partei erzürnte, die sich zum Teil wegen ihrer Kampagne zur katastrophalen Immobilienkrise in Spanien einen Namen machte.

Sánchez‘ Versprechen

Unmittelbar nach dem Misstrauensvotum erklärte Sánchez: „Wir werden eine neue Seite in der Geschichte der Demokratie in unserem Land unterzeichnen.“ Hier wird der/die Vorsichtige einen Moment innehalten, um zu fragen: Ist das derselbe Mann, der Rajoys Weigerung unterstützt hat, ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens gutzuheißen, sowie die Urteile des Obersten Gerichtshofs, die den Präsidenten seiner Generalitat (Gesamtheit der Selbstverwaltungsinstitutionen Kataloniens im Rahmen des Autonomiestatuts) ins Exil trieben und mehrere MinisterInnen ins Gefängnis brachten?

Sánchez hat zwar versprochen, Gespräche mit der neuen katalanischen Regierung aufzunehmen, aber er schließt nach wie vor die Möglichkeit eines legalen Referendums über den Status Kataloniens aus. Gleichzeitig wurde eine neue katalanische Regierung unter der Leitung von Joaquim „Quim“ Torra, einem Handlanger des im Exil lebenden Präsidenten Carles Puigdemont, vereidigt, was den Zustand beendete, dass Katalonien acht Monate lang direkt von Madrid aus regiert wurde.

Sánchez wird wahrscheinlich einige der undemokratischsten Aspekte von Rajoys berüchtigtem „Gag-Gesetz“ aufheben, das Demonstrationen in der Nähe des Parlaments, des Senats und der Regionalparlamente strenge Beschränkungen auferlegte, unterstützt durch Geldbußen von bis zu 600.000 Euro für Sitzstreiks an öffentlichen Orten oder die Blockade von Hausräumungen, wenn die „zuständige Behörde“ (ein Gericht, die Polizei) die Auflösung der Versammlung angeordnet hat.

Aber um eine wirklich neue Seite in der gewundenen Geschichte der Demokratie in Spanien zu schreiben, bedarf es nicht der Huldigung der Establishment-Parteien an die Post-Franco-Verfassung, sondern ihrer Ersetzung durch eine demokratisch gewählte Verfassunggebende Versammlung, die die Monarchie abschafft und das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Abspaltung vom spanischen Staat für alle seine Nationalitäten anerkennt. Revolutionäre SozialistInnen wollen den spanischen Staat nicht auflösen, aber das wäre besser als erzwungene Einheit.

Sánchez hat versprochen, auf die „dringenden sozialen Bedürfnisse“ der BürgerInnen in einem Land einzugehen, das immer noch von hoher Arbeitslosigkeit und der von verschiedenen Regierungen verhängten Sparpolitik geplagt ist. Aber er hat auch sofort zugesagt, den von Rajoy vorgeschlagenen Haushalt 2018 beizubehalten, gegen den die PSOE erst vor einer Woche gestimmt hat. Seine Entschuldigung ist, dass er nur so die Stimmen der PNV erhalten konnte, deren Anliegen vor allem darin bestand, die dem Baskenland zugewiesenen Mittel, die im Haushalt enthalten waren, sicherzustellen. Er sagt, dass das Budget „die wirtschaftliche und steuerliche Verantwortung garantieren wird“ und betont, dass Spanien seine „europäischen Pflichten“ erfüllen wird. Aber das wird die neue Regierung entweder an die Kürzungen und Sparmaßnahmen ihrer Vorgängerin binden oder, wenn er einige davon ändert wie die vorgeschlagene Erhöhung der Renten wird er Peter immer noch ausrauben müssen, um Paul zu bezahlen.

Maßnahmen ergreifen

Es gibt eine Alternative dazu, wenn er bereit wäre, die Vermögen der Reichen und der großen Konzerne ernsthaft zu besteuern. Natürlich werden einige sagen, angesichts seiner bisherigen Bilanz könnte man genauso gut Schweine bitten zu fliegen, aber das ist nicht der Punkt. Die Gewerkschaften und die Jugend einschließlich der Mitgliedschaft von PSOE und Podemos haben in den Jahren unmittelbar nach der Großen Rezession ihre Kampfbereitschaft bewiesen und könnten und sollten nun mobilisieren, um Sánchez dazu aufzufordern, die Austeritätsmaßnahmen ganz aufzugeben. Sie sollten sich an die massive Unterstützung erinnern, die Jeremy Corbyn in Großbritannien sowohl auf der Straße als auch an der Wahlurne erhielt, als er ein Ende der Sparpolitik forderte.

Einige werden sagen, dass die EU eingreifen würde, um jede Regierung oder Führung zu stoppen, die versuchte, ihre „Fiskaldisziplin“ zu brechen, genau wie sie es mit Syriza in Griechenland getan hat. Aber im Gegensatz zu Alexis Tsipras sollte eine spanische Regierung, die es wagte, sich der EU zu widersetzen, ihre Zeit nicht damit verschwenden, AkademikerInnen als untertänige BittstellerInnen nach Brüssel oder Frankfurt zu schicken. Sie sollten sich den Merkels und Macrons widersetzen und direkt an die ArbeiterInnen in Europa appellieren, Maßnahmen zu ihrer Unterstützung zu ergreifen. Die Bilanz der Kapitulation von Syriza zeigt, dass mutige Reden von FührerInnen wenig wert sind, wenn die ArbeiterInnen und die Jugend nicht organisiert und bereit sind, unabhängig zu handeln, wenn ihre AnführerInnen sich weigern zu kämpfen.

Wenn Spaniens ArbeiterInnen, unterdrückte Nationalitäten, Frauen und Einwanderergemeinschaften sich vereinigen und einen Massenkampf für ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse in den kommenden Monaten einleiten, dann kann selbst diese in den Knien weiche PSOE-Regierung als Hebel benutzt werden, um soziale und demokratische Rechte zu erringen und den Weg des Kampfes zu einer echten ArbeiterInnenregierung einzuschlagen, die auf den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse, den Gewerkschaften, Parteien und Kampforganen fußt.

Dank

Wir danken dem Solidaritätskomitee Katalonien für die Übersetzung des Artikels,




Österreichische Linke versagt gegen Schwarz-Blau: Eine Einheitsfront ist bitter nötig!

Alex Zora, Arbeiterinnen*standpunkt, Infomail 1005, 30. Mai 2018

ÖVP und FPÖ sind nun schon seit geraumer Zeit an der Spitze des österreichischen Staates. Damit ist nicht nur eine offen rassistische Regierung an den Schalthebeln der österreichischen Republik angelangt, sondern auch eine bürgerliche Angriffsregierung gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse. Dagegen hat sich abseits von punktuellen Protesten und größeren Demonstrationen wenig Widerstand geregt. Die Linke hat bisher glänzend darin versagt, ihre Kräfte zu bündeln und gegen konkrete, schwerwiegende Angriffe zu mobilisieren. Wir sind der Meinung, dass praktischer und effektiver Widerstand organisiert werden muss und zwar jetzt. Dazu gibt es nur einen Weg, nämlich den Aufbau einer Einheitsfront der Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung gegen die schwarz-blaue Regierung.

Guter Beginn, schlechte Fortsetzung

In einer Einheitsfront kämpfen verschiedene politische Kräfte für gemeinsame Anliegen.

In den Jahren nach dem Beginn der großen Krise war nicht nur das alte schwarz-blaue Regierungsprojekt von 2000-2005/06 noch sehr diskreditiert, sondern es war auch für die herrschende Klasse überaus praktisch, mit der „verantwortungsbewussten“ Sozialdemokratie die Kosten der Krise auf die Mehrheit der Bevölkerung in Österreich abzuwälzen. Mit der Großen Koalition war effektiv gesichert, dass die sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften nicht über symbolischen Protest und „Entschärfung der Härtefälle“ hinausgehen würden.

Aber recht bald war die Rolle der Sozialdemokratie erfüllt und die Gewerkschaften und die ihnen so heilige Sozialpartnerschaft stellten sich doch als zu großes Hindernis für eine substantiell gesteigerte Ausbeutung in Österreich dar. Mit Sebastian Kurz als neuem ÖVP-Frontmann war dann schließlich alles klar und die bürgerliche Angriffsregierung konnte praktisch umgesetzt werden. Die Frage ist nun, wie die Linke es schaffen kann, gegen diese Angriffsregierung (von einem definitiv anderen Kaliber als die SPÖVP-Regierung), die sich des Rassismus bedient, um die Profite der KapitalistInnen zu steigern, effektiven Widerstand zu leisten.

Die Proteste gegen Schwarz-Blau begannen früh. Schon am Wahlabend gab es eine Demonstration gegen die drohende schwarz-blaue Regierung. Darauf folgend gab es große Mobilisierungen in Linz gegen das Sparpaket der schwarz-blauen Landesregierung mit mehreren tausend Menschen. Gegen die Angelobung wurden dann breite Proteste von unterschiedlichen Bündnissen und Initiativen (Offensive gegen Rechts, Österreichische Hochschülerschaft, Plattform radikale Linke, Jugendorganisationen, …) organisiert, die es schafften, an einem Montagvormittag bei schlechtem Wetter, tausende Menschen auf die Straße zu bringen. Das hätte der Startschuss für effektiven Widerstand sein können und mit der darauf folgenden Entwicklung, insbesondere der Großdemonstration am 13. Jänner mit bis zu 50.000 TeilnehmerInnen, sah es sogar vielversprechend aus.

Doch danach war es erstmal mit großen Anti-Schwarz-Blau-Mobilisierungen vorbei. Zwar waren diverse Proteste unter dem Eindruck der neuen Regierung größer als in den Jahren zuvor – insbesondere die Demonstrationen gegen den FPÖ-Akademikerball und anlässlich des internationalen Aktionstags gegen Rassismus, die auch explizit Schwarz-Blau thematisierten, doch seitdem kam es nicht mehr zu großen Mobilisierungen gegen die Regierung oder einzelne ihrer Vorhaben. Zwar sind diverse Proteste in Planung, doch über punktuelle, verallgemeinerte Mobilisierungen, die nicht gegen konkrete (geplante) Angriffe gerichtet sind, kam die Linke in Österreich bisher nicht hinaus.

Dabei muss gesagt werden, dass die Proteste durchaus Potenzial hätten. Nahezu alle bisher erwähnten Mobilisierungen konnten die ihnen gegenüber gehegten Erwartungen übertreffen – manchmal, so wie am 13. Jänner, sogar deutlich. Doch das Problem dabei ist, dass die Proteste einen sehr gemeinen, abstrakten Charakter tragen: Man protestiert gegen die Verbindung der FPÖ zu Burschenschaften, gegen Rassismus und für Geflüchtete und gegen Sozialabbau im Allgemeinen.

Doch gegen die konkret durchgeführten Angriffe wie zum Beispiel die Einführung von Studiengebühren für berufstätige Studierende über den Toleranzsemestern oder die Einführung des Überwachungspakets mit Bundestrojanern gab es kaum bis keinen konkreten Widerstand. Es konnte bis jetzt keine relevanten Bewegung entwickelt werden und Kampagnen gegen konkrete Angriffe blieben zumeist auf kleine Initiativen von Betroffenen beschränkt. Bis jetzt ist es auch nicht gelungen, gegen konkrete geplante Angriffe wirklichen Widerstand auf die Straße zu tragen – und das obwohl mit der Einführung eines österreichischen Hartz-IV-Systems, der Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit auf 12, der Wochenhöchstarbeitszeit auf 60 Stunden oder den beabsichtigten allgemeinen Studiengebühren sehr harte Angriffe geplant sind. Die erste positive Entwicklung darüber hinaus scheint nun erst die Demonstration gegen die Zerschlagung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt am 1. Mai zu sein.

Sozialdemokratie und Gewerkschaften

Wenn es um die Frage des Widerstandes gegen Schwarz-Blau geht, kann man die gesellschaftlichen Kräfte grob in zwei Gruppen einteilen. Auf der einen Seite Kräfte, die zwar in der Lage zu effektivem Widerstand wären und der Regierung ernsthaft zusetzen könnten: Darunter fallen die Gewerkschaften und die eng mit deren Führungen verbundene SPÖ. Auf der anderen Seite Kräfte, die zwar subjektiv gewillt sind, Widerstand zu organisieren, aber für einen ernsthaften Widerstand im gesellschaftlichen Ausmaß zu schwach sind.

Die SPÖ ist in der aktuellen Situation nur zu parlamentarischem und symbolischem Protest bereit. Ersterer ist ineffektiv, weil sich die Regierung auf eine Mehrheit im Parlament stützt. Zweiter ist von seiner Natur her nur ein Aufzeigen von Problemen. Diese Beschränktheit ist verbunden mit einer strategischen Anbiederung an die FPÖ-WählerInnenschaft: Man erinnere sich nur an SPÖ-Geschäftsführer Max Lercher, der meinte, die Regierung hole zu viele ausländische Arbeitskräfte ins Land. In Übereinstimmung mit dieser passiv-reaktionären Herangehensweise befinden sich die Gewerkschaftsführungen, die zum größten Teil aus SozialdemokratInnen bestehen. Nur punktuell und teilweise beteiligen sich diese Kräfte an den Mobilisierungen gegen Schwarz-Blau und das auch nur, um ihr Gesicht nicht vollkommen zu verlieren. Ernsthafte Beteiligung an der Organisierung von Widerstand gibt es hier nicht. Der Vollständigkeit halber wollen wir an dieser Stelle die Vereinigung „SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen gegen Notstandspolitik“ erwähnen, die aber nicht von den Gewerkschaftsführungen ausgeht und auch nur eine kleine Verankerung in den Gewerkschaften hat. Charakteristisch für die in der Bürokratie vorherrschende Haltung ist der zukünftige ÖGB-Chef Wolfgang Katzian, der meinte, er würde „lieber zum Heurigen als auf die Barrikaden“ gehen.

Ohne Beteiligung dieser Kräfte – insbesondere der immer noch 1,2 Millionen Mitglieder starken Gewerkschaften im ÖGB – ist ein erfolgreicher Widerstand gegen Schwarz-Blau kaum denkbar. Die politische Führung der Gewerkschaften liegt heute klar in der Hand der Sozialdemokratie und deshalb werden sich diese auch kaum bewegen, solange die SPÖ nicht ihr Okay dafür gibt. Unter anderem deshalb gilt unser Aufruf zum Widerstand und zum Aufbau einer Einheitsfront nicht nur den Gewerkschaften, sondern eben auch der SPÖ. Zwar werden sich diese Organisationen nicht ohne Druck bewegen, das ist aber kein Grund, sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen.

Die Linke und die Einheitsfront

Von alleine werden die seit Beginn der 2. Republik in Sozialpartnerschaft, Reformismus und staatstragender Politik gefangenen Gewerkschaften und SPÖ nicht dazu kommen, gegen die ÖVP/FPÖ-Regierung zu mobilisieren. Dafür braucht es Druck von unten. Doch diesen Druck von unten sollte man sich nicht als spontanes Bewusstwerden der österreichischen ArbeiterInnenklasse vorstellen. Vielmehr bedarf es dazu der bewussten Intervention von Kräften links der SPÖ (wie auch der Sozialistischen Jugend und anderer linkerer Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie). Die Linke ist durchaus fähig, unter gewissen Umständen größere, punktuelle Proteste zu organisieren. Doch darüber hinauszugehen, also zu starkem Widerstand mit konkreter Ausrichtung und mit Druck auf die großen, reformistischen Apparate, ist sie derzeit nicht in der Lage. Die einzige Möglichkeit, das zu erreichen, wäre der Aufbau einer effektiven Einheitsfront aller linken Organisationen und Initiativen mit dem Anspruch, alle Kräfte der ArbeiterInnenbewegung in der Aktion gegen die Regierung zu vereinigen, also auch die Gewerkschaften samt bürgerlicher ArbeiterInnenpartei SPÖ in die Einheitsfront zu zwingen.

Bisher gibt es nur unterschiedliche, separate Bündnisse mit beschränktem Anspruch und wenig weitreichender Geltung. Auf der einen Seite gibt es die moderat linke „Plattform für eine menschliche Asylpolitik“ mit den führenden Kräften SJ, Grüne, Linkswende und Volkshilfe. Dann gibt es die linke „Offensive gegen Rechts“ (wo auch wir Teil davon sind) und die autonome „Plattform radikale Linke“. Abgesehen davon gibt es noch diverse kleinere Zusammenschlüsse oder Organisationen, die an keinem dieser drei Bündnisse teilnehmen. Nachdem sich mit ÖVP und FPÖ die mächtigsten und reaktionärsten Teile der österreichischen Bourgeoisie zusammengeschlossen haben, sollte man erwarten, dass als Antwort darauf auch die Linke – ohne ihre gegenseitige Kritik und politische Auseinandersetzung aufzugeben – es schaffen würde, ihre Kräfte zu bündeln. Weit gefehlt. Die organisatorischen Ansätze über punktuelle Absprachen rund um die Angelobung und auch für die Demonstration am 13. Jänner sind wieder zerfallen oder hinter ihr bisheriges Ausmaß zurückgefallen.

