BRD und Frankreich: Kampf um das Abtreibungsrecht

Jürgen Roth, Neue Internationale 282, Mai 2024

Am 1. März nahm der französische Kongress, die gemeinsame Tagung beider Parlamentskammern, mit deutlich mehr als der nötigen Dreifünftelmehrheit das Recht auf Abtreibung in die Verfassung auf. Auch in Deutschland empfahl eine von der Ampelkoalition eingesetzte Kommission am 15. April die Straffreiheit und damit Streichung des § 218 aus dem BGB. Doch die Ampel zögert, dieser längst überfälligen Reform zu folgen.

Rechtslage in der BRD

Erinnern wir uns: In der DDR galt ab den 1970er Jahren ein Recht auf Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche (Fristenlösung). Nach der Wiedervereinigung erstreckte sich eine Übergangsfrist im Beitrittsgebiet bis Ende 1994. Ab 1995 galt dann für die gesamte Bundesrepublik die heutige Regelung mit Zwangsberatung.

Abtreibung war damit weiterhin bzw. wieder illegal, allerdings blieben Schwangere und Ärzt:innen bei Einhaltung dieser Bedingungen – Zwangsberatung, Abbruch bis zur 12. Woche – von Strafverfolgung verschont. Für Frauen in der ehemaligen DDR stellte die Reform einen Rückschritt dar, für die in der alten BRD eine, wenn auch eng begrenzte, Verbesserung.

Kommissionsvorschläge und die Ampel

Die von der Ampelkoalition eingesetzte 18-köpfige Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin legte Mitte April ihre Empfehlungen vor. Zu diesen gehört, dass sie unter bestimmten Umständen auch Eizellspenden und Leihmutterschaft für zulässig hält. Ihr Mitglied, Frauke Brosius-Gersdorf, bemängelte zu Recht, dass Abtreibung immer noch Unrecht sei. Eine Änderung der Rechtslage sei für betroffene Frauen alles andere als eine Formalie, zumal die auch Auswirkungen auf die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen habe. Die Expert:innenkommission empfahl auch eine Ausweitung der Frist über 3 Monate hinaus in Fällen von auf Sexualdelikte zurückgehenden Schwangerschaftsabbrüchen. Ihren Vorschlägen können revolutionäre Kommunist:innen in allen Fällen – einschließlich Eizellspenden und Leihmutterschaft – nur beipflichten, auch wenn sie insgesamt nicht weit genug gehen.

Doch die Ampel schaltet auf Gelb, auf Abwarten. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz nach Vorlage des Kommissionsgutachtens mit Justizminister Buschmann (FDP), Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) und Familienministerin Paus (Grüne) zog diese kleine Ampel vorsorglich die Bremse an. Lauterbach meinte, man brauche erstmal einen breiten gesellschaftlichen wie parlamentarischen Konsens vor der Umsetzung. Der Justizminister betonte, für Aussagen zur Umsetzung der Empfehlung sei es noch zu früh. In dieser Legislaturperiode wird es also wohl nichts mehr mit der Streichung des Paragraphen aus dem Gesetzbuch, wenn zuvor die Zustimmung mindestens der Union eingeholt werden muss. DIE LINKE wird sich ja sicher nicht querstellen.

Rote Karte von der Bischofskonferenz

Frauenverbände und Initiativen begrüßten die Kommissionsempfehlungen. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz äußerte dagegen Besorgnis über deren Umgang mit dem Recht des Ungeborenen auf Leben und Menschenwürde. Das ist sicher keine Überraschung, stellen doch diese klerikalen Heuchler das Leben des Ungeborenen stets über das der Lebenden, das Recht des Patriarchats über jenes der Frauen, besonders das Recht auf Menschenwürde und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Auch eine zukünftige kommunistische Gesellschaft muss Letzteres uneingeschränkt akzeptieren. Alles andere liefe auf Gebärzwang hinaus.

Übrigens: 72 % der Bundesbürger:innen – im Osten 81 % – befürworten eine vollständige Legalisierung von Abbrüchen innerhalb der ersten 12 Wochen!

Fazit: In Deutschland läuft selbst diese bürgerlich-demokratische Minireform Gefahr zu versanden, obwohl es eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung dafür gäbe. Doch statt wenigstens einmal eine wirklich populäre und fortschrittliche Reform zu beschließen, nimmt die Bundesregierung auf Kosten der Frauen Rücksicht auf die reaktionärsten Kräfte in der Gesellschaft. Das bildet einen grundlegenden Charakterzug der Bundesregierung.

Verfassungsrecht in Frankreich: ein Teilsieg

Ein ganzes Stück weiter auf der Skala bürgerlichen Rechts ist der westliche Nachbar gerückt. Frankreich ist das erste Land in der EU, das den Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert hat. Das ist nicht geringzuschätzen und stellt einen wohltuenden Kontrast zur Entwicklung in den USA, in Italien, Polen und Ungarn dar.

Letztere hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Frauenverbände und linke Parteien das Recht auf Schwangerschaftsabbruch praktisch unumkehrbar durch Dekrete oder Gesetze gestaltet haben. 8 von 9 Franzosen und Französinnen befürworteten unter dem Eindruck o. a. jüngster Entwicklungen die Verankerung in der Verfassung.

Der Druck der mobilisierten Bevölkerung war so stark, dass Präsident Macron bereits auf einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag 2023 verlauten ließ, die Regierung werde ein Gesetz zur „Konstitutionalisierung“ vorlegen.

Senatsbremse gelöst

Von da an schien es allerdings, als würde er selbst nicht an die Erfolgsaussichten glauben. Die Gesetzesvorlage fand zwar schnell in der Nationalversammlung eine große Mehrheit, doch in der 2. Kammer, dem Senat, spielten sich erbitterte Auseinandersetzungen ab. Senatspräsident Gérard Larcher und die rechte Oppositionspartei „Les Républicains“ wollten das Projekt mit der Begründung zu Fall bringen, eine Verfassungsänderung sei angesichts verbreiteter Praxis des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch unnötig. Außerdem dürfe man das Grundgesetz nicht zu einem „Katalog von gesellschaftlichen Ansprüchen“ werden lassen. Zu was denn sonst, möchte man fragen, zumal sich in einem solchen „Katalog“ „nur“ gesellschaftlich gängige Praxis abbildet!

Doch in monatelangen Auseinandersetzungen bröckelte die Ablehnungsfront. Angeblich hatten die Töchter mehrerer Senator:innen angedroht, nicht mehr mit ihnen zu reden, sollten sie gegen den Vorschlag stimmen. Schließlich rückte selbst Larcher öffentlich von seinem früheren Standpunkt ab und im Senat stimmten von früher 150 jetzt nur noch 50 Abgeordnete dagegen.

Das Ende der republikanischen Fahnenstange

Anlässlich der Abstimmung im Kongress am 1. März fand auf dem Pariser Trocadéroplatz eine riesige Freudenfeier, organisiert von Frauenverbänden, statt. Als nächstes Ziel setzten sie sich die EU-weite Durchsetzung des Abbruchrechts per Europaparlament und EU-Rat. So sehr das auch zu begrüßen ist, so sehr verlagert es den Kampf ums Abtreibungsfreiheit auf die parlamentarisch-konstitutionelle Ebene und ignoriert damit die entscheidenden Mobilisierungen bei deren Zustandekommen im eigenen Land. Es war die Straße, nicht der Sitzungssaal oder das Kommissionshinterzimmer, der die Französ:innen eine bedeutende demokratische Reform zu verdanken haben. Das hehre Ziel der Feiernden droht mit dieser Einstellung, auf dem langen Marsch durch die Institutionen ebenso steckenzubleiben wie im oben geschilderten Fall des östlichen Nachbarn.

Auch in Fragen der Abtreibung reicht die beste bürgerlich-demokratische Reform außerdem nicht aus, um das Leben der breiten, arbeitenden Masse der Bevölkerung nachhaltig zu verändern. Nehmen wir zur Einfachheit der Erläuterung als Beispiel – Frankreich!

Um das garantierte Recht für besagte überwältigende Mehrheit nicht zum wertlosen Fetzen Verfassungspapier geraten zu lassen, muss die Regierung zu seiner praktischen Umsetzung gezwungen werden. Es müssen Einrichtungen geschaffen und finanziert werden, wo eine ausreichende Zahl von Mediziner:innen diese Eingriffe sachgerecht und kompetent vornimmt. Die psychologische Betreuung der Schwangeren bzw. Abtreibenden in Vor- wie Nachsorge sei hier nicht an letzter Stelle genannt.

Die einschlägigen Berufsverbände verweisen jedoch darauf, dass der Zug in umgekehrte Richtung fährt. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden in den letzten Jahren in Frankreich 130 solcher Zentren geschlossen! Deshalb – und weil viele Ärzt:innen die gesetzliche Gewissensklausel in Anspruch nehmen – fehlt es vielerorts an Personal, das diese Eingriffe sicher und schonend vornehmen kann. Wenn die Lohnarbeiter:innenklasse in ihrem eigenen und dem Interesse v. a. aller anderen Werktätigen handeln will, muss sie also über die bürgerlich-demokratische Fahnenstange hinauslangen.

Deren Ende ist der Beginn einer materiellen Absicherung dieses Rechts für alle, also auch aller lohnabhängigen Frauen. Heute heißt das: für eine frei zugängliche und kostenfreie Abtreibung für alle zu kämpfen, für ausreichend personell ausgestatte staatliche Einrichtungen unter Arbeiter:innenkontrolle. Finanziert werden müssen diese entweder durch eine Progressivsteuer auf Einkünfte, Vermögen und Gewinne bzw. durch gesetzliche Krankenversicherungspflicht für alle.

Der 3. und entscheidende Schritt: Sozialisierung der Haus- und Sorgepflichten!

Selbst die radikale Linke geht zum Großteil nicht über das Vehikel bürgerlich-demokratischer Reform hinaus. Doch genau das ist notwendig, wenn das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zur Realität werden soll, auch für die lohnabhängigen und rassistisch unterdrückten Frauen. Denn wie frei kann die Entscheidung einer Frau in einer Gesellschaft ausfallen, die nicht nur die private Verrichtung von Haus- und Sorgearbeit duldet, sondern auf ihr ebenso fußt wie auf der Lohnarbeit? Vergesellschaftung kennt die bürgerliche Gesellschaft nur indirekt, in der Warenproduktion für einen anonymen Markt.

Eine sozialistische Umwälzung wird vordringlich den Sektor der scheinbar nicht zur ökonomischen Sphäre gehörenden vier Wände gründlich umkrempeln müssen. Sie gehört ebenso direkt und von vonherein geplant vergesellschaftet wie die der ehemaligen Warenproduktion! Erst dann kann eine Frau wirklich frei entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringt oder nicht, wenn sie nicht allein aufgrund biologischer Mutterschaft zur alleinigen Sorge um es verdammt ist, es quasi als leibliches Privateigentum zu betrachten und behandeln hat. Den Kampf dafür können und dürfen wir jedoch nicht auf eine zukünftige Gesellschaft aufschieben, sondern müssen wir vielmehr jetzt – siehe oben entwickelte Forderungen – aufnehmen.




