Wagenknechts neue Partei: Alle für „unser Land“?

Martin Suchanek, Infomail 1234, 23. Oktober 2023

„Unser Land ist in keiner guten Verfassung.“ So beginnt das Gründungsmanifest des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), das allen „Wirtschaftliche Vernunft“, „Soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Freiheit“ verspricht. Schließlich verdiene „unser Land“ „eine selbstbewusste Politik, die das Wohlergehen seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt“.

Und diese versprechen Wagenknecht und 15 weitere Abgeordnete und Politiker:innen der Linkspartei, die mit dem offenen Brief „Warum wir Die Linke verlassen“ ihren Austritt aus der Partei erklären. Die 16 hätten immer wieder argumentiert, „dass falsche Schwerpunkte und die fehlende Konzentration auf soziale Gerechtigkeit und Frieden das Profil der Partei verwässern.“ Ihre Positionen hätten keinen Platz mehr in der Partei gefunden.

Vorweg: Begriffe wie Kapitalismus, Imperialismus, Sozialismus, Arbeiter:innenklasse, Klassengesellschaft oder links kommen im Gründungsmanifest des „Bündnis Sahra Wagenknecht“, das am 23. Oktober auf der Bundespresskonferenz vorgestellt wurde, erst gar nicht vor.

Wirtschaft

Dafür gibt der Text einen Vorgeschmack, wohin die Reise politisch und programmatisch gehen soll: „Mehr Innovation, Bildung und bessere Infrastruktur. Für eine starke und innovative Wirtschaft“ – so die Überschrift des ersten von vier Schwerpunktthemen.

Darin wird ein Zeichen des Niedergangs „unserer“ Wirtschaft präsentiert, wie es auch von jeder anderen Partei im Bundestagspartei kommen könnte, ob nun AfD, CDU/CSU oder der Ampel. Die Rahmenbedingungen für Industrie und Mittelstand hätten sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert, beklagt das BSW.

Woran liegt es? „Von Konzernen beeinflusste und gekaufte Politik und das Versagen der Kartellbehörden haben eine Marktwirtschaft geschaffen, in der viele Märkte nicht mehr funktionieren.“ Und die Lösung? Echter, also fairer Wettbewerb, wie es ihn angeblich mal unter Ludwig Erhard und Willi Brandt gegeben hätte.

„Wir streben eine innovative Wirtschaft mit fairem Wettbewerb, gut bezahlten sicheren Arbeitsplätzen, einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einem gerechten Steuersystem und einem starken Mittelstand an. Dafür wollen wir Marktmacht begrenzen und marktbeherrschende Konzerne entflechten. Wo Monopole unvermeidlich sind, müssen die Aufgaben gemeinnützigen Anbietern übertragen werden.“

Dass die Konkurrenz selbst zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals führen muss, davon will die ehemalige Marxistin Wagenknecht längst nichts mehr wissen. Statt dessen folgt der Griff in die Mottenkiste des kleinbürgerlichen Antimonopolismus, der hofft, mit staatlichen Regulierungen die Entwicklungsdynamik des Kapitals lenken zu können. Es handele sich um eine Wirtschaftspolitik, in deren Zentrum der vorzugsweise deutsche Mittelstand stehe: „Wir brauchen Zukunftsfonds zur Förderung innovativer heimischer Unternehmen und Start-ups und nicht Milliardensubventionen für Konzerne aus Übersee.“ Gegen staatliche Förderungen des Privatkapitals ist also nichts weiter einzuwenden, solange es nicht aus Übersee kommt, sondern deutsch und innovativ ist.

Soziale Gerechtigkeit

Auf der Stärke der heimischen Industrie und des privaten Mittelstandes würden laut BSW „mehr Solidarität, Chancengleichheit und soziale Sicherheit“ fußen, die in einem „starken gesellschaftlichen Zusammenhalt“ münden sollen.

Eine hochproduktive Wirtschaft brauche schließlich gut bezahlte, hoch motivierte Arbeitskräfte mit sicheren Arbeitsbedingungen, guter Infrastruktur und Sozialstaat. Solcherart könne der „soziale Zusammenhalt“ garantiert werden, denn schließlich hätten alle – Unternehmen wie Beschäftigte – etwas davon. Denn: „Unser Ziel ist eine faire Leistungsgesellschaft mit echter Chancengleichheit und einem hohen Grad an sozialer Sicherheit.“ Schließlich dürfe der persönliche Wohlstand „keine Frage der sozialen Herkunft“, „sondern muss das Ergebnis von Fleiß und individueller Anstrengung sein.“ Das Märchen vom Tellerwäscher, der es zum Millionär bringen könnte, darf natürlich beim BSW nicht fehlen.

Freiheit

Wenn alle in der echten deutschen Marktwirtschaft ihr gutes Auskommen haben, würde es schließlich auch mit der Freiheit wieder richtig klappen, verspricht der Abschnitt „Verteidigung der persönlichen Freiheit. Für die Stärkung unserer Demokratie“.

Dann wäre endlich Schluss mit „Cancel Culture, Konformitätsdruck und der zunehmenden Verengung des Meinungsspektrums“. Allerdings nicht für alle: Zuwanderung und Migration müssten schließlich begrenzt werden, denn die Freiheit, die das BSW verspricht, gibt es nur für jene, die dem deutschen Sozialstaat zumutbar sind. „Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt.“ Und – daran lässt Sahra Wagenknecht schon lange keinen Zweifel mehr – dieser Punkt sei längst überschritten und daher stimmt die neue vorgebliche Oppositionspartei gleich in den Chor all jener ein, die praktisch täglich neue rassistische Gesetzesverschärfungen fordern.

Frieden

Bleibt noch der Ruf nach einem „neuen Verständnis der Außenpolitik“ in der Tradition von Willi Brandt und Michail Gorbatschow. Das BWS gibt sich betont pazifistisch: „Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab.“ Ob imperialistische Intervention, Verteidigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts – für BWS ist alles gleichermaßen schlecht.

Auch wenn es zu Recht die Aufrüstung der NATO anprangert, so bleibt sein Programm vollkommen utopisch. Schließlich muss auch in der Welt des BSW der Weltfrieden irgendwie garantiert werden. Aber wie? Inmitten des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen imperialistischen Mächten strebt es eine „neue Ära der Entspannung und neue Verträge über Abrüstung und gemeinsame Sicherheit an“. Die imperialistische Ordnung soll – ganz wie der Kapitalismus – nicht bekämpft, sondern nur reguliert werden – und zwar vorzugsweise von jenen Mächten, die heute die Welt dominieren.

Deutschland soll dabei aktiv mitmischen, ja voranschreiten. So erfahren wir vom BSW: „Europa benötigt eine stabile Sicherheitsarchitektur.“ Natürlich mit Bundeswehr. Diese hätte schließlich den „Auftrag, unser Land zu verteidigen. Für diese Aufgabe muss sie angemessen ausgerüstet sein.“

Soziale Marktwirtschaft als Heilsversprechen

So endet das BSW bei den Heilsversprechen der „sozialen Marktwirtschaft“. Es bleibt im Grunde sogar weit hinter den Formulierungen der alten Sozialdemokratie oder von Teilen der Linkspartei wie der Bewegungslinken zurück, die über Verstaatlichungen oder „Vergesellschaftung“ eine langwierige Transformation zu einer neuen Gesellschaft versprachen oder versprechen. Selbst von diesen reformistischen Sonntagsreden will das BSW nichts wissen. Es setzt vielmehr auf echten, fairen Wettbewerb, damit der „Mittelstand“ endlich wieder Deutschland voranbringt.

Statt reformistisch eingehegter, im Grunde bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik, die immerhin noch den Klassengegensatz formal berücksichtigt, kennt die neue Partei keine Klassen. Das Großkapital wird nicht als Kapital kritisiert, sondern der Verzerrung des Wettbewerbs angeklagt, der eigentlichen Quelle allen Übels.

Daher stellt es den Monopolen und insbesondere den ausländischen Großkonzernen die Einheit des „Volkes“, vom mittleren und kleinen Unternehmen bis zum prekär Beschäftigten entgegen. Von einer „richtigen“ Wirtschaftspolitik könnten dann alle profitieren, vorausgesetzt, der Staat würde sich um die „wirklichen Menschen“ und nicht um „Randgruppen“ kümmern und auch die Zahl der Menschen auf ein „vernünftiges“ Maß durch effektive Einreiserestriktionen begrenzen.