Uns geht es bei so einer Einheitsfront in keiner Weise darum, dass die unterschiedlichsten Gruppen und Organisationen sich in allen Punkten einig sein oder ihre Kritik an den anderen unterlassen müssen. Vielmehr ist es wichtig, dass in einem Zusammenschluss offen und ehrlich die Ausrichtung debattiert wird und die Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung nicht gescheut wird – immerhin gibt es die unterschiedlichsten falschen Herangehensweisen und Taktiken in der Linken. Aber wesentlich ist, dass trotz dieser gegenseitigen Kritik die gemeinsame Aktion und Zusammenarbeit möglich sein muss.

Unserer Meinung nach ist für den Aufbau einer Einheitsfront eine Widerstandskonferenz nötig, auf der alle linken Gruppen, Initiativen und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, die gewillt sind, diese Regierung nicht widerstandslos ihr Programm durchführen zu lassen, zusammenkommen. So eine Widerstandskonferenz ist nicht nur wichtig, um die Kräfte zu bündeln und damit effektiver zu machen, sondern vor allem auch, um eine Debatte darüber zu führen, was die wichtigsten konkreten, geplanten Angriffe sind, gegen die wir schon heute (und nicht erst wenn sie kurz vor der Umsetzung stehen) mobilmachen können und mit welchen Mitteln wir diese am effektivsten zurückschlagen können.




Altes Spiel trotz “neuem Stil” – der Niedergang der SPÖ

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 48, August 2016

Die Bundespräsidentschaftswahlen 2016 in Österreich waren ein tiefer Rückschlag für die traditionellen Großparteien, insbesondere für die SPÖ. Ihr Kandidat, der bis dahin amtierende Sozialminister und ehemalige Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes Rudolf Hundstorfer, erreichte gerade einmal 11,28 % der Stimmen und landete damit an vierter Stelle. Diese Niederlage war der Auslöser eines innerparteilichen Konfliktes, bei dem Teile der Partei zur offenen Rebellion gegen den SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzler Werner Faymann übergingen. Zugrunde lag eine weit verbreitete Unzufriedenheit in der Partei nach einem starken Rechtsschwenk Faymanns in der Asylpolitik. Am 1. Mai wurde der SPÖ-Chef bei seiner üblichen Festtagsrede ausgepfiffen, auf Schildern wurde sein Rücktritt gefordert, während der rechte Parteiflügel mit dem Slogan „Werner, der Kurs stimmt!“ gegensteuerte. Eine starke Polarisierung prägte die Partei und offenbarte eine tiefgehende Krise in der österreichischen Sozialdemokratie, die mit dem Rücktritt Faymanns – trotz allgemeiner Aufbruchstimmung – keineswegs überwunden ist.

Wir wollen die derzeitige Entwicklung der SPÖ untersuchen, den Ursachen ihres Niedergangs auf den Grund gehen und dessen Bedeutung für den österreichischen Klassenkampf erfassen. Darin liegt keineswegs ein rein akademisches Interesse. Die SPÖ ist die traditionelle ArbeiterInnenpartei in Österreich, sie ist seit über einem halben Jahrhundert der einzige relevante politische Ausdruck der österreichischen ArbeiterInnenbewegung und dominiert bis heute unangefochten den Gewerkschaftsbund. Sie bestimmt organisatorisch, politisch und ideologisch unangefochten jenen Teil der Klasse der die Notwendigkeit einer eigenständigen politischen Organisierung der ArbeiterInnen anerkennt. Wer in Österreich Politik für und mit der ArbeiterInnenklasse machen möchte, kommt deshalb um eine Auseinandersetzung mit der SPÖ nicht herum. Ihre Krise muss als Chance begriffen werden, eine wahrhaftig sozialistische Alternative zu schaffen und die dazu notwendige Vorbedingung, die Überwindung der reformistischen Dominanz über die Klasse, zu erfüllen. In dieser Auseinandersetzung ist es die Aufgabe von MarxistInnen die Lehren aus den Fehlern der Sozialdemokratie zu ziehen, die politischen Verschiebungen in der ArbeiterInnenklasse und ihren Organisationen richtig einzuschätzen und daraus Perspektiven für die klassenbewusstesten Elemente in der Gesellschaft aufzuzeigen.

Die Krise der SPÖ

Wenn von einer Krise der österreichischen Sozialdemokratie gesprochen wird, dann drängt sich die Vorstellung einer akuten Existenzbedrohung für die SPÖ auf, ausgelöst durch ein Ereignis oder durch eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, welche die Partei in ihren Grundfesten erschüttern. Eine solche akute Existenzkrise können wir in Österreich (noch) nicht beobachten. Allerdings hat die Polarisierung der Partei in der Haltung zur Asylpolitik des Kabinetts Faymann II gezeigt, was für grundlegende Differenzen in der Parteibasis existieren und wie schnell solche Widersprüche zu einer Zuspitzung führen können.

Unter einer Krise der Sozialdemokratie ist an dieser Stelle aber weder eine Existenzkrise noch eine vergangene oder zukünftige konkrete Zuspitzung innerhalb der Partei gemeint. Die Krise der Sozialdemokratie ist nichts anderes als der Zustand ihres fortgeschrittenen Niedergangs bei gleichzeitigem Unvermögen, diesen umzukehren. So wie dieser Niedergang ein historisch langwieriger Prozess ist, so ist die Krise der SPÖ weder vollkommen neu noch unvermittelt. Ihre Anfänge reichen schon in die 1970er Jahre zurück. Am Ende dieses Jahrzehnts erreichte die SPÖ mit 721.262 Mitgliedern ihren historischen Höchststand (1). Seither ist die Mitgliedszahl rückläufig und auch die 51 % der WählerInnenstimmen bei den Nationalratswahlen 1979 blieben nicht nur unübertroffen, mit zwei relativen Ausnahmen verlor die Partei von Wahl zu Wahl jedes Mal weiter an Stimmen (2). Heute kann man davon ausgehen, dass die SPÖ jährlich 10.000 Mitglieder verliert und die zahlende Mitgliedschaft (bei angegebenen 3.589 Sektionen) bereits unter 200.000 liegt (3).

Der Klassencharakter der Sozialdemokratie

Wer die Krise der österreichischen Sozialdemokratie verstehen will, muss zuerst einmal begreifen, was die Sozialdemokratie ausmacht, welche Kräfte in der Partei wirken und welche Dynamik daraus entsteht. Wir charakterisieren die SPÖ als eine reformistische Partei, genauer ausgedrückt als eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei (4). Für eine solche Charakterisierung steht an erster Stelle die Frage, welche Eigentumsverhältnisse die Partei verteidigt und in diesem Zusammenhang die Macht welcher Klasse. Die SPÖ hat sich längst mit dem Kapitalismus und dem Privateigentum an Produktionsmitteln abgefunden und verteidigt die herrschende Ordnung – daher ist sie bürgerlich. Aber die alleinige Einschätzung einer Partei aufgrund ihrer Haltung zu den Eigentumsverhältnissen ist unzureichend, wenn man ihre eigentliche politische Rolle begreifen möchte. Es stellt sich auch die Frage, wie die Partei zusammengesetzt ist und welche Klasseninteressen in ihr existieren. Die SPÖ stützt sich aus ihrer Geschichte als die Partei der ArbeiterInnenklasse sehr stark auf ArbeiterInnen und Angestellte (das österreichische Gesetz unterscheidet LohnarbeiterInnen in Arbeitende und Angestellte), das spiegelt sich auch heute noch im Wahlverhalten, in der Parteimitgliedschaft, aber insbesondere in der Beziehung der Partei zum Gewerkschaftsbund ÖGB wider – in diesem Sinn ist sie proletarisch.

Eine solche historisch gewachsene Verbindung zur ArbeiterInnenklasse und ihren sonstigen Organisationen ist eine innewohnende Eigenschaft einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei. Wir bezeichnen sie als „organische Verbindung“, weil die Partei und die ArbeiterInnenklasse in einem für beide notwendigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, indem sie aufeinander eine bestimmende gegenseitige Wirkung ausüben. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist von zwei gegensätzlichen Klasseninteressen durchzogen, die in der reformistischen Politik vereint werden sollen. Eine solche Politik ist kein Zufall, sondern das Resultat des Drangs einer eigenständigen politischen Organisierung der ArbeiterInnenklasse, die sich nicht gegen den Druck der Bourgeoisie behaupten kann. Die instabile organisatorische Einheit des Klassenwiderspruchs ist für eine reformistische Partei charakteristisch und lässt sich wie folgt beschreiben: Die Parteibasis und die sozialdemokratische WählerInnenschaft wollen die Partei als Instrument zur Verteidigung oder Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse nutzen. Die Parteibürokratie strebt gut bezahlte Posten in der Partei und im Staatsapparat oder, nach einer politischen Karriere, Spitzenjobs in der Wirtschaft an. Diese „ArbeiterInnenbürokratie“ lebt auf Kosten der ArbeiterInnenbewegung, nährt sich von den in sie bestehenden Hoffnungen und Illusionen in die Partei und ordnet sie den Kapitalinteressen unter. Die SPÖ versucht den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in der Partei zu vereinen und über Reformen mittels des bürgerlichen Staatsapparats zu entschärfen. Das befriedigt die Interessen weiter Teile der der sogenannten „ArbeiterInnenaristokratie“, also jener Schichten der ArbeiterInnenklasse, die aufgrund besonderer Errungenschaften oder wichtiger Funktionen im Produktionsprozess Privilegien gegenüber dem großen Rest der Klasse erhalten und deshalb für die Ideologie der Klassenversöhnung empfänglicher sind.

Dass die Charakterisierung der sozialdemokratischen Politik als bürgerlich korrekt ist, muss wegen ihrer Offenkundigkeit aus jahrzehntelanger Praxis – darunter 22 Regierungsbeteiligungen und vier Alleinregierungen in der II. Republik – kaum weiter untermauert werden. Zusätzlich sei auf das Selbstverständnis der Sozialdemokratie verwiesen. In ihrem aktuellen Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1998 bekennt man sich zwar gleich im ersten Absatz zu einer Gesellschaft, „in der Klassengegensätze überwunden sind“. Diese ist aber keineswegs als eine nicht-kapitalistische gemeint, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln in Gemeineigentum überführt wäre. Für eine solche Perspektive gibt es im gesamten Programm keinen Hinweis. Stattdessen will man „diese Interessengegensätze (zwischen „Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern und Unternehmerinnen/Unternehmern; Anm. d. A.) partnerschaftlich überwinden“ und misst Märkten „einen wichtigen Beitrag zur Förderung des Wohlstands“ bei (5). Das Programm der Sozialdemokratie bekennt sich also unzweideutig zur sogenannten „sozialen Marktwirtschaft“, in welcher die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zwangsweise weiter bestehen aber der Interessensgegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital angeblich praktisch überwunden wäre. Spätestens seit der Veröffentlichung von Marx‘ „Kapital“ ist aber klar, dass der Klassengegensatz zwischen KapitalistInnen und Proletariat unüberbrückbar ist, selbst wenn eine zeitlich beschränkte Befriedung der Klassen in einem Land durch besondere Umstände möglich ist.

Die besondere Verbindung der SPÖ zur ArbeiterInnenklasse ist historisch gewachsen, in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen, aber keineswegs gebrochen. Eine „organische Verbindung“ zwischen der österreichischen Sozialdemokratie und der ArbeiterInnenklasse drückt sich aus in der unerschütterten Dominanz der „Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen“ (FSG) über den eine Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaftsbund ÖGB, die Kontrolle über die Arbeiterkammer (57,16 % bei den Wahlen 2014) sowie dem immer noch vorhandenen Rückhalt bei einem großen Teil der ArbeiterInnenklasse (6). Die Feststellung des versuchten Schwenks in der sozialen Zusammensetzung und in der ideologischen Ausrichtung der SPÖ zu einer Volkspartei ist in diesem Zusammenhang trotzdem bemerkenswert, wobei das im allgemeinen sozialdemokratischen Verständnis keine Abwendung von den „Arbeitern“, sondern eine zusätzliche Hinwendung zu anderen Schichten der Bevölkerung, besonders zu „Angestellten“, kleinen Selbständigen (z. B. „Ein-Personen-Unternehmen“) oder der großen Klientel an PensionistInnen bedeutet. In diesem Sinn stellt die SPÖ in ihrem Grundsatzprogramm die eigene Entwicklung „von einer Partei der Arbeiter zu einer Partei aller arbeitenden Menschen“ fest und tritt für eine „wirksame Vertretung der Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch starke und überparteiliche GEWERKSCHAFTEN“ ein (7).

Historisch können wir eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der SPÖ beobachten, die wir als „Verbürgerlichung“ der sozialdemokratischen Partei bezeichnen. Mit diesem Prozess geht die Aufweichung der organischen Verbindung zur ArbeiterInnenklasse und eine zunehmende Abwendung von Teilen des Proletariats von der Partei einher. Schaffen sich die ArbeiterInnen keinen alternativen politischen Ausdruck, muss die fortschreitende Verbürgerlichung der reformistischen Partei als Spiegelbild der fortschreitenden Schwächung der ArbeiterInnenbewegung als solcher verstanden werden. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hört auf, eine reformistische Partei zu sein, wenn die besondere organische Verbindung zur ArbeiterInnenklasse abbricht und zur Nebensache wird, wenn die quantitative also in eine qualitative Veränderung umschlägt. Trotz ihrer historischen Schwäche und ihrer Versuche einer soziologischen Verbreiterung scheint uns, dass dieser Punkt in der Entwicklung der SPÖ noch nicht eingetreten ist. Wir glauben auch nicht, dass eine solche qualitative Veränderung vollkommen bruchlos vollzogen werden kann oder das österreichische Großbürgertum an einer offen bürgerlichen SPÖ besonders interessiert wäre, wenn diese ihre Funktion als Transmissionsriemen bürgerlicher Politik in die organisierte ArbeiterInnenbewegung hinein dadurch einbüßt. Auf jeden Fall bedroht der fortgeschrittene Verbürgerlichungsprozess die Existenz der SPÖ als bürgerliche ArbeiterInnenpartei selbst. Eine Umkehr dieses Prozesses, das heißt eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zur proletarischen Basis, wird nicht ohne weiteres, sondern – wenn überhaupt – nur unter dem Eindruck heftiger Klassenkämpfe geschehen können.

Historischer Abriss des Niedergangs

Der schleichende Niedergang der österreichischen Sozialdemokratie steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Entwicklung des österreichischen Kapitalismus. Umgekehrt konnte sich die SPÖ nach dem Zweiten Weltkrieg drei Jahrzehnte lang stärken. Dabei profitierte sie von der großen Bedeutung der verstaatlichten Industrie und dem Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg, der eben bis in die 1970er Jahre anhielt. Vor diesem ökonomischen Hintergrund konnte die Sozialdemokratie bedeutende Reformen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse durchsetzen und den Großteil der Klasse selbst für die sozialdemokratische Politik gewinnen. Sie integrierte die österreichische ArbeiterInnenbewegung vollständig in das System der Sozialpartnerschaft, in dem der offene Klassenkampf einer institutionalisierten Klassenkollaboration Platz machte. Die reformistische Bürokratie suchte die Aussöhnung mit der KapitalistInnenklasse, die sich wiederum durch ihre ökonomische und politische Schwäche nach dem Krieg auf Kompromisslösungen einlassen musste. Noch heute, obwohl die KapitalistInnen kaum mehr zu Kompromissen bereit sind, versucht die SPÖ an ihrem sozialpartnerschaftlichen Kurs festzuhalten. Immerhin war die Politik der Sozialpartnerschaft ganz im Sinne der sozialdemokratischen Funktionärskaste: Die Bürokratie sollte sich um Lösungen kümmern, ungestört von der passivierten Partei- und Gewerkschaftsbasis. Die Aktivität in den Ortsgruppen wurde langsam ausgetrocknet, die Repräsentationswahlen zur staatlichen und betrieblichen Mitbestimmung wurden zum Höhepunkt des politischen Engagements und das niedrige Ausmaß an Streikmaßnahmen wurde als Erfolg gefeiert – nun lastet diese eingeübte politische Unkultur wie ein Alp auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse.

Ab Mitte der 1970er Jahre glitt auch die österreichische Wirtschaft in eine Phase der Stagnation. Konnten die Regierungen Kreiskys (1970 – 83) Anfang der 1970er Jahre in der Beschäftigungspolitik noch stark von der guten Konjunktur profitieren, musste Kreisky ganz im Sinne keynesianistischer Wirtschaftspolitik das staatliche Defizit ausbauen. Seit Anfang der 1980er Jahre kann man ein stetiges Sinken der bereinigten Lohnquote (8) feststellen (9). 1982 geriet die verstaatliche Industrie in die Krise, der Staat brauchte Geld und ein Jahr darauf verlor die SPÖ die absolute Mehrheit. Nachfolger Fred Sinowatz begründete daraufhin sogar die „kleine Koalition“ mit der FPÖ unter Norbert Steger, die erst mit der Parteiübernahme durch Jörg Haider ihr Ende fand. In der 1980er-Bewegung schuf die SPÖ-Politik, zum Beispiel beim geplanten Kernkraftwerk in Zwentendorf oder dem Kraftwerksbau in der Hainburger Au, neue FeindInnen: die wachsende Ökologie-Bewegung. Wenig später fuhr der oberösterreichische staatliche Stahlkonzern VOEST mit der internationalen Stahlkrise und durch Spekulationsgeschäfte einen Rekordverlust von 25 Milliarden Schilling ein. Der Konzern wurde in weiterer Folge umstrukturiert, das Personal reduziert und bis 1995 teilprivatisiert. Auch der „Glykolwein“-Skandal und die Korruption rund um den Neubau des Wiener AKH erschütterten Mitte der 1980er Jahre die SPÖ. Nicht zuletzt der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die gestiegene Unsicherheit unter frustrierten ArbeiterInnen ermöglichte der demagogischen und offen rassistischen FPÖ einen Einbruch in die Kernschichten der Klasse.

