Queers in Palästina: Ein freies Palästina bedeutet Befreiung von jeglicher Unterdrückung

Leonie Schmidt, Gruppe Arbeiter:innenmacht und Revolution, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Achtung: In diesem Artikel werden teilweise rassistische und queerfeindliche Argumente wiedergegeben, um sie widerlegen zu können. Auch wird sexualisierte und koloniale Gewalt erwähnt. (Die Red.)

Queere Menschen gibt es überall auf der Welt – auch in Palästina. Und wie überall werden sie auch gesellschaftlich unterdrückt, denn die Unterdrückung von queeren Personen spielt im Kapitalismus mitsamt seiner patriarchalen Strukturen eine wichtige Rolle. Doch im Rahmen von Diskussionen über Israels Krieg gegen Gaza fällt von israelsolidarischer Seite immer wieder das Argument, dass man als queere Person oder Mensch, der sich für queere Rechte engagiert, nicht pro Palästina sein dürfe. Schließlich stünde das im absoluten Widerspruch zur Situation von queeren Palästinenser:innen, deren Leben „von barbarischer Queerfeindlichkeit seitens der eigenen, angeblich grundsätzlich reaktionären Community geprägt sei“. Klar ist jedoch, dass das eine völlig falsche Behauptung ist, bei der  Pinkwashing und Homonationalismus dazu dienen, rassistische Ressentiments zu schüren sowie Besatzung und Krieg zu legitimieren. Denn ein Blick in die Nachrichten genügt, um herauszufinden, dass Hassverbrechen, Rücknahme von Rechten sowie neue reaktionäre Gesetzgebung auch in den vermeintlich fortschrittlichen westlichen Staaten auf der Tagesordnung stehen.Was stattdessen der Situation von queeren Personen in Palästina zu Grunde liegt und wie die Unterdrückung überwunden werden kann, soll in diesem Artikel aufgezeigt werden. Dabei konzentrieren wir uns auf die Situation vor dem Krieg, auch um die Limitiertheit prozionistischer Argumentation aufzuzeigen. Dafür hat unsere Autorin Leonie Schmidt mit dem Anthropologen Victor Harry Bonnesen Christoffersen und mit Azina Ababneh, einer queeren Person aus dem Westjordanland, gesprochen. Beide wurden als Expert:innen befragt und teilen nicht zwangsläufig unsere marxistischen Schlussfolgerungen.

Wie sieht die Rechtslage aus?

Die Gesetzgebung innerhalb Palästinas selbst ist widersprüchlich, da sie sich in der Westbank und im Gazastreifen unterscheidet. Während in der Westbank  homosexuelle Aktivitäten zwischen Männern 1951 während der jordanischen Verwaltung entkriminalisiert wurden, sind sie hingegen  im Gazastreifen seit 1936 unter dem britischen Mandat verboten und können mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Hier sehen wir schon die ersten Spuren der Besatzung, die die Lage queerer Personen in Palästina beeinflussen. Allerdings ist umstritten, inwiefern das Strafrecht des britischen Mandats noch derartig umgesetzt wird. Andererseits gibt es auch keine Gesetze, die gegen Queerfeindlichkeit vorgehen sollen, Queers schützen, und Behörden werden diesbezüglich auch nicht tätig. Doch bevor wir klären, woher  ausbleibender offener Umgang mit Sexualität und Geschlecht kommt, wollen wir einen Blick auf den Alltag queerer Menschen werfen.

Eindrücke von queerem Leben in Palästina

Azina erklärt uns, wie they sich gefühlt hat, nachdem they sich their queeren Identität bewusst wurde: „Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, als ich zum ersten Mal entdeckte, dass ich bisexuell bin. Meine Bisexualität würde die gesellschaftlichen Herausforderungen und Schwierigkeiten für mich verdoppeln.“ Als their Mutter ein T-Shirt mit einem Regenbogen in Azinas Kleiderschrank gefunden hatte und daraufhin  wegwerfen wollte, musste Azina behaupten es würde jemand anders gehören. Aber engstirnige Eltern dieser Art existieren nicht nur lokal beschränkt in Palästina und queere Palästinenser:innen müssen nicht überall komplett versteckt leben. Denn Azina hat im Westjordanland auch schon gute Erfahrungen machen können. Auch wenn man sehr vorsichtig sein muss, wem man etwas anvertraut, und Azina sich manchen Familienmitgliedern diesbezüglich nicht öffnet, hatte they gegenüber their Schwester und Freund:innen their Coming-out, ohne negative Folgen. Außerdem berichtet they von einem Ex-Freund, welcher aus einer besonders religiösen Familie stammte. Auch für ihn stellte their Sexualität kein Problem dar und er habe sogar selbst homosexuelle Erfahrungen gemacht. Azina sagt auch, was die Lage von queeren Personen in anderen Ländern unterscheidet, ist die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel, nicht die palästinensische Kultur selbst.

Queere Identitäten werden durch die israelischen Besatzungsmacht instrumentalisiert. So müssen Queers in Palästina mit dieser Angst leben, da die Möglichkeit besteht, dass die israelischen Sicherheitsbehörden sich diese Informationen zunutze machen, um sie zu erpressen, dazu zu bringen, mit ihnen zu kooperieren und schlimmstenfalls zu Spitzeln zu werden. Victor Harry Bonnesen Christoffersen erklärt, dass er während seiner Forschung zu Queerness in Palästina Berichte über israelische Militärangehörige gehört hat, welche queere Palästinenser:innen unter Drogen setzen, diese dann ohne Einwilligung beim Sex filmen und diese Materialen dann zur Erpressung nutzen. Auch würden sie sich in einigen Bars in Ramallah als internationale Tourist:innen ausgeben. Das führt dazu, dass diese Partymeilen nicht mehr als „Safe(r) Spaces“ von den Betroffenen wahrgenommen werden können.  Ebenso kommt es, so schildert uns Azina diesbezüglich, dass queere Personen, wenn sie auf Dating Apps auch ihre palästinensische Identität angeben, dafür von israelischen Soldat:innen rassistisch beleidigt und bedroht werden. Gerade die Verbindung mit der palästinensischen Identität ist das Problem, was sich queeren Palästinenser:innen besonders stellt. Denn im Prinzip ist es den israelischen Sicherheitsbehörden völlig egal, ob die, die sie gerade schikanieren, queer sind. Sie nutzen es als Mittel zum Zweck, um etwas gegen sie „in der Hand zu haben“ und entlarven sich dabei trotzdem selber als homophob, auch wenn das Pinkwashing Israels uns etwas ganz anderes weismachen will.

Safe(r) Spaces oder Circles?

Victor Harry Bonnesen Christoffersen hat seine wissenschaftlichen Studien zum Thema Safe Spaces für queere Personen in Palästina durchgeführt. Seine Erkenntnis: Das Konzept von Safe(r) Spaces wird hier eher nicht praktiziert, da wenig Möglichkeit besteht, diese Orte öffentlich kundgeben können, dass sie queerfreundliche Verbündete sind. Das liegt daran, dass sie sonst sich und die queere Community in Gefahr bringen würden. Jedoch gibt es einige queerfreundliche Bars zum Beispiel in Ramallah.

Grundsätzlich müssen wir natürlich davon ausgehen, dass es im Kapitalismus keine Räume gibt, die wirklich komplett frei von Unterdrückung sind, denn das sind gesellschaftliche Strukturen, die dahinter stecken und nicht einfach nur Einzelpersonen. Auch vermeintliche Safe(r) Spaces in Europa oder den USA sind alles andere als sicher, wie Angriffe auf CSDs und Queer Bars in den letzten Jahren deutlich aufzeigen. Dennoch ist es wichtig, dass queere Personen untereinander frei kommunizieren können. Laut Bonnesen Christoffersen existieren daher auch Safe(r) Circles, wobei sich das Konzept aber nicht auf das Räumliche, sondern auf die Verbindung zwischen den betroffenen Personen bezieht. Teil werden kann nur, wem vertraut wird. Neue Leute können also nur über bestehende Personen Teil dieses Circles werden, welcher dann dafür sorgt, dass die Betroffenen sich sicherer damit fühlen, ihre Identität preiszugeben und innerhalb des Circles offen auszuleben.

Ebenso gibt es auch innerhalb der palästinensischen Community Organisationen, die sich für die Rechte queerer Palästinenser:innen einsetzen, wie uns Bonnesen Christoffersen erläutert. So gibt es Al Qaws, eine NGO für sexuelle und geschlechtliche Diversität in der palästinensischen Gesellschaft, die die aktivste Organisation in dieser Hinsicht darstellt. Außerdem gibt es noch Aswat, die ihren Schwerpunkt auf queere Frauen legt. Beide Organisationen haben ihren Sitz in Haifa in den Territorien von 1948. Azina erwähnt diesbezüglich auch die Tal’at-Bewegung, eine revolutionäre feministische Bewegung, die sich gegen sexistische und koloniale Unterdrückung von palästinensischen Frauen einsetzt.

Kapitalismus, Kolonialisierung und Zionismus – unterdrückerische Gründe für Queerfeindlichkeit

Wenn wir über queeres Leben in Palästina sprechen, ist es wichtig, sich das Verhältnis von Kapitalismus sowie israelischer Besatzung näher anzuschauen, statt rassistische Stereotype zu reproduzieren – oder queere Unterdrückung zu verharmlosen. Dabei wird klar, dass Diskriminierung von LGBTIA+-Personen ein internationales Phänomen ist, da sie, verkürzt gesagt, von den vorgegebenen Geschlechterrollen abweichen, in diese oftmals nur schwer einsortiert werden können. Sie werden somit als Bedrohung für die herrschende kapitalistische Ordnung und folglich das Ideal der bürgerlichen Familie angesehen. Je etablierter die geschlechtliche Arbeitsteilung, desto höher auch die Ablehnung von Queers könnte man sagen.

Dass Queerness innerhalb Palästinas ein gesellschaftliches Tabuthema darstellt, hat also nichts damit zu tun, dass Palästinenser:innen per se konservativ, rückschrittlich sind oder der Islam „böser“ ist als andere Religionen. Neben der Tatsache, dass viele Vertreter:innen des palästinensischen Nationalismus säkular sind, entwickeln auch andere Religionen stark reaktionäre Momente – siehe den Hinduchauvinismus in Indien oder  evangelikale Fundamentalist:innen in den USA. Dies ist meist eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und gar größere Massen erfassen können.

Die Gründe für das Tabu sind an die materiellen Gegebenheiten gebunden – und diese werden zum Großteil von der israelischen Besatzung und Apartheid bestimmt. Das wird besonders ersichtlich, wenn wir uns die ökonomische Situation von Frauen anschauen. Diese haben in den palästinensischen Gebieten im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse, sind aber um ein Vielfaches mehr von Arbeitslosigkeit betroffen. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Während wir in anderen Ländern in Krisenzeiten sehen, wie Frauen systematisch aus dem Produktionsprozess gedrängt werden, ist dieser „Krisenzustand“ jedoch in gewissem Maß Normalzustand, da es generell eine Knappheit an Arbeitsplätzen in den palästinensischen Gebieten gibt. Die Arbeitslosigkeitrate lag laut dem Internationalen Währngsfond 2022 insgesamt bei 26 %. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der Westbank (13 %) und Gaza (45 %), aber bei Geschlechtern (Frauen  40 %,  Männern 20 %).

Bedingt sind diese Zahlen vor allem durch die Restriktionen seitens des israelischen Staates. So können Bewohner:innen Gazas nicht einfach ausreisen und woanders arbeiten. Auch in der Westbank sind die Jobs, die Palästinenser:innen „zur Verfügung gestellt werden“ zum Großteil auf den Bausektor beschränkt. Der systematische Ausschluss von Frauen aus dem Produktionsprozess befeuert die bestehende patriarchale Arbeitsteilung in den palästinensischen Gebieten, da sie somit in die Familie gedrängt werden, Sorge- und Carearbeit übernehmen müssen und derart klassische Geschlechterrollen weiter reproduziert werden. So kommt es auch zu Erwartungen, von denen Bonnesen Christoffersen  erzählt, wie beispielsweise, dass Menschen in einem heiratsfähigen Alter auch schnellstmöglich heiraten,  was wiederum auf Queers Druck ausübt.

Auch Azina ist bezüglich der Lage in der Westbank der Meinung, dass vor allem der Einfluss der israelischen Behörden auf die Institutionen der Westbank dafür sorgt, dass Maskulinität und patriarchale Strukturen verstärkt werden. Der Einfluss der israelischen Besatzungsmacht auf alle gesellschaftlichen Bereiche der Palästinenser:innen raubt jedem Lebensbereich die Autonomie, sei es an Checkpoints oder in der eigenen Community. Dadurch wird ihnen letztendlich nicht einmal die Möglichkeit gegeben, die gesellschaftlichen Strukturen offener und inklusiver umzugestalten. Dies bestätigt auch Bonnesen Christoffersen: „Palästina hatte (und hat) eine lebendige und florierende Kultur, die leider seit 1948 sehr stark von der zionistischen Kolonisierung beeinträchtigt wird. Mein Eindruck von Palästinenser:innen ist, dass sie einen Mut und Courage besitzen, die über das hinausgehen, was ich anderswo erlebt habe, und dass es den Wunsch gibt, das Leben trotz der Umstände, in denen sie leben, zu feiern. […] Historisch gesehen war die Levante (Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien) nie queerfeindlich. Tatsächlich gab es eine große Toleranz gegenüber anderen Sexualitäten und Geschlechtsausdrücken. Queerfeindlichkeit breitete sich erstmals während des europäischen Mittelalters aus. Und die europäischen Kolonialmächte waren es auch, die Jahrhunderte später, als sie die Welt kolonisierten, ihre queerfeindlichen Absichten und Ansichten gegenüber den Menschen durchsetzen, die kolonisiert wurden.“

Gleichzeitig ist es wichtig, klare Kritik an den Machthaber:innen innerhalb der palästinensischen Gebiete zu üben. Denn ob palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder Hamas, beide scheren sich sonderlich wenig um Frauen- wie LGBTIA-Rechte. Ob durch explizite Kooperation mit der israelischen Besatzungsmacht wie seitens der PA oder durch die Umsetzung ihrer reaktionären religiösen Ideologie wie bei Hamas. Besonders Letztere hat auch schon eigene Mitglieder hingerichtet, nachdem sie homosexueller Aktivitäten beschuldigt wurden, und Betroffene berichten, von Hamas-Mitgliedern aufgrund ihrer Queerness bedroht, gefoltert und verhört worden zu sein. Der Vorwurf der Homosexualität wird also genutzt, um politische Gegener:innen, wie Mitglieder der Fatah, auszuschalten, indem sie sie aufgrund dessen verhaften und teilweise auch exekutieren. Doch auch hier ist es wichtig zu verstehen, dass insbesondere die Hamas nur aufgrund der Apartheid existiert und an gesellschaftlichem Zuwachs gewinnen konnte. So wurde sie nach ihrer Gründung zunächst von Israel toleriert, wohingegen andere Gruppen des palästinensischen Widerstands mit linker Ausrichtung hartnäckig verfolgt wurden. Des Weiteren wurde die Hamas überhaupt erst als Reaktion auf die israelische Besatzung gegründet, um den Widerstand zu bündeln. Sie und ihre reaktionäre Ideologie müssen natürlich von Marxist:innen im ideologischen Kampf um die Führung der palästinensischen Befreiungsbewegung herausgefordert und bekämpft werden. Dabei muss an dieser Stelle auch klare Kritik an Vertreter:innen der palästinensischen Linken geübt werden: Klar ist, dass  für ein Ende der Existenz der Hamas zuerst die Apartheid fallen muss, da sie hierfür die materielle Grundlage darstellt. Doch der Kampf für die Verbesserung von Frauen- und LGBTIA+-Rechten kann nicht hintangestellt werden, bis ein befreites Palästina erkämpft wurde, sondern muss aktiv Hand in Hand gehen – auch um eine klare, fortschrittliche Kraft im Befreiungskampf zu etablieren.