Rezession im Superwahljahr: Politisch-Ökonomische Perspektiven 2024

Mo Sedlak, Die Flammende, Politisches Magazin des Arbeiter*innenstandpunkts, Frühjahr 2024, Infomail 1251

Die politischen Zeichen stehen auf Sturm, die Wirtschaft ist in der Flaute.

Die türkis-grüne Regierung hat keine Umfragemehrheit mehr und orientiert sich voneinander weg, hin zu einer schwarz-blauen beziehungsweise einer Ampelkoalition. Die FPÖ könnte klar auf Platz 1 gewählt werden und droht mit einem Regierungsprogramm des radikalen Rassismus und Sexismus, vor allem auch gegen queere Menschen. Die Rezession, die 2023 begonnen hat, kostet Arbeitsplätze und wird die Gewerkschaften zu einem noch zahmeren Verhandlungskurs bewegen. Die Inflation bleibt weiter hoch und über dem europäischen Durchschnitt, was Arbeiter:innen und Erwerbslose weiterhin sehr belastet. Seit dem Einbruch der Industrieproduktion letztes Jahr wird die österreichische Wirtschaft fast ausschließlich von der Konsumnachfrage getragen – die kann unter Arbeitsplatzverlusten, Inflation oder nicht erneuerten Staatshilfen jederzeit einbrechen. Durch die gestiegenen Zentralbankzinsen und die Großzügigkeit bei Corona-Unternehmenshilfen steht auch das Staatsbudget unter Druck. Sparpakete und Konsolidierungsmaßnahmen werden aber sicher nicht im Wahljahr beginnen – die nächste Bundesregierung wird dann aber ziemlich sofort zum Angriff auf soziale Absicherung und erkämpfte Errungenschaften übergehen.

2024 startet aber auch mit großem politischem Potential für linken Widerstand. Die SPÖ hat ihren linksten Parteivorsitzenden seit Jahrzehnten gewählt. Die KPÖ und ihre lokalen linken Verbündeten könnten erstmals seit Nationalratswahlen 1956 einziehen. Sie wären dann die einzige Oppositionspartei, die weder an eine Kapitalfraktion gebunden ist, noch über die Sozialpartnerschaft den österreichischen Kapitalismus verwaltet. Am Arbeitsmarkt steigt die Verhandlungsmacht der Arbeiter:innen durch Arbeitskräftemangel, Pensionierungswelle und abnehmender Ungleichheit zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen. Das hat es den Gewerkschaften erlaubt, die Lohnsteigerungen der letzten Jahre relativ breit zu verteilen, aber auch kämpferische Belegschaften zu beruhigen.

2024 wird auch ein Jahr der sich zuspitzenden imperialistischen Widersprüche. Internationalistische Forderungen werden die Arbeit von Revolutionär:innen prägen, internationalistische, anti-imperialistische und anti-militaristische Bewegungen sind aber auch an ihrem stärksten Punkt seit dem Irakkrieg. In den westlichen imperialistischen Ländern und besonders in Österreich wird der Anpassungsdruck hinter die Staatsräson mit zunehmender Propaganda und Repression ausgeübt, was zu steigendem Staatsrassismus aber auch zunehmenden Widersprüchen in der Linken führt.

Die Rechte treibt darüber hinaus eine Reihe von reaktionären Angriffen weiter, gegen die Rechte von Frauen, queeren Personen, Menschen mit Migrationsgeschichte und politischen Minderheiten. Die Hetze gegen trans Personen (und in der rechten Propaganda allen queeren Personen) ist zu einem Eckpunkt rechter Mobilisierungen geworden. Auch die ÖVP fordert die Rechte von queeren Personen einzuschränken, wenn sie beispielsweise ein Verbot von Drag Shows fordert oder für Förderungsstopps an queere Zentren eintritt. Der Rassismus der rechten Umfragemehrheit ist noch direkter und auf tödliche Weise wirksam. Das tausendfache Morden an den Außengrenzen, Schikanen und Polizeigewalt gegen Geflüchtete werden von der zunehmenden antimuslimischen Hetze angefeuert. Die Propaganda über „importierten“ muslimischen Antisemitismus reicht bis zu den Grünen und der SPÖ, dient aber vor allem dazu, den Antisemitismus von ÖVP- und FPÖ-Mandatar:innen zu rechtfertigen und die rassistisch diskriminierten Arbeiter:innen noch weiter zu marginalisieren. Dazu kommen offen diskriminierende Konstruktionen im Arbeitsrecht und Schikane-Anweisungen an das AMS, die die selbst konstruierten Sündenböcke für alles in einen entrechteten Mindestlohnsektor verbannen wollen.

Die sozialen Bewegungen sind in den letzten Jahren eher schwächer geworden. Linke Massendemonstrationen wie zu Black Lives Matter oder zum Rücktritt von Sebastian Kurz sind seltener geworden. Es gibt aber Ausnahmen: Die lang vorbereitete feministische Kampftagdemo am 8. März oder die Proteste der Elementarpädagog:innen. Die Mobilisierungsschwäche wird aber durch stärkere Strukturen und mehr Selbstbewusstsein ausgeglichen. Auch die Klimabewegung hat trotz immer kleinerer Demonstrationen einen aktivistischen Kern gehalten und ausgebaut. Diese klar außerparlamentarischen Strukturen werden in der Lage sein, den Regierungsangriffen mit Mobilisierungen zu antworten. Ob dieser Widerstand erfolgreich ist, hängt aber davon ab, ob eine gemeinsame Strategie und ein gemeinsames Aktionsprogramm gefunden werden können.

2023 war ein schlechtes Jahr, das hätte schlimmer sein können

In unseren politisch-ökonomischen Perspektiven für 2023 haben wir geschrieben, dass die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten schlittert. Das ist so auch passiert, darüber waren sich bürgerliche und marxistische Ökonom:innen aber sogar einig. In manchen europäischen Staaten ist aber zumindest die Preisexplosion zurückgegangen, auch die Wirtschaftsentwicklung schaut nur in einzelnen Kleinstaaten schlechter aus als in Österreich (Estland, Irland, Luxemburg und Ungarn). Der Hintergrund der Rezession waren die seit 2015 sinkenden Profiraten, die durch die massive staatliche Umverteilung während der Pandemie und eine stärkere Exportorientierung der österreichischen Industrie gedämpft wurden. Diese Gegentendenzen haben 2023 aber ihre dämpfende Wirkung verloren, auch unter dem Druck der Energiepreiskrise und der neuen Blockbildung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Die Rezession ist aber nicht in eine Krise übergegangen, Produktion und Reproduktion laufen weiter. Energieversorger und Industrie haben große Reserven, 2022 und 2023 haben sie sogar Rekordprofite gemacht. Die Wirtschaft wird vor allem durch die Konsumnachfrage der Arbeiter:innen stabilisiert, trotz der Kaufkraftverluste bei den unteren Einkommen . Wegen dem Arbeitskräftemangel und den hohen Profiten vor allem bei den stärksten Kapitalen hatten Firmen eine recht hohe Bereitschaft, Löhne zu erhöhen. Den Gewerkschaften ist es gelungen, viel von dieser Zahlungsbereitschaft in Kollektivvertragserhöhungen zu leiten statt in die individuelle Überzahlung von besonders gefragten Arbeiter:innen. Das stärkt die Konsumnachfrage und reduziert auch die Lohnungleichheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Gleichzeitig sind viele Abschlüsse hinter der Inflation zurückgeblieben, 2023 war für viele ein Jahr der Reallohnverluste.

Für die österreichische Industrie war der wichtigste Faktor im vergangenen Jahr aber die relative Stabilität auf den internationalen Güter- und Finanzmärkten. Die österreichischen Banken selber sind trotz der großen Investitionen in Russland ganz gut abgesichert. Eine internationale Finanzkrise hätte diesen dünnen Deich aber leicht überrollt, das war schon Anfang 2023 sichtbar:

„Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.“

Mitte März 2023 kam es mit dem „ersten Bankenwackeln“ bei der Silicon Valley Bank und der Signature Bank New York, dann mit dem Zusammenbruch der Credit Suisse, zu so einer instabilen Entwicklung. In nur einer Woche musste die amerikanische Fed mehr Hilfsgelder ausschütten als jemals zuvor in so einem kurzen Zeitraum, sogar mehr als während irgendeiner Woche in der Finanzkrise 2008.  Die Bankgewinne haben sich über das Jahr 2023 aber stabilisiert, auch wegen der Übergewinne durch die Zentralbank-Zinserhöhungen: Sie verlangen und bekommen jetzt einfach mehr Geld für ihre Bankleistungen. Die Anzahl der geschäftsgefährdenden Kreditausfälle oder Kursstürze ist aber klein geblieben. Unter dem steigenden Zinsdruck leiden vor allem Arbeiter:innen mit Hypotheken oder Konsumkrediten, aber nicht die Profite.

Für die Arbeiter:innen und die Industrie in Österreich ist 2023 schlecht gelaufen, aber nicht so schlimm wie es hätte kommen können. Zum Beispiel nicht so schlimm wie für die österreichische Regierung. Schon seit Jahresbeginn haben sich ÖVP und Grüne aneinandergeklammert wie zwei Betrunkene am Heimweg, eine Regierung ohne Umfragemehrheit, deren Minister:innen nicht anerkannt werden und die sich heftig streiten, miteinander und parteiintern. ÖVP und Grüne stehen für die politische Koalition einer politischen Mitte ohne Verbindungen in die organisierte Arbeiter:innenklasse (wie die SPÖ) oder in die außerparlamentarische Rechte. Sie ist vor allem der Versuch, zwei Kapitalfraktionen zusammenzubringen, die Profiteur:innen einer kapitalistischen grünen Wende und die Verwalter:innen des alten Fossilkapitalismus, die neidisch auf die Subventions-Extraprofite schielen.  Politisch und ökonomisch ist diese Allianz gescheitert. Den großen Teil der ÖVP zieht es zurück ins rechte, teilweise rechtsautoritäre Lager, eine relevante Minderheit will die sozialpartnerschaftliche Stabilität einer großen Koalition zurück. Die Grünen sehen mal wieder die Felle der Macht davonschwimmen, können aber schwer noch mehr Zugeständnisse machen. Und selbst die sichern keine weitere Regierungsbeteiligung mehr ab.

Die Schwäche der Regierung hat aber auch etwas Gutes: Weder im Jahr der Instabilität noch im Wahljahr stehen staatliche Konsolidierung, Sparpakete und Sozialabbau auf der Tagesordnung. Die werden der nächsten Bundesregierung überlassen, eine Horrorvorstellung für Arbeiter:innen, Erwerbslose und alle, die staatliche Unterstützung brauchen würden. Welche Parteien nach der Nationalratswahl ans Ruder kommen, macht also, wenn überhaupt, nur einen Unterschied in der genauen Ausformung der Politik gegen die arbeitende Bevölkerung.