Mit der Jahrtausendwende stand die SPÖ mit einem Drittel der Stimmen an einem historischen Tiefpunkt. Das Kapital, politisch in erster Linie repräsentiert durch die ÖVP, nutzte die Gelegenheit, um die Sozialdemokratie von der politischen Macht auszuschließen. Da der Koalitionskompromiss mit der SPÖ nicht mehr notwendig war, versuchte sich die Regierung von den einengenden Institutionen der Sozialpartnerschaft zu befreien. Die bisher so wichtige Paritätische Kommission (10) verlor ihre praktische Bedeutung. Mit dem Tag der Angelobung der FPÖ-ÖVP-Regierung rollten Massenproteste gegen die sogenannte Bürgerblockregierung durch Österreich. Nun wurden staatliche Unternehmen (teil-)privatisiert, Studiengebühren eingeführt, die Pensionen massiv gekürzt und korrupte Geschäfte geführt. Erst durch diese Phase der Opposition gegen eine Reihe von Angriffen auf Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse konnte die SPÖ einen bescheidenen Wiederaufstieg hinlegen.

Die baldige Fortsetzung des Niedergangs war allerdings wenig verwunderlich als die Sozialdemokratische Partei unter Alfred Gusenbauer eine neue Koalition mit der ÖVP einging und darin alle ihre Wahlversprechen brach, insbesondere die geforderte Abschaffung der Studiengebühren und den Ausstieg aus dem Eurofighter-Kaufvertrag. In diese Zeit fällt ebenso die Aufhebung der bis heute nicht wieder eingeführten Erbschaftssteuer durch den Verfassungsgerichtshof.

Seit Mitte der 1970er Jahre war der österreichische Kapitalismus von schwachem Wachstum und Stagnation geplagt. In den 1980er Jahren hat sich mit den neoliberalen Offensiven in Großbritannien und den USA die Konkurrenz am Weltmarkt verschärft. Dieser Trend beschleunigte sich ab den 1990er Jahren durch eine umfassende Phase der Globalisierung. Diese Faktoren, durch die der Spielraum für Kompromisse mit dem Kapital immer geringer wurde, sind die Ursachen für den langsamen Niedergang der Sozialdemokratie. Sie bedeuten immer geringere Möglichkeiten, mittels reformistischer Politik die ArbeiterInnenklasse in das kapitalistische System zu integrieren. Stattdessen tritt in den fruchtlosen Regierungsbeteiligungen immer offener politisches Versagen oder direkter Klassenverrat hervor, gerechtfertigt mit neoliberalen, nationalistischen und sogar rassistischen Argumenten . Teile der ArbeiterInnenklasse, insbesondere die gewerkschaftlich unorganisierten, fühlen sich nicht mehr von der Sozialdemokratischen Partei vertreten, die noch dazu als Repräsentantin des herrschenden Systems betrachtet wird. Dieser politische Bruch findet aber nicht aus einer klassenbewussten Kritik am Reformismus statt, das Gegenteil ist der Fall. Das Fehlen einer glaubhaften politischen und sozialen Perspektive für die ArbeiterInnenklasse bis hinein in ihre Kernschichten hat zu Demoralisierung und einem Rückgang des Klassenbewusstseins geführt – auch innerhalb der Partei, wo sich der bürgerliche Einfluss stärken konnte.

Die Ära Faymann

Werner Faymann wird der österreichischen Geschichte als der Kanzler in Erinnerung bleiben, der das Land durch die für Österreich schwersten Jahre der Weltwirtschaftskrise führte, nämlich 2009 und 2010. Von bürgerlicher Seite wird man ihm dabei auch viel Gutes nachsagen, von proletarischer Seite wird er jener SPÖ-Chef sein, der die traditionelle ArbeiterInnenpartei in ihre größte Krise in der II. Republik führte und der aus „zu geringem Rückhalt“ in der eigenen Partei zurücktreten musste (11). Er ist das Aushängeschild einer Politik, die die SPÖ so weit in die Krise führte, dass in den Medien sogar die Frage einer Parteispaltung gestellt wurde. Wie hat diese Politik also ausgesehen und wie unterscheidet sie sich von der jetzigen?

Nachdem Vizekanzler Wilhelm Molterer (ÖVP) die Koalition unter Alfred Gusenbauer (SPÖ) aufkündigte, kam es 2008 zu Neuwahlen, in denen der vormalige Infrastrukturminister Faymann den ersten Platz der SPÖ, mit 6 Prozentpunkten Stimmverlusten, verteidigte und eine Neuauflage der Großen Koalition einleitete. Zu dieser Zeit profitierte die Sozialdemokratie noch von dem gestiegenen Klassenbewusstsein aus der Zeit der schwarz-blauen Koalition 2000 – 2006, die für eine Welle an Privatisierungen, Korruptionsskandalen und für Sozialabbau steht. Im Wahlkampf versuchte sich Faymann mit einem Fünf-Punkte-Programm zum Teuerungsausgleich zu profilieren. Vier Maßnahmen konnte er im Parlament durchsetzen: Teilabschaffung der Studiengebühren, Erhöhung des Pflegegeldes, Verlängerung der „Hackler“regelung (12) und die Erhöhung der Familienbeihilfe durch eine 13. Auszahlung. Die geforderte Halbierung der Mehrwertsteuer wurde nur in Bezug auf Medikamente angenommen, in Bezug auf Lebensmittel wurde der Antrag der SPÖ mit den Stimmen von ÖVP, BZÖ und Grünen dem Finanzausschuss zugewiesen (13). Darüber hinaus sprach sich Faymann wiederholt für Vermögenssteuern aus, insbesondere für die Wiedereinführung der Erbschafts- und der Schenkungssteuer. Dementsprechend wurde der neue Kurs nach Gusenbauer durchaus als Linksruck der SPÖ interpretiert. Auch integrierte Faymann mit Rudolf Hundstorfer als Sozialminister wieder die Gewerkschaften in die Regierung, von denen sich Alfred Gusenbauer abheben wollte.

Aber die weitere Entwicklung zeigt, in welchem Interesse eine Regierung im Kapitalismus tatsächlich handeln muss. Das Kabinett Faymann I war von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt. Nach der Insolvenz der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers schlitterte die österreichische Wirtschaft im Jahr 2009 in die Rezession. Betriebe fuhren die Produktion zurück, viele LeiharbeiterInnen wurden entlassen, eine Kreditklemme drohte. Faymann versuchte mit Konjunkturpaketen und Bankenrettung die Wirtschaft am Laufen zu halten, die Integration der Gewerkschaften sicherte ihm unter „Abwendung der Härtefälle“ die Unterstützung dieser Politik auf Kosten der ArbeiterInnenklasse. Die Regierung reagierte mit einer Kurzarbeitregelung, die zwar den Anstieg der Arbeitslosigkeit dämpfte, aber einen Teil der Lohnkosten von den Unternehmen auf den Staat und somit auf die Gesamtbevölkerung übertrug. Mit dem Konjunkturpaket I („Mittelstandmilliarde“) sollten kleine und mittlere Unternehmen an billige Kredite kommen, das Konjunkturpaket II, mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro, sah im Wesentlichen Investitionsanreize und Infrastrukturinvestitionen vor (14). Schon 2008, vor der Neuauflage der Koalition, wurde ein Bankenhilfspaket im Umfang von 100 Mrd. Euro geschnürt und in weiterer Folge von allen großen Banken in Anspruch genommen. Kommunalkredit und Hypo Alpe Adria mussten notverstaatlicht werden und die ÖVAG (Volksbank) zum Teil (15). Durch diese wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen schnellte die Staatsverschuldung bedrohlich in die Höhe. Als Reaktion folgten zwei Sparpakete. Für das Jahr 2011 wurden Einsparungen in der Höhe von 1,4 Mrd. Euro und Steuererhöhungen von 1,2 Mrd. Euro beschlossen (16). Anfang 2012 folgte die nächste Sparrunde, diesmal ging es um 26,5 Mrd. Euro durch 70 % weniger Ausgaben und 30 % neue Steuern bis ins Jahr 2016 (17).

Bei den Nationalratswahlen im September 2013 musste die SPÖ weitere Verluste von 2,44 Prozentpunkten hinnehmen, blieb aber weiterhin die stärkste Kraft. Trotz der historisch schlechtesten Ergebnisse für die traditionellen Großparteien konnten Rot und Schwarz die Mandatsmehrheit im Nationalrat halten. In ihrem Wahlkampf titulierte sich die SPÖ als „Partei der Arbeit“ und setzte auf die Themen leistbares Wohnen, faire Löhne und Verteilungsgerechtigkeit.

Bei der Weiterführung der Großen Koalition erzeugte die Eingliederung des Wissenschaftsministeriums in das Wirtschaftsministerium besonders unter Studierenden Unmut, die SPÖ nahm das Manöver der ÖVP allerdings widerspruchslos hin. Unmut gab es auch über das „Auftauchen“ eines Budgetlochs in der Höhe von 24 Milliarden Euro bis 2018. Die Ministerien sollten nun 500 Millionen einsparen, trotzdem gab es eine Erhöhung der Familienbeihilfe und die Gratis-Kinderzahnspange. Die weitere Feststellung, dass die Notverstaatlichung der Hypo Alpe Adria den Staat bis zu 18 Milliarden Euro kosten könnte, bestimmte daraufhin die öffentliche Debatte (18).

Das größte Projekt der Regierung Faymann II war wohl die Steuerreform. Mit der Kampagne „Lohnsteuer runter!“ erarbeitete der ÖGB ein Lohnsteuerreform-Konzept im Ausmaß von sechs Milliarden Euro Entlastung, welches die SPÖ aufgriff. Mit der Kampagne bewies die Gewerkschaft, wozu sie eigentlich in der Lage ist, wenn sie ansatzweise für die Anliegen der Arbeitenden mobilisiert. Für die Lohnsteuersenkung hatte sie beinahe 900.000 Unterschriften gesammelt und eine Konferenz von BelegschaftsvertreterInnen mit 5.000 Teilnehmenden organisiert. Zusätzlich positionierte sie sich mit einer Gegenfinanzierung durch vermögensbezogene Steuern. Das von der Regierung erzielte Ergebnis war hingegen ernüchternd. Der Kompromiss der ÖVP sah eine Entlastung um 4,9 Milliarden Euro vor, sowie die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 25 %, vermögensbezogene Steuern waren de facto nicht enthalten. Die Entlastung stieg mit höherem Einkommen bis zur Grenze von 117.000 Euro, entlastete also durchaus so manche Reiche. Mit der Registrierkassenpflicht wurden vor allem kleine Betriebe belastet und die Gegenfinanzierung der gesamten Reform wurde zu einer Augenwischerei, die sich letztlich die Arbeitenden zu einem guten Teil selbst zahlen müssen (19). Die Steuerreform war also nicht nur ein Beweis der gewerkschaftlichen Stärke, sondern auch der Hemmung der gewerkschaftlichen Aktivität durch die bürokratische Kontrolle der SPÖ und der Unmöglichkeit, in der Koalition mit der ÖVP eine Politik im Interesse der ArbeiterInnen zu betreiben.

Insgesamt musste die Partei bei 18 von 20 Wahlen (die letzte Präsidentschaftswahl nicht mitgezählt) Stimmenverluste hinnehmen (20). Schon unter Alfred Gusenbauer hatte die Sozialdemokratie sechs Prozentpunkte abgebaut, Verluste im selben Ausmaß gehen nun auf das Konto Werner Faymanns. Dieser Niedergang ging deutlich langsamer vor sich. Einerseits hatte Gusenbauer ja so gut wie alle Wahlversprechen gebrochen, andererseits vollzog sich die Abwendung von der Sozialdemokratie bei Faymann wohl in stärkerem Ausmaß unter StammwählerInnen als noch bei Gusenbauer.

Der Rechtsruck in der Partei

In Faymanns Amtszeit fällt mit dem Jahr 2015 auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“, eine größere Fluchtbewegung, bei der mehr als eine Millionen Menschen, fast die Hälfte davon aus Syrien, über das Mittelmeer in die Europäische Union kamen. Während Faymann noch unter dem Eindruck einer überwältigenden Flüchtlings-Solidaritätsbewegung über den Sommer Hilfsbereitschaft signalisierte und sich für gesamteuropäische statt nationalistische Maßnahmen einsetzte, änderte sich seine Haltung gegen Ende des Jahres. Der Reihe nach griff ÖVP-Innenministerin Mikl-Leitner Forderungen der FPÖ auf, Faymann gab nicht nur nach, sondern änderte seine Haltung selbst. Immer weiter wurden Grenzkontrollen eingeführt und ausgebaut. In Spielfeld, beim Grenzübergang zu Slowenien, wurde das Tabu „Grenzzaun“ gebrochen, aus den vorgeschlagenen 25 Kilometern Länge wurde allerdings ein unsinniger Kompromiss mit 3,7 Kilometern und offenem Übergang, allein die Anmietung des Zauns kostet pro Halbjahr 330.000 Euro (21). Der islamistische Terroranschlag mit 130 Toten am 13. November 2015 und die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 in Köln, an denen mehrheitlich Männer mit nordafrikanischem und arabischem Hintergrund beteiligt waren, führte zu einem breiten, rassistischen Diskurs in der Flüchtlingsfrage. In weiterer Folge wurde die Kandidatur von Sozialminister Hundstorfer für das Präsidentschaftsamt im Jänner zum Anlass einer Regierungsumbildung genommen, bei der Verteidigungsminister Gerald Klug, der sich über den Grenzzaun skeptisch geäußert hatte, durch den burgenländischen Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil ersetzt wurde – ein klarer Repräsentant des rechten Parteiflügels. Nicht zu Unrecht bezeichnete die Tageszeitung „Profil“ den neuen Verteidigungsminister als „rote Mikl-Leitner“: Immer wieder kritisierte er die Bundesregierung von rechts, forderte raschere Abschiebungen, den Ausbau von Grenzkontrollen (z. B. am Brenner), propagierte „Rückführungen“ von Flüchtlingen in Militärmaschinen und schlug vor, dass Asylanträge nur noch außerhalb der EU gestellt werden sollen („Asylzentren in Nordafrika“). Ende Jänner einigte sich die SPÖ dann mit der ÖVP auf eine Obergrenze von 37.500 Asylanträgen für das Jahr 2016. In weiterer Folge einigten sich die Regierungsparteien auf eine Asylnovelle, mit der das Aufenthaltsrecht auf drei Jahre befristet („Asyl auf Zeit“), der Familiennachzug erschwert und eine „Notfallverordnung“ beschlossen wurde (22). Mit diesem Gesetz kann die Regierung, wenn sie die „öffentliche Sicherheit und innere Ordnung“ bedroht sieht, das Asylrecht de facto aushebeln und Flüchtlinge an der Grenze abweisen (23).

Dieser Rechtsruck in der Asylpolitik stieß bei vielen SPÖ-Mitgliedern, Mitgliedern der Jugendorganisationen (VSSTÖ, SJ) und WählerInnen auf starke Ablehnung. Schließlich führte das am 1. Mai, nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, zum offenen Ausbruch des Konflikts zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen des Faymann-Kurses.

Das Verhältnis zur FPÖ

Der Streit um den Parteikurs drehte sich nicht ausschließlich um die Haltung in der Asylpolitik, auch wenn diese eindeutig im Vordergrund stand. Ausgelöst wurde der Konflikt allerdings durch den Wahlsieg Norbert Hofers in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, während Rudolf Hundstorfer auf dem vorletzten Platz landete. Dieses Ergebnis war für die SPÖ nicht nur schockierend, es strafte den Rechtsruck Lügen: Die Parteiführung hatte sich angesichts der nach rechts gehenden Stimmung in der Bevölkerung mit einer verschärften Asylpolitik größere Zustimmung erwartet, das Wahlergebnis zeigte aber, dass die FPÖ-WählerInnen lieber das rassistische Original wählten, während sich AntirassistInnen abgestoßen fühlten und sich dem Grünen Van der Bellen zuwandten. Die SPÖ hatte sich also in der Flüchtlingsthematik zwischen die Stühle gesetzt und war dadurch hart am Boden der Realität aufgeschlagen.

Hinter dem Rechtsruck der SPÖ steckt aber nicht nur eine opportunistische Anbiederung an die verschärfte rassistische Grundstimmung. Die SPÖ möchte sich die Option einer Zusammenarbeit mit der FPÖ gegen die ÖVP offenhalten und versucht die politische Kluft zu den Blauen zu verkleinern. Die Taktik ist aus reformistischer Logik nur folgerichtig: Wer die Koalition mit bürgerlichen Parteien zum Bestandteil der politischen Strategie zählt, ist gezwungen zwischen diesen zu taktieren oder sich unterzuordnen. Nachdem die SPÖ weder in der Lage ist eine Alleinregierung noch eine Minderheitsregierung zu bilden, muss sie sich die Frage stellen, wie sie der Erpressung der ÖVP mit der Option Schwarz-Blau entgehen kann. Die richtige Antwort wäre natürlich die Änderung der Strategie vom parlamentarischem Koalitionskurs hin zu der des oppositionellen Klassenkampfs. Für die SPÖ lautet die Antwort aber Rot-Blau, auch wenn das bisher nur Teile der Partei, wie etwa der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl oder ÖGB-Präsident Erich Foglar, offen ansprechen.