Pinkwashing

In diesem Kontext ist die Inszenierung Israels als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ und als „besonders fortschrittlich“ in Bezug auf LGBTIA+-Rechte mehr als unglaubwürdig. Denn während die israelische Regierung selbst aktiv demokratische Umstrukturierung durch die Unterdrückung der Palästinenser:innen verhindert sowie die Lage nutzt, um queere palästinensische Personen zu verhöhnen, wenn sie davon sprechen, dass Queer for Palestine dasselbe sei wie „Chickens for KFC“, hat es in den letzten Jahren auch einen Rollback in Israel selber gegeben. Im Jahr 2023 wurden dort 5-mal mehr queerfeindliche Vorfälle in der Öffentlichkeit registriert als zuvor und eine Reihe von Regierungsvertreter:innen hat offen reaktionäre Aussagen getätigt. So behaupten die eigenen Minister:innen der ultrarechten Regierung, Homosexualität würde die größte Gefahr für das Land darstellen, wie zum Beispiel Yitzhak Pindrus (United Torah Judaism). Pindrus behauptet sogar, Homosexualität wäre gefärhlicher als die Hamas. Auch der israelische Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir (Otzma Yehudit), der sich bereits gegen Pridedemos aussprach und auf der Pride 2008 in Tel Aviv sogar Gewalt gegen eine jüdische trans Frau ausgeübt haben soll (zumindest existieren Fotos, die diese Vermutung nahelegen) ist ein Beispiel dafür. Ben-Gvir ist übrigens mittlerweile auch für die Sicherheit der Jerusalem Pride zuständig. Wie man sich da als queere Person sicher fühlen soll, kann man schon mal in Frage stellen.

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich (HaTzionut HaDatit) bezeichnet sich sogar selbst als einen faschistischen Homophoben, während der ehemalige sephardische Oberrabbiner Shlomo Amar Pride-Demonstrierende mit wilden Tieren vergleicht und der Meinung ist, Homosexuelle nach jüdischem Gesetz mit dem Tode bestrafen zu können. Der Bürgermeister Jerusalems Aryeh King ließ 2020 ein Regenbogenbanner vom Gebäude der US-Botschaft entfernen, da keine Erlaubnis eingeholt worden war und es ein Zeichen für Unreinheit darstellen würde. Aber nur beim Reden Schwingen soll es für die Queerfeind:innen Israels nicht bleiben, denn Teile der ultrarechten nationalistisch-konservativen Regierung Israels haben auch vor, ihre Queerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen, indem sie erkämpfte Rechte für LGBTIA+-Personen wieder zurücknehmen. Viele fürchten, dass das vor allem die Adoptionsrechte für homosexuelle Paare, aber auch medizinische Unterstützung für trans Personen betrifft. Aber auch außerhalb der Regierung gibt es queerfeindliche Angriffe: 2015 attackierte ein Mann Personen auf der Jerusalem Pride mit einem Messer, kurz nachdem er aus dem Gefängnis für genau dieses Verbrechen im Jahr 2005 entlassen wurde.

Trotz alledem hält sich das Bild Israels als fortschrittlich in Bezug auf LGBTIA+-Rechte,
Aber all diese Aussagen und Taten zeigen auf, dass der Zionismus und auch der bürgerliche Staat an sich nicht in der Lage sind, die Unterdrückung queerer Personen zu beenden. Letztendlich nutzt der israelische Staat sein Pinkwashing aber nicht nur dazu, um die Unterdrückung der palästinensischen Community zu verschleiern und sich vermeintlich positiv abzuheben, auch wenn die progressivere Gesetzgebung sowieso hauptsächlich dem weißen cis männlichen Schwulen zugutekommt, sondern sie seine vermeintliche Vormachtstellung und Doppelmoral auch, um Kriegsverbrechen gegen Gaza zu rechtfertigen.

Homonationalismus

So gab es auch in den letzten Monaten Fotos von IDF Soldat:innen, welche die Regenbogenflagge in Gaza im Kriegsgebiet hochhielten und „In the Name of Love“ dazu schrieben. Die israelische Armee behauptet also, sie würde sich für queere Palästinenser:innen einsetzen, indem sie demokratische Rechte in die palästinensischen Gebiete brächte. Und das, während sie die (queeren) Palästinenser:innen und ihre Familien, Freund:innen und Bekannte umbringt und ihnen jegliche Möglichkeit zur Selbstermächtigung nimmt.

Diese Strategie kann auch als Homonationalismus bezeichnet werden. Geprägt von Jasbir Puar, beschreibt  der Begriff die Instrumentalisierung von queeren Rechten, um die eigenen nationalistischen Ziele umsetzen zu können, zum Beispiel in Form von Kriegen oder restriktiven Einwanderungsgesetzen. Dabei kann der israelische Staat den eigenen Zerstörungswahn gegen das palästinensische Volk gegenüber anderen Staaten und deren Bevölkerungen legitimieren und gleichzeitig die Spaltung zwischen Palästinenser:innen und  israelischer Arbeiter:innenklasse vorantreiben. Eine Spaltung, die für die herrschende Klasse gar nicht tief genug sein kann, denn die vereinten Unterdrückten und Ausgebeuteten können ihnen und ihrer Klasse sehr gefährlich werden. Um diese Spaltung zu überwinden, muss sich die israelische Arbeiter:innenklasse aber offensichtlich vom Joch des Zionismus befreien.

Besonders ergreifend kann man diesen Zusammenhang auch in den kurzen Statements queerer Palästinenser:innen beim Projekt „Queering the Map“ nachlesen. Ein Beispiel, was den Schmerz darüber noch einmal besonders unterstreicht, wie (queere:r) Palästinenser:innen unter der Besatzung und Krieg leiden müssen:

„Ich habe mir immer vorgestellt, dass du und ich in der Sonne sitzen, Hand in Hand, endlich frei. Wir sprachen über all die Orte, an die wir gehen würden, wenn wir könnten. Doch du bist jetzt weg. Wenn ich gewusst hätte, dass die Bomben, die auf uns niederregnen, dich mir wegnehmen würden, hätte ich der Welt bereitwillig erzählt, wie sehr ich dich geliebt habe. Es tut mir leid, dass ich ein Feigling war. Kiryat (eigene Übersetzung)“.

Diese anonyme Zeilen sollen an dieser Stelle erst einmal für sich sprechen.

Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse muss für Kommunist:innen zwangsläufig darin liegen, dass erst die Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus auch die für Palästinenser:innen, ob queer oder nicht, bedeutet.

In diesem Sinne richtet Azina die folgenden Worte an uns und auch an euch: „Wir brauchen grundlegende Gerechtigkeit und ein Ende der Besatzung. Bitte engagiert euch, meine feministischen Genoss:innen in Europa, denn: Ich habe weder den Wunsch, für die Heimat noch für den Erdboden hier zu sterben, aber wenn ich für die Menschheit, für Frieden und bedingungslose Liebe sterbe, macht es mir nichts aus.“

Erst in einem freien Palästina kann die Gesellschaft so umgestaltet werden, dass sich niemand mehr verstecken muss aus Sorge, als Nächste/r von der israelischen Besatzungsmacht massiv unterdrückt, entrechtet, gedemütigt, missbraucht, erpresst oder getötet zu werden. Daher müssen wir uns für ein freies, säkulares, binationales, sozialistisches Palästina einsetzen.

Frauen – und Queerbefreiung Hand in Hand

Bonnesen Christoffersen argumentiert, dass Frauen- und Queerkämpfe gemeinsam geführt werden sollten, um erfolgreich zu sein: „Nachdem ich auch mit einigen feministischen Bewegungen in Palästina interagiert habe, habe ich mitbekommen, dass die generelle Meinung existiert, dass die Rechte von Frauen über den Rechten von queeren Personen stehen. Nicht, dass diese Bewegungen queere Menschen nicht unterstützen, sondern eher in dem Sinne, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, um über ihre Rechte zu sprechen. Ich denke daher, dass wenn palästinensische Bewegungen, die mit den gleichen Kämpfen konfrontiert sind (z. B. Patriarchat), sich zusammenschließen, um ihre Stimmen zu stärken, sie auch in der Lage sein könnten, mehr Bewusstsein für die Situation queerer Palästinenser:innen zu schaffen.“

Als Marxist:innen erkennen wir an, dass Frauen- und Queerunterdrückung auf dieselben Strukturen der Klassengesellschaft zurückgehen, egal ob in Palästina oder Deutschland: die geschlechtsbedingten Arbeitsteilung, welche maßgeblich mit aufrechterhalten wird durch das Ideal der bürgerlichen Familie und die Geschlechterrollen. Auch wenn die Lage von Frauen und queeren Personen unterschiedlich ist, so ist dennoch ein gemeinsamer Kampf vonnöten. Frauen kämpfen schon seit 1920 in der palästinensischen Befreiungsbewegung, in der sie schon seit jeher sexualisierte Gewalt durch die Besatzungsmächte erfahren mussten und weiterhin erfahren. Wenngleich sie eine wichtige Rolle einnehmen und einnahmen, sind sie immer noch selten an politischer Entscheidungsfindung beteiligt. Der Sieg der Hamas in Gaza war ein Rückschritt für die Rechte der Frauen, da sie darauf drängt, das palästinensische Recht durch die Scharia (wörtlich: gebahnter Weg; religiöses Gesetz) zu ersetzen. Dennoch setzen sich palästinensische Frauenaktivist:innen für Gesetze zum Schutz von Frauen vor Ehrenmorden und männlicher häuslicher Gewalt ein.

Wir müssen uns neben dem Ende der israelischen Apartheid, der Besatzung und für ein freies, säkulares, multiethnisches, sozialistisches Palästina auch konkret für die Vergesellschaftung der Hausarbeit einsetzen, um die materielle Grundlage von Frauen- und Queerunterdrückung auflösen zu können. Das bedeutet den Ausbau von Pflege, Kinderbetreuung, kollektive und kollektivierte Formen der Hausarbeit (Kantinen, Wäschereien etc.), die Stärkung der ökonomischen Unabhängigkeit von geschlechtlich und sexuell Unterdrückten und alternative Formen des Zusammenlebens. All das kann natürlich nicht von heute auf morgen passieren, und im Angesicht des aktuellen brutalen Krieges scheint dies auch unfassbar fern. Jedoch ist es die Aufgabe von Revolutionär:innen und allen, die solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf sind, nicht nur für eine sofortige Waffenruhe und das Ende der Apartheid einzutreten, sondern auch zu diskutieren, wie der Kampf für nationale Befreiung mit dem Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung verbunden werden kann. Die Kämpfe darum sind keineswegs irrelevant oder nachgeordnet, aber ohne Umgestaltung der ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft bleiben ihre Erfolge begrenzt. Zusätzlich sollten Frauen und queere Personen in Palästina auch für eine Reihe an Forderungen gemeinsam kämpfen, zum Beispiel:

  • Gleiche Rechte und Zugang zu Bildung für Alle, gleiche Eigentumsrechte, gleicher Lohn für gleiche Arbeit sowie volle Integration in den Produktionsprozess. Konkret: z. B. durch Quotierung in zentralen/wichtigen Beschäftigungsverhältnissen, um aktuell den  Ausschluss von Palästinser:innen von der Lohnarbeit entgegenzuwirken. Davon würden vor allem palästinensische Frauen in der aktuellen Situation profitieren, welche vor allem in Gaza  relativ hohe Bildungsabschlüsse haben, aber geringe Beschäftigungsraten.

  • Keine Straffreiheit für diejenigen, die Frauen oder queere Personen ermorden, vergewaltigen und schlagen, seien es Verwandte oder Fremde.

  • Für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die eigene Sexualität und die eigenen reproduktiven Entscheidungen.

  • Ebenso muss auch innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung gegen Vorurteile und Gewalt gegenüber Frauen und LGBTIA-Personen angekämpft werden, auch wenn wir das nicht zur Bedingung eines gemeinsamen Kampfes machen.

  • Für das Recht auf Caucustreffen für Frauen und LGBTIA-Personen innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung.

Damit der Kampf gegen Besatzung, Imperialismus, Krieg, Frauenunterdrückung und Queerfeindlichkeit international geführt werden kann, ist klar, dass Solidaritätsbekundungen nicht ausreichen können, auch wenn wir bedingungslos hinter dem palästinensischen Befreiungskampf stehen. Stattdessen müssen wir uns international zusammenschließen und gemeinsam kämpfen. Denn unsere Feind:innen, die imperialistischen Staaten und ihre regionalen Handlanger:innen, sind für jede/n Unterdrückte/n und jede/n Ausgebeutete/n letztendlich die gleichen, auch wenn sich unsere Situationen in besetzten Gebieten, Halbkolonien und imperialistischen Kernzentren natürlich unterscheiden. Dafür braucht es eine internationale Frauen- und LGBTIA-Bewegung genauso wie eine internationale Arbeiter:innenbewegung, denn wir dürfen unsere Kämpfe nicht anhand von nationalen Grenzen spalten lassen, sondern müssen uns im Klaren darüber sein, dass sie durch Klassenlinien geprägt sind und auch dementsprechend klassenkämpferisch geführt werden müssen. Um diese Bewegungen anzuführen und die Kämpfe zuzuspitzen, bedarf es auch einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale.

Wie kommen wir zu einem freien, säkularen, binationalen, sozialistischen Palästina?

Wir setzen uns für eine Ein-Staaten-Lösung ein, da wir der Meinung sind, dass das die einzige Möglichkeit darstellt, um die Befreiung des palästinensischen Volkes zu garantieren, ohne Zugeständnisse an den Zionismus machen zu müssen. Das bedeutet nicht, die israelisch-jüdische Bevölkerung zu vertreiben oder gar auszulöschen, jedoch sehr wohl, den Zionismus und damit den israelischen Staat zu zerschlagen. Da wir glauben, dass Religionen als Vorwand für imperialistische Unterdrückung und zur Umsetzung geopolitischer Interessen genutzt werden, setzen wir uns für einen säkularen, multiethnischen Staat ein, indem es kulturellen Austausch statt einseitiger Assimilation geben soll. Das Rückkehrrecht sowie der Zugang zu Wohnraum, Wasser, Lebensmitteln, Arbeit und Bildung für alle, egal ob Israelis oder Palästinenser:innen kann nur unter einer demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gewährleistet werden. Diese sozialistische Ein-Staaten-Lösung müsste in eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens eingebettet werden, um die vom Imperialismus bewusst geschaffene Spaltung überwinden zu können und so ein massives Kampfmittel darstellen zu können. Demnach darf der Kampf der Palästinenser:innen nicht als isoliert verstanden werden, und die Arbeiter:innenklassen der umliegenden Länder müssen sich dem Kampf anschließen und einen neuen Arabischen Frühlung erzwingen. Das gilt auch in letzter Konsequenz für die israelische Arbeiter:innenklasse.

Als Ansatzpunkt in Halbkolonien kann der Kampf für die Vollendung der verbliebenen bürgerlich-demokratischen Aufgaben im Sinne von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution angesehen werden, das heißt also: Fokus auf nationale Einheit und Unabhängigkeit, eine Agrarrevolution sowie politische Demokratie. Doch kann das im Imperialismus für Halbkolonien nicht wirklich vollständig erfüllt werden. Daher darf der Kampf hier keineswegs aufhören und muss in einen für Sozialismus umschlagen, um wirklich erfolgreich sein zu können. Doch das kann nicht durch Guerillatruppen erreicht werden, sondern nur durch Demonstrationen und Streiks, letztendlich massenhafte Aufstände. Also mit Hilfe einer Intifada mitsamt einem Generalstreik, zu dem auch international alle Gewerkschaften zur Beteiligung aufgerufen werden. Und die Massenaktionen in der 1. Intifada haben auch bereits gezeigt, dass das palästinensische Proletariat und die Jugend kämpfen können. Dafür braucht es den Aufbau von kämpferischen Gewerkschaften, Arbeiter:innen-, Bäuerinnen-/Bauernräte, Frauenkomitees  und auch Volksmilizen. Auch müssen die Kräfte der Arbeiter:innnenklasse und das regionale (Klein-)Bürger:innentum in einer antiimperialistschen Einheitsfront zeitweise gemeinsam gegen die Imperialist:innen kämpfen. Sie bleiben jedoch unerbittliche Klassenfeind:innen. Das bedeutet auch, dass es sich um getrennte Organisierung handeln muss, wobei sich die betroffenen Gruppierungen und Organisationen jederzeit offen kritisieren dürfen sollen. Das ist besonders für uns als Marxist:innen wichtig, da wir so die (klein-)bürgerliche Führung auf einer ideologischen Ebene angreifen und somit ihren Einfluss auf die Unterdrückten schmälern können.