Internationale Dynamiken: Krieg, Instabilität und neuerwachender Internationalismus

In einem kapitalistischen Weltmarktsystem hängen die einzelnen Volkswirtschaften eng miteinander zusammen. Wirtschaftspolitik, nationale konzentrierte Kapitalfraktionen und Arbeitsmarktdynamiken führen zu natürlich trotzdem unterschiedlichen Entwicklungen. Das zeigt zum Beispiel die beständig überdurchschnittliche Inflation in Österreich. Aber wenn eine globale Krise anrollt, bleibt kein noch so national abgegrenztes Auge trocken.

Dass die Rezession gerade 2023 begonnen hatte, ist auch einem weltpolitischen Auslöser zu verdanken. Der russische Angriff auf die Ukraine und die folgende innerimperialistische Konfrontation unterbrachen Lieferketten und ließen die Energiepreise explodieren. Das verstärkte aber nur den ohnehin schon bestehenden inflationären Druck: Wegen der fallenden Profitraten setzten Kapitale immer mehr auf Preiserhöhungen statt auf Ausweitung der Produktion, in Erwartung ihre neuen Anlagen gar nicht mehr so profitabel einsetzen zu können.

Aber schon vor 2023 waren die internationalen Spannungen zu einer Belastung für die nationalen Kapitale geworden (außer ihr „idealkapitalistischer“ staatlicher Vertreter war zufällig gerade am erfolgreichsten). Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China beziehungsweise der EU, die Konfrontation von US- und Russland-gestützten Kräften in Syrien, und die zunehmende Aggression zwischen den USA und China hatte gezeigt, dass die Neuaufteilung der Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder mal an ihre Grenzen gestoßen war. Auf die Periode der Globalisierung folgte eine neue Blockbildung mit ernsthaften Deglobalisierungstendenzen.

Seit Oktober 2023 ist diese Lage mit dem Krieg in Gaza und seiner langsamen Ausweitung auf die gesamte Region deutlich eskaliert. Die USA wollen ihrem engen Verbündeten Israel Zurückhaltung einreden, weil sie eine Neuorientierung der arabischen Staaten hin zu China und Russland befürchten. Gleichzeitig weiten sie selbst den Krieg auf den Jemen aus und eskalieren die Besatzung im Irak weiter.

Das Massaker der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die genozidalen Vertreibungsfantasien der israelischen Staatsspitze haben Arbeiter:innen und Jugendliche weltweit mobilisiert. Sie sind die Mehrheit der Menschen, die in der größten internationalistischen Solidaritätsbewegung seit dem US-Überfall auf den Irak auf die Straße gehen. Die Versuche von reaktionären Regierungen und Bewegungen, die Bewegung zu dominieren, scheitern an deren unehrlicher Haltung zur palästinensischen Bevölkerung. Solange die Bewegung weiterhin massenhaft mobilisiert, wird die Vereinnahmung auch weiterhin schwierig. Gleichzeitig stellt sie eine ernsthafte Herausforderung für den imperialistischen Konsens dar, sich hinter die israelischen Massaker zu stellen. Sie kann auch zur Gefahr für die despotischen Regierungen in der Türkei, Ägypten und in den Staaten des mittleren Ostens werden, wenn sie ihre Opposition gegen die israelische Gewaltherrschaft auf den Kapitalismus und die Zusammenarbeit mit Imperialist:innen ihrer eigenen Regierungen ausweitet.

Aufstieg der Linken

Die hoffnungsvollen Zeichen in Österreich sind verhaltener als die Massendemonstrationen gegen Krieg und Besatzung. Das letzte Jahr hat trotzdem Erfolge für linke Kräfte in der Arbeiter:innenbewegung gebracht. Der interne Wahlsieg von Andreas Babler hat statt einer Reihe an immer rechteren Elendsverwalter:innen einen tatsächlich linken Sozialdemokraten an die Spitze einer Massenpartei gebracht. Sein Sieg war auch die Folge davon, dass sich der sozialchauvinistisch-rechte Flügel um Doskozil und der bürgerlich-rechte der Partei hinter Rendi-Wagner nicht einigen konnten. Bablers Wahl auf dem Parteitag zeigte auch, dass wichtige Teile der Parteibürokratie, vor allem in Wien, ihn als geringeres Übel als Doskozil gesehen haben. Trotzdem oder gerade deshalb ist es schwierig für seine Anhänger:innen, die Parteistrukturen zu ändern. Auch die Programmatik der Partei bewegt sich nur langsam, trotz der linken Rhetorik des neuen Vorsitzenden. Dazu kommt ein handfestes Problem: Für eine traditionelle Sozialdemokratie mit linker Rhetorik und verantwortungsvollem Co-Management fehlt die politisch-ökonomische Basis. Die Sozialpartner:innenschaft als staatstragendes Projekt ist tot und ihre Strukturen dezentralisieren sich zunehmend. Wenn die SPÖ-Linke ihre Versprechen umsetzen will, muss sie auf eine Konfrontation setzen, vor der die Partei seit Jahrzehnten zurückschreckt.

Trotzdem ist klar: Das neue Versprechen der Sozialdemokratie, durch Reformen zwar keine bessere Welt aber zumindest langsamere Verschlechterungen zu erreichen, vertritt Babler glaubhafter als seine Vorgänger:innen. Wenn es ihm gelingt, die Partei auf Konfrontationskurs zu bringen, wird das die Verhandlungsposition der Arbeiter*innen erst einmal stärken.

Die Illusion der Sozialpartner:innenschaft und die schnelle Einreihung in die europa- und außenpolitische Linie des österreichischen Kapitals sind aber Bablers zwei Achillesfersen. Sie bieten den Arbeiter:innen keine Perspektive in den weiter eskalierenden Krisen. Will die Linke in der SPÖ sich behaupten, braucht sie einen Weg zur Macht und einen Bruch mit der reformistischen Mitverwaltungslogik, sie muss die soziale Rhetorik ihres Vorsitzenden auf Klassenkampf stützen. Dazu gehört auch, die verkrusteten bürokratischen Parteistrukturen aufzubrechen, was aber aktuell nicht abzusehen ist. Auch der Parteitag auf dem ursprünglich weitereichende innerparteiliche Reformen angedacht waren, entpuppte sich als sehr zahm. Lediglich die Direktwahl (aber nicht mehr eine Abstimmung über mögliche Koalitionsabkommen) wurden umgesetzt.

Auch neben der SPÖ erstarkt die parlamentarische Linke. Die KPÖ hat nach dem Bürgermeisterinnenposten in Graz auch stabile 4 Mandate durch 11,7 % bei den Salzburger Landtagswahlen erreicht. In der Stadt Salzburg ist sie sogar zweitstärkste Kraft geworden. Die KPÖ baut wachsende Strukturen in den Bundesländern auf, bei der Nationalratswahl scheint sogar zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren ein Einzug möglich, entweder durch Überspringen der 4%-Hürde oder durch ein Regionalmandat in der Steiermark.

Die KPÖ hat durch die politische Allianz mit der Jungen Linken in der selbst ausgerufenen „kommunistischen Bewegung“ einen Schwung neuer Aktivist:innen und Kader bekommen. Die neue Bundesspitze und der Salzburger Landtagswahlsieger kommen aus der Jugendorganisation. Der Wahlerfolg spiegelt aber auch wider, dass eine relevante Minderheit vor allem in den Städten von der SPÖ desillusioniert ist, ohne sich nach rechts zu orientieren. Am Weg zum Wahlerfolg hat die KPÖ sich aber auch noch einmal weiter in die Mitte bewegt. Der Programmprozess weg von den Flügeln stalinistischer und eurokommunistischer Linksreformismus hin zu einer fast sozialdemokratischen Ausprägung wurde fortgesetzt. Auch schafft es die KPÖ weiterhin nicht, klassenkämpferische Antworten auf den eskalierenden Rassismus und die Klimakrise zu anzubieten.

Die Erfolge der KPÖ zeigen aber trotzdem eine gesellschaftliche Orientierung nach links und bieten durchaus Potential, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung für klassenkämpferische und revolutionäre Forderungen einzutreten.

Regierungsrepression, Angriffe und das Damoklesschwert Konsolidierung

Babler und die KPÖ bekommen viel mediale Aufmerksamkeit. Das bedeutet auch viel medialen Druck. Bei Babler sind es vor allem die internationalistischen Positionen, für die er noch kurz vor der Vorsitzwahl eingetreten ist, die angegriffen und ins Lächerliche verzerrt werden. Bei der KPÖ wird die teilweise offene politische Bewunderung von Mitgliedern und einzelnen Funktionär:innen für das russische Regime angegriffen und der gesamten Partei vorgeworfen.

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und dem folgenden Krieg der israelischen Armee gegen die Bevölkerung des Gazastreifens richten sich die Angriffe von Regierung und Medien auch gegen jede friedens- und neutralitätspolitische Position in der parlamentarischen Linken. Die österreichische Regierung nimmt im internationalen Vergleich eine besonders rechte Rolle ein. Zusammen mit nur einer Handvoll Ländern stimmte sie gegen Waffenstillstands-Resolutionen, die Kanzlerpartei wird nicht müde zu betonen, dass sie jeden israelischen Militäreinsatz unterstützt. Sogar humanitäre Hilfe wird teilweise als materielle Terrorunterstützung verunglimpft. Dieser Anpassungsdruck wirkt auf alle Aspekte des politischen Lebens und sogar in die Linke hinein.

Die propagandistische Mobilisierung richtet sich aber nicht vor allem gegen die Linke. ÖVP und FPÖ hetzen vor allem gegen Muslim:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern, auch in der SPÖ, bei NEOS und den Grünen finden sich Unterstützer:innen für ungehemmten antimuslimischen Rassismus. Muslim:innen werden unter Generalverdacht gestellt, geschlossene Grenzen gefordert, SPÖ und ÖVP werfen sich gegenseitig vor, wegen „offener Grenzen“ Einladungen an Antisemit:innen ausgesprochen zu haben. ÖVP und FPÖ bereiten sich offensichtlich darauf vor, einen offen hetzerischen Wahlkampf zu führen. Die Toten in Israel und Palästina werden ihnen billige Stichwortgeber:innen für eine Kampagne sein, die Migrant:innen in Österreich weiter benachteiligen und das Morden an den europäischen Außengrenzen eskalieren wird. Das kaschiert auch den gängigen Antisemitismus von FPÖ-Spitzen und die Indifferenz der ÖVP gegenüber ihrer Koalitionspartnerin in mehreren Landtagen.

Neben Staatsrassismus und Hetze steigen aber auch Rassismus und Antisemitismus in der Bevölkerung an. Sowohl die israelitische Kultusgemeinde als auch die Meldestelle antimuslimischer Rassismus haben seit dem 7. Oktober eine Vervielfachung von Übergriffen und Straftaten berichtet. Kurz nach dem Kriegsbeginn wurden in Wien Autos mit Hakenkreuzen beschmiert (ein österreichischer Rechtsextremer wurde festgenommen) und ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs verübt. Die Hetze der staatstragenden Rechten wirkt auch in die Breite der Bevölkerung. Sie ist gemeinsam mit Queerfeindlichkeit, latenter Klimawandelleugnung und prinzipiellem Frauenhass die ideologische Klammer einer möglichen schwarz-blauen Regierung.