Der sozialchauvinistische Asylkurs

MarxistInnen, AntirassistInnen und linke SozialdemokratInnen sollten aber nicht ihre Augen vor dem Ausmaß der Zustimmung zu dem rechts-sozialdemokratischen Kurs innerhalb der Partei verschließen. Anfang Februar gab der SPÖ-Bundesgeschäftsführer Gerhard Schmid das Ergebnis einer partei-internen Umfrage bekannt, in der sich (von 11.000 Befragten) 65,34 % für den sogenannten „Richtwert“ (Obergrenze) aussprachen (24). Zusätzlich gab es auch mehrheitlich Zustimmung zu weiteren diskriminierenden Maßnahmen wie etwa der Umstellung von Geld- auf Sachleistungen in der Grundversorgung von Flüchtlingen. Auch das ist typisch für reformistische Politik, für die Internationalismus (25) eine leere Tradition ist. Genau wie ein Betriebsrat Angriffe auf einen anderen Standort unter der Bedingung hinnehmen kann, dass die Beschäftigten des eigenen Standorts verschont bleiben, bedeutet diese Standortpolitik auf nationaler Ebene die Unterstützung des „eigenen“ Kapitals auf Kosten des ausländischen. Ähnlich ist es in der Flüchtlingspolitik, wenn die Solidarität mit den Geflüchteten, ihre Versorgung, Unterbringung und Integration in den Arbeitsmarkt nicht aus den Profiten der KapitalistInnen finanziert wird und der Reformismus die „heimische“ ArbeiterInnenklasse stattdessen in eine unheilige Allianz mit dem Kapital gegen die Geflüchteten führt.

MarxistInnen erkannten die fatalen Fehler einer solchen Politik sozialdemokratischer Parteien, die sie als „Sozialchauvinismus“ bezeichneten, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zeigten auf, wie diese Fehler, als logische Schlussfolgerung, zur Unterstützung der nationalen Kriegsbestrebungen im Ersten Weltkrieg führten. Die Bolschewiki, die in Russland schon früh mit dem opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie gebrochen hatten, zählten sich zur äußersten Opposition gegen diesen Verrat an der internationalistischen ArbeiterInnenbewegung. Im Text „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ charakterisierte W. I. Lenin den Sozialchauvinismus wie folgt:

„Die Klassengrundlage des Sozialchauvinismus und des Opportunismus ist dieselbe: das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer‘ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse. Der politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist derselbe: Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht auf die revolutionäre Aktion, bedingungslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Misstrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber.“ (26)

Dass diese Charakterisierung auch auf die Asylpolitik der Sozialdemokratischen Partei zutrifft wird klar, wenn man die große Mehrheit der Flüchtenden im weiteren Sinn zur ArbeiterInnenklasse zählt. Nicht nur, dass viele von ihnen in ihren Herkunftsländern selbst LohnarbeiterInnen waren, zu ärmeren oder zu bäuerlichen Schichten der Bevölkerung gehörten, d. h. zu den unterdrückten Klassen, der Großteil von ihnen wird in den imperialistischen Zentren zu einer Tätigkeit in den unteren Reihen der ArbeiterInnenklasse gezwungen sein. Wann und in welcher Form Flüchtlinge ihre Ware Arbeitskraft am Arbeitsmarkt verkaufen müssen, hängt selbstverständlich von der spezifischen nationalen Gesetzeslage ab. Vom internationalistischen Standpunkt aus muss sich die ArbeiterInnenklasse im Fall scharfer sozialer Krisen auf die Solidarität der ArbeiterInnen aus anderen Ländern verlassen können. Umgekehrt müssen ArbeiterInnen alle Bestrebungen scharf zurückweisen, die Notleidende zu Sündenböcken machen. Dabei geht es nicht um abstrakte Menschenwürde, sondern um eine Absage an nationalistische Antworten auf Krisenerscheinungen des Kapitalismus in seinem imperialistischen (27) Stadium, die den Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat verschleiern. Um ökonomische Spaltungsmechanismen zu verhindern, kann eine Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt erstens keine ökonomisch sinnvolle Option sein, zweitens würde das zu einer entrechteten und ghettoisierten Bevölkerungsschicht führen. Flüchtlinge und MigrantInnen müssen also gegenteilig in die ArbeiterInnenbewegung integriert und am Arbeitsmarkt gleichgestellt werden. Die nationalistische und rassistische Gefahr einer verschärften ökonomischen Spaltung der Gesamtklasse durch die Bourgeoisie anhand von Migration macht die Flüchtlingsfrage zu einem Grundthema des ideologischen, politischen und ökonomischen Klassenkampfs. Migration und Flucht nicht vom Standpunkt der internationalen ArbeiterInnenklasse zu betrachten, sondern vom Standpunkt einer nationalen, ist das Einfallstor für sozialchauvinistische Fehler.

Ein linker Flügel?

In der Vergangenheit gab es schon mehrere Versuche einen organisierten linken Flügel in der SPÖ aufzubauen, bisher haben diese Projekte allerdings keinen nachhaltigen Erfolg verbuchen können. Seit einiger Zeit läuft ein solcher Versuch rund um den Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler. Gemeinsam mit Erich Fenninger (Bundesgeschäftsführer der Volkshilfe), Julia Herr (Vorsitzende der Sozialistischen Jugend) und Christian Buchinger (Betriebsratsvorsitzender und selbst ernannter „Revoluzzer“ (28)) wurde die Plattform „Kompass“ gegründet. Mithilfe dieser soll die SPÖ wieder „auf Kurs“ gebracht werden, das heißt die „historische Aufgabe als Interessensvertretung arbeitender Menschen ( … ) in die Jetztzeit zu bringen“, dabei sei die Beseitigung sozialer Ungleichheit die „vorrangigste Aufgabe“. In der Migrations- und Asylpolitik wirft der „Kompass“ der eigenen sozialdemokratischen Bewegung vor, „vor lauter Angst unter dem Tisch“ zu sitzen und fordert eine Orientierung am Humanismus. Diese Floskeln zeigen vor allem, dass die Plattform keinen Bruch mit dem Reformismus der SPÖ einfordert und auch kein gemeinsames Programm für eine Veränderung der Partei bietet. Nach eineinhalb Monaten soll die Initiative zwar schon 1.000 UnterstützerInnen gesammelt haben (29), seither hat sie aber kaum etwas getan um diese zu organisieren und ihnen eine Perspektive zu geben. Fiona Kaiser (Vorsitzende der SJ-Oberösterreich), die den „Kompass“ ebenfalls unterstützt, bestätigt diese Einschätzung in einem Interview:

„Beim ‚SPÖ-Rettungskongress‘ ( … ) wurde diese Initiative gegründet – ohne klar und deutlich ihr Programm oder ihre Zusammensetzung definiert zu haben. ( … ) Wir haben also einfach einen ersten offenen Kompass-Kongress nach den Landtagswahlen organisiert (mit etwa 150 TeilnehmerInnen) und dort eine gemeinsame Stellungnahme zum Wahlergebnis und unseren Ableitungen für die SPÖ verabschiedet.“ (30)

In dem einen Jahr ihrer Existenz ist die Initiative „Kompass“ nicht über Oberösterreich hinausgekommen. Erst Anfang Juli 2016 wurde ein österreichweiter Kongress in Wien organisiert. Warum aber der „Kompass“ von nun an erfolgreicher sein soll als in der Vergangenheit, ist auch ein Monat nach diesem Kongress nicht klar.

Bei der Betrachtung der Initiative „Kompass“ drängt sich die Frage auf, welches Potential linksoppositionelle Politik in der SPÖ eigentlich bietet. Klar ist jedenfalls, dass wir zu den sozialdemokratischen Linken große Teile der Sozialistischen Jugend, des Verbands Sozialistischer StudentInnen und die UnterstützerInnen der Initiative „Kompass“ zählen können. Eine Presseaussendung (31) der Sozialistischen Jugend vom 25. Juni 2016 lässt darüber hinaus einen kleinen Einblick in die Zusammensetzung und in die Denkweise einiger dieser Leute aus der SPÖ selbst zu. Mehr als 100 Unterzeichnende – darunter Babler, Herr und Buchinger – stellen sich darin hinter die Argumente des neuen SPÖ-Vorsitzenden Christian Kern zu Arbeitszeitverkürzung, Wertschöpfungsabgabe und Integration und fordern eine Demokratisierung der Partei. Damit ist auch klar, dass sie sich vorerst hinter den neuen Parteichef stellen anstatt sich oppositionell zu positionieren. Julia Herr von der Sozialistischen Jugend macht diese Vorgehensweise in einer eigenen Presseaussendung (32) klar, in der sie sagt:

„Der Wechsel an der Parteispitze muss jetzt dringend dafür genutzt werden, die SPÖ inhaltlich und organisatorisch neu aufzustellen. ( … ) Wir brauchen Sofortmaßnahmen gegen die steigende Arbeitslosigkeit, Wohnkosten und die wachsende soziale Schieflage. Die Sozialdemokratie muss wieder glaubwürdig auf der Seite der arbeitenden Menschen stehen und eine Perspektive für eine andere Politik vermitteln.“

Die Politik Christian Kerns und die Haltung, die Partei-Linke zu ihm einnehmen sollten, wird an anderer Stelle noch untersucht werden, an dieser Stelle reicht es zu sagen, dass Kern keineswegs sonderlich links ist. Im Gegenteil, bisher hat er den Kurs von Faymann in den wesentlichen Aspekten mit einer anderen Rhetorik fortgesetzt. Angesichts dessen drängt sich SozialistInnen die berechtigte Frage auf, ob die sozialdemokratischen Linken überhaupt „wirklich links“ sind.

Hanna Lichtenberger und Martin Konecny, beide ehemals in sozialdemokratischen Jugendorganisationen aktiv und nun in der Initiative „Aufbruch“ (33), gehen sogar so weit, den innerparteilichen Konflikt als eine Auseinandersetzung zwischen einem liberalen und einem rechten Flügel zu charakterisieren. Natürlich drehte sich die Auseinandersetzung rund um Faymanns Politik vorrangig um das Ausmaß sozialchauvinistischer Ausrichtung und war keineswegs ein Kampf zwischen einem unverfälscht-internationalistischen Pol auf der einen und einem sozialchauvinistischen Pol auf der anderen Seite.

Dennoch können wir dem „rebellischen“ Teil der SPÖ nur bedingt eine klassisch bürgerlich-liberale Positionen unterstellen, würden Konecnys/Lichtenbergers Stellungnahmen in diesem Sinn als „sozial-liberal“ einschätzen. In der SPÖ existiert nicht in dem Sinne ein „linker Flügel“, dass Teile der Partei gegen die Klassenzusammenarbeit und um die Bundesführung kämpfen würden. Auch gibt es eher diffuse Netzwerke von „KritikerInnen“ als feste und schlagkräftige Strukturen; einer bürokratisierten Partei angemessen arbeiten diese in erster Linie über Absprachen und Interventionen im Parteiapparat, nicht über demokratische Instanzen, die die Parteibasis miteinbeziehen. Der Konflikt zwischen Faymann-KritikerInnen und der Parteispitze sowie den RechtsauslegerInnen (im Burgenland und an der ÖGB-Spitze) machten aber einen offenen Konflikt zwischen diffusen, aber sich gegenüberstehenden Polen sichtbar.

Regierungsneustart

Nach der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen und den Spannungen am 1. Mai war die Krise der SPÖ in aller Munde. Befeuert wurde das durch öffentliche Unmutsäußerungen aus der eigenen Partei. So äußerte sich Salzburgs SPÖ-Chef Walter Steidl „optimistisch, dass es in Wien beim Bundesparteivorstand eine Mehrheit für den Rücktritt von Werner Faymann geben wird“ (34). Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Bau-Holz und Nationalratsabgeordnete Josef Muchitsch sagte „Werner, bitte lass los!“ (35). Offenbar hatte der Kanzler versucht die Probleme auszusitzen, der Druck in der Öffentlichkeit, und damit in den eigenen Reihen, wurde aber zu groß.

Eine ernsthafte Debatte um die Ausrichtung der Partei wurde dennoch nicht geführt. Für die Nachfolge von Faymann wurden real nur zwei Personen gehandelt: Christian Kern und Gerhard Zeiler. Christian Kern startete als Wirtschaftsjournalist, machte es zum Büroleiter und Pressesprecher des SPÖ-Klubs und wechselte danach in die Privatwirtschaft zur Verbund AG, wo er Geschäftsführer und später Vorstandsmitglied wurde. Gerhard Zeiler war in den 1980er Jahren Pressesprecher von Fred Sinowatz und später von Franz Vranitzky. Danach wurde er Generalsekretär des ORF und von da an Geschäftsführer bei Tele5, dann RTL II, dann Generalintendant, wieder beim ORF, schließlich CEO der RTL Group und 2012 Präsident des Konzerns „Turner Broadcasting System International“ (Teil des Time-Warner-Konzerns). Neben den beiden Managern gab es keine Alternative, die diskutiert wurde, und erst recht keinen linken Kandidaten. Diese Tatsache zeigt. wie schwach die linken Kräfte in der SPÖ und besonders in der oberen Bürokratie sind. Es zeigt sich auch dass diejenigen, die sich als die „Parteilinken“ präsentieren, schnell Ruhe geben wenn ihnen ein Parteivorsitzender vorgelegt wird der sich zumindest als modern und linkliberal präsentiert.

Der neue SPÖ-Chef Christian Kern ist nichts anderes als ein klarer Kandidat des politischen Zentrums, ein scheinbarer Anti-Funktionär, der die Krise der SPÖ technokratisch überwinden soll. Er ist Kapitalist – aber aus dem verstaatlichten Bereich. Er ist kein Repräsentant des rechten Flügels, aber auch nicht besonders links. Er will keine Lobbypolitik betreiben, aber auch nicht gegen die Gewerkschaft regieren. Er will keine schlechten Kompromisse, aber auch keinen Stillstand in der Regierung. Die Asylpolitik Faymanns setzt er ungebrochen fort, aber er spricht sich für Menschlichkeit aus. Kern möchte die Investitionsbereitschaft und die Forschung stärken, aber auch die Kaufkraft. Er kündigt einen New Deal an, um Stagnation und Arbeitslosigkeit gleichzeitig zu überwinden. Kern sucht in allen wichtigen Fragen die Mitte, hat für alle Seiten etwas übrig – messen kann man ihn also nur an seinen Taten.

Auch wenn Christian Kern auf einen „neuen Stil“ setzt und sich pragmatisch und modern inszeniert, ist seine Politik, wie schon erwähnt, in den wesentlichen Aspekten schlichtweg die Fortsetzung des bisherigen Kurses. Das ist wenig verwunderlich, beispielsweise scheint die ÖVP die Fortsetzung des Asylkurses zur Bedingung für die weitere Zusammenarbeit gemacht zu haben. Dennoch versucht Kern gleichzeitig die Rechten und die Linken in der Partei zu befrieden, indem er beispielsweise in seiner Rhetorik die „Integration“ von AsylwerberInnen gegenüber Sanktionsmaßnahmen betont. In diesem Sinn einigte sich die Regierung auf ein „Integrationspaket“, mit dem man AsylwerberInnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wolle (36). Öffentliche Akteure sollen nun Asylwerbende für maximal 110 Euro im Monat zu Hilfsjobs anstellen – eine Maßnahme, die AsylwerberInnen allerdings zu überausgebeuteten HilfsarbeiterInnen macht. Anfang Juli wurde im Nationalrat die sogenannte Ausbildungspflicht für Jugendliche beschlossen, laut der Jugendliche unter 18 Jahren eine Ausbildung über den Pflichtschulabschluss absolvieren müssen. Eine solche erweiterte „Schulpflicht“ ist prinzipiell positiv, fraglich ist natürlich ob eine Ausbildungsgarantie unter Wahlfreiheit gewährleistet werden kann. Das große Problem an der Ausbildungspflicht ist aber, dass die Regelung – auf Druck der ÖVP – nicht für AsylwerberInnen gilt. Ungelernte Arbeit wird somit zukünftig in erster Linie von MigrantInnen erledigt. Die Abtauschpolitik, als die sich Kerns „neuer Stil“ langsam entpuppt, ist im Fall der Bankenabgabe am offensichtlichsten. Statt 650 Millionen Euro zahlen die Banken ab 2017 jährlich nur mehr 100 Millionen. Zusätzlich zahlen sie einen einmaligen Abschlag in der Höhe von einer Milliarde Euro, von der 750 Millionen in den Ausbau von Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägiger Betreuung fließen, 100 Millionen an Fachhochschulen und 150 Millionen an Forschungsstiftungen. Das heimische Bankkapital erhält seine Entlastung und die Budgetverluste werden als Sozialmaßnahme kaschiert. Um darüber hinaus eine „positive Stimmung für Wirtschaftstreibende in diesem Land“ zu schaffen hat der neue Bundeskanzler die Registrierkassenpflicht (37) entschärft und ein 185 Mio. Euro Paket (38) zur Förderung von Unternehmensgründungen („Start-ups“) für die nächsten drei Jahre beschlossen. Gemeinsam mit der ÖVP kann die SPÖ offenbar einfacher auf die „Volkspartei-Strategie“ setzen als auf die einer ArbeiterInnenpartei. Zwar ist es wohl richtig, das KleinbürgerInnentum unter Führung der ArbeiterInnenbewegung gegen das Großkapital zu verteidigen, die Start-up-Strategie zielt aber auf eine Erhöhung des kleinbürgerlichen Anteils an der Gesamtbevölkerung. Das ist einerseits altbekannter Bestandteil der ÖVP-Ideologie, die vorgibt alle Menschen zu kleinen EigentümerInnen machen zu können, andererseits ist die Erhöhung der Kleinunternehmensschaft der allgemeinen Kapitalentwicklung gegenläufig, ökonomisch ineffizient und kann kein Bestandteil proletarischer Strategie sein. Aber Kern geht es nicht nur um das KleinbürgerInnentum. Großer Wurf seines „New Deal“ soll ein Wirtschaftspaket (39) zur Senkung der Lohnnebenkosten um bis zu eine Milliarde Euro werden – ein Vorhaben, das Finanzminister Schelling bestimmt gerne mit Pensionskürzungen verbinden möchte. Gerechtfertigt wird das nach alter reformistischer, linkskeynesianischer Weise mit der Wunschvorstellung, eine Ankurbelung der Wirtschaft folge daraus, was eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit zur Folge haben solle. Anstatt die Arbeitszeit zu verkürzen und die notwendige Arbeit aufzuteilen, wird also auch hier die ArbeiterInnenklasse hinter die Kapitalinteressen gespannt – angeblich zum eigenen Wohl.