Denn auch die Führungskrise der Arbeiter:innnenklasse ist etwas, was nicht nur in Deutschland, sondern auch in Halbkolonien vorhanden ist und auch zu dem immer wiederkehrenden Verrat an den Interessen der Unterdrückten und Ausgebeuteten durch (klein-)bürgerliche Bewegungen führt, etwas durch die Hamas oder auch während des Arabischen Frühlings. Daher braucht es eine revolutionäre Partei, um die Interessen der Arbeiteren:innnenklasse durchzusetzen, indem sie die Kämpfe zuspitzt und anführt. Die Avantgarde stellt hier die palästinensische Arbeiter:innenklasse mit dem Ziel dar, die israelische Arbeiter:innen klasse auch in die antizionistische Vorhut hineinzuziehen. Die Partei muss demokratisch-zentralistisch organisiert sein und zum Ziel haben, sowohl die israelische Regierung als auch die Palästinensische Autonomiebehörde zu entmachten und eine konstituierende Versammlung einzusetzen, die die Verfassung eines binationalen, säkularen, demokratischen und sozialistischen Staates ausarbeitet. Der Höhepunkt des revolutionären Kampfes stellt die Machtübernahme durch Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern in Form von Deligiertenräten sowie die Bewaffnung der arbeitenden Bevölkerung und Zerschlagung des bürgerlichen Staates in seiner gegenwärtigen unterdrückerischen Form dar. Aber der alleinige Kampf im Nahen und Mittleren Osten reicht nicht aus, um den Imperialismus weltweit zu besiegen. Hierfür muss die revolutionäre Partei auch in eine Internationale integriert werden, und für die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Kernzentren sollte die Devise lauten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Das kann zum Beispiel konkret bedeuten, sich an Blockaden von Waffenlieferungen zu beteiligen




Der Wahn vom „Gender-Wahn“

Warum sich Rechte aufs Gendern einschießen

Stefan Katzer, Neue Internationale 276, September 2023

Der Aufschwung der Rechten geht einher mit einem Erstarken nationalistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologien und Diskurse.

Doch das ist längst nicht alles. Besonders die Ablehnung der von diesen Akteur:innen so bezeichneten „Gender-Ideologie“ und die Bekämpfung der Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen stiften Zusammenhalt und wirken mobilisierend auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der reaktionären Melange aus konservativen, christlichen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften.

Der Aufschwung der Antigender-Bewegung

Ursprünglich vor allem von Vertreter:innen der katholischen Kirche und konservativer Parteien ins Visier genommen, ist die „Gender-Ideologie“ heute eines der Hauptangriffsziele fast aller rechten und konservativen Parteien und Gruppierungen. Die ersten eindeutigen Anti-Gender-Kampagnen entstanden Mitte der 2000er Jahre in Ländern wie Spanien, Kroatien, Italien und Slowenien. Sie richteten sich zunächst hauptsächlich gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder die Sexualaufklärung an Schulen.

Mit den Massenprotesten in Frankreich im Jahr 2012 zur Verhinderung der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe erreichte die Bewegung ihren vorläufigen Höhepunkt. Im Anschluss daran breitete sie sich auch in Deutschland, Italien, Polen, Russland und der Slowakei aus.

In Bezug auf die USA konnte Joanna Wuest detailliert aufzeigen, wie Teile der herrschenden Klasse bereits seit der Präsidentschaft Ronald Reagans intensiv daran arbeiteten, ein reaktionäres Netzwerk aus religiösen Traditionalist:innen und rechten Gruppierungen aufzubauen. In diesem Zusammenhang kam es zur Gründung zahlreicher Thinktanks und Lobbygruppen, deren politisches Ziel vor allem darin besteht, den Unmut über die wachsende soziale Ungleichheit in eine für das Kapital genehme Bahn zu lenken. In den USA seien Kapitalverbände seit Langem bemüht, sich den Rückhalt für ihren Widerstand gegen jede Umverteilung von oben nach unten dadurch zu sichern, dass sie an konservative Gesellschaftsnormen appellieren.

Als Beispiel nennt Wuest die Heritage Foundation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1973 zusammen mit gleichgesinnten Gruppierungen gegen die Homo-Ehe und gegen Bürger:innenrechte für trans Menschen kämpft und sich ansonsten vor allem für einen „freien Markt“ starkmacht. Milliardenschwere Familienunternehmen und -stiftungen wie die von Charles Koch, Betsy DeVos oder Lynde und Harry Bradley sowie Wirtschaftsverbände wie das American Legislative Exchange Council mischen auf diesem Feld mit und finanzieren transfeindliche Gruppierungen aller Art, bis hin zu transfeindlichen Radikalfeminist:innen wie etwa die Women’s Liberation Front.

Es ist also offensichtlich, dass auf Seiten des Kapitals und seiner politischen Handlanger:innen großes Interesse daran besteht, die Spaltung der Lohnabhängigen weiter zu vertiefen, um sich selbst aus dem Schussfeld zu nehmen. Denn das, was die Kapitalist:innen am meisten fürchten, ist eine geeinte, sich ihrer gesellschaftlichen Lage und Macht bewusst werdende Arbeiter:innenklasse, die die wirklichen Ursachen ihres Elends erkennt und bereit ist, dagegen zu kämpfen.

Angriffe auf die Rechte von LGBTIAQ-Personen, die reproduktiven Rechte von Frauen und die Reproduktionsmedizin sowie die Aufklärung über Sexualität und Geschlechtergleichstellung stehen seither im Fokus dieser kräftig bezuschussten Bewegung. Dabei werden nicht nur die Rechte von Frauen und LGBTQIA-Personen angegriffen, sondern häufig die Personen selbst.

Sowohl der Attentäter von Utøya, der 2011 insgesamt 77 Menschen ermordete, als auch jener von Christchurch, der 51 Menschen tötete, schwadronierten in ihren „Manifesten“ von der Gefahr des Feminismus und des Gender-Mainstreamings. Neben rassistischen waren somit auch antifeministische Ideologeme Bestandteil der irrationalistischen Weltanschauungen dieser rechtsextremen Massenmörder. Frauen- und Transfeindlichkeit sind integraler Bestandteil ihrer Ideologie.

Dies geht einher mit der Überhöhung einer Form heroisch-soldatischer Männlichkeit, die sich durch Härte und Durchsetzungsvermögen auszeichnet, und deren angeblicher Verlust in den durch Feminismus und Gender-Mainstreaming weichgespülten westlichen Gesellschaften beklagt wird. Bedroht seien nicht nur „echte Männer“, sondern ebenso die traditionelle Familie, die vermeintlich natürliche Geschlechterordnung sowie die spezifischen Rollenzuweisungen, die damit einhergehen.

Weiblichkeit wird dabei vor allem mit Nähe, Emotionalität und Fürsorglichkeit assoziiert, während Männlichkeit mit Durchsetzungsvermögen, Tatkraft und Autonomie in Zusammenhang gebracht wird. Die Rolle des Mannes wird darin gesehen, die Familie mit dem notwendigen Einkommen zu versorgen, während Frauen die Aufgabe zufällt, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern.

Sexistische Unterdrückung und Weiblichkeitsabwehr

Dieses tradierte Rollenverständnis korrespondiert mit der vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ihr zugrundeliegenden Trennung von gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktion. Diese bildet die materielle Grundlage der Unterdrückung von Frauen und LGBTQIA+-Personen und der binären Unterscheidung der Geschlechter.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung zwar durchaus mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden. Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann aber nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt, sondern muss vielmehr aus der historischen Entwicklung begriffen werden.

Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit

Die gesellschaftlich notwendige, meist von Frauen geleistete Hausarbeit ist unter kapitalistischen Produktionsbedingungen vom Produktionsprozess real ausgeklammert und findet „privat“ statt. Obwohl sie als notwendige Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft unerlässlich ist, ist sie keine produktive Arbeit, da sie keinen Mehrwert für das Kapital produziert. Die Frauen erhalten für diese Tätigkeiten auch keinen Lohn. Falls sie einer Lohnarbeit nachgehen, leiden sie häufig unter einer Doppelbelastung. Im Beruf werden sie für die gleiche Arbeit zudem im Durchschnitt schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Ihr Lohn gilt häufig als Zuverdienst, während der Mann als „Ernährer“ der Familie gilt. Damit einhergehend werden die meist von Männern ausgeführten Tätigkeiten höher bewertet als jene meist von Frauen übernommenen und der Sphäre der „Weiblichkeit“ zugeschriebenen Tätigkeiten und Werte.

Die Frauenunterdrückung ist dabei keine „Erfindung“ des Kapitalismus. Dieser hat vielmehr die bereits zuvor bestehenden Formen der Ungleichheit aufgenommen und den Bedürfnissen der kapitalistischen Verwertung entsprechend transformiert. Aufgrund der langen Geschichte der Frauenunterdrückung ist es nicht verwunderlich, dass vielen diese Form der sexistischen Unterdrückung als „natürlich“ erscheint. Dabei werden geschlechtliche Merkmale aber letztlich nur herangezogen, um ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis mit Verweis auf vermeintlich naturgemäße Eigenschaften, Vorlieben und Fähigkeiten zu legitimieren.

Krise der bürgerlichen Familie

Im Kapitalismus bildet die bürgerliche Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung und Reproduktion der reaktionären, heteronormativen Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und heterosexuellen Orientierung auf der Grundlage der sexuellen bzw. geschlechtlichen Arbeitsteilung. Für Konservative und rechte Kräfte ist die bürgerliche (Kern-)Familie heilig. Sie gilt ihnen als vermeintlich überhistorische – wahlweise von Gott oder der Natur vorgesehene – Form des menschlichen Zusammenlebens. Dabei ist ihr Bestehen aufs Engste mit dem Aufkommen des Kapitalismus verbunden. Wie die derzeitige Krise der bürgerlichen Familie zudem deutlich macht, ist ihr Bestehen für den größten Teil der Lohnabhängigen und Unterdrückten in Wirklichkeit abhängig von einem bestimmten Stand der kapitalistischen Akkumulation.

Während es nach dem Zweiten Weltkrieg für große Teile der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren möglich wurde, das bürgerliche Familienideal zu realisieren, unterhöhlte die kapitalistische Expansion diese Form des Zusammenlebens, da nun auch Frauen zunehmend als Arbeitskräfte gebraucht wurden.

In den letzten Jahrzehnten verschlechterten sich die Lebensbedingungen für viele Familien dramatisch. Die kapitalistische Verwertungskrise und die ihr von politischer Seite entgegengesetzten Maßnahmen in Form von Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme unterhöhlen objektiv die bürgerliche Familie als Form des Zusammenlebens. Damit einhergehend werden auch die Geschlechterrollen der Familienmitglieder unterminiert.

Vor diesem Hintergrund bilden der seit den frühen 2010er Jahren erstarkende Antifeminismus und Antigenderismus eine Form der projektiven, reaktionären Verarbeitung persönlicher und gesellschaftlicher Krisenerfahrungen, deren zentraler Mechanismus darin besteht, verstärkte soziale Ängste speziell von Männern aufzugreifen und sie umzuformen. Die Infragestellung der herrschenden Rollenbilder und des diesen zugrundeliegenden Systems der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird tabuisiert. Mehr noch, sie wird mit eine angeblich „besseren“ Zeit ideologisch verknüpft. Wer Familie und reaktionäre Geschlechterrollen angreift, attackiert in dieser Weltanschauung auch die soziale „Sicherheit“.

In die allgemeine ängstigende Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen ist somit eine spezifische Form männlicher Furcht verwoben. Um dies besser nachvollziehen zu können, ist es notwendig, auf die grundlegenden Momente männlicher Subjektkonstitution näher einzugehen.

Männlichkeit als soziales Konstrukt

Zentral ist dabei die Einsicht, dass „Männlichkeit“ keine überhistorische Eigenschaft von Personen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen darstellt, sondern ein äußerst wandelbares kulturelles und psychosoziales Konstrukt, das im Laufe der Sozialisation hergestellt und mittels Identifizierung mit bestimmten Personen und/oder (von diesen verkörperten) Idealen aktiv angeeignet wird. Die Ausbildung einer Geschlechtsidentität erfolgt somit in der Interaktion des Kindes mit den primären Bezugspersonen in der von Normen der „Männlichkeit“ geprägten Gesellschaft.

Diese Interaktion ist gekennzeichnet durch die einseitige Abhängigkeit des Kindes von den Eltern (oder anderen primären Bezugspersonen). Da der Säugling seine grundlegenden physiologischen Bedürfnisse nicht eigenständig befriedigen kann, ist er darauf angewiesen, von anderen mit Nahrung, Wärme und emotionaler Zuwendung versorgt zu werden. In dieser körperlichen Interaktion zwischen primärer Bezugsperson und Säugling werden zugleich die Triebe des Säuglings geweckt, geformt und mit bestimmten (phantasmatischen) Objekten verknüpft.

Die primären Bezugspersonen sind für das Kind so zum einen „Objekte“, mit denen es positive Erfahrungen verbindet, da es von diesen genährt und versorgt wird. Zugleich kommt es selbst dann, wenn die primären Bezugspersonen sich bei der Versorgung des Kindes größte Mühe geben, unweigerlich zu Situationen, in denen die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht unmittelbar erfolgen kann und der Säugling frustrierende Erfahrungen macht.

Das „Objekt“ ist somit ambivalent besetzt. Ein früher Modus des Umgangs mit dieser Ambivalenz – und als etablierte Form der Abwehr zugleich Grundlage für spätere Projektionen – ist die phantasmatische Spaltung des zugleich befriedigenden wie Unlust bereitenden Objektes. Dabei wird das „böse“, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse versagende Objekt außen verortet. Es ist für das Kind mit der Erfahrung existenzieller Not verbunden und wird deshalb von diesem gehasst. Umgekehrt wird das „gute“, befriedigende Objekt innen verortet, d. h. dem eigenen Ich zugerechnet. Diese Phase der narzisstischen Selbstidealisierung ist mit der Konstitution des Ich aufs Engste verknüpft, da der Säugling erst in dieser Interaktion mit der Außenwelt allmählich eine Vorstellung von innen und außen, von Ich und Objekt entwickelt.

„Das Subjekt entsteht so in der Spannung zwischen Narzissmus und Objektliebe, zwischen Trennungsbestreben gegenüber den primären Beziehungspersonen und zugleich der ständigen Angewiesenheit auf sie. […] Auch wenn das Subjekt später lernt, die beiden Teile mehr zusammenzubringen […], das dargestellte Dilemma, das auch als Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt beschrieben werden kann, bleibt für immer bestehen. Das Begehren hat einen Riss, einen Mangel im werdenden Subjekt produziert, der nicht mehr zu kitten ist.“ (Brunner 2019: S. 24f.)

Das Entscheidende für das Verständnis der den Antigender-Diskurs prägenden affektiven Dynamik besteht nun darin, die Ausbildung der männlichen Geschlechtsidentität als einen Abwehrmechanismus zu begreifen, der auf die mit dem beschriebenen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt auftretenden innerpsychischen Spannungen mit der Ausbildung einer „männlichen Identität“ antwortet, welcher die Abwertung des mit Abhängigkeit assoziierten „Weiblichen“ und die Privilegierung des mit Autonomiewünschen verknüpften „Männlichen“ von Beginn an eingeschrieben ist.

Durch die Internalisierung der symbolischen Geschlechterdifferenz und der damit zusammenhängenden Ausbildung einer Geschlechtsidentität kommt es nun zu einer nachträglichen Umschreibung aller bisheriger Erfahrungen des Kindes entlang des gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechtergegensatzes. Im Zuge dieser Umschreibung werden narzisstische Autonomiewünsche „männlich“, Wünsche nach Verschmelzung mit dem Objekt „weiblich“ codiert.