Widerständige Bewegungen

Es spricht einiges dafür, dass sich betroffene Communities das nicht so einfach gefallen lassen werden. Die Gegenmobilisierung rund um eine rechte Kundgebung rund um die Türkis Rosa Lila Villa brachte Tausende auf die Straße und in Blockadeversuche. Die feministische Kampftag-Demo am 8. März war so groß wie schon seit Jahren nicht mehr. Und Communities von rassistisch Unterdrückten, vor allem Muslim:innen, sind seit den Bombardements von Gaza immer wieder zu Tausenden auf die Straße gegangen. Während Teile der Bewegung, besonders Demonstrationen von bestimmten querfront-affinen Gruppen, rechts geführt sind, gilt das keineswegs für alle und nicht nur die kleinen linken Mobilisierungen stehen dagegen. Auch die Klimabewegung hat aus den Bewegungen rund um Fridays for Future und dann die radikalere Lobaubesetzung Strukturen und Netzwerke aufgebaut. Dazu gab es dieses Jahr auch wieder größere Reibungen im Zuge der Kollektivvertragsverhandlungen, insbesondere die Elementarpädagog:innen machten mit großem Protest und einem Streiktag auf sich aufmerksam.

Es existieren lose, aber mobilisierungsstarke Zusammenhänge rund um die Fragen, in denen die Rechte am radikalsten hetzt und wo SPÖ und KPÖ noch wenig Position beziehen. Diese Strukturen haben das Potential, Widerstand gegen die mögliche rechte Politik einer kommenden Bundesregierung aufzubauen. Dafür müssen sie sich aber, anders als bisher, auf eine Strategie und ein Aktionsprogramm einigen. Das muss sich gegen den gemeinsamen Nenner, bürgerliche Politik und deren Sponsor:innen im Kapital richten, statt die reaktionären ideologischen Versatzstücke als einziges Problem anzugreifen.

Selbstbewusste revolutionäre Organisierung

Die linken und linksliberalen Hoffnungen auf ein Superwahljahr 2024 könnten auf den ersten Blick entmutigend für Revolutionär:innen wirken, deren Aktivität nicht auf überhöhten Hoffnungen in Vertretungswahlen basiert. Die breiten Ängste vor einem weltweiten Rechtsruck und entsprechende Überlegungen über das kleinere, reformistische oder sogar konservative Übel als (selbsternannte) Brandmauer vor dem Rechtspopulismus schlagen in dieselbe Kerbe. Aber Entmutigung ist unangebracht. Die politisch aufgeladene Stimmung, die sichtbar großen Herausforderungen und die stärker werdenden internationalistischen Bewegungen sind ein Umfeld, in dem revolutionäre Arbeit notwendig und vielversprechend ist.

Die Eskalationen im Nahen Osten gehen weit über die grausamen Massaker hinaus, die nach dem Angriff am 7. Oktober vorherzusehen waren. Bombardements durch US-amerikanische und britische Truppen im Jemen, Beschuss zwischen irakischen Milizen und dem Iran, und der Schlagabtausch zwischen Israel und dem Libanon sind die Vorboten eines imperialistischen Kriegs auf mehreren Schlachtfeldern.

In der Ukraine wird nicht nur um die Selbstbestimmungsrechte gekämpft, sondern es stehen sich Vertreter:innen des westlichen und russischen Imperialismus gegenüber. Vor den türkischen Bombardements der kurdischen Selbstverwaltung fliehen selbst US-Truppen, eine Wiederkehr des IS wird in Kauf genommen. Das zeigt nicht nur den genozidalen Anspruch des NATO-Staates, sondern auch die Fragilität des ganzen Militärbündnisses. Der Konflikt zwischen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Imperialismus scheint vorerst nicht auszubrechen, spitzt sich aber immer wieder zu. In den Drohgebärden rund um Taiwan und gegenseitigen Sanktionsdrohungen offenbart sich, dass diese Konkurrenz fundamental ist. Sie wird nicht mit zwei Sieger:innen lösbar sein und sich bis zum 100-Jahres-Jubiläum des Volksrepublik China immer weiter zuspitzen.

Eine internationalistische Antwort ist in dieser Zeit schon richtig, aber nicht nur richtig. Sie wird viel mehr Menschen überzeugen, als wenn die Widersprüche weniger eskalieren, aber sie ist nicht nur überzeugend. Die imperialistischen Blöcke stehen sich wieder einmal direkt gegenüber. Weltweit sind Millionen auf der Straße, sie demonstrieren entweder für einen Rückzug der US- und EU-unterstützten Aggressionen oder gleich für deren Niederlage. Ein internationalistisches Programm ist notwendig und muss sich an eine internationale Massenbewegung richten.

Die Widersprüche in Österreich spitzen sich in fast unheimlicher Parallelität zu. Im wirtschaftlichen Abschwung 2024 eskaliert der Widerspruch zwischen ÖVP-Kürzungsplänen und SPÖ-Sozialstaatswünschen. Die Stoßrichtungen der Wahlprogramme lassen sich nicht mehr in einer großen Koalition oder der Sozialpartner:innenschaft zusammenfassen. Und keines davon bietet eine Perspektive für die Arbeiter:innen und Erwerbslosen, die von der Teuerung belastet und vom Arbeitsplatzverlust bedroht sind. Eine unabhängige, klassenkämpferische Antwort ist notwendig und setzt direkt an den Forderungen an, die Kolleg:innen in Warnstreiks fast aller großen Industriebranchen geäußert haben.

Die ÖVP geht mit Wahlprogrammen der FPÖ aus den 2010er-Jahren auf Stimmenfang. Neben ihrem Rechtsruck formuliert die FPÖ ein noch rechteres Programm: Massendeportationen, Jagd auf angebliche Volksverräter:innen, Angriffe auf Errungenschaften der feministischen Bewegung und Hetze gegen die LGBTQIA- Community. Die Pläne der deutschen AfD, millionenfach abzuschieben, sind durch investigative Recherchen öffentlich geworden, die FPÖ bekennt sich im Vergleich dazu ganz offen im Hauptabendprogramm zu Verfassungsänderungen, die so etwas möglich machen sollen. Dagegen sind Zehntausende auf die Straße gegangen. Auch wenn die zivilgesellschaftlichen Forderungen der Demonstrationen dem Rechtsruck nichts entgegensetzen können, zeigen sie zumindest das vorhandene Bewusstsein für eine notwendige Massenbewegung gegen Rechts.

Gegen die Klimabewegung, Gleichstellungspolitik und die Aktivitäten von LGBTQIA- Aktivist:innen hetzen ÖVP und FPÖ, als ob sie voneinander abschreiben würden. Sozialdemokratie und Linksliberale haben dem außer Lippenbekenntnissen nichts entgegenzusetzen. Im Aktivismus ist von ihnen nichts zu sehen und ihre Programme für Klimawende und soziale Berechtigung gehen an der Dramatik der Krisen vorbei. Gleichzeitig sind die Protestinitiativen in diesen Bereichen zwar klein, aber gut vernetzt. Sie haben Erfahrung mit großen Mobilisierungen und längeren Kampagnen, kennen auch die Konfrontation mit der Polizei. Wenn sie sich auf eine Proteststrategie einigen und gemeinsam für klare politische Ziele kämpfen, ist erfolgreicher Widerstand möglich.

Ein Aktionsprogramm für den Widerstand gegen Massenentlassungen, Sparpakete, Rassismus, sexistische und queerfeindliche Politik und die Klimakrisenpolitik der Regierung ist nötig, aber auch möglich. Vor allem in Wien, aber auch in der Steiermark, Oberösterreich und Tirol gibt es Bündnisse, um die herum sich so ein Aktionsprogramm aufbauen und die es weiterbringen kann. Es braucht aber auch die Analyse, die Erfahrung und einen glaubwürdigen Aktivismus von Revolutionär:innen, damit solche Bündnisse ihren Widerstand in einen Machtkampf verwandeln können.

Es geht nämlich um nicht weniger als um einen Machtkampf. Rechtsruck und Krieg kündigen einen Regimewechsel der Herrschenden an: Schluss mit der postpandemischen Großzügigkeit, Schluss mit der nur schleichenden Verschlechterung unserer Lebensumstände, Schluss mit dem Verzicht auf offene Gewalt in der geordneten weltweiten Machtaufteilung.

Protest allein und Etappensiege ohne Folgeerfolg reichen hier nicht aus. Deshalb wird im dynamischen Bewegungsmosaik auch die Organisierungsfrage wichtig und entscheidend sein. Zwei Rechtsparteien, die Massenanhänge mobilisieren wollen, wahrscheinlich der Staatsapparat in ihren Händen und eine stärker werdende Propagandamaschinerie knicken nicht vor Demonstrationen ein, auch wenn die Zehntausende auf die Straße bringen. Was wir der Offensive der Herrschenden entgegenwerfen, muss stabil genug für deren Angriffe sein, ohne sich durch Starrheit in die Defensive drängen zu lassen.

Die Wahlerfolge der KPÖ in Graz und Salzburg, die Wahl des ersten linken SPÖ-Vorsitzenden in diesem Jahrtausend und die Arbeit von LINKS in Wien zeigen, dass Parteien als Ausdruck und Methode linker Politik alles andere als tot sind. Österreich erlebt eine bei Wahlen durchaus erfolgreiche Linke während dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Der kommt aber mit den Schwächen der jeweiligen Parteiprogramme und -methoden.

Es ist notwendig, die Organisierungsfrage innerhalb der Bewegungen, eng an den Linksentwicklungen der Parteien, zu stellen. Aber es reicht nicht aus, in breiten linken Bewegungen aufzugehen und dafür Programm und Methode hintanzustellen. Ganz im Gegenteil werden Revolutionär:innen ihre Verankerung und ihren Aktivismus nutzen, um Aktivist:innen von unserer Politik zu überzeugen und Vorschläge an Strukturen zu machen. Denn eine erfolgreiche linke Politk muss es schaffen, breit und radikal aufzutreten. Nur so kann sie sich dem gesellschaftlichen Rechtsruck, der herrschenden Klasse kampfkräftig und erfolgsversprechend gegenüberstellen.




Bleibt die deutsche Wirtschaft zurück?

Markus Lehner, Neue Internationale 281, April 2024

Liest man gerade Wirtschaftszeitungen und noch mehr Börsennachrichten, so könnte man meinen, „die Welt“ befinde sich im wirtschaftlichen Aufschwung. Interessant ist dabei sowohl, was unter „Welt“ als auch „Aufschwung“ verstanden wird. Natürlich wird gefeiert, dass wieder einmal die USA auf der Überholspur sind – und dies wird kontrastiert mit der „totalen Ausnahme“ des deutschen wirtschaftlichen Dahinkriechens. Natürlich wird Letzteres der „Politik“ angelastet, die eine ähnliche Dynamik wie in den USA durch Bürokratie, Energie- und Umweltauflagen, Arbeitsgesetze etc. behindere.