Die neue alte Einheit

Die Partei-Linke hat sich bisher, wie die Presseaussendung vom 25. Juni gezeigt hat, hinter den neuen SPÖ-Chef gestellt. Die dahinter stehende Haltung ist ähnlich jener der ausgetretenen „Parteirebellin“ Sonja Ablinger: Sie habe Kerns Problemanalyse der SPÖ „positiv wahrgenommen“, wisse allerdings auch: „Ein Vorsitzender alleine wird nicht die Dinge ändern können.“ Über dieses Wissen verfügen Herr, Babler usw. ebenso. Allerdings glauben diese offenbar, sie können ihrer eigenen Position mehr Gewicht verleihen, wenn sie die eine oder andere Aussage Kerns als Bestätigung ihres Kurses umdeuten. Das Problem ist aber, dass sie dabei auf eine eigenständige Oppositionspolitik weitgehend verzichten.

In einem Artikel (40) für den Mosaik-Blog problematisiert Fiona Kaiser gemeinsam mit Hanna Lichtenberger das Verschwinden jener kritischer Töne, die man unter Faymann noch laut hören konnte. Die Faymann-KritikerInnen ließen „Kern im Jubel vieles durchgehen, was sie Faymann zurecht vorgeworfen hatten“. Das lasse sich nur vor dem Hintergrund der jahrelangen schwarz-roten Lähmungspolitik verstehen, denn „einen wortgewandten Vorsitzenden mit Charisma, der der FPÖ Contra gibt und sich bei öffentlichen Auftritten nicht blamiert – so einen Vorsitzenden hat die SPÖ schon lange nicht mehr gehabt“. Dieser, fast schon psychologische, Erklärungsansatz für die erneute Geschlossenheit der Partei ist bestimmt gerechtfertigt, allerdings erscheint er uns weder ausreichend noch geeignet, denn er wirkt auf die ganze Angelegenheit entpolitisierend. Vielmehr scheint es, als hätten es die kritischen Kräfte in den krisenhaften Tagen nach Faymanns Abtritt mit der Angst zu tun bekommen – immerhin hat der Richtungsstreit kein vertrauenvolles Licht auf die Partei geworfen und der Koalitionsbruch mit schwarz-blauem Ausblick geisterte bedrohlich durch die sozialdemokratischen Köpfe. Mit dem Führungswechsel konnte die SPÖ ihr Image in der Öffentlichkeit wieder aufpolieren und in den Wahlumfragen gewann sie ein paar Prozentpunkte dazu. Diesen bescheidenen Erfolg wollen anscheinend auch die „Linkeren“ nicht zerstören. Unsere Analyse ist also, dass sich die linken Kräfte innerhalb der SPÖ vor der Konfrontation mittels einer eigenständigen Politik scheuen, denn damit könnten sie die neue Einheit stören und sich unbeliebt machen. Sie wollen erst einmal abwarten, denn entweder es komme wirklich zu Verbesserungen oder die Ausgangslage für eine klare Oppositionspolitik verbessere sich wieder. Diese Taktik ist selbst wieder opportunistisch, denn sie stellt vermeintlich kurzfristige Vorteile für die Partei über die Problematisierung von Problemen, die mittelfristig wieder zur akuten Parteikrise führen werden. Auf diese Weise spielen die „loyalen KritikerInnen“ der von Kern gerührten Illusion in die Hände, laut der eine pragmatische Politik abseits des Links-Rechts-Schemas eine Politik für alle sein könne. Letztendlich dürfte der „linke Flügel“ aus „Kompass“, Teilen der SJ, Linken aus dem VSSTÖ sowie einzelnen GemeinderätInnen und GewerkschafterInnen derzeit auch gar nicht in der Lage zu einer eigenständigen Oppositionspolitik gegenüber der Parteiführung sein, dazu müsste er sich als eigene Kraft auf einer gemeinsamen politischen Basis innerhalb der Partei organisieren.

Die neue Einheit ist brüchig und wird früher oder später wieder aufbrechen. Anlässe dafür sind auch schon absehbar. Wenn die Obergrenze für Asylanträge erreicht ist, wird die ÖVP gemeinsam mit dem rechten SPÖ-Parteiflügel auf die Umsetzung der Notverordnung drängen, um das Asylrecht auszuhebeln. Im Herbst oder Winter könnte es außerdem erneut zu einer Zuspitzung rund um das Thema Pensionsreform kommen und das Wirtschaftspaket könnte sich als Sanierungsmaßnahme auf Kosten der ArbeiterInnenklasse herausstellen. Das grundlegende Problem der SPÖ ist jedenfalls nicht behoben, denn es sitzt viel tiefer als das Problem eines unbeliebten Parteivorsitzenden: Die reformistische Politik der SPÖ zielt (im angeblichen Interesse der Arbeitenden) auf die Verwaltung des kapitalistischen Systems – zu diesem Zweck geht sie auch Koalitionsregierungen mit anderen bürgerlichen Parteien ein und opfert dafür die proletarischen Ambitionen der Parteibasis. Dieses Vorgehen hat die Sozialdemokratie zunehmend von der ArbeiterInnenklasse entfremdet und geschwächt, es hat die Partei so weit in die Macht- und Perspektivlosigkeit geführt, dass jedes ernsthafte Versagen die Frustration in den eigenen Reihen in Wut umwandeln kann, wodurch die Differenzen in der Partei wieder hochkochen würden.

Dass die Differenzen in der Partei eskalieren, bedeutet auf jeden Fall, dass die linken Teile der Partei wieder unter Zugzwang geraten. Das ist nach der prinzipienlosen Unterstützung des „Technokraten“ Kern ein notwendiger und begrüßenswerter Schritt, der die grundlegende Frage, wie lange man als SozialistIn oder nicht rückgratlose/r BetriebsrätIn in derselben Partei wie Faymann und Niessl bleiben kann, erneut aufwirft. Dass das Boot SPÖ unter dem Druck der politischen Krise in Österreich ins Wanken geraten ist, bedeutet aber nicht, dass es notwendigerweise kentern muss. Es gibt kein grundsätzliches Gesetz, dass eine erfolglose Bürokratie die Kontrolle über die Partei verlieren muss. Besonders nicht, wenn die Kräfte links der Sozialdemokratie sich in einem bemerkenswert schwachen Zustand befinden und wenig Anziehungskraft auf politisch aktive ArbeiterInnen und sozialdemokratische Basismitglieder ausüben können. Das gilt besonders, weil die rechten Teile, die „Mitte“ und die Personen um Kern herum die parteiinternen Manöver einer bürokratisierten Partei besser beherrschen als die eher versprengten linken Elemente. Die ungünstigen subjektiven Bedingungen für ein Eingreifen in die Krise der Sozialdemokratie entschuldigen aber auf keinen Fall, die objektiv notwendigen Maßnahmen nicht zu erkennen.

Notwendige Taktiken

MarxistInnen und andere Linke sollten sich von der scheinbaren Geschlossenheit um Christian Kern nicht täuschen lassen – die Einheit ist brüchig und kann sich schon bald wieder in ihr Gegenteil umkehren. Das bedeutet nicht unbedingt einen drohenden Zerfall der Partei. Auch in der Krise ist der bürokratische Griff auf die Strukturen fest und routiniert. Aber in die Umbrüche der dominanten ArbeiterInnenpartei in Österreich einzugreifen oder zumindest ein Verständnis zu haben, wie das zu erfolgen hätte, ist notwendig. Vorsicht ist hier besser als Nachsicht, daher sollte die Frage gestellt werden, wie ernsthafte Umbrüche in der Parteikrise für die Formierung einer neuen ArbeiterInnenpartei genutzt werden können, denn eine solche wird nur unter Einbeziehung der besten Elemente der jetzigen ArbeiterInnenbewegung entstehen können. Die „österreichische Linke“ war in der ganzen Zweiten Republik in kaum einer Situation, wo eine Neuformierung der ArbeiterInnenbewegung als solche realistisch erschien. Kein Wunder, dass sie von einem besonderen Pessimismus geplagt ist, der opportunistische und sektiererische Fehler begünstigt.

Die zentrale Aufgabe für RevolutionärInnen in Österreich ist der Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei und eine solche kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Dominanz der Sozialdemokratie in der ArbeiterInnenklasse überwindet. Die tiefgreifende Krise der SPÖ macht es möglich, dass sich die ArbeiterInnenbewegung in den nächsten Jahren grundlegend verändern könnte. Gerade wegen der organischen Verbindung der SPÖ und FSG zur ArbeiterInnenklasse und gerade, weil ihre Dominanz ungebrochen ist, ist es notwendig für den Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei die fortschrittlicheren Teile der sozialdemokratischen Basis und linke BetriebsrätInnen zu gewinnen.

Ob so ein Vorhaben gelingt, wird nicht nur von der politisch-ökonomischen Entwicklung abhängen, sondern auch davon, ob die „österreichische Linke“ in Konflikte innerhalb der Partei hineinwirken kann. Die kommunistische Bewegung hat in ihrer Vergangenheit unter dem Begriff „Einheitsfront“ eine Reihe von Taktiken entwickelt, um die Führung der Sozialdemokratie über die ArbeiterInnenklasse zu brechen. Um die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnen im Kampf zu gewährleisten, sah sie Absprachen und eine Zusammenarbeit unter den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung vor. Gleichzeitig wollte man damit die Fehler des Reformismus in der Praxis aufzeigen und die Gewinnung der Arbeitenden für den Kommunismus erleichtern.

Aus dem Arsenal der Einheitsfront stammt auch die ArbeiterInnenparteitaktik. Die Losung „Schafft eine neue ArbeiterInnenpartei!“ hat enorme Bedeutung, um die Klasse und ihre Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei loszulösen (z. B. in Argentinien weg vom Peronismus, in den USA Bruch mit der Demokratischen Partei). Trotzki schlug folgendes Vorgehen gegenüber den verschiedenen Initiativen zur Bildung einer ArbeiterInnen in den USA der 1930er Jahre vor:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeosie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Laborparty zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation  auch innerhalb der Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden.. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiterklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiterklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.“ (41)

„Die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie oder stalinistischer Parteien hat heute in einigen Ländern die Möglichkeit geschaffen, dass die ArbeiterInnenparteitaktk auch angewandt werden kann, wenn es schon eine etablierte, reformistische Partei gibt (z. B. in Deutschland bei Formierung der WASG).“ (42)

Österreich befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie Deutschland 2003/2004!

Die Partei steht aber bei weitem noch nicht direkt vor einer Spaltung, geschweige denn vor einem gemeinsamen Austritt der linken Teile, die für ein sozialistisches Programm gewonnen werden könnten. Die öffentlich sichtbaren Teile der SPÖ, die in der Öffentlichkeit als der „linke Flügel“ dargestellt und von den linken Teilen der Basis zum größten Teil auch als ihre Führung respektiert werden, sind im besten Falle linke ReformistInnen oder sogar KarrieristInnen auf der Suche nach einer innerparteilichen Plattform, die kein Interesse an einer Spaltung haben.

Die drohende Existenzkrise der SPÖ und ihre weitere Rechtsentwicklung im Rahmen der Krise haben ihre Spuren nicht nur in der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in den politischen Organisationen links von der SPÖ hinterlassen. Das Projekt „Aufbruch“ ist eine direkte Reaktion auf das Fehlen von zumindest selbsterklärt klassenbewusster Politik in Österreich und könnte aus der Parteikrise am ehesten Vorteile ziehen. Es geht dabei um eine Organisierungskampagne mit dem Ziel einer linken Vereinigung, die im Juni 2016 in Wien mit einer Aktionskonferenz ins Leben gerufen wurde. Die über 1000 Teilnehmenden auf der ersten Konferenz repräsentierten relevante Teile der organisierten und unorganisierten Linken sowie der „Zivilgesellschaft“ links der SPÖ. Mehrere hundert Personen beteiligten sich an den Vorbereitungen für verschiedene Schwerpunktkampagnen unter dem gemeinsamen Slogan „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“ und an den lokalen Strukturen des „Aufbruch“. Das stellt einen quantitativen und angesichts des breiten Spektrums, das angesprochen wird, auch einen qualitativen Schritt nach vorne dar.

So gut auch die OrganisatorInnen des Projekts den richtigen Zeitpunkt damit getroffen haben, so schlecht ist aber die Aufbauperspektive. Statt einer Partei oder einer Vereinigung mit einem politischen Programm sollen die Kampagnen für den notwendigen Zusammenhalt und öffentliche Bekanntheit sorgen.

Die sehr schnell aufgebauten lokalen „Aufbruch“-Treffen, die auch Delegierte in die zentrale „Koordination“ schicken, sind zwar ein wichtiger Ansatz. Aber die Kampagnen, halb-bindenden Koordinationsgremien und unklaren politischen Grundlagen entsprechen mehr einem politischen Netzwerk, wie etwa der „Interventionistischen Linken“ in Deutschland, als dem einer neuen Partei. Inhaltliche Kampagnen und produktive Zusammenarbeit können aber nicht die notwendige neue Organisation der ArbeiterInnen, eine neue ArbeiterInnenpartei ersetzen.

Den Kampf für den Aufbau einer neuen ArbeiterInnenpartei zu führen ist eine zentrale Aufgabe von RevolutionärInnen heute. Dazu ist es notwendig, einen Großteil der Kräfte links der etablierten, reformistischen SPÖ zusammenzubringen, wie es der „Aufbruch“ ermöglicht. Es gilt zum einen, eine kritische Masse an AktivistInnen und kämpferischen ArbeiterInnen in diesen Prozess einzubinden. Zum anderen ist es notwendig, eine politische Debatte um die programmatischen Grundlagen einer solchen neuen Partei offen, strukturiert und ergebnisorientiert zu führen. Dabei müssen KommunistInnen von Beginn an für ein revolutionäres, sozialistisches und antikapitalistisches Aktionsprogramm eintreten.

Darauf muss die Politik von RevolutionärInnen in Bezug auf solche linken Vereinigungsprojekte, wenn sie das Potential dazu haben, ausgerichtet sein. Es geht hierbei zentral darum, die Basis und das Umfeld des Projekts anzusprechen, um den Grundstein für die notwendige Verankerung in der ArbeiterInnenklasse legen zu können. Die Vorgehensweise, halb über Absprachen und halb über lokale Delegationen an die Spitze solch eines Projekts zu kommen statt eine demokratische und transparente Programmdiskussion durchzusetzen, führt zu einer Bürokratisierung, vor allem aber dazu, dass die politischen Kernfragen auf die lange Bank geschoben werden. So wird auch noch außerhalb der SPÖ die Politik der SPÖ-Linken nachgeahmt.

Dass viele politische Fragen – vor allem die brennende Debatte eine Positionierung bei den Präsidentschaftswahlen – ungeklärt sind und auch bleiben sollen, ist ein Problem des „Aufbruch“, das, wird es nicht überwunden, nur zu dessen Scheitern und Demoralisierung führen kann. Eine glaubhafte Alternative zur Tragödie des rechten Reformismus der SPÖ darf sich nicht als etwas linkere, etwas sozialere, aber weitgehend harmlose Alternative präsentieren, sondern muss klare politische Antworten auf die brennenden Probleme der ArbeiterInnen geben. Dazu braucht es auch einen transparenten und demokratischen Diskussionsprozess und letztendlich ein Aktionsprogramm, das über die thematisch beschränkten Slogans der einzelnen Kampagnen hinausgeht. Nur mit einer klaren Programmatik, demokratischen Strukturen und einer Politik, die sich auf die ArbeiterInnen statt auf das universitäre Umfeld der meisten linken Organisationen ausrichtet, kann der „Aufbruch“ erfolgreich sein.