Überlagerung von kapitalistischer und persönlicher Krise

Wie bereits dargelegt, bedeutet die kapitalistische Krise und die politische Form ihrer Verarbeitung für große Teile der Lohnabhängigen und auch des Kleinbürger:innentums eine enorme Verunsicherung und eine Verschlechterung ihrer Reproduktionsbedingungen. Was lange Zeit als „normal“ galt, gerät plötzlich ins Wanken. Dem Ernährermodell mit seinen spezifischen Rollenerwartungen wird das Wasser abgegraben. Viele Männer können den gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr gerecht werden, da die gesellschaftlichen Grundlagen sich gewandelt haben. Die Ideale, mit denen sie sich identifizieren, sind unerreichbar geworden. Anstatt autonom über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können, bricht eine gesellschaftliche Krise über sie herein, der sie in ohnmächtiger Passivität gegenüberstehen. Es sind genau solche Verhältnisse, die als schwächend, als Verlust der mit dem eigenen Geschlecht verbundenen Integrität und Unabhängigkeit empfunden werden.

Um aus dieser spannungsvollen und für die eigene Psyche beinahe unerträglichen Zwangslage herauszukommen, bieten sich nun allerdings verschiedene Möglichkeiten.

Sofern es nicht zu einer Reflexion der gesellschaftlichen Ursachen der persönlichen Krisenerfahrungen kommt, die Betroffenen also nicht zu der Einsicht gelangen, dass es weder ihre eigene noch die Schuld von irgendjemand anderem/r ist, dass sie die an sie gestellten Erwartungen nicht mehr erfüllen können, sondern die kapitalistische Krise ihnen die Erfüllung ihrer Rollenerwartungen verunmöglicht, bereitet der Antigenderismus ein politisches Angebot, das es erlaubt, die unerträglichen Schuldgefühle und die damit verbundenen Affekte wie Angst und narzisstische Wut in eine bis zum Hass reichende Feindseligkeit gegen andere Gruppen (Feminist:innen, Frauen, LGBTQIA+-Personen) umzuwandeln. Die strafenden Überichanteile werden somit projektiv ausgelagert und die Ängste vor dem Verlust der eigenen Autonomie „[in] einen berechtigt erscheinenden Kampf gegen einen im Außen (wieder-)gefundenen Gegner als vermeintlichen Verursacher des eigenen und des kollektiven Leids transformiert.“ (Pohl 2010: S. 11)

Im Antifeminismus und Antigenderismus wird somit „die in die ,Normalmännlichkeit’ unserer Gesellschaft eingelagerte paranoide Abwehr von Weiblichkeit und allem, was die männliche Autonomievorstellung und das daran geknüpfte Machtversprechen ankratzt, in einen politischen Diskurs überführt.“ (Brunner 2019: S. 29)

Die kapitalistische Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen ist, befördert somit die Zunahme reaktionärer Diskurse und sexistischer Gewalt.

Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem kleinbürgerliche und Mittelschichten die eigentlichen massenhaften Träger:innen des reaktionären Antigenderismus sind. Selbst der viel zu gering entfaltete Klassenkampf bildet in der Arbeiter:innenklasse einen Rahmen kollektiver Erfahrung und der, wenn auch reformistisch und bürokratisch begrenzten, Weitergabe historischer Erfahrung. Die kleinbürgerlichen Schichten haben diese kollektive Erfahrung nicht. Im Gegenteil. Als Eigentümer:innen an Produktionsmitteln, als Ausbeuter:innen von Arbeitskräften hängen sie selbst am Privateigentum – auch wenn sie mehr und mehr in der Konkurrenz unter die Räder zu kommen drohen.

Die Zunahme reaktionärer Einstellungen stellt keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen den vorherrschenden Sexismus und seine tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen. Darüber hinaus bildet die Steigerung des Bewusstseins und der Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse auch die Voraussetzung dafür, Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten eine alternative Perspektive zur reaktionären populistischen Regression zu bieten.

Wir können das toxische Ideologieamalgam aus Rassismus, Antisemitismus und Sexismus der Rechten nur bekämpfen, wenn wir zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, auf denen diese Ideologien beruhen. Der Kampf gegen Frauen- und Queerfeindlichkeit muss daher als integraler Bestandteil des Kampfes gegen die kapitalistische Klassenherrschaft begriffen und entsprechend geführt werden.

„Nur eine Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen, die historische Unterdrückung der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, auf der sie beruht, bewusst überwindet, kann den Boden entziehen, auf dem reaktionäre Geschlechterrollen, die bürgerliche Familie und eine repressive Sexualmoral wachsen. Nur die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse kann den Übergang zu einer solchen Gesellschaft und damit auch zu einer Ordnung frei von jeglicher sozialer Unterdrückung ermöglichen.“ (https://arbeiterinnenmacht.de/2020/07/28/die-unterdrueckung-von-transpersonen/)

Es geht bei dem Kampf gegen Sexismus und Queerfeindlichkeit also nicht nur um individuelle „Awareness“ und den kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Rollenerwartungen, sondern wesentlich um die Errichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sich jede:r Einzelne unabhängig von seinem/ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht in der Solidarität aller frei entfalten kann.

Literatur

Brunner, Markus (2019): Enthemmte Männer. Psychoanalytisch-sozialpsychologische Überlegungen zur Freudschen Massenpsychologie und zum Antifeminismus in der «Neuen» Rechten. Online: https://www.psychoanalyse-journal.ch/article/view/jfp.60.2/1178 (21.08.2023)

Pohl, Rolf: Männer – das benachteiligte Geschlecht? Weiblichkeitsabwehr und Antifeminismus im Diskurs über die Krise der Männlichkeit (Vorabdruck aus: Bereswill, Mechthild und Neuber, Anke (Hg.) (2010): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert. Reihe: Forum Frauen- und Geschlechterforschung. Westfälisches Dampfboot. Münster). Online: http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2010/06/pohl-krise-der-mannlichkeit-vorabdruck-2010.pdf

Wuest, Joanna (2023): Gezielte Grausamkeit. Das Kapital und die trans*feindliche Agenda. Online: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gezielte-grausamkeit/




Selbstbestimmungsgesetz: Ist das schon Selbstbestimmung?

Stephie Murcatto, Neue Internationale 276, September 2023

Am 23. August 2023 hat das Bundeskabinett den Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz beschlossen. Jetzt muss das Gesetz nur noch im Bundestag abgestimmt werden. Aber was beinhaltet es eigentlich?

Erst einmal das Positive: Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen, ihren Namen und Geschlechtseintrag auf Antrag beim Standesamt zu ändern. Dabei gilt, dass die Veränderung des Eintrags 3 Monate vor der sogenannten „Erklärung mit Eigenversicherung“ beim Standesamt angemeldet werden muss. Danach kann man seinen Namen und Geschlechtseintrag ändern. Dies ist eine erhebliche Erleichterung und ein großer Fortschritt im Kampf um Selbstbestimmung, da man keinen erniedrigenden Prozess durchlaufen, sich kein Gutachten besorgen muss, das bestätigt, dass man trans ist, und dann keinen oft Jahre andauernden Gerichtsprozess durchlaufen muss, um den Eintrag tatsächlich ändern zu können.

Die Grenzen der Selbstbestimmung

Bei minderjährigen Menschen ist der Prozess der „Selbstbestimmung“ jedoch weniger selbstbestimmt. Personen ab 14 Jahren haben zwar das Recht, ihren Antrag auf Geschlechtsänderung selbst einzureichen. Die Wirksamkeit des Antrags hängt jedoch von der Zustimmung der sorgeberechtigten Person oder des Familiengerichts ab. Als Minderjährige/r ist man also immer noch auf die Eltern angewiesen – auch wenn diese transphob sind – und muss „beweisen“, dass man richtig trans ist, bevor man Selbstbestimmung erhält. Für Unter-14-Jährige ist es noch schlimmer: Die dürfen nicht mal den Antrag selber einreichen und haben wenig mitzureden, welches Geschlecht oder Namen man angeben will. Das macht die Kinder nochmals wesentlich abhängiger von ihrer Familie, die eine vollständige Kontrolle darüber hat, wie das Kind eingetragen ist. Sehr selbstbestimmt, liebe Bundesregierung!

Das Ganze wird auch nicht besser: Der vom Bundeskabinett beschlossene Entwurf schließt sogar aus, dass Menschen, deren Visa bald ablaufen, das Recht auf Selbstbestimmung erhalten. Sie dürfen ihren Eintrag erst nach der Visa-Erneuerung ändern. Das soll angeblich sicherstellen, dass Menschen das Selbstbestimmungsgesetz nicht missbrauchen, um sich vor der Abschiebung zu drücken, aber ist in der Realität ein rassistischer Angriff auf migrantische Menschen. Es wird auch festgehalten, dass die Änderung eines männlichen Eintrags im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ jederzeit ausgesetzt werden kann, angeblich um Männer daran zu hindern, sich dem Militär zu entziehen. Im Entwurf ist auch explizit festgehalten, dass Betreiber:innen von beispielsweise Frauensaunen das Recht behalten, trans Frauen aufgrund ihres trans Seins aus ihren Saunen zu verweisen.

Staatlich bekannte Selbstbestimmung

All das zeigt den rassistischen, sexistischen und transfeindlichen Hintergrund dieses Gesetzes auf, aber es wird noch besser: Im sogenannten Selbstbestimmungsgesetz, das heute vom Kabinett beschlossen wurde, ist inkludiert, dass, sobald man seinen Namen und Eintrag geändert hat, diese Information direkt an alle möglichen Sicherheitsbehörden weitergegeben wird. Diese umfassen das Bundeskriminalamt (BKA), die Landeskriminalämter, die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst und weitere. Dabei werden automatisch Nachname, bisherige und geänderte Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsangehörigkeit/en, bisheriger und geänderter Geschlechtseintrag, Anschrift und Datum der Änderung weitergegeben.

Kurz gesagt: Polizei und Militär, beides Institutionen, die dafür bekannt sind, dass sich rechte und faschistische Strukturen in ihnen ausbreiten, erhalten eine Liste von allen trans Menschen mit aktueller Adresse. Dass das nicht geht und einen massiven Angriff auf die Sicherheit von allen trans-, intersexuellen und non-binären Menschen darstellt, sollte uns allen klar sein. Wir können nicht zulassen, dass trans Personen einerseits unfreiwillig geoutet werden sowie andererseits auch faschistische Strukturen ihre Adressen wissen.

Was können wir dagegen tun?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz einiger längst überfälliger Verbesserungen für trans Menschen der Entwurf rassistische und transfeindliche Regeln enthält, die eine erhebliche Gefahr für trans-, intersexuelle und nicht-binäre Menschen und ihre Sicherheit darstellen. Ebenso gibt’s weiterhin nur eingeschränkte Selbstbestimmung für Jugendliche. Das und die aktuellen Angriffe und Debatten um die Rechte von trans Menschen wie in den USA werfen die Frage auf: Was tun? Wie können wir uns gegen steigende Gewalt und die zunehmenden Angriffe verteidigen? Kurz gesagt: Wer das Problem an der Wurzel packen will, darf keine Illusionen in den bürgerlichen Staat oder die Polizei haben. Das heißt nicht, keine Forderungen zu stellen, aber der Kapitalismus profitiert von der binären Geschlechtereinteilung, da er auf die Reproduktionsarbeit im Privaten angewiesen ist. Konkret muss also der Kampf für Verbesserungen für trans Personen mit dem gegen das kapitalistische System verbunden werden.

Aber die alleinige Verteidigung gegen Angriffe von rechts ist nicht genug. Schließlich ist die Lage von trans Menschen schon schlimm genug. Es braucht eine Bewegung, die für tatsächliche Selbstbestimmung, aber auch Emanzipation von trans, intersexuellen und nicht-binären Menschen kämpft. Eine solche Bewegung muss aus der Defensive herauskommen und tatsächliche Verbesserungen erkämpfen. Dabei sollte sie Hand in Hand mit den Gewerkschaften den Streik als Hauptaktionsform nutzen, denn dieser kann die jetzige Gesellschaft zum Stillstand zwingen und Platz schaffen für tatsächliche Selbstbestimmung und wahre Emanzipation.

Um diese Ziele zu erreichen, fordern wir:

  • Selbstbestimmung für alle, unabhängig von Alter oder Herkunft: Volle rechtliche Gleichstellung von LGBTIA+! Gleichstellung aller Partnerschaften und Lebensgemeinschaften mit der Familie!
  • Gewalt stoppen: Demokratisch organisierte und gewählte Verteidigungskomitees gegen Übergriffe auf LGBTIA+!
  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!



Runter mit der CDU vom CSD!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1228, 20. Juli 2023

Klar, der Christopher Street Day ist schon seit Jahren eine einzige Kommerzveranstaltung. Einmal im Jahr packen Konzerne und Politiker:innen die Regenbogenfahne aus und spendieren einen Truck, von dem lauthals Musik tönt, während man die restlichen 364 Tage dann recht wenig im Betrieb von queerer Akzeptanz spürt. Beschwerdestellen, eigenständige Schulung zur Sensibilisierung der Mitarbeiter:innen und Auflösung des Gender Pay Gaps gibt’s nicht oder sind eine Seltenheit. Und das enttarnt dann meistens auch den Charakter der Beteiligung: Es ist eine Imagefrage, denn aktuell gehört es noch zum guten Ton, sich solidarisch zu zeigen. Queerness ist cool, ist in und größtenteils akzeptiert. Und solange man nicht ernsthaft was dafür machen muss und auch noch Geld daran verdienen kann, ist man eben gerne dabei.

Ein Schritt vorwärts?

Ja, es ist natürlich ein Schritt vorwärts, dass der CSD so groß ist, auch wenn’s eine riesige Party ist. Aber während einige die Party genießen und danach die Pridefahne wieder einrollen, wenn sie nach Hause gehen, klappt das nicht für alle. Dies wird vor allem sichtbar außerhalb der Großstädte. Beispielsweise in Bautzen, wo dieses Jahr die erste Pride stattgefunden hat – unter aktiven Drohungen durch Faschist:innen, während sich kurz vorher der Lesben- und Schwulenverband in Freiburg und die IG CSD in Stuttgart von Symbolen der Antifaschisten Aktion distanzierten. Darüber hinaus klappt es auch nicht für jene, die Angst haben müssen, wenn sie im eigenen Kiez Hand in Hand spazieren gehen wollen. Es klappt nicht für die, die immer „witzige“ Kommentare auf der Arbeit oder im eigenen Heterofreundeskreis hören. Es klappt nicht für alle, die sich überlegen müssen, ob es wirklich sicher ist oder sie die Blicke ertragen können beim Rausgehen, wenn sie sich schminken und ein Kleid anziehen. Und schon gar nicht klappt es für die, die der Hetze voll ausgeliefert sind.

Deswegen hilft eine Pride nicht viel, die solche Themen mittlerweile wenig zur Sprache bringt, während zeitgleich Firmen, die in Ländern, wo LGBTIA+ umgebracht werden, stummen Wortes produzieren, um ihre Profite zu sichern. Da helfen auch nicht die aktuellen Ermittlungen gegen Teile des Berliner CSD-Vorstands unter anderem aufgrund von Veruntreuung sowie Einbehaltung von Bargeldeinnahmen vom CSD 2022.

Vielmehr macht das nur deutlich, dass die Diskriminierung von LGBTIA+ zwar alle Queers trifft, aber halt nicht alle gleich. Neben der Tatsache, dass trans Menschen es in der Gesellschaft wesentlich schwerer haben, ist es auch eine Klassenfrage. Das ist keine Nebensache. Wer sich keine Gedanken machen muss, wie man sich in öffentlichen Verkehrsmitteln (nicht) verhalten oder (nicht) kleiden sollte, weil mensch doch auch einfach mit dem eigenen Auto umherfahren kann, dem sind halt andere Dinge wichtiger. Wer homosexuell, aber reich ist, der ist bereit, zugunsten der eigenen ökonomischen Lage „Kompromisse“ einzugehen. Oder anders gesagt: Der wählt halt CDU, weil das politische Programm die eigene Lage besser absichert, unabhängig davon, was das für die eigene Sexualität bedeutet. Deutlicher als an der Person von Alice Weidel, die nix Besseres zu tun hat, als als Lesbe ständig gegen das „Gender-Gaga“ zu reden, weil’s in die eigene Agenda passt, kann man es selten machen.

Ja, es ist nichts Schlimmes daran, wenn die Pride Spaß macht. Aber man sollte halt nicht vergessen, dass sie vor allem politisch ist. Oder sein sollte. Nicht nur, weil die erste Pride ein Riot gewesen ist, sondern aufgrund der aktuellen politischen Lage.