Dieses Weltsicht, diese politische Heilserwartung entspricht der „Vernunft“, genauer der Klassenlage, deutscher Kleinbürger:innen und Mittelschichten. Links und oppositionell ist daran – nichts.




Ukrainekrieg: Pazifismus zusehends hilflos

Jürgen Roth, Neue Internationale 263, April 2023

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte erst wenige Tage an, da löste sich die Schockstarre. Der größte Friedensprotest seit dem Irakkrieg 2003 führte europaweit mehrere Millionen Teilnehmende auf die Straßen, darunter mehr als eine halbe Million allein am 27. Februar in Berlin. Fast zeitgleich kündigte Kanzler Scholz nur wenige hundert Meter entfernt das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte an. Wahrlich eine Zeitenwende, die auch an Friedensbewegung und DIE LINKE nicht spurlos vorübergehen wird!

Alle Redner:innen befürworteten Sanktionen seitens der Bundesregierung. Eine Sprecherin aus der Ukraine forderte, ganz im Einklang mit der Linie ihrer Regierung, Waffen. Viel interessanter war, was in allen Reden nicht einmal benannt wurde. Es fiel kein Wort über die just zuvor beschlossene massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Osterweiterung der NATO und ihre Manöver an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Auch die jüngere ukrainische Geschichte seit den Euromaidanprotesten war keine Erwähnung wert. Den Ruf nach Sanktionen schluckte die Mehrzahl der Friedensbewegten also bereits. Damit meinte sie, sich weiterhin offensichtlich genug vom Militarismus abgrenzen zu können, schließlich stand das der Forderung nach Waffen (und deutscher Kriegsbeteiligung) und somit ihrem pazifistischen Image förderlich entgegen – einstweilen!

Dilemma des Pazifismus

Wir sehen also, dass der Pazifismus in letzter Konsequenz gegen sein eigenes Mantra verstoßen muss, sobald der erste Schuss fällt. Pazifist:innen teilen alles Bürgerliche – außer Kriegsgewalt. Diese erscheint ihnen nicht als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als aus den Widersprüchen der Klassengesellschaft erwachsen, sondern als unerklärlicher Betriebsunfall der Geschichte, Sieg des Bösen über das Gute im Menschen.

Bricht der Krieg entgegen allen pazifistischen Formeln doch aus, so bleibt entweder das letztlich abstrakte Beschwören des Friedens – oder man schließt sich notgedrungen jener Seite an, die das „Gute“ zu verkörpern scheint, in unserem Fall der Bundesregierung und der NATO. Damit begibt sich der Pazifismus auf die Rutschbahn nach rechts – zum Chauvinismus und entwaffnet sich trotz aller Friedensbekundungen vor dem Kriegstreiben der „eigenen“ Regierung.

Die reformistischen Parteien (SPD, Linkspartei) und viele zentristische Organisationen der Arbeiter:innenbewegung teilen entweder Chauvinismus oder Pazifismus bzw. schwanken zwischen diesen, weshalb wir auch von Sozialchauvinismus bzw. -pazifismus sprechen. Geht ersterer spätestens mit Kriegsausbruch offen ins Regierungslager über, appelliert letzterer an den Willen zum Friedensschluss – mitten im Krieg! Der Status quo ante soll also wieder hergestellt werden, das Pulverfass der imperialistischen Widersprüche unversehrt voll bleiben – nur ohne Lunte! Eine unabhängige Klassenpolitik, die auf die Niederlage der „eigenen“ Regierung keine Rücksicht nimmt, lehnt der Sozialpazifismus ab. Der Logik „töten oder getötet werden“ kann er sich nicht entziehen. Er gerät damit zu einer „alternativen“ Form der Vaterlandsverteidigung, die große Teile bald auf die Abgleitfläche zur echten rutschen lässt.

Allerdings müssen wir zwischen dem ehrlichen, berechtigten Pazifismus Lohnabhängiger aus Angst vor Krieg und in Solidarität mit den ukrainischen Massen und dem heuchlerischen der Kirchenfürst:innen, Politiker:innen und Journalist:innen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir unter ihnen unsere Verbündeten im Kampf gegen die Kriegsgräuel suchen müssen, nicht in Parlamenten, Amtsstuben und Militär. Dazu ist jedoch ein politischer, geduldiger Kampf gegen die grundlegenden Fehler und Schwächen dieser Ideologie unerlässlich.

Anders als die (Sozial-)Pazifist:innen unterscheiden wir zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kriegen. So ist der Bürger:innenkrieg zur Erringung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse ebenso zu unterstützen wie der Kampf einer unterdrückten Nation um Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Abtrennung von Gebieten, wenn deren Bevölkerungsmehrheit das will. Im imperialistischen Krieg treten wir dagegen für den revolutionären Defaitismus ein, den Klassenkampf ohne Rücksicht auf die Niederlage der „eigenen“ Regierungen.

Aber sollten die Arbeiter:innen nicht einen reaktionären Krieg verhindern? Ja, unbedingt! Aber mit eigenen Mitteln des Klassenkampfes, nicht mit zahnlosen Appellen an die Regierungen!

Katalysator Kriegsfrage

In Zeiten verschärften Konflikts um die Neuaufteilung der Welt geraten auch die halbkolonialen Länder wie die Ukraine zusehends ins Gravitationsfeld der einen oder anderen imperialistischen Machtkonstellation. Das gilt leider auch für den (Sozial-)Pazifismus. Kann der Ausbruch eines Kriegs nicht verhindert werden, ist das Friedenslatein schnell am Ende. Jetzt ist der Klassenkampf noch unmöglicher als zuvor geworden, scheint es. Sind nicht die jungen Arbeiter:innen an der Front? Gebietet nicht der Krieg die Einstellung aller unabhängigen Klassenaktivität? Denn diese könnte doch die Niederlage der „eigenen“ Regierung heraufbeschwören? Und wäre das nicht gleichbedeutend, einseitig das Werk der Kriegsgegner:innen zu verrichten?

Da Imperialismus die Konzentration des Kapitals und herrschende Politik konzentriertester Ausdruck gesamtkapitalistischer nationaler Interessen bedeuten, spitzt der Krieg alle Widersprüche zu. Das ist der Hintergrund, warum Pazifist:innen ins (sozial-)chauvinistische Lager überlaufen müssen, wenn sie nicht die Niederlage der „eigenen“ Regierung in Kauf nehmen wollen.

DIE LINKE: haltloser Pazifismus

Das Milieu, aus dem sich Friedens- wie manch andere humanitäre Bewegung (Seebrücke, NGOs) vorrangig rekrutieren einschließlich der Linkspartei, wird ein politisches Erdbeben erleben.

So diskutierte die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus am ersten Märzwochenende und deren Co-Vorsitzender Carsten Schatz forderte: „Sofortiger Rückzug der russischen Truppen!“ Die richtige Forderung wird freilich zur Anpassung an die Bundesregierung, wenn jede Kritik an der NATO-Politik ausbleibt. Kultursenator Lederer bezichtigt Putin des „offensiven Bruchs mit der europäischen Friedensordnung“, für die Deutschland und die EU Verantwortung zu übernehmen hätten.

Ohne Namen zu nennen, geht er ans vermeintliche Eingemachte der Partei: antimilitaristische Haltung, Position zur NATO, zu Russland: „Lasst es einfach weg!“ Pankows Bezirksbürgermeister Benn sieht ein „Selbsterschrecken“ in den eigenen Reihen, ein tiefes „Selbstbefragen einer ganzen Reihe von Positionen“ am Horizont aufziehen. Sozialsenatorin Kipping legt nach: „Keine Verharmlosung von Putin mehr. Putin ist nun mal Feind der Linken.“

Für die Ex-Parteivorsitzende steht der Hauptfeind exklusiv im anderen Land. Mögen ihr beim alljährlichen Gedenkritual an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs die Nelken in der Hand verdorren! Tobias Schulze bemerkt scheinheilig: „Was für die Rüstung geht, geht offenbar für die städtische und soziale Infrastruktur nicht, nämlich die Schuldenbremse auszusetzen.“ Gäbe es also die Schuldenbremse nicht, so drängt sich auf, wäre die Aufrüstung für DIE LINKE zustimmungsfähig. Welch‘ prinzipienfester Antimilitarismus!