Auch die Methode der im Aufbruch bestimmenden Kräfte – linken ReformistInnen aus SPÖ-Teilorganisationen oder NGOs, „Postautonomen“ und ZentristInnen aus dem trotzkistischen Spektrum – muss sich grundlegend ändern, wenn sie unorganisierte ArbeiterInnen oder die SPÖ-Basis erfolgreich ansprechen wollen. Sie haben es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, sich in den kleinen und großen Klassenkämpfen nachhaltig einzubringen und sich eine ernstzunehmende Verankerung aufzubauen. Stattdessen hat sich der größte Teil der linken Politik auf die Universitäten konzentriert. Schritte über dieses Milieu hinaus blieben fast immer erfolglos. Auch bei der Intervention (oder sogar der Führung) von sozialen Bewegungen, zum Beispiel antifaschistischen und antirassistischen Protesten, ist es ihnen nicht gelungen, sich auf die an den Kämpfen beteiligten ArbeiterInnen auszurichten. Die Aktionen wurden vor allem auf Universitäten beworben, das Angebot auf Studierende und linke BildungsbürgerInnen ausgerichtet und es beteiligten sich vor allem diese Schichten. Wenn mit dieser Methode, Politik in der „Echokammer“ der „linken Szene“ unter Vernachlässigung politischer Kritik an den bestenfalls reformistischen Führungen zu machen, nicht gebrochen wird, bleibt der Aufbruch für die Mehrheit selbst der fortschrittlichsten SPÖ-Basis-Mitglieder und unteren Funktionärsebenen unattraktiv.

Das Fehlen von Programm und Perspektive ist nur die andere Seite davon, dass dem „Aufbruch“ ein angemessenes taktisches Verständnis gegenüber der Sozialdemokratie fehlt. Ein Ansatz zur Einheitsfront hier und heute sind zum Beispiel betriebliche und kollektivvertragliche Auseinandersetzungen, die im Herbst ohne Zweifel auf uns zukommen. Hier können AktivistInnen Solidaritäts- und Unterstützungskampagnen für die Beschäftigten starten, sie in den „Aufbruch“ einbinden, die Zusammenarbeit mit linken sozialdemokratischen BetriebsrätInnen suchen, die Gewerkschaften im Kampf unterstützen und zugleich die politischen Fehler der Führung kritisieren.

Ein anderer Ansatz ist der Kampf gegen weitere rassistische Verschärfungen, welche die Bundesregierung plant, wie etwa eine mögliche Notverordnung zum Stopp von Asylanträgen. Bündnisse mit sozialdemokratischen Jugendorganisationen und fortschrittlichen Teilen der Gewerkschaften gegen die Parteiführung sind nicht nur denkbar, sondern müssen offensiv eingefordert werden. Auf diese Weise kann der Konflikt um die Asylpolitik der Sozialdemokratie wieder aufgebrochen werden.

Zu guter Letzt kann der „Aufbruch“ der sozialdemokratischen Bewegung (oder realistisch zumindest ihren fortschrittlicheren Teilen) ein Angebot zur Mitarbeit in der Kampagne machen. Denkbar wären hier zum Beispiel Maßnahmen zur Verteidigung der Mindestsicherung vor den Kürzungsplänen der ÖVP. Das würde so einer Kampagne eine reale Stärke geben, Teile der sozialdemokratischen AnhängerInnenschaft aktivieren und Verbindungen zu sozialdemokratischen AkteurInnen schaffen, die zukünftig von Vorteil sein könnten.

Was aber für die Linken in der SPÖ gilt, gilt ebenso für die Aktiven im „Aufbruch“ – sie haben keine gemeinsame politische Basis. Außerdem gibt es im „Aufbruch“ kaum Leute, die sich eine eigenständige Taktik gegenüber der Sozialdemokratie vorstellen können. Einzelne AkteurInnen wie Fiona Kaiser oder „Der Funke“ scheinen keine Verbindung zwischen der Unterstützung des „Aufbruch“ und einem kritischen Engagement in der Sozialdemokratie herzustellen. Zusätzlich stellt der „Aufbruch“ kaum den Anspruch, auf politische Entwicklungen zu reagieren, er habe ja auf der Konferenz eine mittelfristige Aktionsperspektive beschlossen, die man nun ausschließlich umsetzen müsse. Aber auch wenn dieses Argument nicht existieren würde, gibt es keine legitime politische Führung. So mangelt es den Entscheidungen an Legitimität und den EntscheidungsträgerInnen an Rechenschaftspflicht. Zugleich können sie sich so der Aufgabe entziehen, grundlegende politische und taktische Entscheidungen für Plena oder Delegiertenkonferenzen vorzubereiten. Erst durch dieses Versäumnis erscheinen die alle paar Monate statt findenden Delegiertenkonferenzen zu schwerfällig, um taktische Entscheidungen zu treffen. Hier erweisen sich schon kurz nach der Gründung die Organisationsform („Kampagne“) und die politische Breite als hemmend, um auf notwendige Entwicklungen zu reagieren. Sollte es nicht bald gelingen, diese Herausforderungen zu bewältigen, droht die Möglichkeit, den Grundstein für eine neue Partei der ArbeiterInnen zu legen, ungenutzt vorüberzugehen.

Die heutige Situation, in der die Krisenentwicklung der österreichischen und der gesamteuropäischen politischen Ökonomie und die sich seit Jahrzehnten verschärfenden Niedergangstendenzen der Sozialdemokratie zeitlich mit dem Anspruch einer neuen, klassenbewussten linken Organisation zusammenfallen, bietet historische Möglichkeiten für RevolutionärInnen, ihre Verankerung in der ArbeiterInnenklasse zu vervielfachen und in weiterer, späterer Folge die Dominanz des Reformismus über die ArbeiterInnenbewegung anzugreifen. In dieser Situation sind klare Analysen, harte, aber zugleich solidarische Kritik und politische Auseinandersetzung unersetzlich. Dann können uns eine geschickte Anwendung revolutionär-kommunistischer Taktiken und der Kampf für ein revolutionär-kommunistisches Programm der Überwindung der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse zumindest einen Schritt näherbringen.

 

Endnoten und Anmerkungen

(1) Sandner, Günther: Sozialdemokratie in Österreich, Von den Anfängen der Arbeiterbewegung zur modernen Sozialdemokratie, Wien, 2. Auflage, 2013, Karl-Renner-Institut, S. 59

(2) Eine Abbildung der Nationalratswahl-Ergebnisse in der II. Republik findet sich online unter: de.wikipedia.org/wiki/ Sozialdemokratische_Partei%C3%96sterreichs#/media/ File:Spoe_nationalratswahl.png (abgerufen am 31. Juli 2016)

(3) „Parteibuch bricht weg“, unter: www.orf.at/stories/2254885/2254886/ (abgerufen am 12. Juli 2016)

(4) Zum genaueren Verständnis der bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verweisen wir auf „Thesen zum Reformismus – die bürgerliche Arbeiterpartei“ in:  „Revolutionärer Marxismus“ 44, Berlin, November 2012

(5) SPÖ-Grundsatzprogramm 1998, online unter: https://parteiderarbeit.spoe.at/das-spoe-parteiprogramm (abgerufen am 31. Juli 2016)

(6) Bei den Nationalratswahlen 2014 erhielt die SPÖ 24 % der Stimmen der ArbeiterInnen und 26 % der Stimmen der Angestellten, d. h. 26 % der lohnabhängigen Stimmen, s. SORA/ISA im Auftrag des ORF: Wahlanalyse Nationalratswahl 2013, online unter: www.sora.at/ fileadmin/downloads/wahlen/2013_NRW_Wahlanalyse.pdf (abgerufen am 31. Juli 2016)

(7) SPÖ-Grundsatzprogramm 1998, online unter: www.parteiderarbeit.spoe.at/das-spoe-parteiprogramm (abgerufen am 31. Juli 2016)

(8) Die bereinigte Lohnquote bezeichnet den Anteil des Einkommens der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen, bereinigt durch die Veränderung der Erwerbstätigenstruktur.

(9) Guger, Marterbauer: Die langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in Österreich, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, S. 258, online unter: www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/5/3/8/CH2171/ CMS1218533993618/12_einkommen.pdf (abgerufen am 31. Juli 2016)

(10) Die Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen (PKPL) ist ein informelles Gremium zur Zusammenarbeit der „Sozialpartner“ (d. h. Arbeiterkammer, Gewerkschaftsbund, Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer) mit Unterausschüssen zu Lohn-, Preis-, Wirtschaftsfragen und internationalen Fragen. Die Kommission ist nicht gesetzlich verankert und kann daher auch keine verbindlichen Entscheidungen treffen.

(11) Ausschlaggebend für Faymanns Rücktritt waren die Streitigkeiten in der Partei über den Asylkurs der Regierung, den Faymann nicht nur mittrug, sondern mitgestaltete. Zum Rückhalt seines Kurses in den eigenen Reihen meinte er: „Die Mehrheit ist zu wenig“.

(12) Eine Sonderregelung der Pensionsversicherung für Langzeitversicherte und Schwerarbeitende.

(13) „SPÖ bringt vier von fünf Punkten gegen die Teuerung durch!“, unter: www.bezirkneunkirchen.spoe.at/artikel/spoe-bringt-vier-von-fuenf-punkten-gegen-die-teuerung-durch“ (abgerufen am 30. Mai 2016)

(14) „Das zweite Konjunkturpaket im Detail“, unter: http://diepresse.com/home/politik/ innenpolitik/439909/Das-zweite-Konjunkturpaket-im-Detail?direct=439847&_vl_backlink=/ home/wirtschaft/economist/439847/ index.do&selChannel=&from=articlemore (abgerufen am 30. Mai 2016)

(15) „Weitere Milliarden könnten folgen“, unter: „http://www.orf.at/stories/2198075/ 2198148/ (abgerufen am 30. Mai 2016)

(16) Die Details diese Sparpakets aus dem Jahr 2010 finden sich in: „Wo das Geld herkommen soll“, unter: http://www.orf.at/stories/2032510/2031300/ (abgerufen am 30. Mai 2016)

(17) Ein Überblick über die Eckpunkte des Sparpakets 2012 findet sich in: „Von Harmonisierung der Pensionen bis Halbierung der Bausparförderung“, unter: http://derstandard.at/ 1328507461488/Das-Sparpaket-im-Detail-Von-Harmonisierung-der-Pensionen-bis-Halbierung-der-Bausparfoerderung?_artikelIndex=1 (abgerufen am 30. Mai 2016)

(18) Baumann, Meret: Bilanz der österreichischen Regierung; Pleiten, Pech und Pannen, 26.3.2014, unter: http://www.nzz.ch/pleiten-pech-und-pannen-1.18270379 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(19) Eine ausführlichere Analyse der Steuerreform haben wir im Artikel „Steuerreform: Ja zur Entlastung, nein zu schlechten Kompromissen!“ erstellt, unter: http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=1627 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(20) „Die 18 Niederlagen der Ära Faymann und des Kanzlers Erklärungsversuche“: http://derstandard.at/2000036295227/Die-18-Niederlagen-der-Aera-Faymann-und-des-Kanzlers-Erklaerungsversuche (abgerufen am 6. Juni 2016)

(21) „Innenministerium hält an Zaunbau fest“, unter: http://orf.at/stories/2313997/2313999/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(22) „Asyl-Novelle: SPÖ und ÖVP stellen Kompromiss vor“, unter: http://www.krone.at/ oesterreich/asyl-novelle-spoe-und-oevp-stellen-kompromiss-vor-notfallverordnung-story-507199 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(23) „Kritik an Notfallverordnung im Asylgesetz“, unter: http://www.heute.at/news/politik/Kritik-an-Notfallverordnung-im-Asylgesetz;art23660,1282108 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(24) „SPÖ-Umfrage: Zwei Drittel für Asyl-Obergrenze“, unter: http://www.heute.at/news/ politik/SPOE-Umfrage-Zwei-Drittel-fuer-Asyl-Obergrenze;art23660,1255928 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(25) Internationalismus bedeutet in der ArbeiterInnenbewegung den Standpunkt der internationalen ArbeiterInnenklasse einzunehmen und ein spezifisch-nationales Interesse abzulehnen.

(26) Lenin, W. I.: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, in: LW 22, Berlin/O., 1972 (3. Auflage), S. 111

(27) Als Imperialismus bezeichnen wir das höchste Entwicklungsstadium des Kapitalismus, in dem die zunehmende Konzentration des Kapitals die freie Konkurrenz am Markt durch das Monopol ablöst und sie auf der Ebene des Weltmarkts verschärft. In diesem Stadium ist der Weltmarkt unter kapitalistische Großmächte aufgeteilt.

(28) „Buchinger-Clan: Schreiendes Rot und wahre Revoluzzer“, unter: http://diepresse.com/ home/politik/innenpolitik/544789/BuchingerClan_Schreiendes-Rot-und-wahre-Revoluzzer (abgerufen am 31. Juli 2016)

(29) „Reger Zuwachs für rote Rebellen“, unter: http://mobil.derstandard.at/2000020366733/ Reger-Zuwachs-fuer-rote-Rebellen (abgerufen am 31. Juli 2016)

(30) „Zustand der SPÖ ist dramatisch“, unter: http://www.derfunke.at/aktuelles/jugend/ 10378-zustand-der-spoe-ist-dramatisch (abgerufen am 31. Juli 2016)

(31) „Vorwärts GenossInnen, vorwärts!“, unter: http://www.ots.at/presseaussendung/ OTS_20160625_OTS0019/vorwaerts-genossinnen-vorwaerts (abgerufen am 31. Juli 2016)

(32) „SJ-Herr ad SPÖ: Politische Stärke und Einheit braucht demokratischen Neustart“, unter: http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20160509_OTS0133/sj-herr-ad-spoe-politische-staerke-und-einigkeit-braucht-demokratischen-neustart (abgerufen am 31. Juli 2016)

(33) Die Initiative „Aufbruch“ versteht sich als Organisierungskampage zu den Themen „Reichtum“, „Arbeit“ und „Gesundheit/Soziales“. Diese wurde mit einer Aktionskonferenz am 3. und 4. Juni 2016 in Wien mit bis zu 1.000 Teilnehmenden ins Leben gerufen und stellt den Anspruch einer neuen linken Organisierung.

(34) „Salzburgs SPÖ-Chef gegen Kanzler Faymann“, unter: http://salzburg.orf.at/news/stories/2772485/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(35) „Josef Muchitsch: Werner, bitte lass los!“, unter: http://www.profil.at/meinung/josef-muchitsch-werner-faymann-ruecktritt-kern-6352303 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(36) „Koalition will Asylwerber beschäftigen“ unter: http://derstandard.at/2000039465141/ Koalition-will-Asylwerber-beschaeftigen (abgerufen am 31. Juli 2016)

(37) „Registrierkassen: Unmut bleibt trotz Entschärfungen“, unter: http://kurier.at/politik/ inland/registrierkassen-unmut-bleibt-trotz-entschaerfungen/205.715.635 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(38) Steinschaden, Josef: Das neue Start-up-Paket: SPÖ und ÖVP einigen sich auf Maßnahmen im Rahmen von 185 Millionen Euro, unter: https://www.trendingtopics.at/start-up-paket-spoe-und-oevp-einigen-sich-auf-massnahmen-im-rahmen-von-184-millionen-euro/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(39) „Regierung will Wirtschaft ankurbeln“, unter: http://www.nachrichten.at/nachrichten/ politik/innenpolitik/Regierung-will-Wirtschaft-ankurbeln;art385,2279341 (abgerufen am 31. Juli 2016)

(40) Kaiser, Lichtenberger: Macht Kerns Coolness KritikerInnen blind?, unter: http://mosaik-blog.at/christian-kern-coolness-kritik-fiona-kaiser-hanna-lichtenberger/ (abgerufen am 31. Juli 2016)

(41) Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale: Thesen zum Reformismus, in: „Revolutionärer Marxismus“ 44, Berlin, November 2012, S. 176

(42) Suchanek, Martin: Krise, Klasse, Umgruppierung, Strategie und Taktik in der aktuellen Periode, in: „Revolutionärer Marxismus“ 47, Berlin, September 2015, S. 50 f.




100 Jahre Jännerstreik in Österreich: eine verpasste Revolution

Michal Nagy, Infomail 986, 9. Februar 2018

Vor 100 Jahren kam es zu den größten Streiks in der Geschichte Österreichs bis heute. Die Streiks entbrannten im Namen des Friedens, des Endes der kapitalistischen Versorgungskrise und unter dem Eindruck der jungen Russischen Revolution. Wegen des Fehlens einer revolutionären, führenden Partei war der Aufstand, wie in Deutschland, Ungarn und der zukünftigen Tschechoslowakei, fehlgeschlagen.