Ungleiche Entwicklung: Europa …

An diesem Bild muss einiges korrigiert werden. So wurde Anfang letzten Jahres für die USA eine ähnlich stagnative Erholung nach der Coronarezession wie in Europa erwartet. Tatsächlich wurden dann die vorausgesagten Wachstumsraten von Quartal zu Quartal nach oben korrigiert, bis die im internationalen Vergleich beachtlichen 2,4 % erreicht wurden. Dies kontrastiert mit den Wachstumsraten um die 0 % im EU-Raum und den wirtschaftlichen Einbrüchen in China rund um die Immobilienkrise und den Auswirkungen der späten Aufhebung der Coronalockdowns. Parallel zum sanften US-Aufschwung gab es auch höhere Wachstumsraten in Ländern wie Japan (2 %), Mexiko (3,4 %), Indien (6,5 %) – zum Teil offenbar bedingt durch die Erholung in den USA.

Was Europa betrifft, so ist es bei weitem nicht nur Deutschland, das weit hinter den Wachstumsraten der genannten Länder zurückgefallen ist. Außer ihm (-0,2 %) waren 2023 auch die Niederlande und Schweden in einer leichten Rezession – also neben der nach BIP größten Volkswirtschaft der EU auch Nummer 5 und 8. Alle großen EU-Länder (mit der bemerkenswerten Ausnahme Spaniens) blieben bei Wachstumsraten unter 1 % bzw. schrammten knapp an Rezessionen vorbei.Dies trifft auch auf die krisengeschüttelte Nach-Brexit-Ökonomie Britanniens zu.

Natürlich hat diese Situation viel mit der geopolitischen Entwicklung rund um den Ukrainekrieg zu tun. Die Russlandsanktionen und insbesondere der schlagartige Verzicht auf billigeres russisches Erdgas und -öl haben nicht nur, aber besonders die deutsche Ökonomie getroffen. Der Ersatz durch Flüssiggas und Ausbau erneuerbarer Energien gelang zwar teilweise, führte aber zu stark erhöhten Preisen. Der deutsche Energiepreisindex stieg 2022 um etwa 65 % – fiel allerdings 2023 wieder um 25 %, was in Summe immer noch einen mehr als 20%igen Anstieg gegenüber der Vorsanktionszeit bedeutet. Dazu kommt, dass die vermehrten Rüstungsausgaben in ganz Europa zu Haushaltsbeschränkungen führen, die den Spielraum für große Konjunkturprogramme stark einengen.

… und USA

Beide Faktoren fallen für die USA weg: Dort kam es seit 2022 zu keinen nennenswerten Energiepreiserhöhungen (auch weil dort außer Alibisteuern in einzelnen Bundesstaaten keine CO2-Bepreisung stattfindet). Im Gegenteil – durch die erhöhte Nachfrage nach Flüssiggas konnte der US-Energiesektor wesentlich zum Wirtschaftswachstum beitragen. Ebenso ermöglicht die spezielle Rolle seines Finanzsystems es den USA, unabhängig davon, dass die Neuverschuldung inzwischen pro Jahr 8 % des BIP ausmacht, trotzdem riesige Konjunkturprogramme aufzulegen. Diese umfassten 2023 das Doppelte aller anderen westlichen Industrienationen zusammen genommen. Insbesondere die Coronahilfen führen bis heute zu einem stabilen Anstieg der Konsumausgaben durch den Binnenverbrauch. Die Kehrseite dieser Schulden- und Subventionspolitik zeigt sich darin, dass das Inflationsniveau in den USA trotz steigender Zinsen nicht unter 3 – 4 % (bei der Kerninflation sogar über 5 %) liegt – im Gegensatz zum EU-Raum, wo es (auch stagnationsbedingt) mittlerweise unter die 3 % gesunken ist.

Die US-Konjunktur profitiert auch von einer „Entspannung auf dem Arbeitsmarkt“ durch gestiegene Immigration. Angesichts der seit dem Zinsanstieg steigenden Rate von Firmeninsolvenzen gibt es in den USA einen größeren Spielraum für die Umschichtung von Kapital und Arbeit (Migrant:innen für Billigjobs, Entlassene für neue Investitionsbereiche). Tatsächlich ist der leichte Aufschwung verbunden mit einem enormen Anstieg an Firmenzusammenbrüchen: 2023 hat sich die Zahl der Großinsolvenzen gegenüber dem Vorjahr verdreifacht. Beides (Migration und Insolvenzen) wirken in der EU und Deutschland auch aufgrund der politischen Rahmenbedingungen nur bedingt in Richtung Umschichtung von Kapital und Arbeit.

Gleichzeitig wirkt sich die Umstrukturierung der globalen Märkte und Wertschöpfungsketten in der EU negativer aus als in den USA. Insbesondere Deutschland und die Niederlande sind von „Friendshoring“-Tendenzen und Lieferkettenproblemen stark betroffen, vor allem was die Geschäftsbeziehungen mit China betrifft. Bezeichnenderweise hat das USA-China-Geschäft trotz politischen Getöses im letzten Jahr wieder enorm an Fahrt aufgenommen (7 % Anstieg der Importe in die USA).

Börseneuphorie

Obwohl also die derzeitige Wachstumsphase der USA offenbar durch einige Sonderfaktoren bedingt ist, herrscht gerade an den Börsen eine Euphorie, als sei eine neue Boomära angebrochen. Seit letztem Oktober stiegen die Aktienkurse an den US-Börsen genauso wie auch der DAX fast parallel um 22 %. In den USA sind es insbesondere Technologiewerte, die mit „Künstlicher Intelligenz“ in Verbindung gebracht werden, welche durch die Decke gehen. So beim Chiphersteller Nvidia, dessen Kurswert sich im letzten Quartal 2023 verfünffacht hat. Nvidia, das die Hardware für die gestiegenen Anforderungen von KI-Anwendungen liefert, hat aber im selben Zeitraum seinen Quartalsprofit von 3 Milliarden US-Dollar auf 17 Milliarden gesteigert. Und es ist nur eines von 7 „Großen“, die derzeit vom KI-Hype an den Börsen profitieren. Tatsächlich versprechen die Fortschritte in der Integration von generativer KI in die herkömmlichen IT-Infrastrukturen künftig große Produktivitätssprünge. Doch kann sich deren Realisierung noch mehrere Jahre hinziehen. Die großen Erwartungen könnten also genauso verfrüht sein wie 1999 während der Dotcomblase.

Insgesamt hat sich die Börse wieder einmal stark von den realwirtschaftlichen Werten entfernt, wie sie sich etwa im „Price-Earning“-Index ausdrücken. Dieser vergleicht die Kursbewertung mit den längerfristigen inflationsbereinigten Gewinnen. Als „normal“ gelten dabei Werte um die 20 – beim großen Crash 1929 stand er bei 31,5, vor dem Dotcomcrash bei 44,2 – derzeit steht er bei 34,2. Kein Wunder also, dass sich an den Börsen eine gewisse Nervosität breitmacht. Es reichen wohl ein paar schlechte Daten von Unternehmen oder Konjunkturprognosen für die USA, um Kursstürze auszulösen. Die Unsicherheit an den Finanzmärkten addiert sich zu der Masse an Krisenmomenten, die sich derzeit zusammenballen (Klima, Kriege, Schulden, Inflation, Stockungen im Welthandel und den Wertschöpfungsketten, politische Unsicherheiten …).

Bei den deutschen Aktienwerten sticht vor allem ein Titel hervor: der des Rüstungskonzerns Rheinmetall: Vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch bei 90 steht der Kurs aktuell bereits bei 500. Im weltweiten Vergleich ist der Konzern zwar eine kleine Nummer, mit allerdings wichtigen technischen Fähigkeiten (aktuell etwa in der gesteigerten Produktion von Artilleriemunition). Der neue Rüstungswettlauf in Europa erfordert für die EU-Kapitale eine völlig neue Struktur von Rüstungskonzernen. Die vielen kleinen nationalen Monopole können alleine im internationalen Wettlauf nicht Schritt halten. Hier fungiert Rheinmetall als Modell, indem dieser Konzern seit einiger Zeit mehrere kleinere Firmen schluckte (in Spanien, den Niederlanden, Rumänien …). Das andere sind große europäische „Kooperationen“, so die der „Panzerschmiede“ Krauss-Maffei Wegmann mit der französichen Nexter zu KNDS (KMW+Nexter) mit Sitz in Amsterdam. KNDS ist im letzten Jahr in eine Kooperation mit einem der größten europäischen Rüstungskonzerne, der italienischen Leonardo, eingestiegen – insbesondere um den zukünftigen Panzer der europäischen Streitkräfte zu bauen. Es ist zu befürchten, dass die europäischen Rüstungskonzerne zu einem neuen Zentrum der EU-Industriepolitik werden, die Milliarden an Steuergeldern, Investmentkapital und Spekulationsanlagen verschlingen werden.

Perspektiven

Neben den Unwägbarkeiten des Ukrainekriegs und den Kosten der Aufrüstungspolitik sind die anderen Faktoren schon benannt, die eine Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland schwer machen: die weitere Entwicklung der Krise in China, mit ihren Auswirkungen auf die internationalen Wertschöpfungsketten; die Fragmentierung des Welthandels; die wachsenden Kosten von Klimakatastrophen und die Entwicklung der Energiekosten; die Unsicherheiten der Entwicklung in den USA (nicht nur was den Ausgang der Präsidentschaftswahl betrifft, sondern auch die Konjunktur); die Möglichkeit von Turbulenzen auf den Finanzmärkten; die Möglichkeit weiterer Großinsolvenzen nach der Karstadt-Benko-Pleite etc. Auch wenn die Konjunkturklimaindikatoren inzwischen aufwärts zeigen, so können einige dieser Unsicherheitsfaktoren schnell zu einem erneuten Abrutschen in eine verlängerte Rezession führen.

Während die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Probleme mit sinkendem Massenkonsum und Inflation dazu geführt haben, dass seit letztem Jahr bis heute zu einem Aufschwung von Lohnkämpfen gekommen ist, so haben selbst diese nicht einmal in den tarifgebundenen Bereichen Reallohnverluste verhindern können. Im Umfeld von Rezession und Firmenpleiten werden die Lohnkämpfe in nächster Zeit sicher nicht einfacher werden. Insbesondere in der Metallindustrie stehen weitere Auseinandersetzungen darum an, wer die Kosten der Transformation zu CO2-reduzierten Technologien (z. B. in der weniger personalintensiven E-Mobilität) tragen muss. Die Streiks der GDL haben gezeigt, dass sie mit der weniger als bei DGB-Gewerkschaften üblichen Rücksichtnahme durchaus Druck ausüben können. Die Probleme müssen zu Lasten der Profite des Kapitals durch Aufteilung der Arbeit auf alle Hände (Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich) und Angleichung der Lohn- an die Preisentwicklung gelöst werden. Insofern ist das Gegenteil von Lohnzurückhaltung angesichts der gegenwärtigen Rezessionserwartungen angesagt.

Zugleich machen die Resultate der Lohnkämpfe der letzten Jahre nicht nur die fatale Rolle der Gewerkschaftsbürokratie deutlich, die als Bremsklotz fungiert. Sie werfen auch die Frage auf, wie diese durchbrochen werden kann. Das erfordert zum einen den Aufbau einer klassenkämpferischen, organisierten Opposition in den Betrieben und Gewerkschaften. Ihre Aufgabe besteht dabei sowohl in der Radikalisierung der Kämpfe wie auch in der Verbreiterung einer politischen Alternative zur reformistischen und verbürokratisierten Führung.