Die Abgrenzung von wirklichen oder vermeintlichen „Putinversteher:innen“ erfüllt beim rechten Flügel der Linkspartei längst nicht mehr allein die Funktion einer Kritik an der Verharmlosung des russischen Imperialismus – vielmehr sollen so alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die an einer angeblichen starren NATO-Ablehnung festhalten wollen. Es ist damit zu rechnen, dass der starke „Reformer“-Flügel um die sog. Regierungssozialist:innen, welcher sich offen prowestlich und hinter vorgehaltener Hand pro-NATO aufstellt, zum Angriff auf die in die Jahre gekommenen traditionslinken, sozialpazifistischen Grundsätze blasen wird, denen er sich bislang unterordnen musste. Die Ukrainekrise bringt nun neue Bewegung in den Transformationsprozess der Linkspartei nach rechts, während der linke Flügel noch weiter in die Defensive gerät. Es rächt sich heute, dass über Jahre Pazifismus, humanitäre Friedensphrasen und das Beschwören von Völkerrecht und UNO als Ultima Ratio der internationalen Ordnung als „Antimilitarismus“ verklärt wurden. In Wirklichkeit wurde nur das Fehlen einer antiimperialistischen und internationalistischen Politik schöngeredet, was heute dem rechten Flügel der Partei in die Hände spielt.

Interventionistische Linke (IL)

Doch nicht nur die reformistische Linke gerät in schweres Fahrwasser. Auch die größte Organisation der „radikalen Linken“, die IL, gerät ins Studeln.

In ihrem Aufruf vom März 2022 verurteilt sie den russischen Angriff. Gleichzeitig lehnt sie eine Parteinahme im Konflikt ab: „Wir lehnen die falschen Alternativen ab, weil die behauptete Alternativlosigkeit jeden Raum für Widersprüche und Kritik verschließt. [ … ] Wir entziehen uns der Identifikation mit staatlicher Macht. Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen [ … ], wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.“

Leider „entzieht“ sich die IL auch einer klaren revolutionären Antwort, wie der Krieg gestoppt werden kann. Sie spricht sich für die Unterstützung der „Menschen vor Ort“ aus? Doch worin soll diese bestehen? Welche Politik sollen die Arbeiter:innenklasse und Linke in Russland oder in der Ukraine vertreten? Über diese Fragen schweigt sich die IL aus und verbleibt letztlich bei einer sicherlich löblichen, politisch aber unzureichenden humanitären Unterstützung von Opfern des Krieges.

Darüber hinaus wendet sie sich gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral, bezeichnet den Krieg „als vorläufige[n] negative[n] Höhepunkt von weltweit immer schärfer werdenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten.“ Sie tritt zu Recht gegen die Aufrüstung der Bundeswehr ein, für Solidarität mit Geflüchteten aller Hautfarben und Herkunft aus der Ukraine, Kriegsdienstverweiger:innen, Friedensaktivist:innen, Frauen und LGBTIQ, Genoss:innen der sozialen, linken, sozialistischen und anarchistischen Bewegungen aus beiden kriegführenden Ländern.

Richtig ist auch ihre Aufforderung, aktiv zu werden, eine Bewegung gegen Militarismus und Krieg aufzubauen, die lebendig, links und internationalistisch agieren soll. Doch für die Grundlage eines solchen Antikriegsbündnisses macht sie keinen Vorschlag. Stattdessen prophezeit sie (fälschlich): „Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung finden in der Klimagerechtigkeitsbewegung einen neuen, starken Gegner. [ … ] Bringen wir zusammen, was zusammengehört: die Kämpfe gegen alle Grenzen, gegen Imperien und Kriege, gegen Klimakrise, Patriarchat und Kapitalismus.“ Mit dämlichen Parolen wie „Heizung runter für den Frieden!“, „Pullover statt Erdgas!“, am 24. März zu sichten, dürfte das Zusammenbringen arg schwierig ausfallen.

So wenig selbst blau-gelbe Pullover eine Antwort auf drohende Energiearmut liefern, so großzügig sieht die IL über die Untauglichkeit einer Bewegung im Sog des Vaterlandsverteidigungstaumels für ein Antikriegsbündnis hinweg. Die IL spielt ein Chamäleon, das hinter „Bewegungen“ unkritisch hinterher trabt, statt ihnen eine antikapitalistische Perspektive anzubieten. Die Farbe Rot verblasst gerade, wenn’s drauf ankommt!

Dahinter steckt nicht nur ein mehr oder weniger hoffnungsfroher „Optimismus“ – es wird auch das Fehlen jeder Klassenpolitik deutlich. Die Frage, wie die Lohnabhängigen, wie Gewerkschafter:innen, die reformistisch dominierte Arbeiter:innenbewegung für eine Antikriegsbewegung gewonnen werden können, stellt sich die IL erst gar nicht. Den Spitzenbürokrat:innen im DGB, bei der Linkspartei und erst recht in der SPD wird’s recht sein. Uns nicht.




La Fontaine: La Fin

Frederik Haber, Infomail 1182, 21. März 2022

Das Ende seiner parlamentarischen Laufbahn, zuletzt als Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Saarländischen Landtag, und seiner Mitgliedschaft in ebendieser Partei dürften auch das Ende seiner politischen Laufbahn bedeuten.

Schon im März 1999, als Lafontaine sein Amt als Finanzminister der Schröder/Fischer-Regierung und alle Ämter in der SPD niederlegte, war ihm das Ende seiner politischen Laufbahn vorausgesagt worden. Die Wende der Sozialdemokratie zur „neuen Mitte“, zu einem Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz, wollte der überzeugte „echte“ Sozialdemokrat und auf staatliche Regulierung des Kapitalismus zum vermeintlichen Wohl aller Klassen in Deutschland bedachte Reformist nicht mitmachen.

Die Nachrufe auf Lafontaine von Seiten der rechts gewendeten Sozialdemokratie und des liberalen und konservativen Mainstreams erwiesen sich damals als verfrüht.

Comeback

Er schaffte damals das Comeback. Entscheidend dafür war der Kampf gegen die Agenda 2010 und die Hartzgesetze sowie gegen den Jugoslawien- und Afghanistankrieg unter Rot-Grün. Die Massenproteste hatte er zwar nicht initiiert. Allerdings verstand er es, diese für sich und den Versuch eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie zu nutzen – und bis zu einem gewissen Grad war er damit auch erfolgreich. Nachdem die Agendapläne bekannt geworden waren, demonstrierten Hunderttausend in Berlin. Teile der Gewerkschaften riefen zum Widerstand auf. Am weitesten ging die IG Metall in Schweinfurt, die im Juni 2003 praktisch einen ganzen Tag alle Metaller:innen auf die Straße brachte. Der dortige Bevollmächtigte Klaus Ernst lud Lafontaine als Hauptredner ein. Auch wenn die Bewegung nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung der Regierung durch die DGB-Vorstände geschlagen wurde, entstand die WASG, die später mit der PDS zur LINKEN wurde. Lafontaine wurde Parteivorsitzender und war damit der einzige Mensch in der Geschichte der BRD, dem dies in zwei verschiedenen Parteien gelang.

Er war Oberbürgermeister von Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlandes – der erste sozialdemokratische – und Kanzlerkandidat der SPD gewesen. Die Wahl 1990 ging verloren und er hatte einigen Anteil daran. Völlig richtig hatte er zwar vorhergesehen, dass die schnelle Einverleibung der DDR in die BRD unter den bestehenden kapitalistischen Bedingungen zu einer Vernichtung der DDR-Industrie führen würde mit all ihren verheerenden Folgen. Diese Zweifel trafen in der Phase des nationalen, konterrevolutionär-demokratischen Taumels, in den die Aufbruchstimmung von 1989 versackt war, auf taube Ohren. Vor allem aber vertrat Lafontaine selbst keine fortschrittliche politische Alternative zu diesem Prozess der politischen Unterwerfung und des ökonomischen Überrollens. Kohls Versprechen der „blühenden Landschaften“ stellte er die letztlich nur unmittelbaren Interessen der westdeutschen Arbeiter:innen gegenüber, genauer deren etablierte Einbindung in das System der Sozialpartner:innenschaft.

Reformistischer Kern

Auch wenn Lafontaines Politik immer wieder als linkssozialdemokratisch betrachtet und verklärt wurde, so zeigt sein politischer Werdegang, dass diese letztlich immer von dem Bemühen geprägt war, die Gesamtinteressen des Kapitals mit jenen der deutschen Arbeiter:innenklasse zu vermitteln.