Entwicklung der Sozialdemokratie

Mit Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Epoche des Imperialismus und mit ihr auch die rasche Verbürgerlichung der Sozialdemokratie. Obwohl die SDAP (Sozialdemokratische ArbeiterInnenpartei Österreichs), aus der später die SPÖ hervorging, in der Zeit ihrer Gründung mit dem Hainfelder Programm 1889 durchaus eine marxistische Partei auf einem formal marxistischen Gründungsdokument war, spielten opportunistische und revisionistische Tendenzen eine nicht unbedeutende Rolle. Unter Führung des „Gründungsvaters“ Victor Adler wurde die österreichische Sozialdemokratie immer mehr zu einer angepassten parlamentarischen Partei, die ihre Forderungen schrittweise an Reformen innerhalb der bürgerlichen Demokratie anpasste und statt der Zerschlagung die Demokratisierung des bürgerlichen Staatsapparats anstrebte. Dieser Prozess vollzog sich, ähnlich wie in den meisten europäischen Ländern, ohne Herausbildung einer revolutionären Fraktion oder Partei und endete spätestens mit der patriotischen Unterstützung des eigenen Vaterlands im Ersten Weltkrieg. Die ersten Kriegsjahre brachten eine allgemeine Abnahme der Mitgliederzahlen in der Sozialdemokratie (von 415.000 im Jahr 1913 auf 166.000 1916), jedoch eine große Zunahme an weiblichen Mitgliedern, die während des Krieges bis zu 42 Prozent des Proletariats bildeten. Erst mit dem offensichtlichen Verrat begann langsam die Herausbildung einer linksradikalen und antimilitaristischen Fraktion. Die Erkenntnis über den neuen Charakter der Partei verlief langsam und auch für die Herausbildung einer offenen Antikriegsstimmung in der ArbeiterInnenschaft bedurfte es der immer tieferen Versorgungs- und Lohnkrise der Kriegsjahre, vor allem nach 1917. Sogar die sozialdemokratische Parteiführung passte sich im Oktober an die pazifistische Linie der gemäßigten Linken an und eröffnete die austromarxistische Phase aus linker Rhetorik und reformistischer Realpolitik.

Der Einfluss der „Linksradikalen“

Für die Entfachung der Streikbewegung entscheidend waren Kürzungen der geringen Brot- und Mehlrationen, aber auch die Friedensbestrebungen der Russischen Revolution und die Rolle der Linksradikalen in der Sozialdemokratie, die den Krieg mit einem Generalstreik beenden wollten. In der Partei konnte sich ein kleiner linker Flügel rund um Friedrich Adler herausbilden, der jedoch keinen Prozess der programmatischen und organisatorischen Zentralisierung durchlief. Friedrich Adler selbst vermied offene Auseinandersetzungen, eine potenzielle Spaltung und verfolgte eine pazifistische Politik statt klassenkämpferischen Antimilitarismus’. Doch aus den Reihen des „Verbands Jugendlicher Arbeiter“ betrieben Oppositionelle Propaganda gegen den Krieg und organisierten sich eigenständig im „Aktionskomitee der Linksradikalen“, u. a. unter Franz Koritschoner.

Innerhalb des Jahres 1917 kam es bereits zu einigen großen Streikbewegungen, in denen das „Aktionskomitee der Linksradikalen“ Fuß fassen konnte, weil sich die sozialdemokratischen Organe immer mehr in solche der Klassenkollaboration verwandelt hatten und für ungestörte (Kriegs-)Produktion sorgten. Auf Initiative der Linksradikalen fand im September 1917 eine Konferenz in St. Egyden zwischen Vertrauensleuten vieler wichtiger Betriebe statt, die sich für das Ende des Krieges aussprach und einen politischen Streik vorbereitete.

Der Jännerstreik

Ab dem 22. Dezember 1917 begannen die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zwischen dem jungen Sowjetstaat und den Mittelmächten. Nachdem Deutschland Annexionen forderte und sich weigerte, seine Armee abzuziehen, kam es zu genereller Empörung in der ArbeiterInnenklasse. Der Streik wurde deshalb vorgezogen und sollte am 14. Jänner 1918 in Wiener Neustadt beginnen. Dort begann er mit einer illegalen Betriebsversammlung im Daimler-Werk und setzte sich mit einem Zug auf den Hauptplatz fort, nach dem sich weitere Fabriken im Wiener Becken dem Streik anschlossen. Am bedeutendsten waren wohl die 40.000 ArbeiterInnen der Wöllersdorfer Munitionsfabrik. Am selben Tag wurden von den jeweiligen Betrieben VertreterInnen für einen ArbeiterInnenrat gewählt, der als Ersatz für die fehlende Unterstützung der Gewerkschaften und der Partei agieren sollte, wohl aber auch von den Linksradikalen vorangetrieben wurde. Zwei ihrer Mitglieder gehörten sogar der Leitung des Rats an. Am selben Tag breitete sich der Streik noch weiter aus und am nächsten Tag, dem 15. Jänner, reagierte die Partei auf den Streik anpassend und mit der Absicht, die Kontrolle über ihn zu erlangen und ihn zu beenden. Am darauffolgenden Tag breitete sich der Streik auf Wien aus, wo 84.000 ArbeiterInnen im Ausstand waren. Am 17. Jänner erstellte der Parteivorstand einen 4-Punkte-Katalog, der in die ArbeiterInnenräte einzubringen sei, um die Massen zu beruhigen und den Streik beenden zu können. Die Forderungen lauteten: 1. kein Scheitern der Friedensverhandlungen wegen territorialer Forderungen der Regierung, 2. eine bessere Versorgungssituation, 3. eine Demokratisierung des Gemeindewahlrechts und 4. Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Die Linksradikalen veröffentlichten daraufhin ein eigenes 4-Punkte-Programm, das eindeutig über die Forderungen der Partei hinausging (sofortiger Waffenstillstand, Wahl der Friedensdelegierten durch das Volk), Misstrauen gegenüber den „patriotischen ArbeiterführerInnen“ äußerte und sich eindeutig auf die Seite der bolschewistischen Delegation in Brest-Litowsk stellte. Der Streik breitete sich mittlerweile auf Ungarn und Tschechien aus und betrug schon zwischen 550.000 und einer Million TeilnehmerInnen. Die Sozialdemokratie bemühte sich inzwischen, von der Regierung größere rhetorische Zugeständnisse einzuholen und im ArbeiterInnenrat einen Beschluss für die Wiederaufnahme der Arbeit zu erlangen. Auf der Versammlung im ArbeiterInnenheim Margareten wurde dies schließlich mit großer Mehrheit erreicht. Der Streik dauerte zwar in vielen Fabriken noch bis zum 23. Jänner an, konnte aber nicht gegen die Sozialdemokratische Partei wiederbelebt werden. Die ArbeiterInnenräte wurden in weiterer Folge der Sozialdemokratie untergeordnet. Die Statuten wurden dahingehend geändert, dass man für eine Mitgliedschaft im ArbeiterInnenrat mindestens sechs Monate Mitglied in der Partei sein musste. Außerdem sollte er kein ständiges Gremium sein, sondern nur bei Streiks und anderen betrieblichen Protesten einberufen werden. Damit war der ArbeiterInnenrat nicht mehr ein unabhängiges, politisches Machtorgan der ArbeiterInnenklasse, sondern ein Instrument zur bürokratischen Kontrolle von Streikbewegungen.

Die Lehren der Bewegung

Die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokratie zeigte sich deutlich an der Sabotage dieser größten Streikbewegung Österreichs. Sie zeigte sich noch klarer in der Zwischenkriegszeit, wo sie Koalitionsregierungen mit den Christlich-Sozialen einging und später das Proletariat im Kampf gegen die Dollfuß-Diktatur lähmte.

Eine zentrale Lehre dieser mächtigen Streikbewegung ist eine über die Räte. Wie dieses Beispiel gut zeigt, sind die Räte keineswegs spontan vollständig revolutionäre Instrumente. Sie sind Organe der Doppelmacht dahingehend, dass sie die Macht der ArbeiterInnenklasse gegenüber der kapitalistischen Staatsmacht verkörpern. Aber die proletarische Machtergreifung, mit der die Doppelmacht aufgehoben und die Staatsmacht selbst in die Hände der Räte fällt, bleibt ein bewusster revolutionärer Akt. Sind die ArbeiterInnenklasse und ihre Führung trotz der Räte zu diesem Schritt nicht bereit, dann werden auch jene nicht von langfristigem Bestand sein können. Die Räte selbst müssen also für ein Programm, das die aktuellen Kämpfe der Klasse mit der revolutionären Machteroberung verknüpft, gewonnen werden. Die Sozialdemokratie lehnte ein solches Programm strikt ab und die Linksradikalen waren zur Zeit des Jännerstreiks noch zu schwach, um die Dominanz der sozialdemokratischen Parteiführung über die Streikbewegung zu brechen. Zwar gründeten sie mit der Kommunistischen Partei Osterreichs im November 1918 eine der ersten kommunistischen Parteien außerhalb Sowjetrusslands, doch selbst dann wurden sie aufgrund mangelnder Erfahrung und ultralinker Fehler keine ernsthafte Konkurrenz für die Sozialdemokratie.

Die Erfahrung des Jännerstreiks von 1918 zeigt uns bis heute die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die verhindern kann, dass eine verräterische Partei die Führung über eine radikalisierte Massen- bzw. Rätebewegung übernimmt und sie ins Nichts treibt. Wartet man mit dem Aufbau einer solchen Partei, bis die Massen sich selbst bewegen, dann wird es zu spät sein.




Charakter der Sozialdemokratie: Die bürgerliche Arbeiterpartei

Hannes Hohe, Neue Internationale 179, Mai 2013

Wir bezeichnen die SPD – und in besonderer Form auch die Linkspartei – als bürgerliche Arbeiterparteien. Dieser, schon von Lenin benutzte Begriff, verweist auf den grundsätzlich widersprüchlichen Charakter dieser Formationen.

Für MarxistInnen wird der politische Charakter, das Wesen einer Partei dadurch bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse sie verteidigt – nicht einfach durch eine soziologische Bestimmung ihrer Parteimitgliedschaft. Spätestens seit 1914 ist klar: Die SPD steht mit aller Konsequenz zum deutschen Imperialismus. Sie bewegt sich im Rahmen des Kapitalismus und stellt seine Grundlagen selbstredend nicht infrage.

Zweifellos hat sich die SPD im Laufe dieser Jahrzehnte gewandelt. Sie ist über tausend Fäden mit dem Staatsapparat und dem Kapital verbunden. Sie ist bürgerlich, was ihr praktisches Agieren anbelangt, das v.a. auf Wahlen, Parlamentsarbeit und die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen setzt anstatt auf Klassenkampf und Mobilisierungen. Ihr bürgerlicher Charakter zeigt sich auch im inneren Regime, wo ein bürokratischer Apparat (inkl. der parlamentarischen und exekutiven Vertretungen) das Parteileben und die eher inaktive Mitgliederbasis bestimmt.

Obzwar sie sich also politisch nicht wesentlich von „normalen“ bürgerlichen Parteien unterscheiden, so unterscheidet sie sich von den „traditionellen“ bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, aber auch den Grünen hinsichtlich ihres historischen und organisatorischen Verhältnisses zur Arbeiterklasse (wie überhaupt zu den Klassen der Gesellschaft) wesentlich, weil sie hinsichtlich ihrer sozialen und historischen Verankerung eben eine Arbeiterpartei ist. Historisch stützt sie sich als bürgerliche Arbeiterpartei zunehmend auf die besser gestellten Schichten der Lohnabhängigen, auf die Arbeiteraristokratie – also jene Teile der Klasse, für die eine Politik der graduellen Verbesserung jedenfalls in bestimmten Perioden Sinn zu machen scheint.

Freilich sind die Verbindungen der heutigen SPD zur Arbeiterklasse wesentlich schwächer als früher, als die übergroße Mehrheit der Mitglieder ArbeiterInnen waren und es ein organisiertes proletarisches Milieu (Arbeitersport, Arbeiterkultur- und Konsumvereine usw.) gab, das mit der SPD verbunden war. Heute sind viele dieser Verbindungen verschwunden. Trotzdem gilt die SPD auch heute noch vielen als Partei der „kleinen Leute“, die etwas „besser“ ist als andere, rein bürgerliche Parteien.

SPD und DGB

Die – wesentliche – strukturelle Verbindung der SPD zum Proletariat besteht heute in ihrer Verbindung, in der politischen Dominanz und tw. in ihrer direkten personellen Verknüpfung mit dem reformistischen Gewerkschaftsapparat und den Betriebsräten.

Obgleich auch diese Verbindung schwächer wird, sichert sie immer noch ab, dass das Proletariat, dass dessen organisierte Strukturen und Vertretungen von der Sozialdemokratie beherrscht und somit Organisierung, Bewusstsein und Aktion der Klasse kontrolliert, gelenkt und letztlich dem Kapital untergeordnet werden können.

Diese besondere Funktion und Fähigkeit der bürgerlichen Arbeiterpartei macht sie auch für das Kapital interessant und prägt deren Politik. Reformistische Politik und Ideologie sind gewissermaßen der „theoretische“ Ausdruck dieses besonderen Charakters der SPD als bürgerlicher Arbeiterpartei, die vorzugsweise in der Opposition Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus verspricht oder sich als „kleineres Übel“ darstellt.

Dass sie an der Regierung – zumal in Krisenperioden – offen zur Partei der bürgerlichen Gegenreform (Schröder) oder jener der offenen Konterrevolution wird (Ebert), widerspricht nicht ihrem reformistischen Charakter, sondern offenbart vielmehr den grundlegend bürgerlichen, konterrevolutionären Charakter des Reformismus.

Die Rolle der SPD als „Diener zweier Herren“ – dem Kapital tatsächlich, dem Proletariat nur scheinbar – bewegt sich aber auch innerhalb eines permanenten, grundlegenden Widerspruchs zwischen den Interessen des hinter ihr stehenden Großteils der Arbeiterklasse und den Erfordernissen der Herrschaft des Kapitals. Dieser Widerspruch bricht massenhaft v.a. in Situationen zugespitzten Klassenkampfes offen auf. Dann ist es möglich, relevante Teile der Klasse bzw. der proletarischen Basis von der Sozialdemokratie wegzubrechen und für eine antikapitalistische, revolutionäre Orientierung und Organisierung zu gewinnen.

Der Bruch der Massen mit dem Reformismus ist nicht allein durch Kritik und den Aufbau einer alternativen politischen Kraft möglich. Dazu bedarf es auch einer angemessenen politischen Taktik von RevolutionärInnen, die einerseits an der proletarischen Basis der SPD, ihren Erwartungen an sie und – vor allem – an deren Unzufriedenheit, an deren Mobilisierungen und Aktionen anknüpft, andererseits aber einen konsequenten Kampf gegen die Politik der SPD führt. Letztlich kann sich für die AnhängerInnen der SPD nur in der Praxis erweisen, wie untauglich diese tatsächlich als Vertretung ihrer Interessen ist.




150 Jahre SPD: Vom Gegner zum Vasallen des Kapitals

Hannes Hohn, Neue Internationale 179, Mai 2013

Das 150jährige Jubiläum der SPD kommt als Anlass zum Feiern gerade recht, denn die Umfragen vor der Bundestagswahl sind wohl kaum Anlass zum Jubeln.

Eigentlich hat die SPD kein exaktes Gründungsdatum. So beruft sie sich selbst auf die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle am 23. Mai 1863. Ab 1869 gab es daneben noch die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Der Vereinigungsparteitag beider Organisationen vom 22.-27. Mai 1875 in Gotha war dann die eigentliche Konstituierung der SPD, die sich zuerst Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) nannte. Ihr zentrales Ziel war „der freie Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gesellschaft, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“ . Welch Anspruch – und welch Kontrast zur heutigen SPD!

Schon bald sah sich die junge Partei, die sich ab 1888 SPD nannte, der Repression des Staates  ausgesetzt. 1878 erließ Bismarck die „Sozialistengesetze“ – die Peitsche als Ergänzung zu seinen  Sozialreformen. Obwohl die „Sozialistengesetze“ die Tätigkeit der Partei stark behinderten, konnten sie den Aufstieg der SPD nicht aufhalten und mussten schließlich 1890 aufgehoben werden. Sichtbar wurde der gewachsene Einfluss der SPD u.a. bei den Reichstagswahlen: erhielt sie 1878 7,6% der Stimmen, waren es 1890 bereits 19,8%.

Marx´ Kritik

Die Politik der SPD und ihrer Vorläufer wurde auch von Marx beobachtet und kommentiert. Das Gothaer Gründungsprogramm der SAP von 1875 wurde von ihm mit den bekannten „Randglossen“ bedacht. Darin unterzog er zentrale programmatische Elemente einer scharfen Kritik, weil das „Gothaer Programm“ deutlich hinter dem bereits 1848 veröffentlichten „Kommunistischen Manifest“ zurück.

Einen gewissen Schritt vorwärts in Richtung Marxismus stellte dann das „Erfurter Programm“ von 1891 dar, dessen Väter Bebel, Kautsky und Bernstein waren. Schon die Programmdebatte im Vorfeld des Erfurter Parteitags zeigte aber, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Auffassungen von Marx auch diesmal nicht erfolgte. Letztlich vermischt das Programm einzelne Elemente des Marxismus mit reformistischem „Pragmatismus“. Zwar bezieht sich v.a. Kautsky auf Marx´ „Kapital“ und bezieht in seinem Kommentar zum Programm durchaus marxistische Positionen, doch das Programm selbst fordert nicht ausdrücklich die Revolution und bleibt in vielen Fragen politisch unscharf.