Kein Schritt zurück!

Eine der ersten Amtshandlungen der CDU im Berliner Senat ist es gewesen, das Gendern in den Berliner Behörden rückgängig zu machen. Rückschrittlich, bringt niemandem/r irgendetwas, aber man hat halt einen populistischen Wahlkampf gemacht und will zeigen, dass man auch liefert. Das Behördenchaos in Berlin gibt’s natürlich weiterhin, nur halt ohne :*_.  Hilft auch super bei der Wohnungskrise – oder nicht?

Das Ganze ist kein Ausrutscher von Kai Wegner, sondern fester Bestandteil der Politik der CDU, bedenkt man beispielsweise den Tweet von Frontmann Friedrich Merz. Dieser will dem Satz „Und rechts von uns ist nur die Wand!“ wieder neue Bedeutung geben und so hat er es geschafft, pünktlich zum Pridemonth einen Tweet in die Welt hinauszuposten, der vieles war: eine bewusste Provokation, ein „Mal beim AfD-Milieu“-Abgreifen und dazu noch strunzdumm. Das erste, was einem/r durch den Kopf geschossen ist, war: Nehmt dem alten, verwirrten Mann das Handy weg und lasst dessen Hirngespinste mal besser medizinisch abchecken. Doch leider ist das kein verwirrter Einzelfall, sondern die neue Masche der CDU unter Friedrich Merz. Denn auf den Tweet folgte nun die Ausweitung des Verbots von Gendern in sächsischen Schulen auf Kooperationspartner:innen und die Hetze der CSU in München gegen einen Vorleseabend der Münchner Stadtbibliothek, bei dem eine Dragqueen sowie ein Dragking geladen wurden.

Doch was bedeutet das für die Praxis? Angelehnt an die aktuelle Debatte in den USA um trans Rechte, versuchen nun auch hier Konservative queeres Leben und Selbstbestimmung weiter anzugreifen. Die CDU hetzt gegen Queers und die Berliner SPD trägt diese Koalitionspartnerin mit. Ganz einfach. Statt diese Kräfte ihre Regenbogenfahne am CSD auspacken und Wegener auch noch bei der Eröffnung reden zu lassen, sollten diese nicht die Möglichkeit bekommen, ihre Doppelmoral zur Schau zu stellen! Die Hetze von CDU und CSU zu dulden und sie dann in den eigenen Reihen mitlaufen zu lassen, ist wie, dem Wolf schon freiwillig den Schafspelz zu geben. Wir sind in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Akzeptanz ziemlich schnell drohen kann zu kippen – und es sind neben der AfD diese Kräfte, die ihr Bestes dafür tun, queeres Leben aus der Öffentlichkeit zu drängen, zu verurteilen und auch einen Anstieg von Gewalt gegen LGBTIA+ damit begünstigen. Ansonsten bedeutet das, in der Realität Politik gegen trans Menschen, gegen alle Non-Binaries und Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlecht einordnen lassen wollen, mitzutragen und zu unterstützen. Die Pride gibt’s dann nur noch für Cis-Männer und -Frauen, Jens Spahn und Alice Weidel Hand in Hand, die geben bestimmt viel Geld und einen aus.

Statt so zu tun, als ob es was Gutes ist, dass sich augenscheinlich alle mit der Prideflag schmücken können, muss klar gemacht werden, dass Parteien, die aktiv gegen Queers hetzen, nichts auf der Pride zu suchen haben. Gleiches gilt für Institutionen und Firmen, die das aktiv mittragen oder finanzieren. Deswegen ist die Initiative des Hamburger CSD zu begrüßen, der die CDU aktiv ausgeladen hatte, nachdem deren lokale Parteigliederung der Initiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ 3.000 Unterschriften übergab, bei der Anfang des Jahres die Initiatorin Homosexuelle pauschal zur Gefahr für die menschliche Evolution erklärte (queer.de berichtete).

  • Lasst uns deswegen gemeinsam ein lautstarkes Zeichen gegen die CDU setzen!



5 Gründe, warum wir als Marxist:innen gegen das nordische Modell sind

Leonie Schmidt, Neue Internationale 274, Juni 2023

Nach wie vor ist es eine relevante Diskussion in der feministischen und linken Bubble, wie zum Sexkauf und zu Sexarbeit gestanden wird und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Dominierend sind hierbei einerseits ein Spektrum, was Sexarbeit als Arbeit wie jede andere hinstellt und von selbstbestimmten Dienstleister:innen ausgeht, welche größtenteils keine Gewalterfahrungen während ihrer Tätigkeit erleben, wohingegen auf der anderen Seite Stimmen laut werden, die alle Sexarbeiter:innen zu Opfern stigmatisieren, die wenn sie nicht direkt oder indirekt (bspw. durch Armut oder Drogensucht) gezwungen sein sollten, lediglich versuchen würden, ihre Traumata zu verarbeiten. Diese Argumentation basiert u. a. auf diversen Studien von Melissa Farley, welche den Anschein haben, dass alle Personen in der Prostitution Gewalterfahrungen sowie psychische Probleme erleben. Jedoch ist die Stichprobe von Farley höchst umstritten, da sie ihre Interviewpartner:innen teilweise aus Aussteigerprogrammen bezieht (u. a. Farley 2004). Dass die Personen, die sowieso aufhören wollen, von den schrecklichen Zuständen berichten, die ihnen wiederfahren sind, ist logisch, lässt aber keinen Allgemeinschluss zu. Die Personen, die dennoch Farleys Argumentation folgen, repräsentieren oft radikalfeministische und bzw. oder kleinbürgerliche Tendenzen und fordern auch in Deutschland eine Regelung nach dem „nordischen Modell“.

Einige grundlegende Annahmen

Bevor wir uns dies näher anschauen, wollen wir einige Sachen kurz darstellen, die für die Auseinandersetzung mit diesem relevant sind. Wir wollen in diesem Text differenzieren zwischen Prostitution und Zwangsprostitution, da das für uns nicht dasselbe ist. Prostitution verstehen wir als den einvernehmlichen Verkauf direkter, zwischenmenschlicher sexueller Dienstleistungen, während das für Zwangsprostitution nicht gilt, denn diese ist nicht einvernehmlich. Diese klare Trennung kann aber nicht in jedem Fall getroffen werden, da Zwangsverhältnisse nicht nur durch physischen Zwang, sondern auch durch ökonomische Abhängigkeiten und Armut entstehen können.

Demnach verstehen wir Sexarbeit in einem ökonomischen Sinne jedoch als Arbeit, in jenem Sinne, dass nicht der Körper, sondern eine Ware in Form einer Dienstleistung „produziert“ wird, wofür die Ware Arbeitskraft notwendig ist, wenn die Dienstleistung in einem Lohnarbeitsverhältnis stattfindet. Dies passiert in einem abgesteckten Rahmen, in welchem eine zeitliche Begrenzung und eine der Praktiken festgelegt wird. Voraussetzung dafür, dass eine sexuelle Dienstleistung verkauft wird, ist also Konsens, mit anderen Worten: Konsens kann nicht gekauft werden. Wenngleich die Optik der Sexarbeiter:innen eine Rolle in ihrer Tätigkeit spielt, so gilt das ebenso für andere Dienstleistungsberufe wie bpsw. Models oder Schauspieler:innen, doch auch diese verkaufen nicht ihren Körper, wenngleich dieser ein Teil der Produktion der Dienstleistung ist. Sind die Sexarbeitenden angestellt oder scheinselbstständig, streicht sich ein/e Kapitalist:in bspw. als Bordellbetreiber:in oder Zuhälter den Mehrwert ihrer Arbeit ein, besitzt die Produktionsmittel (bspw. Räumlichkeiten, Verhütungsmittel etc.) und bestimmt die Arbeitsbedingungen. Insofern kann Sexarbeit als Lohnarbeit angesehen werden. Das soll nicht verharmlosen, dass es während dieser Tätigkeiten nicht selten zu Gewalt und Übergriffen kommt und das auch in einer patriarchalen Klassengesellschaft keine Seltenheit ist, sondern betonen, dass Konsens lediglich die Möglichkeit eröffnet, dass Sexarbeitende selbstbestimmt für ihre Arbeitsrechte eintreten können, insofern sie sich in keinem Zwangsverhältnis befinden und sich genau gegen diese Gewalt und schlechten Arbeitsbedingungen organisieren können. Das bedeutet außerdem, dass Sexarbeit nicht der Grund für die Unterdrückung von Frauen und queeren Personen ist, sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion im Kapitalismus sowie das daraus resultierende Ideal der bürgerlichen Familie und der damit einhergehenden Geschlechterrollen.

Natürlich dürfen nicht die Augen davor verschlossen werden, dass es auch bessergestellte Sexarbeitende gibt, welche ohne Zuhälter:in selbstständig agieren und mehr Freiheiten bzgl. der Arbeitsbedingungen und Gestaltung der Dienstleistung genießen. Diese sind auch oft im öffentlichen Diskurs zu finden und propagieren Sexarbeit als etwas per se Ermächtigendes. Sie machen allerdings nur einen sehr geringen Teil der Sexarbeitenden aus und somit kann man von deren Sichtweisen und Erfahrungen nicht auf die Gesamtheit schließen.

Genauso gibt es auch Personen, die sich in Zwangsverhältnissen befinden. Wie stark sie vertreten sind, ist schwer auszumachen, denn sie befinden sich unter dem Radar. Zwangsprostitution und Menschenhandel stellen klar Verbrechen und Vergewaltigungen dar und sind oft mit Sklaverei vergleichbar. Zwangsprostitution ist grundsätzlich abzulehnen und zu bekämpfen, dies steht nicht zur Diskussion. Aber nur weil imperialistische Mächte bis ins 19. Jahrhundert Sklav:innen auf Baumwollplantagen quälten, ist es keine logische Schlussfolgerung, die Forderung nach einem Verbot der Arbeit auf Baumwollplantagen aufzustellen.

Was ist überhaupt das „nordische Modell“?

Das „nordische Modell“ wurde erstmals in Schweden in den 1990er Jahren eingeführt und besteht grob gesagt aus 3 Säulen, welche aber von Land zu Land variieren können: Entkriminalisierung der Sexarbeitenden, Kriminalisierung der Sexkäufer und Zuhälter, Förderung und Finanzierung von Ausstiegshilfen. Aktiv sind verschiedene Formen des „nordischen Modells“ neben Schweden unter anderem auch in Norwegen, Frankreich, Irland, Island, Israel und Kanada. Eingeführt werden diese Gesetze auf Basis einer feministisch-humanistischen Grundlage, die davon ausgeht, dass die Nachfrage sinken wird, sobald der Sexkauf selbst unter Strafe steht, und somit die Sexarbeiter:innen von alleine nach anderen Berufen suchen, dass das gesellschaftliche Stigma rund um Sexkauf förderlich ist, um Freier abzuschrecken und Männer umzuerziehen, und Sexkauf in jedem Fall Gewalt bzw. eine Vergewaltigung darstellt. Außerdem soll so Menschenhandel in den Griff bekommen werden. Dadurch, dass das „nordische Modell“ bereits in Kraft getreten ist, gibt es eine Datengrundlage, um dieses auszuwerten. Allerdings lassen diese Daten viel Raum für Interpretation und werden ganz unterschiedlich ausgelegt, von Befürworter:innen des „nordischen Modells“ anders als von Leuten, die dieses ablehnen.

1. Das Sexkaufverbot reduziert nicht die Anzahl der Sexarbeiter:innen

Ein erklärtes Ziel durch die Kriminalisierung der Sexkäufer ist, durch eine gesunkenen Nachfrage auch das Angebot zu senken. Und so scheint es auch in mehren Fällen zu funktionieren: In Schweden und Nordirland sank die Anzahl der Straßenprostituierten nach der Einführung eines Sexkaufverbots. Allerdings sank nicht die Gesamtanzahl der Prostituierten, sondern es gab eher eine Verschiebung: in Nordirland bspw. in den Onlinebereich (Ellison et al. 2019) und in Schweden kam es nach einem kurzen Abfall auch wieder zu einem Anstieg in der Straßenprostitution und diese dürfte mindestens wieder auf demselben Niveau erfolgen wie vor der Installation des Gesetzes (Global Network of Sex Work Projects 2015). Zudem macht in Schweden die Straßenprostitution sowieso nur einen sehr geringen Teil der Branche aus (ebenda).

Die Idee, Dinge würden durch Verbote verschwinden, ist aber so oder so von vorne bis hinten ein Fehlschluss, wie man bspw. auch beim Verbot von Drogen oder Alkohol sehen kann, denn konsumiert wird trotzdem, nur eben viel unsicherer als vorher. Denn durch ein Sexkaufverbot werden eben nicht die Strukturen, die zur Prostitution führen, ausgehebelt. Das sind zum einen die ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus, die dafür sorgen, dass ein Lebensunterhalt erworben werden muss, und zum anderen das Patriachat, welches überhaupt erst für die gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution sorgt, verankern. Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung des Patriachats mit ein. Hier wird klar, dass dieses genau wie die bürgerliche Familie untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels bilden bürgerliche Familie und Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw. Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht. Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Geburten und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht. Das manifestiert sich auch in der widersprüchlichen bürgerlichen Sexualmoral und dem Madonna-Whore-Komplex, in welchem eine reine Ehefrau für das öffentliche Ansehen  einer perversen und zügellosen Prostituierten für das Ausleben der gesellschaftlich geächteten Fantasie gegenüberstehen. Solange also Kapitalismus und Patriachat bestehen bleiben, wird es auch eine Nachfrage nach Sexkauf geben.

2. Das Sexkaufverbot ist nicht hilfreich gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel

Eigentlich soll das Sexkaufverbot gegen Zwang, Gewalt und Menschenhandel vorgehen, aber wie die Beispiele Irland und Island zeigen, könnte eher das Gegenteil der Fall sein. Irland war vor der Einführung des Sexkaufverbots auf der bestmöglichen Stufe hinsichtlich Bekämpfung gegen Menschenhandel nach Einordnung des US-Außenministeriums, fiel aber um zwei Stufen zurück ebenso wie Island nach der Einführung des Sexkaufverbots (United States Department of State 2017 und United States Department of State 2020). Eigentlich liegt es auf der Hand: durch die Kriminalisierung wird Sexarbeit in den Untergrund gedrängt, wo zwielichtige Gestalten das Sagen haben und Zwangsverhältnisse an der Tagesordnung sind, was ebenso Menschenhandel fördern dürfte.

Wenn wir uns die Praxis anschauen, ist noch deutlicher, wie wenig hilfreich das „nordische Modell“ beim Kampf gegen Menschenhandel ist. Natürlich sind so die Hürden für Sexkäufer größer, Missstände zu melden, da sie eine Bestrafung fürchten (Global Network of Sex Work Projects 2015), wohingegen in einem entkriminalisierten oder legalisierten Rahmen wie in Italien auch Freier vermutete Zwangsprostitution melden (Krause-Schöne 2014). Interessanterweise wird in Italien auch aus allen politischen Richtungen gefordert, das Verbot von Bordellen wieder aufzuheben, um gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution besser vorgehen zu können (Migge 2018).

Auch die Polizei selber sagt, dass ihre Ressourcen so unnötig gebunden werden, denn wenn es keinen Fokus auf Zwangsprostituierte gibt, werden alle überprüft und es ist eben nicht so leicht nachzuvollziehen, wer das auf Basis von Konsens tut und wer nicht (Krause-Schöne 2014).

An dieser Stelle wollen wir uns natürlich nicht auf die Argumentation der Polizei verlassen genauso wenig, wie wir uns im Kampf gegen sexuelle Gewalt auf sie verlassen können. Denn die Zahlen sprechen Bände: Selbst in den für viele alltäglichen sexistischen gesellschaftlichen Verhältnissen führen Anzeigen sexueller und im allgemeinen patriarchaler Gewalt nicht zu sonderlich hohen Verurteilungen, im Gegenteil: Die Verturteilungsraten in Deutschland sinken sogar (Schwarz 2020). Das mag an der Definition davon liegen, wo diese Strafttatbestände beginnen, aber es liegt ebenso an den Beamt:innen, die die Ermittlungen schleifen lassen oder Betroffene retraumatisieren. Weswegen also sollten wir uns nun drauf verlassen, dass die Polizei auf einmal ihre vermeintliche Rolle als Freund und Helfer ernst nehmen sollte?! Aus unserer Sicht besteht ihre Rolle in bürgerlichen Demokratien darin, die herrschenden Verhältnisse zu schützen. Dazu zählen die kapitalistischen Besitzverhältnisse genauso wie das Patriachat und die Ausbeutung von Arbeiter:innen. Es gibt also keinen Grund zur Annahme, dass sie in dieser Hinsicht einmal auf der richtigen Seite stehen könnte.