So hatte er schon vor der Wiedervereinigung die Stahlkrise im Saarland mit ihren Massenentlassungen in den 1980er Jahren „sozialverträglich“ gestaltet. Das war Ende 1990 noch keine Option. In einer Phase von Revolution und Konterrevolution taugen die Rezepte des Reformismus nichts, der sozial„staatlich“ vermittelte Klassenkompromiss der BRD ließ sich nicht auf die ehemalige DDR ausdehnen. Das Kapital nutzte den Sieg im Kalten Krieg und die kapitalistische Wiedervereinigung vielmehr zur Schaffung eines Billiglohnsektors im Osten.

Dass Lafontaine auch Minderheitsmeinungen offen auszusprechen und damit anzuecken vermochte, war das, was ihn immer vor vielen anderen Politiker:innen ausgezeichnet und ihm meist Sympathien entgegengebracht hat. Er war gegen den NATO-Doppelbeschluss gewesen, der massive nukleare Aufrüstung mit Abrüstungsangeboten an die UdSSR verbunden hatte, und hatte sich damit gegen den SPD-Kanzler Schmidt gestellt. Er war der sozialdemokratische Held in der Friedensbewegung und beteiligte sich drei Tage an Blockaden des Raketendepots in Schwäbisch Gmünd-Mutlangen.

Er schlug in der industriellen Krise Ende der 1980er Jahre vor, die Arbeitszeit auch ohne Lohnausgleich zu verkürzen, was auf Empörung in Gewerkschaftskreisen traf. Auch wenn es eigentlich die Realität aller Arbeitszeitverkürzungen beschrieb, wo auch damals schon entgegen der offiziellen Präsentation natürlich die Zeitverkürzung mit Rationalisierung und Inflation verrechnet worden war, so verdeutlichte dieser Lafontaine’sche „Sozialismus in einer Klasse“ auch, dass er keineswegs ein entschiedener Vertreter der Lohnabhängigen war, sondern vor allem einer eines vermeintlich realistischen sozialen Ausgleichs.

Genauso stellte er sich gegen Kanzler Schröder sowohl im Falle des NATO-Angriffs auf Jugoslawien als auch in der Wirtschaftspolitik. Dieser Konflikt endete in seinem schmählichen Rücktritt als Finanzminister. Nachdem er daran beteiligt gewesen war, die übelsten Angriffe der Kohlregierung auf die Arbeiter:innen zu revidieren, plante er eine linkskeynesianistische Politik: die Wirtschaftsförderung mit sozialen und ökologischen Auflagen zu verbinden. Dieses Modell war schon 1999 nicht zu verwirklichen. Schröder setzte vielmehr darauf, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Kosten der Arbeitenden zu verbessern und mit einer darauf ausgerichteten und von Deutschland dominierten EU den US-Imperialismus herauszufordern (Agenda 2010). Lafontaines Modell, das heute in ähnlicher Weise als „Green New Deal“ durch die Reden und Papiere geistert, scheiterte an den sich verändernden Akkumulationsbedingungen des Kapitals.

Diese Utopie, die glaubt, durch staatlichen Druck den Kapitalismus in ein soziales und ökologisches Bett zu zwingen, verkennt, dass er in seinem grundlegenden Charakter auf der Konkurrenz der Kapitalien um die höchste Profitrate beruht. Und zwar global. Sie verkennt auch den Charakter des bürgerlichen Staates.

Beide Irrtümer binden Lafontaine wie so viele andere Reformist:innen an das Wunschbild/Ziel des „Sozialstaates“. Ein starker Staat ist dafür nötig, der auch auf mächtige Teile der herrschenden Klasse Druck ausüben – und Regelungen in seinem Wirkungsbereich durchsetzen kann, dem gegebenen Staat.

Nationalismus und Sozialchauvinismus

Hier liegt der Weg zum Nationalismus und Sozialchauvinismus. Nicht nur die internationale Konkurrenz bedroht diesen zufolge die sozialen und ökologischen Errungenschaften, sondern auch Flüchtlinge und Migrant:innen. Lafontaine spielte eine entscheidende Rolle bei der Formulierung des sog. Asylkompromisses 1992 zwischen CDU/CSU und SPD, dem Anfang vom Ende des heute praktisch inexistenten Asylrechts. Er stellte sich zusammen mit seiner Frau, Sahra Wagenknecht, in den letzten zehn Jahren wiederholt gegen „Fremdarbeiter:innen“ und warf seiner Partei vor, die (vermeintliche) Existenzbedrohung deutscher Facharbeiter:innen durch ungebremste Immigration zu ignorieren.

In seiner Austrittsbegründung aus der LINKEN hat er diese Formulierung wiederholt. Er hat sie mit einer Kritik an der Unterwerfung unter die NATO durch den rechten Parteiflügel verbunden, die aber als Beschwörung des Völkerrechts daherkommt. Völkerrecht ist der Anspruch, dass sich auch die imperialistischen Mächte an Regeln halten. In einer Welt, die auf imperialistischer Ausbeutung beruht, ist dieser Illusion.

Die Kommentator:innen der meisten bürgerlichen Medien bilanzieren, Lafontaine sei gescheitert. Ob offen oder unausgesprochen, in der Logik dieser Damen und Herren steht dahinter das Kriterium, wie sehr er Deutschland und damit seiner herrschenden Klasse genutzt hat. Sozialdemokrat:innen und andere Reformist:innen sind für diese aber immer nur für Jobs nützlich, zu denen die offenen Protagonist:innen der Bourgeoisie unfähig sind. So war nur Brandt in der Lage, die Unruhe und Bewegung der 68er in der Jugend und der Arbeiter:innenklasse zu integrieren und einen „Wandel durch Handel“ mit der DDR zu beginnen. Nur Schröder konnte die massiven Angriffe auf die Lohnabhängigen durchführen.

Lafontaine hat wenig solcher historischen Verdienste für die herrschende Klasse, wenn man davon absieht, dass er die reformistischen Illusionen, denen er selbst anhing, auch tausenden anderen Menschen aufoktroyiert hat. Sein Scheitern stellt das des Reformismus dar, des Versuchs, in einem untergehenden System soziale, humane und ökologische Verhältnisse zu etablieren, sei es, um „was Gutes zu tun“, oder sei es, um dieses System zu bewahren. Dass aus den Bewegungen und Organisationen, die er mit aufbaute, zuletzt aus der LINKEN, nichts wurde, vor allem dass nicht mehr daraus wurde, dass z. B. in der WASG oder der LINKEN sich keine Strömung bildete, die mit dem Reformismus brach, ist nicht nur seine Schuld. Es ist die derer, die sich als revolutionär verstehen und keinen Plan haben, was Reformismus eigentlich ist und wie er bekämpft werden könnte.




Sahra Wagenknecht: Selbstgerechtigkeit des Linkspopulismus

Stefan Katzer, Neue Internationale 256, Juni 2021

Nachdem es um Sahra Wagenknecht einige Zeit relativ still geworden war, ist sie nun wieder zurückgekehrt in die Talkshows und Radiosendungen der Republik. Dort präsentiert sie selbstbewusst ihr neues Buch mit dem Titel „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“.

Noch bevor sie zahlreiche Gelegenheiten dazu bekam, ihr neues „Programm“ der breiteren Öffentlichkeit zu erklären und ihre Thesen ausgiebig darzulegen, phantasierte sie sich bereits als Opfer einer „cancel-culture“, die unliebsame Meinungen unterdrücke. Die Kritik an einem vermeintlich elitär-kosmopolitischen Linksliberalismus, der durch das Verfolgen der Sonderinteressen ohnehin privilegierter Minderheiten dem Neoliberalismus in die Hände spiele und die Öffentlichkeit fest in seiner Hand hätte, nimmt in Wagenknechts neuem Buch entsprechend breiten Raum ein.

Zielsetzung

Die in Teilen der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber einer oft nur verzerrt dargestellten Identitätspolitik aufgreifend, unternimmt Wagenknecht darin den Versuch, ihr populistisches Projekt eines „linken Konservatismus“ zu begründen. Hierfür will sie WählerInnen aus allen Klassen und gesellschaftlichen Schichten gewinnen.