Die SPD erweist sich also programmatisch von Anfang nicht als revolutionär-sozialistische Partei, sondern als Zwitter zwischen Reform und Revolution. Allerdings ließ ihre Entwicklung bis 1914 diesen Mangel tw. in den Hintergrund treten, was vier Gründe hatte: 1. bezog sich die Praxis der SPD v.a. auf demokratische und unmittelbar soziale Fragen wie z.B. das Wahlrecht oder den 8-Stunden-Tag – es ging also (noch) nicht unmittelbar um die Frage der Macht. 2. war die Programmatik des Marxismus bzw. der revolutionären Arbeiterbewegung damals in einigen zentralen Fragen noch unentwickelt, so dass die erhebliche Differenz des SPD-Programms zu einem genuin revolutionären Programm noch nicht so offenbar werden konnte. Das drückte sich z.B. im etwas „algebraischen“ Marxismus von Kautsky aus. 3. gab es vor 1914 politisch auch noch keinen Verrat, gab es noch kein Scheitern der SPD, was ein Infragestellen der politischen Grundlagen hätet befördern können. 4. schließlich war die SPD die stärkste Arbeiterpartei der Welt und Zentrum der II. Internationale, auf die allenthalben eher mit Stolz als kritisch gesehen wurde.

Von der Degeneration zur Kapitulation

Der Aufstieg Deutschlands zu einer imperialistischen Macht an der Schwelle des 20. Jahrhunderts war – was Lenin herausarbeitete – mit der Entstehung neuer sozialer Schichten verbunden, welche die Bourgeoisie mit ihrem Extraprofit „unterhielt“: einerseits die Arbeiteraristokratie, d.h. die über gewisse „Privilegien“ verfügende Facharbeiterschaft, andererseits die sich daraus rekrutierende Arbeiterbürokratie, die hauptamtlichen Funktionäre der Arbeiterbewegung wie Gewerkschaftsfunktionäre, Abgeordnete oder Mitarbeiter des Parteiapparats. Diese Schichten wurden zu Trägern einer offener reformistischen, auf „Ausgleich“ orientierten Ideologie. Überhaupt waren die ADGB-Gewerkschaften, die von Beginn an mit der SPD verbunden waren, quasi der rechtere Flügel der Arbeiterbewegung.

Ideologisch fand das seinen Niederschlag u.a. im Revisionismus Bernsteins und in der Massenstreikdebatte, in der die Rechten und die Gewerkschaftsspitzen den Generalstreik als „Generalunsinn“ abtaten.

Als erste begriff Rosa Luxemburg diese politischen Gefahren und führte einen energischen Kampf zur Verteidigung des Marxismus in der Sozialdemokratie. Ab 1899 kritisierte und widerlegte sie schonungslos Bernsteins reformistische Konzeption. 1906 hob sie in ihrem Buch „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ die Bedeutung des Generalstreiks im Klassenkampf hervor und reagierte damit auf die ersten Massenstreiks um die Jahrhundertwende und auf die Erfahrungen aus der russischen Revolution von 1905. Bebel hingegen formulierte – stellvertretend für die SPD-Führung – auf dem Mannheimer Parteitag 1906 unmissverständlich: „Wir wollen vor allem Frieden und Eintracht zwischen Partei und Gewerkschaften herbeiführen.“

Während Luxemburg auf die Zuspitzung des Klassenkampfes, auf die verstärkte Militarisierung und Kriegsgefahr verwies, setzte sich in der Partei immer mehr die Auffassung durch, dass der Aufstieg der SPD stetig weiterginge und der Kapitalismus evolutionär und friedlich Richtung Sozialismus gelangen könnte. Obgleich Bernstein immer noch linker als die heutige Sozialdemokratie war, zeigte seine Konzeption schon alle wesentlichen Merkmale des Reformismus, welche ab 1914 zum Glaubensbekenntnis der Sozialdemokratie werden sollten.

Der Ausbruch des 1. Weltkriegs im August 1914 war die bis dahin größte Herausforderung für die SPD und die II. Internationale.

Entsprechend ihren – allerdings zu unverbindlichen – internationalen Beschlüssen hätten die Parteien der II. Internationale eine klare Anti-Kriegs-Haltung einnehmen müssen. Doch stattdessen schlugen sich die Parteien jeweils auf die Seite „ihrer“ nationalen Bourgeoisie, schlossen einen Burgfrieden mit ihr – und schickten die Massen, ihre Mitglieder und Wähler zum Verrecken auf die Schlachtfelder. Damit hatte die Sozialdemokratie den Rubikon des Klassenverrats überschritten und war zu einem Werkzeug der Bourgeoisie geworden – was sie noch heute ist.

Es ist das Verdienst der Linken in der SPD, v.a. von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, nicht nur gegen die offizielle Parteilinie opponiert, sondern auch praktische und organisatorische Schlussfolgerungen daraus gezogen zu haben. Schon im August 1914 gründeten sie in der SPD die „Gruppe Internationale“, aus der dann 1916 die „Spartakusgruppe“ hervorging, welche dann zur 1917 von der SPD abgespaltenen USPD um Kautsky gehörte und schließlich 1919 in der KPD aufging.

1923 schloss sich das Gros der USPD der KPD an, die damit zur Massenpartei und zu einer realen revolutionären Alternative zur Sozialdemokratie geworden war. Allerdings degenerierte sie unter dem Einfluss des Stalinismus selbst sehr bald zum Zentrismus und schließlich ab 1935 zum Reformismus.

Totengräber der Novemberrevolution

Als im November 1918 die Revolution ausbrach, hatte die SPD trotz ihrer Unterstützung der imperialistischen Kriegspolitik immer noch die Masse der Arbeiterklasse hinter sich, in den meisten Räten u.a. Organen der Revolution stellte sie die Mehrheit.

Die junge KPD war noch zu schwach und politisch zu unreif, die USPD hingegen war eine Massenkraft, die jedoch mit ihrem zwischen revolutionärer und bürgerlich-demokratischer Ausrichtung schwankenden Zentrismus keine grundsätzliche und konsistente Alternative zur SPD war.

Anders als in Russland, wo die Bolschewiki die bürgerliche Februar-Revolution bis zum sozialistischen Umsturz im Oktober voran trieben, verfolgte die SPD das Ziel, die Revolution auf die bürgerlich-demokratische Etappe zu beschränken, die Grundlagen des Kapitalismus und den bürgerlichen Staatsapparat zu bewahren. Die revolutionäre Flut und die Räte sollten nur eine Episode bleiben und Mittel zu diesem Zweck sein.

Dabei war die SPD-Führung um Ebert nicht zimperlich: keine Hetze, keine Lüge war groß genug, um die KPD, die revolutionären Obleute u.a. revolutionäre Kräfte zu denunzieren und von den Massen zu isolieren. Nicht genug damit, konspirierte die SPD-Spitze mit der Reichswehrführung und tolerierte, ja beförderte den Aufbau und den offenen Terror der reaktionären Freikorps. Wie schon 1914 erwies sich die SPD im Augenblick der Entscheidung erneut als zuverlässiger Sachwalter der kapitalistischen Ordnung.

Die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht durch die Freikorps – mit direkter Beihilfe durch die SPD-Spitze – zeigte, dass die SPD nicht nur der Schoßhund, sondern bei Bedarf auch der „Bluthund“ der Reaktion sein konnte, wie es Noske selbst ausdrückte.

Von Weimar …

Die Weimarer Republik hatte wenige „goldene“, dafür aber umso mehr bittere, ja dramatische Jahre. Kriegsniederlage, Reparationen, Inflation und Weltwirtschaftskrise prägten die Nation. Heftige, teils bewaffnete Klassenkämpfe belegen, dass das Proletariat wiederholt versuchte, die Macht zu ergreifen, um seine desaströse Lage zu verbessern.

Wie verhielt sich die SPD? Ihre proletarische Basis war teilweise durchaus in den Kämpfen involviert, ihre reformistische Führung jedoch tat alles, um eine Ausweitung dieser Kämpfe zu verhindern und sie im demokratischen Rahmen zu halten. Gewisse soziale Verbesserungen für die Massen Mitte der 1920er Jahre waren eher der konjunkturellen Entwicklung geschuldet als dem politischen Kampf der SPD. Das vorläufige Ende der revolutionären Nachwehen im Jahr 1923, der kurzzeitige Wirtschaftsaufschwung sowie die Fehler der KPD führten jedoch dazu, dass die SPD ihre dominante Stellung in der Arbeiterklasse beibehielt.

… zum Faschismus

1933 kulminierte die durch die unvollendete Revolution von 1918 „ungelöste“ Systemfrage: die angestauten Probleme konnten nicht mehr durch Reformen und Kompromisse im Rahmen der Demokratie beherrscht werden. Die Frage war: Übernimmt das Proletariat die Macht oder aber der Faschismus – der letzte Rammbock des Kapitals gegen die Arbeiterbewegung?

Das einzige Mittel gegen den aufkommenden Faschismus wäre die antifaschistische Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen gewesen, v.a. der KPD und der SPD. Die Politik der SPD boykottierte diese Aufgabe und setzte auf die Bewahrung der Demokratie. Dazu setzte sie sogar auf den erzreaktionären greisen Präsidenten Hindenburg als Alternative zu Hitler. Die Passivität, das Nichteingehen auf die Einheitsfrontpolitik wurde der SPD-Führung durch die diversen Fehler der KPD (Sozialfaschismus-These, Einheitsfront von unten) wesentlich erleichtert. Letztlich war die SPD als immer noch stärkste Arbeiterpartei, v.a. unter den gewerkschaftlich Organisierten, jedoch hauptverantwortlich für die kampflose Niederlage des deutschen Proletariats.

Der Hauptgrund für diese Kapitulantenpolitik war die Angst der SPD vor jeder größeren Mobilisierung der Klasse, weil diese nicht nur die Faschisten hätte schlagen, sondern auch das System insgesamt hätte stürzen können.

Sozialismus oder Wiederaufbau des deutschen Kapitalismus?

Das war die Alternative, die 1945 objektiv in Deutschland auf der Tagesordnung stand und durchaus auch im Bewusstsein der Massen präsent war – obwohl weder SPD noch KPD zur Überwindung des Kapitalismus aufriefen. Antifa-Komitees, die Selbstverwaltung vieler „herrenloser“ Betriebe durch die Beschäftigten, die Kampagnen zur Sozialisierung der Schwerindustrie und große Streikbewegungen in den Westzonen bis in die 1950er hinein waren Ansätze dazu.

Die SPD nutzte diese Ansätze nicht. Mehr noch: zusammen mit den West-Alliierten wirkte sie aktiv dafür, den DGB als rein reformistische Organisation wieder aufzubauen, „sozialpartnerschaftliche“ Strukturen zu etablieren und die Mobilisierungen auszuverkaufen. In Ostdeutschland fusionierte das Gros der SPD mit der KPD zur SED – auf reformistischer Grundlage.

Der lange Nachkriegs-Boom führte zu einer deutlichen Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiterklasse in der BRD. Zusammen mit dem selbst verschuldeten politischen Niedergang der KPD und dem abstoßenden „DDR-Sozialismus“ a la Stalin führte das zum Niedergang des antikapitalistischen Bewusstseins der westdeutschen Arbeiterklasse. Die SPD beherrschte die Klasse ideologisch – und über ihren Einfluss auf den DGB – auch strukturell.

Erst das Ende des Booms und die 68er-Bewegung brachten Bewegung in die konservative Erstarrung der Adenauer-Republik. Obwohl die „Neue Linke“ sich als politisch zu unreif erwies, um die Dominanz der Sozialdemokratie zu brechen, zeigte ihre Entstehung doch, dass ab jetzt „alternative“ Bewegungen und Klassenkämpfe nicht mehr der SPD zugute kamen, sondern ihren Einfluss tendenziell untergruben. V.a. die Umweltbewegung und die Entstehung der Grünen belegen, dass es der SPD kaum noch gelang, neue Kräfte an sich zu binden, geschweige denn sie zu dominieren.

Warum jedoch behielt sie trotzdem ihre dominante Stellung in der Arbeiterklasse? Warum stellte sie noch mehrere Kanzler und erreichte Mitte der 1970er sogar ihre höchste Mitgliederzahl von über einer Million?

Dafür sind u.a. drei Faktoren wichtig: 1. behielt sie weiterhin die fast vollständige Kontrolle über den DGB, über deren Apparat und die Betriebsräte und somit über die entscheidenden, organisierten Strukturen der Klasse. 2. gab es keine reale oder attraktive Alternative – weder als politische Kraft noch als Gesellschaftssystem (DDR). 3. verbanden Millionen von ArbeiterInnen den in den Jahren des Nachkriegsbooms erreichten Lebensstandard mit der Vorstellung, dass der Kapitalismus tatsächlich reformierbar wäre.

Lafontaine und Schröder

Die Namen dieser beiden SPD-Vorsitzenden sind mit entscheidenden Weichenstellungen und Niederlagen der deutschen Arbeiterklasse – in Ost und West – verbunden.

Als 1989/90 der Stalinismus in der DDR gestürzt wurde und die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung kam, war Lafontaine Kanzlerkandidat. Vieles deutete darauf hin, er würde Kohl ablösen. Doch während dieser recht geschickt auf die politischen Herausforderungen reagierte und die nationalistische Welle kräftig anheizte, setzte sich Lafontaine zwischen alle Stühle und verlor. Seine Politik ist typisch dafür, wie der Reformismus angesichts großer historischer Herausforderungen komplett versagt. Die Kosten der Einheit, die Kohl erst kleinredete und dann den Massen in Ost und West aufbürdete, glaubte Lafontaine zu mindern, indem er die Einheit verzögern wollte – was den kurzfristigen Ambitionen der westdeutschen Bourgeoisie zuwider lief. So manövrierte er sich ins Abseits, da weder das Kapital im Westen, noch die Arbeiterklasse in Ost und West mit seiner Politik etwas anfangen konnten.

Während Lafontaines misslungener Versuch, dem Kapital „kritisch“ zu dienen, lediglich die Kanzlerschaft kostete, brachte ab 1998 SPD-Kanzler Schröder die SPD an den Rand des Abgrunds.

Mit den von ihm 2002 eingeleiteten Agenda-Reformen begann der massivste Angriff auf die Arbeiterklasse nach 1945. Millionen wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Mit der immensen Ausweitung prekärer Beschäftigung wurde die Spaltung der Arbeiterklasse vorangetrieben und das Lohnniveau nach unten gedrückt. Neben anderen Reformen wurden v.a. damit die Profitraten und die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals verbessert.

Dieser soziale Crashkurs schleuderte auch die SPD selbst fast aus der Bahn. Große Teile der Arbeiterklasse wandten sich enttäuscht von der SPD ab – wenn auch nicht vom Reformismus als solchen. V.a. deshalb ist auch die absolute Zahl der Wählerstimmen für die SPD seitdem (selbst bei Wahlsiegen) deutlich niedriger als früher. Dramatisch ist auch der Rückgang der Mitgliederzahlen: hatte die SPD 1990 noch 943.000 Mitglieder, waren es 2012  gerade noch 477.000.

Die SPD heute

Obwohl die SPD bis heute über das Gros des reformistischen Gewerkschaftsapparats die Arbeiterklasse kontrolliert, bröckelt ihr Einfluss. Und unter dem Druck der Krise wird der Spielraum selbst für kleinste „Reformen“ und Kompromisse immer schmaler.

So ist es kein Wunder, dass 2004 – zum ersten Mal nach 1945 – mit der WASG auch der Ansatz einer organisierten Alternative zur SPD aus ihr selbst entstand. Die WASG löste sich jedoch, da die sie dominierenden Kräfte auch nur einen „besseren“ Reformismus präsentierten, entweder im Nichts auf oder vereinigte sich mit der PDS zu DIE LINKE.

Die Entwicklung der SPD, ihre zahlreichen Verbrechen, ihr historisches Versagen, ihre aktuelle Politik verführen leicht dazu, sie nicht mehr als Arbeiterpartei, sondern als „normale“ bürgerliche Partei anzusehen – zudem sie sich schon seit dem Godesberger Parteitag von 1959 selbst nicht mehr als Arbeiterpartei bezeichnet. Doch jede genauere Analyse zeigt, dass die SPD immer noch eine „besondere“ Partei ist: eine bürgerliche Arbeiterpartei ist. Erst wenn ihre letzten, aber entscheidenden Bindungen an die Klasse über den DGB gekappt sind, wäre die SPD eine bürgerliche Partei wie CDU, FDP oder Grüne.

Doch dieser qualitative Bruch ist noch nicht erfolgt, und so bleibt die SPD immer noch das Haupthindernis im Klassenkampf, das es v.a mittels der Einheitsfrontpolitik zu bekämpfen gilt. Unter dem Druck der Krise wird es aber immer schwieriger für die SPD, sich als politische Kraft innerhalb der Arbeiterbewegung zu behaupten. So ist es nur eine Frage der Zeit, dass auch hierzulande eine relevante Bewegung dafür entsteht, eine neue Arbeiterpartei aufzubauen, die für Klassenkampf, Revolution und Sozialismus steht und nur auf einen Vorteil der SPD wert legt: auf ihren Status einer Massenpartei.

Für dieses Ziel zu arbeiten, muss die strategische Hauptaufgabe aller Linken und aller klassenbewusster ArbeiterInnen sein. Unser Ziel ist nicht ein anderer Reformismus a la Lafontaine und Linkspartei, sondern eine Partei im Geiste von Marx, Lenin, Trotzki und Luxemburg!