3. Das Sexkaufverbot schützt Sexarbeiter:innen nicht gegen Gewalt durch Polizei und Freier und verschlechtert die Arbeitsbedingungen

Polizeigewalt gegen Prostituierte ist somit auch in Ländern, wo Sexkauf verboten ist, keine Seltenheit. Vorkommen können bspw. sexualisierte oder physische Gewalt, willkürliche Arreste, Bestechung, Abnahme von Kondomen, keine Hilfe bei Anzeigenaufnahme, nicht konsensuelle HIV-Tests (Platt et al. 2018). Das führt dazu, dass die Arbeitsumgebung der Sexarbeitenden massiv unsicher wird und sie isoliert werden, weil gemeinschaftliche Unterstützung und Sicherheitsmaßnahmen durch andere Sexarbeitende (das gemeinsame Anmieten einer Wohnung zum Beispiel) oder sogar romantische Beziehungen als Zuhälterei gewertet werden könnten. Des Weiteren gaben 70 % der befragten Sexarbeiter:innen in einer Studie in Frankreich, wo auch ein Sexkaufverbot gilt, an, dass sich ihr Verhältnis zur Polizei entweder verschlechtert habe oder es keine Verbesserung zu vorher gab (Le Bail et al. 2019). Ebenso können 38 % der Sexarbeitenden die Verwendung von Kondomen schlechter durchsetzen (ebenda), was zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, sich HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten einzufangen, führen kann (Platt et al. 2018).

Des Weiteren wird das Screening der potentiellen Sexkäufer durch das „nordische Modell“ massiv erschwert (Global Networkt of Sex Work Projects 2015), was dazu führt, dass zwielichtige Kunden nicht einfach so aussortiert werden können. Gleichfalls sanken die Preise und Sexarbeitende sehen sich gezwungen, Kunden zu bedienen, die sie unangenehm finden, und Praktiken außerhalb ihrer Grenzen durchzuführen aufgrund der erhöhten Konkurrenzsituation (ebenda). Wir können also sehen: Selbst wenn offiziell die Sexarbeitenden nicht Opfer des „nordischen Modells“ sein sollen, so sind sie es doch am Ende, auf deren Rücken bürgerliche Moralvorstellungen verhandelt werden und deren Leben zusätzlich erschwert wird. Deswegen setzen wir uns für eine gewerkschaftliche Organisierung der Sexarbeiter:innen ein, wie es auch mancherorts in der Gewerkschaft ver.di der Fall ist. So kann ein selbstbestimmter Kampf für bessere Arbeitsbedingungen (gegen Lohndumping durch festgeschriebene, angemessene Entlohnung der Arbeit, bestimmt durch die Arbeiter:innen selbst) inklusive Schutzmaßnahmen (bspw. in Form von Selbstverteidigungskomitees) geführt werden.

4. Die Ausstiegsangebote richten sich nicht nach den realen Bedürfnissen der Sexarbeiter:innen

Eine Sache, die immer wieder von Befürworter:innen betont wird, ist, wie toll doch die Ausstiegsangebote als eine der Säulen des „nordischen Modells“ sind. Doch schaut man sich diese genauer an, wird man schnell feststellen, dass diese alles andere als wirksam sind. So sind Zugänge zu den Angeboten in Schweden einerseits dadurch erschwert, dass an ihnen nur teilnehmen kann, wer sofort mit der Prostitution aufhört. Das ist offensichtlich unrealistisch, weil es für viele aus finanziellen Gründen nicht unmittelbar möglich ist. Außerdem gilt die Möglichkeit in Schweden lediglich nur für Staatsbürger:innen, wohingegen Personen mit Migrationshintergrund statt Hilfsangeboten eben mal die Abschiebung droht (Vuolajärvi 2019). Das führt sogar zu einer Praxis, in welcher Polizeibeamt:innen mit Absicht nach nicht-schwedischen Personen suchen, um diese leichter abschieben zu können (ebenda). Das „nordische Modell“ wird an dieser Stelle also völlig zweckentfremdet und offenbart auch hier wieder die eigentlichen Interessen von Polizei und herrschender Klasse. Auch in Frankreich sind die Ausstiegsangebote alles andere als beliebt: Teilweise nahmen weniger als 100 Personen an den Programmen teil (Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen 2021).

5. Das Sexkaufverbot verschiebt das Problem

Wie bereits dargestellt, verschiebt das Sexkaufverbot die Tätigkeit in die Illegalität und liefert somit die Sexarbeitenden dubiosen Freiern und Zuhältern schutzlos aus und erschwert den Zusammenschluss von Sexarbeitenden, um kollektiv für ihre Rechte einzutreten, massiv. Aber das Problem wird nicht nur innerhalb der Länder verschoben, sondern das „nordische Modell“ fördert auch Sextourismus in zumeist halbkoloniale Länder, wo die Arbeitsbedingungen viel eher sklavenartig sind und es fast ausschließlich Zwangsprostitution gibt. Denn die Freier verlieren nicht auf einmal ihre Nachfrage nach gekauftem Sex, nur weil er auf einmal verboten ist, und fahren lieber in den Urlaub, um dort ihren Bedürfnissen nachzugehen.

Das „nordische Modell“ ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Fazit: Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als Marxist:innen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit Sexarbeiter:innen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die Sexarbeiter:innen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für Arbeiter:innenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und sie sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von Marxist:innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter:innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.

Literaturverzeichnis

Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. (2021): Stellungnahme zum Antrag „Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells“ der Fraktionen der CDU und FDP in NRW. https://berufsverbandsexarbeit.de/wp-content/uploads/2021/01/210114_Stellungnahme-desBesD-zu-No-Nordic-Model-NRW.pdf; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Ellison, G., Ní Dhónaill, C., & Early, E. (2019): A Review of the Criminalisation of the Payment for Sexual Services in Northern Ireland; http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3456633 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Farley, M. (2004): Prostitution and trafficking in nine countries: Update on violence and posttraumatic stress disorder; Journal of Trauma Practice, 2(3-4), 33-74

Global Network of Sex Work Projects (2015): The Real Impact of the Swedish Model on Sex Workers; https://www.nswp.org/sites/nswp.org/files/Swedish%20Model%20Advocacy%20Toolkit%20Community%20Guide%2C%20NSWP%20-%20November%202015.pdf (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Krause-Schön, E. (2014): Das sind häufig sehr junge Mädchen; TAZ, 17.6.2014, S. 5; https://taz.de/Das-sind-haeufig-sehr-junge-Maedchen/!338223/? (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Le Bail, H., Giametta, C., & Rassouw, N. (2019): What do sex workers think about the French Prostitution Act? A Study on the Impact of the Law from 13 April 2016 Against the „Prostitution System“ in France [Research Report]; Médecins du Monde, pp. 96;  http://hal.archives-ouvertes.fr/hal-02115877f (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Migge, T. (2018): Prostitution in Italien: Katholiken für Bordelle; Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/prostitution-in-italien-katholiken-fuer-bordelle-100.html#:~:text=Seit%2060%20Jahren%20gibt%20es,ausgenutzt%20werden%2C%20etwa%20durch%20Zuh%C3%A4lter. (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Platt, L., Grenfell, P., Meiksin, R., Elmes, J., Sherman, S. G., Sanders, T., Mwangi, P., Crago, A. L. (2018): Associations between sex work laws and sex workers’ health: A systematic review and meta-analysis of quantitative and qualitative studies; PLOS Medicine, 15(12), e1002680; https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1002680 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Schwarz, C. (2020): Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern; TAZ;  https://taz.de/Sexualisierte-Gewalt-in-Deutschland/!5727344/ (zuletzt aufgerufen 31.5.23)

United States Department of State. (2017): Trafficking in Persons Report; https://www.state.gov/reports/2017-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

United States Department of State. (2020): Trafficking in Persons Report;  https://www.state.gov/reports/2020-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Vuolajärvi, N. (2019): Governing in the Name of Caring—the Nordic Model of Prostitution and its Punitive Consequences for Migrants Who Sell Sex; Sexuality Research & Social Policy Journal of NSRC, 16(2), 151-165; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)




Pakistan: Reaktionäre Rechte gegen Rechte von trans Personen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 22. Mai 2023

In einer bahnbrechenden Niederlage für die Rechte sexuell unterdrückter Menschen hat das religiöse Gericht Pakistans am 19. Mai entschieden, dass trans Personen ihr Geschlecht nicht auf eigenen Wunsch ändern können. Dies ist eine Umkehrung der partiellen Errungenschaften, die für den Schutz von trans Personen in Pakistan durch das Gesetz zum Schutz der Rechte von trans Personen im Transgender Persons Act 2018 erzielt wurden, da das Gericht auch bestimmte Klauseln des Gesetzes als schariawidrig (mit den Gesetzen des Islam unvereinbar) erklärt hat.

Dies geschieht zu einer Zeit, in der die demokratischen Rechte in Pakistan generell angegriffen werden, da Hunderte von Anhänger:innen der Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit; PTI) wegen des Angriffs auf Militäreinrichtungen am 9. Mai als „Terrorist:innen“ bezeichnet werden. Sie werden nach dem Armeegesetz und dem Gesetz über Amtsgeheimnisse vor Gericht gestellt, was bedeutet, dass sie vor Militärgerichten und nicht vor zivilen angeklagt werden.

Pakistan ist eine islamische Republik, und das Scharia-Bundesgericht ist ein Verfassungsorgan, das befugt ist, zu prüfen und festzustellen, ob die Gesetze des Landes mit der Scharia vereinbar sind. Dieses Gremium wurde während der Militärdiktatur von General Zia-ul-Haq eingerichtet. Haqs Name ist für die drakonischen Verordnungen in die Geschichte eingegangen. Sein Regime schränkte massiv demokratische Rechte sowie Frauenrechte ein und erließ die Hudood-Verordnungen zur Islamisierung des Rechts. Nun wird sein Erbe von der reaktionären Rechten, sowohl der religiösen als auch der liberalen, in Pakistan genutzt, um die Rechte einer extrem unterdrückten Gemeinschaft zu beschneiden.

Das bestehende Gesetz war nicht besonders fortschrittlich, aber dennoch ein Schritt nach vorn, und als Sozialist:innen sind wir verpflichtet, selbst die minimalen Errungenschaften zu verteidigen, die es bot. Zum Beispiel gewährte das Gesetz trans Frauen oder trans Männern nicht das Recht, sich als Frauen oder Männer zu identifizieren, aber es gewährte ihnen das Recht, sich selbst als ein drittes Geschlecht „X“ zu identifizieren, im Gegensatz zu dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. So konnte sich beispielsweise eine Person, der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, als Frau in der Kategorie X identifizieren, die in Pakistan das dritte Geschlecht symbolisiert. Dies galt für Ausweisdokumente. Die X-Klassifizierung wurde auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2009 speziell für die trans Gemeinschaft geschaffen. Das Gesetz verbot auch die Diskriminierung von trans Personen in Bildungseinrichtungen, bei der Beschäftigung, im Handel, im Gesundheitswesen usw. Es verbot auch die Belästigung von trans Personen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses auf der Grundlage „ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität und/oder ihres Geschlechtsausdrucks“. Die Regierung wurde verpflichtet, Schutzzentren und sichere Unterkünfte einzurichten sowie medizinische Einrichtungen, psychologische Betreuung, Beratung und Erwachsenenbildung bereitzustellen.

Die Gesetzesänderungen im Detail

Das Religionsgericht hat zwar nur eine Klausel und einen Unterabsatz des Gesetzes für nichtig erklärt, doch wird dies Auswirkungen auf jeden Aspekt des Lebens von trans Personen zeitigen. Die für nichtig erklärte Klausel 2(f) definiert „Geschlechtsidentität“ als „das innerste und individuelle Selbstverständnis einer Person als männlich, weiblich oder eine Mischung aus beidem oder keinem von beiden; das kann dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen oder nicht“. Dies ist eine entscheidende Klausel des Gesetzes, die es trans Personen ermöglicht, sich in ihren Ausweispapieren als trans Mann der trans Frau auszuweisen, anstatt als Mann im Falle von trans Frauen oder als Frau im Falle von trans Männern.

Der andere für nichtig erklärte Unterabsatz, 2(n)(iii), definierte eine trans Person als „einen Transgendermann, eine Transgenderfrau, eine Khawaja Sira oder eine Person, deren Geschlechtsidentität und/oder Geschlechtsausdruck von den sozialen Normen und kulturellen Erwartungen abweicht, die auf dem Geschlecht beruhen, das ihr zum Zeitpunkt ihrer Geburt zugewiesen wurde“. Dies bedeutet, dass die Definition einer trans Person nun auf den Unterabschnitt 2(n)(i) (der sie als „Intersex (Khunsa) mit einer Mischung aus männlichen und weiblichen Genitalmerkmalen oder angeborener Uneindeutigkeit“ definiert) und 2(n)(ii) (der sie als „Eunuch, dem bei der Geburt ein männliches Geschlecht zugewiesen wurde, der sich aber einer Genitalbeschneidung oder Kastration unterzogen hat“ definiert) beschränkt wurde. Dies bedeutet, dass Menschen, die keine kastrierten oder uneindeutigen Genitalien aufweisen, sich nicht mehr als trans einstufen können. Untersuchungen haben gezeigt, wie schwerwiegend die Auswirkungen sein können, wenn Menschen in ein Geschlecht gezwungen werden, mit dem sie sich nicht identifizieren, wobei Selbstmord die extremste Reaktion auf ein unerfülltes und unehrliches Leben darstellt.

Wer steht hinter dem Angriff?

Diese Umkehrung der minimalen Errungenschaften des bestehenden Gesetzes erfolgt auf Betreiben einer seltsamen Kombination aus Klerus und liberaler Intelligenz. Auf der einen Seite steht die klerikale Rechte, vertreten durch den bekannten frauenfeindlichen Heuchler Orya Maqbool Jan, Senator Mushtaq Ahmad Khan von der reaktionären rechtsgerichteten Organisation Jamaat-e-Islami (Dsachama’at-e-Islami) (Islamische Gemeinschaft; im Folgenden als JI bezeichnet) und einige andere von der ebenso, wenn nicht noch reaktionäreren Organisation Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan-Fazl (Vereinigung Islamischer Gelehrter; im Folgenden als JUI-F bezeichnet). Natürlich musste auch die Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf auf den Zug der Reaktion aufspringen.

Ihre Führer:innen schlossen sich dieser bösartigen, hasserfüllten Kampagne in den gesetzgebenden Versammlungen an, was angesichts des frauenfeindlichen Hasses, den der Parteivorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan in seinem Herzen trägt, nur natürlich ist. Auf der anderen Seite stehen die Bigotten der oberen und mittleren Intelligenz, vertreten durch die verachtenswerte Luxusmode-Besitzerin Maria B. Es hätte ihr gut angestanden, weiterhin ihre Selfie-Videos mit der Kamera an der Decke zu drehen, in denen es um Themen geht, die Frauen ihrer Klasse betreffen, z. B. wie man Hausangestellte quält. Leider weitete sie ihren Wirkungskreis aus und tat ihr Bestes, um eine pakistanische Möchtegernkopie von J.K. Rowling, der Autorin der Harry Potter-Romane, abzugeben, mit einer Prise modernen liberalen islamischen Jargons, um es einer pakistanischen Mittelschicht-Unterstützer:innenbasis schmackhaft zu machen.