Doch es wäre zugleich zu kurz gegriffen zu glauben, dass das Problem der politischen Ausrichtung und Führung der Arbeiter:innenklasse auf rein gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene gelöst werden könne. Der Kampf für eine Basisbewegung wird letztlich nur erfolgreich sein, wenn er Hand in Hand mit dem für die Schaffung einer neuen revolutionären Partei und Internationale einhergeht.




Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

Night Ophelia, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung (NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

  • verbale Gewalt (62,4 %),

  • körperliche Übergriffe (54,8 %),

  • sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

  • häusliche Gewalt (43,0 %),

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976).

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!

  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!

  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!

  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!

  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!

  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Ein Jahr Regierung Meloni: eine Kriegserklärung gegen die Arbeiter:innenklasse

Azim Parker, Infomail 1239, 18. Dezember 2023

„Man lacht, um nicht zu weinen“ ist eine sehr beliebte Redewendung in Italien. Die Grenze zwischen Tragödie und Farce war nämlich in der Geschichte des Landes manchmal sehr, sehr dünn. Man denke nur an die zwanzig Jahre der Berlusconi-Regierung, die zwischen einem Witz und einer internationalen Blamage auch die Zeit fand, 2001 die Demonstrant:innen gegen den G8-Gipfel in Genua massakrieren zu lassen.

Das erste Jahr der Regierung Melonis bestätigt diese groteske Tendenz. Allein in diesem ersten Jahr konnten wir alle möglichen erbärmlichen Schauspiele ansehen, darunter über Facebook die Trennung der Ministerpräsidentin von ihrem Partner – einem rassistischen und frauenfeindlichen Pseudojournalisten –, einen peinlichen Scherzanruf auf Kosten von Giorgia Meloni, der die Regierung vor der ganzen Welt lächerlich machte, einen absurden Kampf gegen harmloses CBD-Cannabis und vieles mehr. Das Problem ist, dass die Arbeiter:innenklasse einen unglaublich hohen Preis zahlen musste, um Zeugin dieses Spektakels zu werden.

Ein beispielloser Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen

In der Geschichte der Republik gab es sicherlich noch nie eine so starke Verschlechterung der Lebensbedingungen der ärmeren Schichten. Italien ist das Land mit dem stärksten Rückgang der Reallöhne unter den großen OECD-Volkswirtschaften. Bis Ende 2022 waren sie im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie um 7 % gesunken. Dieser Rückgang setzte sich im ersten Quartal diesen Jahres fort, mit einem Minus von 7,5 % – all das im Rahmen einer grundsätzlich maroden Wirtschaft.

Wenn auch nach der Pandemie tatsächlich eine gewisse Erholung des Wachstums zu beobachten war – im Jahr 2022 ist das BIP tatsächlich um 3,7 % gewachsen –, belasten der Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund des Krieges in der Ukraine, die Rezession in Deutschland – dem wichtigsten wirtschaftlichen Partner Italiens –, die Wiedereinführung des Stabilitätspakts und die ständige Erhöhung der Zinssätze die Staatskassen und die öffentliche Verschuldung wie ein Mühlstein. Infolgedessen ist das erste Jahr der Regierung Meloni im Wesentlichen von beispielloser Aggressivität gegenüber den italienischen Lohnabhängigen geprägt.

Arme

Die ersten Opfer der kriminellen politischen Maßnahmen der Regierung waren die Arbeitslosen und die ärmsten Teile der Bevölkerung, die durch eine SMS darüber informiert wurden, dass sie ihr Grundeinkommen, das sog. Bürgergeld verloren haben. Diese auf Betreiben der Fünf-Sterne-Bewegung 2019 eingeführte Transferleistung war zwar selbst eine äußerst demagogische und bestimmt problematische Maßnahme, die sicherlich die Armut nicht „abgeschafft“ hat, wie der damalige Minister Di Maio bei ihrer Einführung erklärte, stellte jedoch für eine gewisse Zeit sowohl das einzige Mittel zum Überleben für viele arme Leute dar als auch eine Barriere gegen die Überausbeutung vieler prekärer Beschäftigter, insbesondere in der Tourismus- und Gastronomiebranche, die berechtigterweise in Anbetracht einer Alternative begonnen haben, die unwürdigen Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen abzulehnen.

Es ist kein Zufall, dass diese Maßnahme damals auf starken Widerstand bei Kleinunternehmen gestoßen ist. Hinter ihrem sozialchauvinistischen Gejammere über die „Penner:innen, die auf Kosten des Staates leben“, verbarg sich nur ihre Frustration darüber, dass sie niemanden mehr mit Hungerlöhnen erpressen konnten.

Arbeitsgesetz

All das stellt jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Das Arbeitsgesetz, das zynisch am 1. Mai 2023 erlassen wurde, ist eine regelrechte Kriegserklärung. Es reicht von der Verlängerung befristeter Verträge, also der häufigsten Form prekärer Arbeit in Italien, bis zur Kürzung der

Abgabenschere, einer vom Staat stark beworbenen Maßnahme, die jedoch in Wirklichkeit eine Beleidigung für alle italienischen Lohnabhängigen ist. Um die Kluft zwischen Netto- und Bruttolohn zu verringern, hat die Regierung tatsächlich 4,1 Milliarden Euro bereitgestellt.

Das bedeutet, dass die italienischen Arbeitenden eine Erhöhung des Nettogehalts von 50 bis 100 Euro erhalten werden! Ein Betrag, der angesichts der Inflation völlig bedeutungslos ist. Diese Maßnahme geht natürlich nicht mit einer Erhöhung der Löhne einher. Nicht zufällig hat sich Confindustria – der Italienische Unternehmerverband – sehr zufrieden gezeigt und dieses weitere Geschenk gerne angenommen. Die größte Ironie besteht jedoch darin, dass diese Mittel von der öffentlichen Verschuldung getragen werden, also von den gleichen Arbeiter:innen, die bereits erhebliche Kürzungen bei Renten und öffentlicher Gesundheit hinnehmen müssen, damit „die Rechnung aufgeht“. Real werden also die Unternehmen entlastet, während die Lohnabhängigen durch Sozialkürzungen das verlieren, was sie scheinbar erhalten.

Gesundheitssystem

Gerade das öffentliche Gesundheitssystem ist eines der Schlachtfelder, auf denen die Regierung besonders verheerend vorgegangen ist. In den letzten 10 Jahren wurden in Italien 111 Krankenhäuser geschlossen und 37.000 Betten abgebaut. Der Mangel an medizinischem und pflegerischem Personal ist mittlerweile zu struktureller Natur in den Ambulanzen und Krankenhäusern geworden. All dies geschieht, während der Zugang zu den Universitäten beschränkt ist und komplizierte, von Nepotismus und Unorganisiertheit geprägte Auswahlverfahren die Einstellung neuen Personals weiter erschweren.

Der Tarifvertrag für Krankenpfleger:innen wird seit drei Jahren nicht erneuert. Die Regierung Meloni hat eine Gehaltserhöhung von 4 % angeboten, was die Hälfte des durch die Inflation verlorenen Wertes der Gehälter wäre! In der Zwischenzeit hat das letzte Haushaltsgesetz weitere 2 Milliarden Euro an Mitteln aus dem gesamten Gesundheitssystem gekürzt, alles zum Vergnügen des Privatgesundheitswesens. Dieses sieht nicht nur eine Steigerung seiner Gewinne, sondern erhält auch üppige Subventionen genau von dem Staat, der das öffentliche Gesundheitswesen ruinieren lässt.

Die reaktionäre Rhetorik der Regierung zum Thema Familie hat sich in der Erhöhung der Mehrwertsteuer für Babynahrung und Windeln niedergeschlagen. Laut Regierung sei es notwendig, zum Wohle der Nation Kinder gegen die „ethnische Substitution“ durch Migrant:innen zu gebären – dies wurde tatsächlich vom Landwirtschaftsminister gesagt! Dass die Familien diese Kinder nicht ernähren können, ist jedoch irrelevant. Nicht zu vergessen, dass das Wahlversprechen, die Mineralölsteuer abzuschaffen, natürlich schnell gebrochen wurde.

Das Gemetzel an Migrant:innen geht weiter …

Das italienische Proletariat ist nicht das einzige Ziel. Die Regierung hat sich im letzten Jahr besonders vehement auch gegenüber Migrant:innen positioniert, die immer schon ein erklärtes Ziel dieser Rassist:innen waren. Und sie wollen so auch den Anstieg der Unzufriedenheit aufgrund der nicht eingehaltenen Wahlversprechen eindämmen. Schon während des Wahlkampfs war eine der bekanntesten Forderungen der Regierung die nach einer „Seeblockade“ Italiens, eine ultrareaktionäre und letztlich unrealisierbare Maßnahme, die dazu diente, das vorhandene rassistische Gefühl in der Bevölkerung zu schüren und kapitalisieren.

Natürlich hat die Undurchführbarkeit der Seeblockade Giorgia Meloni und ihre Kompliz:innen nicht daran gehindert, ebenso kriminelle Politiken gegenüber Migrant:innen zu verfolgen.

Zuerst das Abkommen mit der Regierung des tunesischen Folterpräsidenten Saied, der sich gegen Zahlung dazu verpflichtete, die abfahrenden Immigrant:innen in seinen Lagern zurückzuhalten, ein Abkommen ähnlich dem bereits bestehenden mit Libyen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Saied flog Meloni nach Albanien, um im Geheimen mit Premierminister Rama über die Schaffung von Anhaltelagern für Migrant:innen zu verhandeln, im Austausch gegen Italiens Hilfe, Albanien in die EU aufzunehmen. Einfach ekelhaft!

In der Zwischenzeit hat sich die Regierung verpflichtet, die Aktivitäten von NGOs so weit wie möglich zu behindern, indem sie die Schiffe dazu zwingt, die Geflüchteten zu Häfen weit entfernt vom Rettungsort zu bringen, und sie de facto auffordert, mögliche mehrfache Rettungsanfragen zu ignorieren. Im Inland hat sich Meloni dazu verpflichtet, neue Zentren für administrative Inhaftierung – die berüchtigten CPR (Rückkehrzentren) – zu errichten, die tatsächlich echten Gefängnissen gleichen, in denen Migrant:innen darauf warten, abgeschoben zu werden. Das erklärte Ziel dieser beschämenden Politiken ist – genauso wie bei anderen europäischen Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung – die Blockierung der Einreisen. Tatsächlich ist dies eine schändliche Rechtfertigung. Angesichts von Hunger, Gewalt und Freiheitsberaubung gibt es nichts, was Menschen davon abhalten kann, anderswo ein besseres Leben zu suchen. Alle Anstrengungen der Regierungen, dies zu verhindern, tragen nur dazu bei, das Leiden und den Tod von Hunderttausenden von Menschen zu erhöhen. Nur der Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für eine sozialistische Ordnung kann ihnen endlich Gerechtigkeit bringen und die Menschheit von dieser Tragödie befreien.