Strategisch geht es Wagenknecht darum, ehemalige LINKE-WählerInnen von der AfD zurückzuholen sowie die gesellschaftliche Linke und bisherige NichtwählerInnen für ihr Programm zu mobilisieren. Die Linke solle dadurch endlich (wieder) politik- und regierungsfähig werden, eigene Mehrheiten erringen und die Politik umsetzen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung ohnehin befürwortet werde (Einführung einer Vermögenssteuer, höherer Mindestlohn etc.). Wagenknecht bemüht sich dabei auch um jenen Teil der SPD, den sie der „traditionellen Linken“ zurechnet. Ihr politisches Versprechen lautet, sich um die Belange der „normalen“, hart arbeitenden Teile der Bevölkerung zu kümmern.

Der Kampf für die Interessen dieser Teile der Klasse ist für RevolutionärInnen selbstverständlicher, integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Der Kampf für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse usw. muss Bestandteil eines jeden (revolutionären) linken Programms sein. Angesichts der bereits stattfindenden und noch zu erwartenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten ArbeiterInnenklasse ist es daher in der Tat wichtig, dass sich die Linke auf einen Abwehrkampf gegen Massenentlassungen, Sozialabbau und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen vorbereitet.

Ähnlich wie Teile der SPD (z. B. Wolfgang Thierse) suggeriert Wagenknecht allerdings, dass es der Linken in den letzten Jahren vor allem deshalb nicht gelungen sei, konsequent für die Interessen der arbeitenden, erwerbslosen und verrenteten Bevölkerung zu kämpfen, weil sie sich im Kampf um die Interessen „elitärer Minderheiten“ vollkommen aufgerieben habe. Daher Wagenknechts scharfe Ablehnung der „Identitätspolitik“ und der akademischen Mittelschichten, die sie als Trägerinnen derselben identifiziert.

Falscher Gegensatz

Tatsächlich gibt es an den Grünen, die Wagenknecht als Hauptvertreterin des Linksliberalismus und der Identitätspolitik ausmacht, aus linker Sicht viel zu kritisieren – etwa dass sie eine durch und durch bürgerliche Partei sind, allzeit bereit, Kriege zu führen, Menschen abzuschieben, Autobahnen zu bauen, soziale Errungenschaften einzustampfen, den deutschen Imperialismus zu verteidigen und dergleichen mehr. Gleichzeitig pflegen die Grünen wie kaum eine andere Partei ein Image als antirassistische, LGBTQIA-unterstützende „Friedenspartei“ und damit auch als konsequente bürgerliche Alternative zur AfD. Wagenknecht tut nun in ihrer Abrechnung mit den Grünen allerdings so, als seien die Grünen v. a. deshalb nicht in der Lage, Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu machen, weil sie sich „zu viel“ um identitätspolitische Fragen kümmerten.

Die zugrundeliegende Botschaft ihrer Abrechnung mit Linksliberalismus und Identitätspolitik lautet letztlich: Wer sich zu viel um die Belange gesellschaftlicher Minderheiten bzw. unterdrückter Schichten der Bevölkerung kümmert, kann keine Politik im Interesse der „normalen“ Leute mehr machen – ganz so, als schlössen sich die Kämpfe für gleiche Rechte, körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, offene Grenzen einerseits und jene für höhere Löhne, sichere Renten und Arbeitsplätze andererseits gegenseitig aus.

Wagenknecht spricht dabei nicht nur für sich, ist nicht nur eine grandiose und selbstgerechte Selbstdarstellerin, sondern vertritt auch einen bestimmten Flügel innerhalb ihrer Partei. In Nordrhein-Westfalen, immerhin dem mitgliederstärksten Landesverband, wurde sie nicht nur mit deutlicher Mehrheit zur Spitzenkandidatin zu den Bundestagswahlen gekürt, ihre AnhängerInnen konnten auch die meisten aussichtsreichen Listenplätze gewinnen.

Sozialchauvinismus und Nationalismus

Für diesen offen sozialchauvinistischen Flügel innerhalb des Reformismus bedeutet, „links“ zu sein, im Wesentlichen, sich schützend vor die einheimische Bevölkerung zu stellen, insbesondere vor jenen Teil, dem es ökonomisch schlechtgeht, der prekär beschäftigt und dabei von den Flexibilitätsanforderungen des Kapitalismus permanent überfordert ist. Andere Fragen des Klassenkampfes, wie sie auch von identitätspolitischen Gruppierungen (leider in falscher Weise) adressiert werden, bleiben in dieser ökonomistisch verkürzten Perspektive zwangsläufig außen vor.

So betont Wagenknecht zwar, gegen wirklichen Rassismus einzustehen – nationale Abschottung und die massenhafte Abschiebung von Geflüchteten erscheinen in ihrer Gedankenwelt aber gar nicht als rassistisch, sondern in gewisser Weise als normale Vollzughandlungen eines gut funktionierenden, souveränen Nationalstaates, den sie auch ansonsten gegen jegliche Kritik verteidigt und gar zum einzigen Garanten sozialer Sicherheit stilisiert.

„Die Nationalstaaten sind allerdings auch die einzige Instanz, die gegenwärtig in nennenswertem Umfang Marktergebnisse korrigiert, Einkommen umverteilt und soziale Absicherungen bereitstellt. […] Es sieht also ganz danach aus, dass die Nationalstaaten genau da handlungsfähig sind, wo ihnen schlagkräftige Interessengruppen im Nacken sitzen. Wer weniger Einfluss hat, hat Pech gehabt. An mangelnder Handlungsfähigkeit hapert es also nicht. Problematisch ist eher, wie die Nationalstaaten handeln. […]. Aber dieses Problem wird nicht durch die Unterordnung der Nationalstaaten unter supranationale Institutionen gelöst, sondern durch die Wiederherstellung der Demokratie innerhalb der Nationalstaaten.“ (S. 230 f.)

Vom Klassencharakter des Staates des Kapitals will Wagenknecht schon lange nichts mehr wissen. Außerdem springt ins Auge, dass Wagenknechts Analyse, trotz drängender werdender globaler Probleme (Klimawandel, imperialistische Konflikte, erzwungene Massenmigration etc.), sich weitgehend auf den nationalen Rahmen beschränkt. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der globale Kapitalismus und die Frage, wie dieser überwunden werden kann, sondern die nach möglichen Regierungskoalitionen unter Beteiligung der LINKEN. Die globale Ebene erscheint bei ihr einzig als Tummelplatz skrupelloser Kapitalmächte, „transnationaler ‚Multi-Stakeholder-Gruppen’“ (S. 228), gegen die einzig auf nationaler Ebene anzukommen sei.

Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines konsequent proletarischen Internationalismus, der grenzüberschreitende Solidarität zwischen ArbeiterInnen weltweit organisiert und die Kapitalmächte auf globaler Ebene stellt, kommt bei Wagenknecht nicht vor. Im Gegenteil: In ihrer national zentrierten Welt erscheint der Internationalismus der ArbeiterInnenklasse nur als besondere Spielart des Kosmopolitismus. Ihre Kritik richtet sich daher letztlich wie jeder Linkspopulismus auch, ja vor allem gegen den revolutionären Marxismus.

Anpassung an SPD und DGB

Weitaus nachsichtiger hingegen verfährt sie mit Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie. Schließlich knüpft sie ja auch an deren nationaler Klassenzusammenarbeit an. Die für die Klasse der Lohnabhängigen verheerende Standortpolitik von SPD und DGB dabei konsequent weiterdenkend, wird von ihr letztlich alles, was den sozialen Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft gefährdet, als problematisch erachtet. Zu jenen Faktoren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich bedrohen, zählt Wagenknecht dabei nicht nur „Flexibilisierung, Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung“ (S. 221), sondern auch hohe Zuwanderung (ebd.). Sie stellt sich damit und mit ihrer offenen Ablehnung der Forderung nach offenen Grenzen gegen einen Teil der ArbeiterInnenklasse und reproduziert die nationalistische und rassistische Spaltung durch die Herrschenden. Zugleich predigt sie den Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft, von AusbeuterInnen und Ausgebeuteten, und zeigt sich nicht daran interessiert, das Bewusstsein der Klasse zu heben. Vielmehr geht es ihr darum, auch die borniertesten Teile der Klasse vor „Angriffen“ auf ihr bürgerlich-chauvinistisches Weltbild zu schützen.