Gemeinsam ist diesen beiden Seiten der reaktionären Medaille die Befürchtung, dass das bestehende Gesetz es Homosexuellen erlauben würde, die Person zu heiraten, die sie lieben, und dass trans Personen geschlechtsangleichende Behandlungen erhalten könnten und Männer zu Frauen und Frauen zu Männern würden. Es ist bizarr, sich vorzustellen, dass in einem so sexistischen Land wie Pakistan ein Mann seine Rechte als Mann im Erbrecht aufgeben und nur vortäuschen wolle, eine trans Frau werden will. Was würde er davon haben? Trotz aller Antidiskriminierungsgesetze sind die meisten trans Frauen in Pakistan auf drei Tätigkeiten zum Erwerb ihres Lebensunterhaltes beschränkt: Tanzen, Betteln und Sexarbeit. Alle drei sind rechtlich ungeschützt und bieten Männern die Möglichkeit, diese trans Frauen zu belästigen, zu vergewaltigen und, wann immer es ihnen passt, auch zu töten, wenn sie ihr Ego nur ein wenig verletzen. Aber trans Frauen sind gezwungen, diese Berufe zu wählen, um sich zu ernähren und am Leben zu bleiben. Die wirkliche Angst rührt von der Aussicht her, dass eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde, ihr Geschlecht in das von „X“ männlich ändern könnte.

Konservative Parteien wie die JI und die JUI-F bestehen aus Elementen, die historisch gesehen protofaschistische Tendenzen aufweisen. Sie sind auch für ihre extrem patriarchalischen und regressiven Ansichten über Frauen bekannt. Die JI spielte eine zentrale Rolle bei der Einführung drakonischer Gesetze durch den Militärdiktator Zia-ul-Haq. Die JUI-F, deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman noch vor kurzem ein Held der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans war, als die Regierungskoalition des Pakistan Democracy Movement in Opposition zu Imran Khan ins Leben gerufen wurde, ist dafür bekannt, dass sie die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe beschmiert.

Bürgerliche Familie

Die Verfechter:innen der Angriffe auf trans Rechte sind allesamt Vertreter:innen der bürgerlichen Ideologie. Die wahren Ängste liegen in der Bedrohung der bürgerlichen Familie und der dominanten Stellung des Mannes im bürgerlichen Familiensystem, die die bloße Existenz von trans Menschen darstellt. Die Argumente unterscheiden sich nicht von denen der republikanischen und evangelikalen Konservativen in den USA oder der AfD in Deutschland. Im Mittelpunkt stehen Fragen im Zusammenhang mit Kindern, sexuellem Ausdruck, Bedrohungen für Religion und Familienform und vor allem die Vererbung von Eigentum. Wenn eine Person, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, später in der Kategorie X männlich wird, hat sie Anspruch auf den gleichen Anteil am Erbe wie ihre Brüder. Gemäß der Scharia erhalten Frauen nur die Hälfte des Erbteils ihrer Brüder. Dies stellt eine direkte Bedrohung für das angeblich „natürliche“ Recht „natürlicher“ Männer auf einen doppelten Anteil am Erbe dar. Wie Mushtaq Ahmad Khan letztes Jahr sagte, stellt die Möglichkeit, die eigene Geschlechtsidentität zu wählen, eine „Gefahr für das Familien- und Erbschaftssystem“ dar.

Die Familienform im kapitalistischen Patriarchat ist die obligatorische Norm für die gesellschaftliche Existenz und gewährleistet zwei Hauptziele: erstens, dass sichergestellt wird, dass das Privateigentum in der Familie verbleibt, und zweitens, dass der Staat von den Kosten der Reproduktionsarbeit, wie Kinderbetreuung, Kochen, Waschen, Putzen, entlastet werden kann, die in die Grenzen des Familienhauses verlagert werden können, wo all diese Arbeit kostenlos, vor allem von Frauen, geleistet wird. Die Familienform wird als die natürliche und neutrale Form der sozialen Existenz dargestellt, als ob es nie eine Abweichung von ihr gegeben hätte. In Wirklichkeit ist die heutige Familienform selbst ein historisches Produkt. Diese natürliche Erscheinung der bürgerlichen Familienform wird durch die Institutionen der Religion, der Schule, des Arbeitsplatzes, der Medien usw. aufrechterhalten.

Die geschlechtsspezifischen Rollen, die die kapitalistische Familienform uns als Männern und Frauen auferlegt hat, ergeben sich aus den Bedürfnissen des Kapitals. Diese Rollen sind in Wirklichkeit nur für die herrschenden und mittleren Klassen repräsentativ, in denen es sich die Frau leisten kann, sich nur um das Haus zu kümmern. Für die große Mehrheit der arbeitenden Massen tragen Frauen die Doppelbelastung, sowohl außerhalb des Hauses zu arbeiten als auch die Reproduktionsarbeit kostenlos im Haus zu erledigen. Selbst wenn trans Personen ein anderes binäres Geschlecht annehmen, um sich zu identifizieren, und alle damit verbundenen geschlechtsspezifischen Rollen erfüllen, stören sie den Mythos der Natürlichkeit dieser Rollen. Somit verkörpert ihre bloße Existenz eine Bedrohung für das natürliche Erscheinungsbild der bürgerlichen Familienform.

Die gegenwärtigen Ängste in Pakistan in Bezug auf die Übertragung von Privateigentum und die Bedrohung, die das Gesetz anscheinend für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes ineinandergreifen, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu gewährleisten. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne das Familiensystem einfach nicht weitergehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Trans Menschen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional manipulieren, damit sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich die Ängste vorstellen, die das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“.

Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich. Während diese meist unbegründet sind, sind die Bedrohungen für das Leben und die Sicherheit von trans Menschen gefährlich real. Im Jahr 2021 wurden Berichten zufolge mindestens 20 trans Personen in Pakistan getötet. Das pakistanische Religionsgericht hat am 19. Mai 2023 trans Personen das Recht abgesprochen, so zu sein, wie sie sind. Dies ist ein fundamentaler Angriff auf ihr Selbstverständnis. Das Blut der jungen Menschen, die in den kommenden Tagen Selbstmord begehen, wird an den Händen von Mushtaq Ahmad Khan kleben und ebenso an den luxuriösen Dupatta-Schals und Kronleuchtern der JK Rowling-Imitation, die in Pakistan ihren Tee schlürft.

Kampf für die Rechte von trans Personen

Als Sozialist:innen und Arbeiter:innen sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass dies nicht nur einen Angriff auf die Rechte von trans Menschen ausmacht. Es ist in der Tat ein Angriff auf uns alle. Der heutige Tag ist ein schwarzer Tag und eine große Niederlage für die arbeitenden Massen und unterdrückten Menschen in Pakistan. Das Gericht, das benutzt wurde, um diesen Angriff auf unsere demokratischen Rechte zu inszenieren, trägt das Erbe des Militärdiktators Zia-ul-Haq. Heute haben sie es auf unsere transsexuellen Brüder und Schwestern abgesehen. Morgen werden sie es auf alle Frauen abgesehen haben und uns den Hidschab-Schleier aufzwingen, wie im benachbarten Iran im Namen des Islam. Warum sollte man überhaupt in den Iran gehen? Noch vor einigen Jahrzehnten hat Zia-ul-Haq den Hidschab für Staatsbedienstete vorgeschrieben.

Deshalb appelliert die Liga für die Fünfte Internationale an alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Gewerkschaften, Feminist:innen und fortschrittlichen Menschen in Pakistan, gegen diese dogmatischen Kräfte zu kämpfen. Wir werden es selbst tun müssen, denn die Bourgeoisie wird es eindeutig nicht tun. Mushtaq Khan versuchte 2021, seine hässliche Agenda voranzutreiben, hatte aber keinen Erfolg, da sich Shireen Mazari damals gegen ihn stellte. Die derzeitige Gegenreaktion gegen trans Personen hat es dem herrschenden Regime ermöglicht, mit Hilfe der Medien, der Intelligenz und der Geistlichen Angst in den Köpfen der Massen zu schüren, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den Angriffen auf demokratische Rechte, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Die Jamaat-e-Islami-Partei hat diese Rolle lange gespielt, um das schwächelnde kapitalistische System zu verteidigen. Da die JI nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen, ist dies in der heutigen Zeit ihre einzige Aufgabe, um sich ihren Anteil am Kuchen zu sichern. Auch wenn ihre soziale Basis überschaubar ist, so kann doch nicht übersehen werden, dass sie sich hauptsächlich aus der Schicht der Kleinunternehmer:innen und Händler:innen, d. h. dem Kleinbürgertum, zusammensetzt. Diese Schichten können mobilisiert werden und wurden in der Vergangenheit auch mobilisiert, um die Arbeiter:innen und ihre Organisationen physisch zu bekämpfen und zu zerschlagen. Deshalb dürfen wir ihnen keinen Erfolg gönnen und müssen uns mit aller Kraft gegen diese patriarchalischen Angriffe der reaktionären Kräfte wehren. Unsere Brüder und Schwestern im Kampf im benachbarten Iran sollten uns dabei ein Vorbild liefern!

  • Fort mit der Aufhebung der Selbstidentifizierungsklauseln im Gesetz zum Schutz von trans Personen jetzt! Freiheit für alle, sich als ihr wahres Ich zu identifizieren!

  • Gleicher Mindestlohn für alle Männer, Frauen und trans Personen!

  • Staatlich finanzierte Schutzräume für trans Menschen, die von trans Personen aus der Arbeiter:innenklasse selbst verwaltet werden!

  • Nein zu jeglicher Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Orientierung, Religion, Rasse!

  • Recht auf gewerkschaftliche Organisierung für alle Berufe!

Wir rufen auch Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen auf, Transphobie und andere derartige Missstände innerhalb unserer Bewegung zu bekämpfen. Das bedeutet, dass wir Gewerkschaften aufbauen müssen, in denen auch trans Personen vertreten sind, und dass wir auf ihre spezifischen Probleme eingehen müssen, indem wir ihnen und Frauen das Recht einräumen, sich ohne männliche Anwesenheit zu treffen (Caucus), um ihre Probleme offen und ohne Angst oder Behinderung zu diskutieren und die Entscheidungen und Vorschläge dann in die Gewerkschaften einzubringen. Wir müssen unsere Gewerkschaften stärken und demokratisieren, um unsere Forderungen durch Arbeitsniederlegungen wirksam durchzusetzen. Schließlich müssen wir eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufbauen, die nicht nur für unsere grundlegenden demokratischen Forderungen kämpft, sondern auch für die Macht, diese Forderungen durchzusetzen.




Kampf der Homo-, Inter- und Transphobie weltweit!

Arbeiter:innenmacht-Rede bei der Kundgebung #idahobit in Berlin am 17. Mai, Infomail 1223, 18. Mai 2023

Der Kampf für die Rechte von Lesben und Schwulen, von bi, inter und trans Personen stellt weltweit für uns alle eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Unterdrückung dar.

Noch heute werden in 69 Staaten – also rund einem Drittel aller Länder der Erde – LGBTIA+-Personen allein wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität strafrechtlich verfolgt. In 11 Ländern droht Homosexuellen bis heute die Todesstrafe.

Doch auch in den meisten Ländern, wo LGBTIA+-Personen nicht direkt kriminalisiert werden, werden sie rechtlich benachteiligt, wenn es um die Anerkennung von Partner:innenschaften oder ihrer Geschlechtsidentität geht. Gerade trans Personen werden auch hier systematisch im Alltag diskriminiert, leiden verstärkt unter sozialer Ausgrenzung und ihren Folgen, haben schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt, geringere Einkommen.

In den letzten Jahren wurden zwar einige rechtliche Fortschritte und mehr Sichtbarkeit erkämpft, aber wir wissen: Von echter Gleichstellung sind wir noch weit entfernt. Mehr noch: In vielen Ländern – darunter in den auch ach so fortschrittlichen Demokratien wie den USA – findet ein Rollback auf etlichen Ebenen statt. Auch wenn es in den USA rechtliche Verbesserungen gab, so wurden vor allem in zahlreichen von den Republikaner:innen dominierten Staaten allein seit Beginn 2023 467 Gesetzesentwürfe eingereicht, die sich gegen LGBTIA+-Personen richten.

Michael Knowles, ein Sprecher der US-amerikanischen Konservativen, formuliert das Ziel mit einer reaktionären Offenheit, die deutlich macht worum es geht. Zitat: „Trans muss aus dem öffentlichen Leben vollständig ausradiert werden.“

Viele reaktionäre Gesetze richten sich gegen die Anerkennung der Geschlechtsidentität von Jugendlichen. Es geht dabei darum, ihnen jegliche Unterstützung zu versagen, was auch heißt, Eltern zu kriminalisieren oder das Sorgerecht zu entziehen, die ihren Kindern medizinische oder psychotherapeutische Unterstützung ermöglichen wollen.

Dafür nehmen Rechte, die sich ansonsten gern als „Lebensschützer:innen“ inszenieren, billigend Leiden und Ausgrenzung in Kauf.

Ein Blick in die USA – aber im Grund in jedes Land – verdeutlicht auch, wie eng die Unterdrückung von trans Personen mit der sozialen Frage verbunden ist. In den Vereinigten Staaten leben 29 % aller trans Personen in Armut gegenüber 14 % im Durchschnitt der Bevölkerung. Nach Untersuchungen waren rund 20 % aller jugendlichen LGBTIA+- Personen mindestens obdachlos (gegenüber 3 % aller Cisjugendlichen).

Doch was dagegen tun?

Wir müssen für unseren Kampf gleich mehrere Schlüsse ziehen:

Erstens findet die Unterdrückung von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität nicht zufällig statt. Sie bleibt bis heute ein wichtiger Bestandteil aller Unterdrückung im Kapitalismus.

Zweitens bildet der Angriff auf LGBTIA+-Personen ein wesentliches Merkmal des Programms reaktionärer Regime und des globalen Aufstiegs von rechten, populistischen bis hin zu faschistischen Organisationen, oft in Verbindung mit reaktionären religiös-fundamentalistischen Kräften jeder Art.

Drittens hat die Vergangenheit gezeigt, dass wir uns auf bürgerliche Regierungen und Kräfte nicht verlassen können. Ihre Reformen sind allenfalls halbherzig. Vor allem aber bieten sie keinen Schutz gegen das nächste rechte Rollback und ändern nichts am grundlegenden Problem.

Viertens sind Menschen aus der Arbeiter:innenklasse, rassistisch Unterdrückte und Jugendliche besonders betroffen. Armut und Ausbeutung treffen sie härter und somit ist der Kampf gegen Unterdrückung auch eine soziale Frage, gerade wenn es um Löhne, Einkommen, Wohnen und medizinische Versorgung geht.

Lasst uns also nicht dabei stehenbleiben, uns an den Angriffen der Rechten abzuarbeiten! Lasst uns in die Offensive gehen und eine Bewegung aufbauen, die den Kampf gegen die rechte Gewalt und das Rollback mit dem für Verbesserungen von LGBTIA+-Personen weltweit verbindet! Ob nun in den USA oder auch anderen Ländern wie Pakistan oder hier in Deutschland, wo die CDU auf die Hetze gegen queere Kultur aufspringt.

Statt nur darauf zu warten, ob mehr Bundesstaaten wie Florida sexuelle Selbstbestimmung aus den Schulen verbannen, brauchen wir die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze an Schulen, Arbeitsplätzen und im öffentlichen Leben!

Statt stumm zusehen zu müssen, wie die Programme, die es gibt, gestrichen werden, lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass Geschlechtsangleichungen kostenlos und ohne bürokratischen Aufwand stattfinden können. Statt Konzepten wie „Ehe für alle“ brauchen wir die rechtliche Gleichstellung aller Lebensgemeinschaften.

Statt die Hetze der Rechten ertragen zu müssen, immer mehr Gewalt und Polizeikontrollen zu erleiden, brauchen wir demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees zusammen mit der Arbeiter:innenklasse!

Um erfolgreich zu sein, müssen wir den Kampf dorthin tragen, wo wir lernen, studieren, arbeiten – an die Schulen, Unis und in die Betriebe. Wir müssen dafür kämpfen, dass Schüler:innenvertretungen, Betriebsräte und Gewerkschaften den Kampf aufnehmen – gegen Diskriminierung, Homo-, Inter- und Transphobie, aber auch reaktionäre Einstellungen unter Jugendlichen und Arbeiter:innen.

Das machen wir am besten, indem wir unsere Forderungen mit denen von anderen verbinden und gemeinsam für höhere Mindestlöhne oder kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem für alle wie in den USA eintreten und gleichzeitig gegen die Wurzel des Problems kämpfen: den Kapitalismus.