Die ohrenbetäubende Stille der Opposition und der Gewerkschaften

Besonders schändlich angesichts dieser Situation erscheint das Verhalten der wichtigsten Gewerkschaften – CGIL, CISL, UIL. Unser Bericht über den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Regierung Meloni könnte hier enden. In einem Jahr Regierung sind die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen des Landes, insbesondere die CGIL, durch eine entwaffnende Lethargie aufgefallen. Bis Oktober 2023 wurde keine einzige Demo auch nur symbolisch gegen die Regierung organisiert.

Im Gegenteil, der Generalsekretär der CGIL, Landini, war so nett, Giorgia Meloni einzuladen, eine Rede auf dem Gewerkschaftskongress im März zu halten. Nach einer rein rituellen Demonstration im Oktober in Rom, bei der jedoch die Arbeiter:innen die Gewerkschaftsbürokratie unter dem Ruf nach einem Generalstreik bedrängten, sah sich Landini im November gezwungen, einen Streik auszurufen. Einen Streik, der an drei verschiedenen Tagen regional organisiert wurde – das bedeutet, dass im Norden, in der Mitte und im Süden Italiens an drei verschiedenen Tagen gestreikt wurde. Diese Entscheidung, mittlerweile eine Praxis für die CGIL, zielt offensichtlich darauf ab, die Auswirkungen der Arbeitsniederlegung so weit wie möglich abzuschwächen und sie so harmlos wie möglich zu machen. Trotzdem nutzte die Regierung, insbesondere Verkehrsminister Salvini, die Gelegenheit, die Gewerkschaft und die Arbeiter:innen weiter anzugreifen, indem er erklärte, dass der Streik illegal sei, da er das Recht der Bürger:innen auf Mobilität verletze und daher aufgehoben werden müsse.

Das wäre eine großartige Gelegenheit gewesen, eine echte Mobilisierung gegen die Regierung rund um die Verteidigung des Streikrechts auszulösen. Eine Mobilisierung, die dem bereits unzufriedenen italienischen Proletariat sicherlich eine konkrete Perspektive des Kampfes gegeben und die Regierung in Schwierigkeiten gebracht hätte. Landini hielt es jedoch für richtiger, die Dauer des Streiks auf 4 Stunden im öffentlichen Verkehr zu reduzieren, wodurch die Mobilisierung faktisch zu einem leeren Ritual wurde. In der Zwischenzeit schläft die Regierung ruhig, und Salvini kann sich in sozialen Netzwerken damit brüsten, die Gewerkschaften in den Griff bekommen zu haben.

Leider ist dieses erste Jahr der Regierung auch für die Basisgewerkschaften alles andere als positiv verlaufen. Die verschiedenen Gewerkschaften haben im Wesentlichen miteinander konkurriert, indem sie unkoordiniert und letztlich in Konkurrenz zueinander Ministreiks durchgeführt haben, mit dem einzigen Ziel, sich gegenseitig die Mitglieder wegzunehmen. Die Überwindung dieser sektiererischen Mentalität bleibt daher eine wesentliche Aufgabe für italienische Revolutionär:innen.

Die Bilanz des ersten Jahres der Regierung Meloni ist daher dramatisch. Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit der Bourgeoisie und ihrer politischen Vertretung, ungeachtet ihrer internen Widersprüche ihre Gewinne und ihren Status quo auf Kosten des Proletariats zu schützen. Auf der anderen Seite erleben wir die ewige Wiederholung der reformistischen Linken, sowohl in der Politik als auch in den Gewerkschaften. Diese ist Opfer ihres eigenen Opportunismus und Mangels an Perspektiven jenseits der engen Grenzen des Kapitalismus, was sie dazu zwingt, mechanisch die gleichen Formeln und Rituale zu wiederholen, selbst wenn dies sie endgültig zum politischen Vergessen verurteilen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Zugleich verdeutlich die Führungskrise der Arbeiter:innenklasse, dass es eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik und der Rechten.




Das Sofortprogramm der Linkspartei: Anbiederung aus Verzweiflung

Martin Suchanek, Infomail 1161, 9. September 2021

Das Unvorhergesehene ist eingetreten. Die SPD und ihr Spitzenkandidat führen in den Umfragen. Liegt das an den Fettnäpfen, in die Laschet und Baerbock abwechselnd hüpfen? Liegt es daran, dass MerkelanhängerInnen deren Erbe bei Scholz besser aufgehoben sehen?

Beides macht eigentlich klar, dass eine mögliche rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die der SPD-Höhenflug mit sich bringt, nicht das Szenario einer „Linkswende“ der WählerInnen abbildet. Trotzdem wittert die Führung der LINKE, die aus der Krise der SPD fast nichts nach links gewinnen konnte, ausgerechnet jetzt die Chance, die Partei aus ihrer Krise herauszuwinden. Mit heißer Nadel wurde ein „Sofortprogramm“ gestrickt, das einer politischen Kapitulationserklärung der Vorsitzenden von Partei und Fraktion der Linken gegenüber SPD und Grünen gleichkommt.

In einem achtseitigen Papier, das am 6. September veröffentlicht wurde, schlagen Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch Eckpunkte eines Regierungsprogramms vor, das so ziemlich jeden strittigen Punkt gegenüber SPD und Grünen beiseitelässt. Austritt aus der NATO? Rückzug aller Bundeswehreinheiten aus dem Ausland? Fehlanzeige. Zur Pandemie und deren Bekämpfung findet sich gleich gar kein Wort im Text. Enteignung von Deutsche Wohnen und Co.? Nicht im Sofortprogramm!

Klarheit und Verlässlichkeit – für wen?

Gleich zu Beginn des Textes versprechen die AutorInnen „Klarheit und Verlässlichkeit, wenn es um die Zukunft unseres Landes“ geht. Verlässlich wollen sie offenbar für Scholz, Baerbock und Co. sein. Dass das Fallenlassen der meisten strittigen Punkte mit den anvisierten KoalitionspartnerInnen zu einer wirklichen Koalition führt, darf getrost bezweifelt werden.

Grüne und SPD ziehen allemal eine Koalition mit der FPD einer mit der Linkspartei vor – und zwar nicht wegen einer größeren Schnittmenge im Forderungsabgleich, sondern weil sie eine stabile, für das deutsche Kapital verlässliche Regierung anstreben. So viele Punkte kann die Linkspartei gar nicht fallenlassen, dass Grüne und SPD, die beide eine Regierung im Einvernehmen mit den Spitzen des deutschen Großkapitals und der EU-Kommission anstreben, nicht lieber auf FDP oder selbst auf eine Kombination mit CDU/CSU (z. B. Schwarz-Grün-Gelb) setzen.

Doch der Spitze der Linkspartei gilt offenkundig politische Harmlosigkeit gegenüber SPD und Grünen als Beweis für Verlässlichkeit. Wen kümmert da schon, dass das  Wahlprogramm, mit dem die Linkspartei antritt und das von einem Parteitag beschlossen wurde, ohne jede demokratische Debatte, ohne Konsultation und Diskussion des Parteivorstands faktisch fallen gelassen wurde?

Wenn das Lancieren des Sofortprogramms politisch einen Sinn machen soll, so doch nur den, SPD und Grünen wie der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit zu signalisieren, dass es der Linkspartei mit ihrem Wahlprogramm nicht weiter ernst ist. Das mag im bürgerlichen Politikbetrieb nicht weiter verwundern. Es zeigt aber, wie rasch und wie viele Abstriche die Spitzen der Linkspartei zu machen bereit sind, selbst wenn sie dafür nichts erhalten.

Gedeckt wird dies, indem Stimmung in der Bevölkerung beschworen wird, die die Politik für die Millionen und nicht für die MillionärInnen herbeisehnt. Als ob die Formel schon klären, würde, welche Politik im Interesse der Millionen nötig wäre und welche SPD und Grüne verfolgen. Doch die Linke macht ihre Differenzen zur noch regierenden SPD oder einer Grünen Partei, die so weit rechts steht wie nie zuvor, nicht deutlich.

Für viele Mitglieder der Linkspartei, die sich aktiv an Streiks wie bei den Berliner Krankenhäusern, an der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder an den Mobilisierungen gegen das Polizeigesetz in Nordrhein-Westfalen beteiligen, muss das Sofortprogramm wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Die sog. roten Haltelinien und Mindestbedingungen für Koalitionen mit SPD und Grünen wurden einfach fallen gelassen.

Doch das Lancieren des Sofortprogramms zeigt nicht nur, dass man sich auf die Spitzen der Partei nicht verlassen kann. Da helfen auch keine TV-Auftritte Bartschs, der laut von sich gibt, dass die Linke nur mit ihrem Ganzen und keinem halben Programm in Koalitionsverhandlungen geht. Faktisch tritt das Sofortprogramm an die Stelle des Wahlprogramms.

Der Text zeigt nicht nur, wie weit das Führungspersonal der Linkspartei bereit ist zu gehen. Es offenbart aber auch ein erschreckendes Ausmaß an politischer Fehleinschätzung, einen Mangel an jener Klarheit, die das Papier verspricht.

Lageeinschätzung

Angesichts der aktuellen Umfragen, denen zufolge die SPD unter Olaf Scholz zur stärksten Partei im Bundestag werden könnte, und dass es rein arithmetisch für Rot-Grün-Rot reichen könnte, unterstellt das Papier eine Art gesellschaftlicher Aufbruchsbewegung, die  eine Reformmehrheit signalisieren würde. Wie wird das begründet? Indem eine „andere Mehrheit“ im Land suggeriert wird.

„Es gibt in diesem Land eine Mehrheit, die Ungleichheit und Armut nicht länger hinnehmen will. Eine Mehrheit, die nicht länger hinnehmen will, dass die Löhne von Millionen Beschäftigten stagnieren, während Mieten und Preise weiter steigen. Eine Mehrheit, die weiß, dass gleiche Chancen für alle nur mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur möglich sind. Eine Mehrheit, die nicht länger Zeit beim Klimaschutz verlieren will. Die Politik für die Gesellschaft erwartet, nicht für Lobbygruppen oder ‚den Markt’. Eine Mehrheit, die jeden Tag den Laden zusammenhält, die sich für ihre Nächsten engagiert und das Träumen nicht verlernt hat.“ (Sofortprogramm)

Diese schwammigen Formulierungen sollen offenbar eine politische Lageeinschätzung ersetzen. In Wirklichkeit vernebeln sie sie nur. In der Allgemeinheit ist so ziemlich jede/r gegen Ungleichheit und Armut, für faire Mieten. Löhne und Preise. „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ versprechen schließlich nicht nur LINKE, SPD und Grüne, sondern auch FDP, Union und AfD. Zu jenen, die den Lagen zusammenhalten, rechnet sich auch fast jede/r. Und beim Klimaschutz nicht länger verlieren – wer will das nicht? Solche Phrasen sagen nichts aus darüber, ob und für welchen Klimaschutz man überhaupt eintritt.

Mit der ständigen Beschwörung einer diffusen, im Grunde nichtssagenden Mehrheit soll jedoch das Bild einer Gesellschaft gezeichnet werden, die in zwei Lager zerfällt: die reformorientierten AnhängerInnen eines Politikwechsels einerseits und das neoliberale Lager (FDP, CDU/CSU) samt AfD andererseits.