Ihr Zurückweisen der Forderung nach offenen Grenzen rechtfertigt Wagenknecht zwar mit dem angeblich linken Ziel der Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und sieht sich damit gar in der Tradition der ArbeiterInnenbewegung ebenso wie konservativer DenkerInnen. Dass es der revolutionären ArbeiterInnenbewegung aber niemals um den „sozialen Zusammenhalt“ des nationalen Kollektivs, also von Kapital und Arbeit, sondern um die Solidarität unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten zwecks Überwindung des Klassengegensatzes ging, fällt bei Wagenknecht unter den Tisch. Für diejenigen, die an der Grenze zurückgewiesen oder gegen ihren Willen in ihr „Heimatland“ abgeschoben werden, macht es aber keinen Unterschied, aus welchen vorgeschobenen Gründen dies geschieht. Zu Recht werden sie eine solche Politik als rassistisch erachten.

An der Debatte um die Forderung nach offenen Grenzen innerhalb der Linkspartei zeigt sich zugleich die ganze Misere des Reformismus. Während nur wenige linke GenossInnen innerhalb der Partei die Forderung nach offenen Grenzen auch gegenüber dem Ministerpräsidenten aus den eigenen Reihen (Ramelow) vorbringen und dessen Abschiebepolitik anprangern, hat man sich im Rest der Partei offensichtlich damit arrangiert, dass auch unter Beihilfe von MinisterInnen der LINKEN abgeschoben wird.

Das, was Wagenknecht offen fordert, nämlich Zuwanderung zu begrenzen, wird von den Regierungslinken ganz real längst umgesetzt – ohne, dass dies in der Breite der Partei auf ähnlichen Widerspruch stoßen würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diejenigen, die den offenen Chauvinismus von Sahra Wagenknecht kritisieren, letztlich selbst kein antirassistisches Programm verfolgen, sondern oft nur eine verlogenere Abschiebepolitik decken. Dem Linkspopulismus und offenen Sozialchauvinismus aus den eigenen Reihen kann die Partei somit, abgesehen von moralischer Empörung, nichts Substanzielles entgegensetzen. Die Forderung nach offenen Grenzen wirkt dadurch, dass sie nicht mit anderen Forderungen zu einem einheitlichen revolutionären Programm vermittelt wird, daher eher wie ein leeres Versprechen und ein Bekenntnis, das man ablegt, um das eigene linke Gewissen zu beruhigen. Dementsprechend leicht haben es die GegnerInnen dieser Forderung, die den VertreterInnen derselben vorwerfen, weltfremden Vorstellungen anzuhängen.

„Kleiner Mann“ oder revolutionäres Subjekt?

Letztlich ist in den Augen Wagenknechts jede/r, der/die die Vorurteile des „kleinen Mannes“ kritisch hinterfragt und auf die problematischen Seiten seiner politischen Einstellung hinweist, ein „Lifestyle-Linker“. Nach der Definition Wagenknechts müsste man wohl auch Marx, Engels, Luxemburg, Lenin, Trotzki und Co. als solche bezeichnen, gehe es den Lifestyle-Linken doch wesentlich darum, „[…] nicht nur das Leben der Arbeiter und anderer Benachteiligter [zu] verbessern, sondern ihnen zugleich ihre wahren Interessen [zu] erklären und ihnen ihre Provinzialität, ihre Ressentiments und Vorurteile [auszutreiben].“ (S. 29 f.)

Wagenknecht aber behandelt den „kleinen Mann“ lieber wie ein zur kritischen Einsicht prinzipiell unfähiges Kind, das es vor allen möglichen Gefahren zu schützen gelte. Die schlecht bezahlten Arbeiterinnen, prekär Beschäftigten, Erwerbslosen werden von ihr überhaupt nicht als politische Subjekte wahrgenommen, die dazu in der Lage wären, ihr Bewusstsein zu heben und für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Sie beschreibt sie vielmehr ausschließlich als Opfer, die es zu schützen gelte – sei es vor den Angriffen der Herrschenden auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, sei es aber auch vor einer Kritik an ihren politischen Einstellungen. Das Subjekt der Veränderung ist der „kleine Mann“ bei Wagenknecht nur insofern, als seine Rückständigkeit nicht kritisiert werden darf. Das soll verständnisvoll erscheinen, in Wirklichkeit ist es jedoch paternalistisch. Wenn die rückständigen Vorstellung der zum „kleinen Mann“ verkommenen Lohnabhängigen als unveränderliche Züge der Klasse betrachtet werden, können sie sich letztlich vom Einfluss bürgerlicher Ideologie nie befreien, es allenfalls zu einer reformistisch oder linkspopulistisch geprägten Klasse bringen. Die eigentlichen AkteurInnen, die deren angemessenen Platz in der Gesellschaft sichern sollen, sind ironischerweise nicht die „kleinen Leute“, sondern ist die Bürokratie in linken Parteien und Gewerkschaften, professionelle StellvertreterInnen dieser Menschen, die, ganz wie die Linksliberalen vorzugsweise aus der akademisch gebildeten Mittelschicht stammen.

Revolutionäre Alternative

Eine revolutionäre Strategie hingegen muss auf der Einsicht aufbauen, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein kann. Die ArbeiterInnen und Unterdrückten brauchen keine gutbezahlten, privilegierten BürokratInnen und Abgeordneten, die längst ihrer demokratischen Kontrolle entzogen sind und weit mehr verdienen als das durchschnittliche Einkommen ihrer WählerInnen und AnhängerInnen. Dass diese bürokratische Schicht ihre Interessen verrät, ist nicht Ergebnis der Identitätspolitik, sondern folgt aus der Logik jeder bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik, der es um die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit geht statt um die Überwindung des Ausbeutungsverhältnisses selbst.

Was es braucht, ist eine Partei, die fähig ist, den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten hierzulande und international zu organisieren, ihn anzuführen und ihm eine Richtung zu geben, die auf die Überwindung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zielt. Es besteht dabei kein Gegensatz zwischen den Interessen derjenigen, die in ein patriarchales System gepresst werden, aus dem sie berechtigterweise ausbrechen wollen, und den Interessen jener, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Wer einen solchen Gegensatz behauptet, trägt zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse bei, die niemals nur aus weißen IndustriearbeiterInnen bestand, sondern vom Kapital immer schon global geformt, umgebildet und neu zusammengesetzt wurde. Die ArbeiterInnenklasse hat somit keine fixe Identität, sondern setzt sich ständig neu zusammen, wird ständig neu formiert und entsprechend den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals rekrutiert.

Wie wir bereits in anderen Artikeln gezeigt haben, gibt es aus marxistischer Perspektive berechtigte Kritik an der Identitätspolitik. Wir haben dort ebenfalls die Notwendigkeit betont, dass sich RevolutionärInnen am Kampf für die Befreiung aller gesellschaftlich Unterdrückten beteiligen, ihn als integralen Bestandteil des Klassenkampfes begreifen und entsprechend führen. Wagenknecht hingegen geht es nicht um eine Kritik an der Identitätspolitik in revolutionärer Absicht. Wagenknechts Programm ist das eines chauvinistischen, klassenübergreifenden Linkspopulismus. Ihre Kritik an der Identitätspolitik bedeutet somit keinen Schritt nach vorne, sondern eher zwei Schritte zurück.




Linkspartei und Migration – Status quo oder sozialistische Politik?