Verkennen der Lage

Diese Sicht verkennt die Lage gleich mehrfach. Sie geht nämlich von einer realitätsfernen Sicht des bürgerlichen Lagers aus. Dieses ist zurzeit – so weit die gute Nachricht – von einer tiefen Krise und Umgruppierung geprägt. Darin besteht auch die tiefere Ursache für den Niedergang der CDU/CSU in den Umfragen und für die drohende Niederlage der Unionsparteien. Die traditionelle Hauptpartei der Bourgeoisie in der Bundesrepublik vermag nicht mehr, die Einheit der verschiedenen Klassenfraktionen, angelagerter Schichten des KleinbürgerInnentums und auch von Teilen der ArbeiterInnenklasse erfolgreich zu einer gemeinsamen Politik zu vermitteln. Es fehlt ihr vielmehr angesichts der aktuellen Krisen ein strategisches Konzept. Dass CDU/CSU auf einen Kandidaten wie Laschet verfielen, drückt das aus. Selbst wenn er das Ruder noch einmal rumreißen sollte und die Unionsparteien als stimmenstärkste in den Bundestag einzögen, würde das ein Wahldebakel bedeuten. Die Krise der Union speist die Wahlchancen der FDP und auch der AfD – aber auch von Grünen und SPD.

Die Grünen sind in den letzten Jahren selbst zu einem wichtigen Bestandteil des bürgerlichen Lagers geworden. Sie vertreten – im Unterschied zu CDU/CSU – ein relativ klares Konzept der Modernisierung des deutschen Kapitals, den Green New Deal, der ökologische Nachhaltigkeit mit gesteigerter Konkurrenzfähigkeit zu vereinen verspricht und dafür auch staatliche Konjunktur- und Investitionsstützen vorsieht.

Die SPD vertritt das im Grunde auch. Aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer sozialen Verankerung in den Gewerkschaften und größeren Teilen der ArbeiterInnenklasse präsentiert sie sich jedoch glaubwürdiger als Partei des sozialen Ausgleichs als die Grünen, als Partei, die die ökologische Modernisierung mit mehr Sozialschaum abfedert. Daher kann sich Scholz bei Teilen der WählerInnen auch eher als Nachfolger von Merkel verkaufen als Laschet oder Baerbock. Grundsätzlich begründet sich aber der mögliche Erfolg von Scholz aus den Fehlern und Schwächen von Union und Grünen bzw. von deren SpitzenkandidatInnen.

Betrachten wir die politische Lage in Deutschland genauer, so drücken die Wahlergebnisse der letzten 10, 20 Jahre insgesamt eine Verschiebung nach rechts aus. Mit der Einführung der Hartz-Gesetze, für deren Reform, aber nicht Abschaffung das Sofortprogramm steht, und der Ausweitung des Billiglohnsektors erlitt nicht nur die ArbeiterInnenklasse eine tiefe, strategische Niederlage, die SPD hat dafür auch einen wohlverdienten Preis bezahlt. Die bürgerliche ArbeiterInnenpartei hat nachhaltig an Verankerung in der Klasse verloren, stützt sich in der Hauptsache noch auf Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte in Großkonzernen.

Diese Krise – wie auch den Rechtsschwenk der Grünen – konnte die Linkspartei seit ihrer Gründung jedoch auf elektoraler Ebene nicht nutzen, auch wenn ihr Einfluss in Gewerkschaften und Betrieben wie auch ihre Verankerung in sozialen Bewegungen größer geworden ist. Auf Wahlebene verlor sie jedoch in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten und konnte das nicht durch Zuwächse im Westen ausgleichen. So droht ihr das schlechteste Ergebnis seit der Fusion von PDS und WASG.

Fiasko

Zweifellos tragen die schlechten Umfragen dazu bei, dass die Linkspartei-Spitze ihr Sofortprogramm aus dem Hut zaubert, um das Ruder rumzureißen. Rauskommen wird dabei jedoch ein politisches Fiasko.

Grüne und SPD präsentieren sich im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus. Die Spitze der Linkspartei tut jedoch so. als wollten im Grunde SPD und Grüne dasselbe wie die LINKE, die im Grunde ein reformistisches Programm zur Zähmung des Kapitalismus von seinen Auswüchsen vertritt. Schon aus politischem Eigeninteresse müsste die Linkspartei die beiden dafür angreifen und wenigstens ihr eigenes Programm starkmachen.

Mit dem Sofortprogramm tut sie genau das Gegenteil. Sie biedert sich SPD und Grünen an. Wie viel dabei Opportunismus oder Verzweiflung ist, ist sekundär.

In jedem Fall verkennt sie, dass eine Regierung mit den Grünen nur eine Regierung mit einer anderen, modernen offen bürgerlichen Partei wäre; und sie verkennt, dass eine Regierung mit einer SPD unter Scholz auch nur auf Basis eines Programms als vermeintlich bessere Sachwalterin des deutschen Kapitals zu haben wäre.

Eine „neue soziale, ökologische Politik“, einen „sozialen Kurswechsel“ würde es jedoch mit Sicherheit nicht geben. Im Gegenteil, die Linkspartei wäre allenfalls das rote Feigenblatt für einen Green New Deal im Kapitalinteresse. Dafür wirft das Sofortprogramm, wie z. B. Christian Zeller in seinem Beitrag „Sagt die Linke gerade ihren Wahlkampf ab?“ feststellt, praktisch alle Reformforderungen über Bord, die mit den aktuellen Interessen des deutschen Imperialismus inkompatibel sind.

RegierungssozialistInnen wie Bartsch und Hennig-Welsow mögen damit persönlich wenig Probleme haben. Ein paar Reförmchen, die zum politischen Erfolg hochstilisiert werden können, dürfte schließlich auch Rot-Grün-Rot abwerfen. Der ehemaligen Anhängerin von marx21, Wissler, mag das Sofortprogramm als politisch kluger Schachzug erscheinen, SPD und Grüne unter Druck zu setzen.

In Wirklichkeit ist es genau das Gegenteil. Die Linkspartei macht sich faktisch zum Anhängsel von SPD und Grünen und stellt jede ernstzunehmende, weitergehende Kritik an diesen ein. Warum dann noch DIE LINKE wählen, werden Unentschlossene erwägen, wenn sie ohnedies nichts anders als SPD und Grüne will?

Da die „Rote-Socken“-Kampagne von CDU/CSU und FDP nicht greift, sind Grüne und SPD auch nicht gezwungen, eine Koalition mit der Linken vorab kategorisch auszuschließen. Vielmehr können sie das nutzen, um die FDP in eine SPD-Grünen-geführte Koalition zu drängen. Die Linkspartei bliebe dabei im Regen stehen.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielt die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen, öffentlich das Sofortprogramm und den Kurs auf Rot-Grün-Rot abzulehnen und die „Spitzen“ wenigstens auf das eigene Wahlprogramm zu verpflichten.




Frauenkämpfe 2019

Nahid, Revolution Österreich, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Der internationale Frauenstreik zog zuerst im Jahr 2018 Aufmerksamkeit
auf sich, als sich in Spanien mehr als 5,3 Millionen Menschen daran beteiligten
unter dem Motto: „Wenn die Frauen streiken, dann steht die Welt still“. Seit
2017 ist der Internationale Frauentag zu einem bedeutenden Tag weltweiter
Mobilisierungen geworden, der Hunderttausende auf die Straßen bringt, um gegen
Frauenunterdrückung und die Auswüchse des kapitalistischen Systems zu
protestieren.

Frauenbewegungen in verschiedenen Ländern nehmen
verschiedene Formen in Reaktion auf besondere politische Zustände an. In den
USA richtet sich der jährliche stattfindende Women’s March insbesondere gegen
die frauenfeindliche und nationalistische Politik von Donald Trump. Die
Kampagne für ein Referendum gegen das Abtreibungsgesetz in der Republik Irland mündete
in einer teilweisen Entkriminalisierung des Gesetzes und mobilisierte auch
zahlreiche Frauen. In Indien protestierten muslimische Frauen gegen den
antimuslimischen Rassismus der Modi-Regierung und begannen so auch mit dem
Aufbau einer Frauenbewegung.

Der letztjährige Internationale Frauentag in der Schweiz
erlebte die größte nationale Mobilisierung mit über einer halben Million
Menschen, die sich beteiligten (in einem Land mit weniger als 9 Millionen
EinwohnerInnen). Die größte Demonstration fand in Zürich mit 160.000 Menschen
statt. Der Schweizer Frauenstreik wurde vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund
(SGB) ausgerufen, aber auch in den ländlicheren, gewerkschaftlich schlechter
organisierten Teilen des Landes, war die Beteiligung gut wie v. a. unter Bäuerinnen.

Die Forderungen trugen den Titel „Lohn. Zeit. Respekt.“ und richteten
den Fokus auf Gleichberechtigung der Geschlechter am Arbeitsplatz mit Betonung
auf der doppelten Bürde für Lohnarbeiterinnen, die überdurchschnittlich für
unbezahlte Care-Arbeit verantwortlich sind. Die Streiks kombinierten politische
mit wirtschaftlichen Forderungen, verlangten ein Ende mit Sexismus, sexueller
Belästigung und Lohnungleichheit (z. Zt. durchschnittlich 19,6 %).

Die Frauenstreikbewegung war besonders in Lateinamerika erfolgreich
mit Beteiligung von hunderttausenden Frauen. Gewalt an Frauen und Femizide sind
in Lateinamerika ein großes gesellschaftliches Problem. Laut UN befinden sich
dort 14 der 24 Staaten mit der höchsten Mordrate an Frauen. Die ursprünglich in
Argentinien begründete Bewegung „Ni Una Menos“ (Nicht Eine Weniger) feierte 2019
ihren fünften Jahrestag. Längst hat sie Landesgrenzen überwunden und
mobilisiert weiterhin Frauen in ganz Lateinamerika zu Streiks und Aktionen
gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Auch abseits von Bewegungen auf der Straße wird kreativ und mit
Erfolg versucht, auf die katastrophale Situation von Frauen aufmerksam zu
machen. Z. B. führte die Performance „Der Vergewaltiger bist du“, die von
der chilenischen Gruppe „Las Tesis” entwickelt wurde, zu einer internationalen
Bewegung. Mit Tanz und Sprache stellt sich das Prokekt gegen Vergewaltigung,
Mord, Missbrauch und Täter-Opfer-Umkehr. Die Choreografie kritisierte auch die
repressive Politik der Regierung von Präsident Sebastián Piñera und warf ein Schlaglicht auf die
Auswirkungen staatlicher Gewalt und Kontrolle gegen Frauen. Nachdem das Video
dieser Performance viral gegangen war, führten KampagnenaktivistInnen sie
weltweit erneut auf, darunter in London, Paris, Mexiko-Stadt, Berlin, Wien und sogar
in Istanbul.

Das Jahr 2019 erlebte Frauen, die sich gegen die
herrschenden Zustände von Unterdrückung und Gewalt auf der ganzen Welt auflehnen.
Im Jahr 2020 drohen eine lauernde Rezession und sich verschärfende nationale
Polarisierung, weitere politische und ökonomische Angriffe auf Frauen mit sich
zu führen. Frauenbewegungen werden sicherlich gute Chancen auf Wachstum haben.