Tobi Hansen, Neue Internationale 229, Juni 2018

Die Linkspartei tagt vom 8.-10. Juni in Leipzig. Im Zentrum der Vordiskussionen stand ihre Haltung zur Migrationspolitik, die offenkundig nicht nur die Rechten und die Regierung, sondern auch die „sozialistische“ Opposition umtreibt. Verschiedene Gruppierungen haben dazu Positionspapiere vorgelegt, beim Parteitag stehen kleinere Anträge zur Abstimmung. Der Antrag des Vorstandes versucht dabei, einiges zu verbinden – gegenüber Wagenknecht & Co. will er sich abgrenzen, der Rest des Textes bleibt aber möglichst schwammig gehalten. Zu dem hauptsächlichen Streitpunkt offene Grenzen heißt es:

„Wir wollen das Sterben im Mittelmeer und an den europäischen Außengrenzen beenden. Dafür brauchen wir sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges, faires System der Aufnahme von Geflüchteten und einen Lastenausgleich in Europa. Statt Abschiebung wollen wir Bleiberechte für Menschen und statt Familien auseinanderzureißen, wollen wir sie zusammenführen.“ (Antrag Parteivorstand)

Der Vorstand um Kipping und Riexinger versucht damit, zwei Flügel in der Partei hinter sich zu einen: einerseits die ostdeutschen Landesverbände mit und ohne Regierungsauftrag wie auch andererseits linkere Kreise um anti-rassistische GewerkschafterInnen, marx21 und Mitglieder, die als UnterstützerInnen in der Solidaritätsbewegung mit den Geflüchteten aktiv waren oder sind. So richtig es ist, den sozialchauvinistischen und nationalstaatsfixierten Argumentationen des Wagenknecht-Lagers eine Abfuhr zu erteilen, so entschlossen muss aber auch die bisherige Praxis der Landesregierungen bekämpft werden, an denen die Linkspartei beteiligt ist. Diese setzen seit Jahren die Abschiebungen um und zwar, wie das Beispiel Brandenburg zeigt, mitunter sogar konsequenter als andere Landesregierungen. Was nützen Beschlüsse zu „offenen Grenzen“ und „humanistischer Flüchtlingspolitik“, wenn die Landesregierungen, in denen DIE LINKE vertreten ist, weiter „Seehofer“-Politik umsetzen? Eine solche Politik ist unglaubwürdig und gegenüber den Geflüchteten, als deren Sachwalterin sich die Linke präsentiert, einfach nur zynisch.

Dies mag auch manchen in der Linkspartei unangenehm sein – getan wird freilich nichts. Statt ein konsequentes Ende dieses Doppelspiels zu fordern, drohen Formelkompromisse. Einige VertreterInnen der Landespolitik haben nun, um die Kluft zwischen schönen Worten und repressiven Taten zu verringern, eine Debatte über ein „linkes“ Einwanderungsgesetz angestoßen.

Dieses sieht vor, den Familiennachzug auszubauen. Anstelle von ökonomischer Verwertbarkeit soll das Vorweisen eines „sozialen Bezugspunkts“ und einer „Integrationsperspektive“ als Begründung für das Bleiberecht ausreichen. Sicherlich würde das eine weniger repressive Praxis darstellen als der staatliche Rassismus der Großen Koalition. Aber wie alle Vorschläge eines Einwanderungsgesetzes kommen auch diese nicht um Einschränkungen für die Migration bis hin zu staatlichen Sanktionsmaßnahmen, also Abschiebungen für Menschen, die es nach einem Jahr nicht geschafft haben, einen „Bezugspunkt“ zu finden, herum.

Einwanderungsgesetze haben – dies wird hier wieder einmal deutlich – immer einen grundsätzlich rassistischen Charakter, was immer bestimmte Kategorien zur Selektion beinhaltet, zu deren Umsetzung der bürgerliche Staat legitimiert wird. Eine sozialistische antirassistische Politik sieht eine Forderung nach offenen Grenzen vor allem nach dem Ende der „Festung Europa“ immer als Teil einer weitergehenden revolutionären Politik.

Sozial-chauvinistischer Vorstoß

Ganz anders am rechten Flügel der Linkspartei. Dort wird vielmehr die Forderung nach offenen Grenzen angegriffen. So wird – entgegen jeder realen Entwicklung – munter behauptet, dass auch das „globale Kapital“ offene Grenzen fordere. Diese würden genutzt werden, um die Arbeitskräfte z. B. in der EU, aber natürlich auch weltweit gegeneinander auszuspielen und in Konkurrenz zu setzen. Dabei unterschlagen die „KritikerInnen“ an den offenen Grenzen immer, dass es nirgendwo „offene Grenzen“ gibt, dass jede Einwanderungspolitik des „globalen Kapitals“ immer eine staatlich regulierte sein muss, die sich nach der erwarteten Nützlichkeit und den Bedürfnissen der Kapitalverwertung richtet.

Historisch gesehen hat die marxistische und revolutionäre ArbeiterInnenbewegung genau deswegen alle Einreisebeschränkungen bekämpft, um so zu verhindern, dass MigrantInnen gegen „einheimische“ ArbeiterInnen ausgespielt werden. Sie hat das auch getan, weil die nationalen Grenzen selbst schon die Lohnabhängigen spalten und ihrer Einheit entgegenstehen. Der Klassenkampf ist international, heißt es schon im „Kommunistischen Manifest“. Wenn dieser Satz einen Sinn haben soll, so bedeutet er auch, dass die ArbeiterInnenklasse als eine internationale Klasse, nicht bloß als eine Summe nationaler Gruppen von Lohnabhängigen zu begreifen ist.

Ganz anders nicht nur bei Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, zwei traurigen Gestalten, denen der Sozialchauvinismus des sozialdemokratischen Reformismus und des Stalinismus offenbar zur zweiten Natur geworden ist.

Einige VertreterInnen der SL (Sozialistische Linke) wie MdB Fabio De Masi und Parteivorstandsmitglied Ralf Krämer versuchen, dieser Politik in einem Thesenpapier höhere „strategische“ Weihen zu verleihen und bringen dabei solche Aussagen zustande:

„Keine linke Einwanderungspolitik sollte eine Destabilisierung der Gesellschaft und eine Schwächung der Kampfbedingungen der ArbeiterInnenklasse durch Migration billigend in Kauf nehmen, geschweige denn mutwillig herbeiführen.

Migrationsprozesse sollen die größtmöglichen positiven und geringsten negativen Effekte für alle Beteiligten haben, das Wohl der Menschen in den Herkunftsstaaten, den Zielstaaten und der MigrantInnen ersichtlich befördern und nicht unterminieren. Eine linke Migrationspolitik muss darauf gerichtet sein, mit diesem Spannungsverhältnis produktiv umzugehen.“ (Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik unter Punkt 7)

Hier „lernen“ wir Erstaunliches, die nationalstaatlich begründete „Wagenknecht-Position“ wird ausformuliert. Anscheinend werden die Kampfbedingungen der Klasse dadurch bestimmt, wie viele der Klasse angehören und inwieweit sie unterschiedliche Sprachen sprechen, welche Politik die Klasse gegen das Kapital vertritt, scheint weniger wichtig zu sein. Diese Kampfbedingungen der Klasse hängen nämlich, besonders im Jahr des 200. Geburtstages von Karl Marx, von der Politik ab, die in die Klasse getragen wird. Das allein entscheidet darüber, wie „stark“ oder „schwach“ die Klasse kämpfen kann oder eben nicht. De Masi gehört auch den „Linken“ in der Linkspartei an, die meinten, einen „Brexit“ mit unterstützen zu müssen. Auch bei der EU war ihm der nationale Rahmen wichtiger als der gemeinsame Kampf gegen die kapitalistische EU auf europäischer Ebene.

Hier wird der Arbeitsmigration gleichzeitig viel Abstruses unterstellt. Für wen ist die „Einwanderung“ destabilisierend oder noch schlimmer, wer könnte denn so was „mutwillig herbeiführen? Hier sehen wir das Bewusstsein derjenigen, die am ehesten einer „linken Sammlungsbewegung“ folgen dürften, wenn es denn mittelfristig zum Bruch kommt. Schon 2015/16 hatte Lafontaine (für viele der „Stratege“ im Hintergrund dieses Flügels) dem US- Imperialismus böse Absichten im Nahen und Mittleren Osten unterstellt, aber nicht hauptsächlich gegen die dortigen Völker, sondern gegen die arme EU, welche dann die Geflüchteten aufnehmen müsste – inwieweit Russland auch diese Absichten hegt, wurde nie klar. Das ist aber mit „mutwillig“ gemeint.

Dass Migrationsprozesse die „größtmöglichen positiven Effekte“ haben sollen, ist ein wohlfeiler Wunsch, vor allem wenn anscheinend ausgeblendet wird, warum sich Menschen überhaupt zur Flucht aufmachen. Gleichzeitig wird aber mit unterstellt, dass diese nicht das „Wohl der Menschen“ in den „Zielländern“ unterminieren sollen. Das ist Sozialchauvinismus in reinster Form. Nach der Methode hätten auch die ostdeutschen ArbeitsmigrantInnen Anfang der 1990er Jahre nicht nach Westdeutschland gehen dürfen. Zum einen drohte ihnen nicht der Verlust ihrer Unversehrtheit im Osten, zum anderen wollten sie ja „nur“ ein höheres Einkommen erzielen. Solche Beweggründe sind nicht beliebt bei den Thesenschreibern:

„Unbegrenzte Schutzgewährung für Menschen in Not ist etwas anderes als eine unbegrenzte Einwanderung, die auch all diejenigen einschließen würde, die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen.

Im anderen Fall ist die Migration ein sozio-ökonomisch motivierter Akt, der weder alternativlos ist, noch den letzten Strohhalm darstellt, sondern bei dem eine Wahl unter verschiedenen möglichen Optionen getroffen wird. Hier haben die Aufnahmeländer ein Recht zur Regulierung der Migration.“ (Thesenpapier unter Punkt 2)

Hier wird unklar, ob wir in der gleichen Realität leben wie die Thesenschreiberlein. Nach unserer Ansicht wurde Deutschland 2015 eben nicht von einer Million SoftwareentwicklerInnen überrannt, die seitdem das WLAN lahmlegen, sondern diese Geflüchteten hatten existenzielle Nöte wie Bürgerkrieg, Hunger, Armut als Fluchtgründe. Gerade sog. „Arbeiterversteher“ unter den Autoren wie R. Krämer unterstellen hier Millionen Armutsflüchtlingen, dass sie sich ja etwas aussuchen könnten, dass sie „Optionen“ hätten.

Für Millionen weltweit, die selbst ihre Arbeitskraft aufgrund der kapitalistischen Verhältnisse nicht reproduzieren können, ist dies eine politische Kampfansage, die nicht weit von dem rassistischen Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ entfernt ist.

Hier wird bewusst die sog. „Arbeitsmigration“ den Asylsuchenden gegenübergestellt. Genauso pervers werden oftmals die Entscheidungen des BAMF auch getroffen. Ist jemand in Not, der keine Arbeit findet, der/die aufgrund von politischen, religiösen Gründen sozial diskriminiert wird und die Flucht nach Europa als letztes Mittel sieht, nur um dann dort oftmals in illegaler und ungesicherter Beschäftigung von Abschiebung bedroht zu sein – ist das jetzt Asylsuche oder „freiwillige“ Arbeitsmigration? Es ist zu befürchten, dass R. Krämer die Antwort kennt.

„In der UN-Menschenrechtscharta ist zwar ein universales Auswanderungsrecht verankert, jedoch kein entsprechendes universales Einwanderungsrecht. Ein Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit gibt es also de facto nicht und wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Asylrecht und Einwanderungs,recht‘ prinzipiell gleichzusetzen, ist also sachlich, normativ und handlungstheoretisch unbegründet. In letzter Konsequenz würde damit das Asylrecht in seiner politischen und moralischen Geltungskraft geschwächt und durch ein Gesetz zur unbegrenzten Einwanderung entwertet und überflüssig gemacht.“ (Thesenpapier)

Es wird so getan, als ob das Asylrecht verteidigt wird, während man auf das Niveau bürgerlicher Phantasien zurückfällt. Nach diesen Ausführungen brauchen wir eigentlich keine Kämpfe um das Recht auf Bewegungsfreiheit einschließlich der Arbeitsmigration mehr zu führen, da ja schwer absehbar ist, wann dieser Kapitalismus endet. Zum anderen wird auf übelste Weise eine ungebremste Arbeitsmigration für eine de facto Aufhebung des Asylrechts verantwortlich gemacht. Bis dahin genügen Menschenrechtscharta, das Völkerrecht gegen Krieg und die sozialen Absichten des Grundgesetzes völlig – hier wird pure Sozialdemokratie geboten.

Es wäre auch mal wichtig zu klären, ob sozialistische Politik bei dem stehenbleiben soll, was so in „absehbarer“ Zeit umsetzbar ist. Dann können wahrscheinlich auch andere Ziele wie 100.000 neue Pflegekräfte, eine Mindestrente von 1050 Euro oder das Ende der Rüstungsexporte verworfen werden, zumindest wenn man das so angeht, wie die AutorInnen hier sich mit Migration und Flucht beschäftigen.

Sie bleiben brav in den bürgerlichen Kategorien der Einwanderung und der nationalstaatlichen Schutzsphäre. Mit dieser Einstellung sind auch Landesregierungen mit der CDU in Ostdeutschland denkbar. Interessant ist noch, dass einige von denen, die zuvor als „Linke“ in der Partei bekannt waren wie De Masi oder auch Sevim Dagdelen, diese Positionen unterstützen und somit in dieser Frage real rechts vom Vorstand stehen.

In manchen „Online-Diskussionen“ kommt die ganze „Tragik“ dieser Partei, der Basis und sicherlich vielen „ehrlichen“ SozialistInnen zum Ausdruck. Die Wagenknecht-„Fans“ sehen sich als „Linke“ in der Partei ähnlich wie früher die Frontfrau selber. Sie trauen Kipping und speziell den Landesregierungen nicht über den Weg. Diese tun ja nichts für die Hartzis und nichts gegen die existierende Armut in Deutschland, was leider auch stimmt. Bedauerlicherweise kommt dann häufig der Umkehrschluss, dass der Vorstand bzw. seine klare Mehrheit nur deswegen für z. B. offene Grenzen sind, um halt nichts für die armen Deutschen zu tun, und deswegen wird dann jeder neuen populistischen und sozialdemokratischen Fährte von Wagenknecht & Co. gefolgt.

Chauvinismus und Illusion

Es wird die Illusion verbreitet, dass der Nationalstaat den „Sozialstaat“ verteidigen könnte so ähnlich, wie gewisse Kapitalfraktionen „ihren“ Markt vor Konkurrenz schützen wollen. Dabei wird dann anscheinend ignoriert, dass z. B. Hartz IV wie die gesamte Agenda 2010 im nationalen Rahmen eingeführt wurden, um diese dann während der Austeritätspolitik auf ganz Europa auszudehnen. Unser Klassenkampf muss stets dem „Niveau“ der Gegenseite angemessen sein, Rückschritte helfen uns gar nichts. Revolutionärer Internationalismus, wie ihn schon Marx, Engels, Lenin, Liebknecht und Trotzki zur Migrationsfrage äußerten, ist hochaktuell wie die sozialdemokratische Illusion in den Nationalstaat leider auch. Die Gründung der I. Internationale (IAA) war u. a. geradezu eine mustergültige proletarisch-internationalistische Antwort auf die damalige Arbeitsmigration v. a. nach Großbritannien (gewerkschaftliche Organisierung der ArbeitsmigrantInnen statt Abschottung durch den britischen bürgerlichen Nationalstaat; siehe auch die Einlassungen zur irischen Frage wie die Agitation unter ausländischen Bauarbeitern auf der Londoner Weltausstellung!). Die Politik von IAA und obiger „Linker“ trennt fürwahr ein Klassengraben – er fließt zwischen zwischen proletarischem Internationalismus und national-liberaler bürgerlicher „ArbeiterInnen“politik, zwischen Karl Marx und Gustav Noske!

Für die antikapitalistische Linke in der Partei wird es wichtig werden, nicht allein als „Anhängsel“ des Vorstandes gegen diese Positionen zu kämpfen. So gut Stellungnahmen wie die von GewerkschafterInnen mit marx 21 zusammen auch sein mögen (https://www.marx21.de/klassenpolitik-gewerkschafter-gegen-obergrenzen/), so wenig prägen diese die aktuelle Praxis der Partei, auch der AktivistInnen in den Gewerkschaften.

Wenn also die Abstimmungen gegen Wagenknecht & Co. in Leipzig gewonnen werden, was derzeit gesichert zu sein scheint, so muss für die antikapitalistische, sozialistische Linke der Kampf danach weitergehen. Wagenknecht mag sozialchauvinistisch argumentieren, aber die Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen sind der tägliche Beweis für eine sozialdemokratische Praxis mit Abschiebungen, Duldung und Repressionen.

Wenn die antikapitalistische Linke sich danach an den Vorstand kettet, leistet sie gleichzeitig auch der Regierungspolitik der Linkspartei in o. a. Bundesländern Vorschub. So geht kein Bruch mit sozialdemokratischer Politik, so lässt man sich davon vereinnahmen, als „linkes“ aktives Fähnchen für einen durch und durch auf R2G getrimmten Vorstand unter Kipping und Riexinger Schützenhilfe zu leisten, der diese Politik deckt. Diese erfolgt auf der gleichen Seite des oben erwähnten Grabens, auf der auch die De Masis, Dagdelens, Krämers und Wagenknechts stehen.