Lasst uns also den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft frei von jeder Ausbeutung und Unterdrückung gemeinsam aufnehmen! Für eine Welt, in der das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, über die eigene sexuelle Orientierung, über die eigene Geschlechtsidentität zur Selbstverständlichkeit wird!




Wie queere Identitäten immer noch durch den Staat unterdrückt werden

REVOLUTION, zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1223, 16. Mai 2023

Wirft man einen Blick in die meisten Kindergärten, so stellt man schnell fest, dass die Existenzen von trans Personen, Geschlechtern jenseits des binären Systems und nicht-heterosexuelle Beziehungen keinen Platz finden. Seien es Spielzeug, Bücher oder Gruppenaktivitäten: Diversität sucht man darin meist vergeblich.

Auch in der Grundschule im Sachkundeunterricht wird meist gelehrt, dass es lediglich Frau und Mann gebe und im Gymnasium wird im Biologieunterricht alles auf die Spitze getrieben. Oft wird die Klasse zur „Aufklärung“ in zwei geteilt – Menschen die sich keinem der binären Geschlechter zuordnen, werden außer Acht gelassen und auch der Biologieunterricht an sich ist zu vielen Teilen immer noch cis- und heteronormativ.

Und das nicht ohne Grund!

Woher kommt Queerunterdrückung?

Besonders im Kindes- und Jugendalter soll das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie gefestigt werden, denn Kapitalist:nnen profitieren finanziell von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit, die Frauen als natürlich zugeschrieben wird. Durch die Auslagerung der Reproduktion der Arbeitskraft ins Private kann diese überhaupt erst tagtäglich für die Ausbeutung durch die Kapitalist:innen zur Verfügung stehen.

Innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie sollen Frauen im Stillen Arbeitskraft reproduzieren – unbezahlt und in den eigenen vier Wänden. Dazu zählen alle Arbeiten, die nötig sind, damit Arbeiter:innen am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen können. Beziehungsmodelle, welche weder monogam noch heterosexuell sind und Identitäten jenseits des cis-binären Spektrums stellen das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie in Frage, da sie das Konzept „Vater, Mutter, Kind“ unterlaufen und somit nicht mehr klar ist, wer welche Rolle in der Familie einnimmt.

Es ist somit auch kein Zufall, dass der bürgerliche Staat nicht nur im Bildungs-, sondern auch im Gesundheitssektor und am Arbeitsplatz queere Personen benachteiligt und unterdrückt.

Geschlechtsangleichende Operationen werden immer noch nicht vollständig finanziert und sind nicht ohne bürokratischen Aufwand möglich, für Jugendliche nicht einmal ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten!

Queerfeindliche Gewalt

Immer wieder führt diese durch den bürgerlichen Staat forcierte Unterdrückung zu queerfeindlichen Übergriffen und Gewalttaten. Und wenn dies nicht bereits durch die Organe des bürgerlichen Staates selbst geschieht, sondern durch Faschist:innen und andere queerfeindliche reaktionäre Gruppen, wird dabei meist weggesehen, denn diese Taten werden in den meisten Teilen Deutschlands nicht einmal dokumentiert. Berlin ist das einzige Bundesland, das ein Monitoring zu queerfeindlicher Gewalt erstellt. Im Jahr 2021 wurde mit 456 gemeldeten Fällen – davon 23 % teils schwerer körperlicher Gewalt – der höchste Wert seit Aufnahme der themenspezifischen Erfassung dokumentiert. Das sind knapp 100 Fälle mehr als im Vorjahr und dabei muss bedacht werden, dass bei weitem nicht alle gemeldet werden.

Im Rahmen einer Umfrage der EU im Jahr 2020, an der ca. 2.750 trans Personen aus Deutschland teilgenommen haben, gaben 66 % der Befragten an, in mehr als acht Lebensbereichen in den letzten 12 Monaten aufgrund ihres Trans-Seins diskriminiert worden zu sein. 90 % von ihnen haben den letzten Vorfall nicht gemeldet.

Aber gibt es nicht auch Fortschritte?

Es zeigt sich also, dass queere Personen in allen Lebensbereichen durch den bürgerlichen Staat unterdrückt werden. Doch dieser ist besonders in den letzten Jahren immer mehr bemüht, Illusionen zu schaffen, queere Befreiung sei innerhalb des Kapitalismus zu lösen.

So bestehen die gleichgeschlechtliche zivile Ehe und die mögliche Eintragung von „inter“ und „divers“ im Geburtenregister seit 2017 und jüngst wurde durch die Ampelregierung, die sich Progressivität auf die Fahne schreibt, das reaktionäre „Transsexuellengesetz“ (TSG) abgeschafft, welches durch ein neues Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden soll. Dieses soll trans, inter und nicht-binären Personen künftig die Möglichkeit geben, ihren Geschlechtseintrag sowie ihren Vornamen im Personenstandsregister durch eine Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen.

Dies alles sind zwar durchaus positive Entwicklungen, wir müssen uns dabei aber klarmachen, dass diese Fortschritte immer mit Vorsicht zu genießen sind. Der bürgerliche Staat möchte mit solchen Maßnahmen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen und so etwas wie den CSD (Christopher Street Day) zu einer mehr oder weniger staatstragenden Party verkommen lassen.

Für uns als Revolutionär:innen ist klar, dass wir uns nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen dürfen, wenn wir die Unterdrückung von queeren Personen ernsthaft bekämpfen wollen. Denn im Kapitalismus steht er im Dienste der herrschenden Klasse, deren Profit auf die Unterdrückung von Frauen, queeren und migrantisierten Menschen angewiesen ist. Deshalb muss dieser Kampf zwangsläufig auch einer gegen den Kapitalismus sein. Hierfür schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Inklusive Bildung und Mitspracherecht der Schüler:innen über Inhalte der Lehrpläne!
  • Für das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!
  • Antisexistische Komitees an Schulen, Unis und in Betrieben sowie Selbstverteidigungskomitees in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung!
  • Intersex vollständig legalisieren! Medizinische, kosmetische Eingriffe z. B. zur Geschlechtsangleichung nur mit Zustimmung der betroffenen Person!
  • Kampf gegen die transphobe Hetze der Rechten und selbsternannten Radikalfeminist:innen!
  • Gegen die Pflicht, das eigene Geschlecht in offiziellen Dokumenten anzugeben! Für den Ausbau von Unisex-Orten im öffentlichen Raum wie Toiletten oder Umkleiden!



USA: Republikaner stoppen! Für queere Selbstbestimmung kämpfen!

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 273, Mai 2023

Schon im letzten Wahlkampf nahm die Frage nach trans Rechten eine verstärkte Rolle ein. Während Biden klar Stellung bezog und auf die Selbstbestimmung pochte, griffen die Republikaner:innen ihn dafür an. Eine der ersten Amtshandlungen des US-Präsidenten Biden war die Unterzeichnung der „Prävention und Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung“ im Jahr 2021.

Der Gegenwind der Konservativen ist seitdem stärker geworden. Denn während man seit Mitte April diesen Jahres Reisepässe mit der Möglichkeit, statt männlich/weiblich ein „X“ anzugeben, beantragen kann , zählt die Amerikanische Bürgerrechtsorganisation ACLU mittlerweile 467 Gesetzesentwürfe, die sich gegen die Rechte von LGBTIA+ richten. Somit sind in den ersten vier Monaten 2023 mehr Anti-LGBTIA+ Gesetzesentwürfe gestellt worden als in den letzten 5 Jahren.

Was genau passiert?

Die Gesetzesentwürfe beinhalten massive Einschränkungen und bestätigen die Worte des rechten Kommentators Michael Knowles, der auf der Bühne der Conservative Political Action Conference sagte „Trans muss aus dem öffentlichen Leben vollständig ausradiert werden.“ Da ist es nur ein kleiner Trost, dass von den über 400 Entwürfen 85 abgelehnt wurden. Denn auf der anderen Seite wurden 35 angenommen. Die meisten davon in Arkansas (7), Utah (6) und North Dakota (4). Der Großteil bezieht sich thematisch auf medizinische Behandlungen, aber auch weitere Bereiche werden versucht einzuschränken.

In Texas, Nebraska und über einem Dutzend weiterer Staaten soll jegliche medizinische Unterstützung für Kinder und Jugendliche verboten werden, die ihre Geschlechtsidentität infrage stellen. Eltern droht teils der Entzug des Sorgerechts, wenn sie die Behandlung ihrer Kinder nach gängigen psychotherapeutischen und medizinischen Standards ermöglichen, obwohl dies das Suizidrisiko von trans Jugendlichen um bis zu 70% senkt. Staaten wie Oklahoma wollen sogar noch weiter gehen wie das Neue Deutschland in dem Artikel „Trans-Rechte in den USA: Strikt normiert“ berichtet.

Hier ist ein Gesetz geplant, das einem Verbot der Behandlung aller Personen mit trans Identität, also selbst von Erwachsenen, nach anerkannten Standards nachkommen könnte. Sämtlichen öffentlichen Einrichtungen, die Gelder der Krankenkasse Medicaid für Menschen mit geringem Einkommen oder andere öffentliche Subventionen erhalten, soll dies verboten werden, von Apotheken bis zu Krankenhäusern. Damit würde es für trans Personen praktisch unmöglich, Zugang zu medizinischer Versorgung zu bekommen. Doch die Entwürfe bleiben nicht nur bei trans Personen stehen.

Es scheint fast wie eine Generalabrechnung mit allem, was auch nur wagt das binäre Geschlechtersystem infrage zu stellen. In 9 Bundesstaaten wie Arkansas, Kansas, Oklahoma oder Tennessee sollen Drag Performances und generell das Tragen »nicht geschlechtskonformer Kleidung« außerhalb von explizit an Erwachsene gerichtete Etablissements verboten werden. Das hat nicht nur zur Folge, dass Drag auf Pride-Paraden unterbunden wird, sondern dass Polizeirepression und Gewalt gegen trans Menschen und queere Community, die auf der Straße als solche erkannt werden, juristisch legitimiert werden. Darüber hinaus öffnet es auch die Debatte, was überhaupt „geschlechtskonforme“ Kleidung an dieser Stelle sein soll.

Situation von trans Menschen

Dabei ist die Situation von trans Menschen in den USA schon jetzt mehr als problematisch. Dies zeigte die „US Transgender Survey“ (USTS), die 2015 vom National Center for Transgender Equality (NCTE) durchgeführt wurde. Bei der Umfrage handelte sich um eine der umfangreichsten und umfassendsten  in den USA, bei der sich über 27.000 trans Personen beteiligten. Die Studie zeigt unter anderem auf, dass 2015 29% der trans Personen in Armut lebten, also wesentlich mehr verglichen mit den 14% der allgemeinen US-Bevölkerung. Ebenso ging aus der Umfrage hervor, dass 30% der befragten trans Personen in ihrem Leben mindestens einmal obdachlos waren, verglichen mit 6% der allgemeinen US-Bevölkerung. Ebenso besitzen 30% der Befragten ein Einkommen von weniger als $10,000, verglichen mit 12% der US-Bevölkerung.

Kurzum: Trans Personen leben überdurchschnittlich oft in Armut und erleben verstärkt Diskriminierungsowie Gewalt. So ist es kaum verwunderlich, dass ebenfalls die mentale Gesundheit wesentlich schlechter ist als beim Durchschnitt der US-Bevölkerung, denn 40% der befragten trans Personen gaben an, im Laufe ihres Lebens einen Suizidversuch unternommen zu haben, verglichen mit 4,6% der allgemeinen US-Bevölkerung. Besonders stark betroffen sind Jugendliche und People of Color. Letztere verdienen meist noch weniger und haben deswegen so gut wie keine Möglichkeit, in einen Bundesstaat zu ziehen der ihnen mehr Spielraum gibt. Jugendliche erleben durch ihre ökonomische und rechtliche Abhängigkeit von der Familie oftmals noch fundamentalere Einschnitte, was sich unter anderem auch darin ausdrückt, dass 20% der Befragten im Laufe ihres Lebens obdachlos gewesen sind – der Durchschnitt liegt bei cis-Jugendlichen bei 3%.

Es gilt dabei nicht zu vergessen, dass diese Daten vor der Pandemie erfasst wurden. In der Zwischenzeit gab es wenig gezielte Unterstützung, um diese Situation zu verbessern. Zu den wenigen Initiativen zählt der Affordable Care Act (ACA), der 2016 umgesetzt wurde und Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität im Gesundheitswesen verbietet. Dies bedeutet konkret, dass Versicherer medizinische Behandlungen für trans Personen abdecken müssen, ohne sie aufgrund ihrer Geschlechtsidentität abzulehnen oder höhere Prämien zu verlangen. Auch relevant ist die in der Einleitung erwähnte Executive Order von Präsident Biden. Diese formalisiert die rechtliche Gleichstellung auf Basis des Civil Right Acts von 1964 – aber nur in Bundesbehörden, nicht in der Privatwirtschaft und sollte darüber hinaus Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität verbieten. Das steht im Kontrast zur Realität der Gesetzesinitiativen seitens der Konservativen und den Erkenntnissen einer neuen Studie des Williams Institute an der UCLA School of Law aus dem Jahr 2022. Hieraus geht hervor, dass trans Personen mehr als viermal häufiger Opfer von Gewalttaten wie Vergewaltigung, sexueller Nötigung und einfacher bzw. schwerer Körperverletzung sind als cis-Personen.

Warum passiert das?

Ja, nicht alle Gesetze kommen durch. Doch es ist falsch das Ganze nur als Kampagne der Konservativen abzutun. Die Gesetzesverschärfungen gehen einher mit den Einschränkungen der Abtreibungsrechte 2022, sowie des Rechtsrucks in den USA der letzten Jahre. Auch wenn die  Republikaner:innen das Thema nutzen, um zu polarisieren und beispielsweise ihre evangelikalen Wähler:innen nicht zu verlieren, hat diese Kampagne reale Konsequenzen.  Denn auch wenn die Begründungen mehr als schlecht scheinen, so erzeugen sie vor allem Druck auf die queere Existenz an sich. LGBTIA+ Rechte – und insbesondere die Rechte von trans Personen – sind nichts, was sich Jahrzehnte lang etabliert hat*, sondern umkämpftes Feld innerhalb unserer Gesellschaft. Es scheint, dass sobald ein kleiner Platz im Rahmen der breiteren öffentlichen Wahrnehmung erkämpft wurde, wieder versucht wird ihn wegzustreichen und zwar mit aller Gewalt.

Somit ist das Ganze nicht nur die Ausgeburt des Schwachsinns christlicher Fundamentalist:innen, sondern auch Erbe Trumps populistischer Politik. Der selbsternante Anwalt „der kleinen Leute“ mit seinem Kabinett von Milliardär:innen und Manager:innen hat es während seiner Amtszeit geschafft, die Polarisierung in den USA voranzutreiben. Das bedeutet, dass weite Teile des Kleinbürger:innentums spürbar nach rechts gerückt sind und ihr Irrationalismus stärkt letztendlich den Flügel der Republikaner. Diese stecken massiv Geld in die Kampagne. So hat das American Principles Project vor den vergangenen Kongresswahlen fast 16 Millionen Dollar für Kampagnen gegen trans Themen im Gesundheits- und Bildungsbereich ausgegeben. Gut investiertes Geld, denn auf der einen Seite wird das tradierte Familienbild gewahrt, auf der anderen Seite sind die Verbote und Einschränkungen gegen trans Personen günstiger als Versprechungen, die die soziale Lage der Wähler:innenschaft verbessern würden.

Die Wurzeln der Unterdrückung

Doch bei der Debatte sollte man sich nicht täuschen lassen: Die Frage der LGBTIA+ Diskriminierung ist nicht nur eine Entscheidung zwischen Republikaner:innen und Demokrat:innen, sondern ist fest im Kapitalismus verwurzelt. Somit löst sich das Problem auch nicht auf, wenn man alleinig gegen die Angriffe der Republikaner:innen kämpft. Doch wie kann ein effektiver Kampf aussehen? Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz den Ursprung der LGBTIA+ Unterdrückung skizzieren und dies führt uns wie nicht anders zu erwarten zur Familie. Das Bild der Familie, die glücklich in ihrem Eigenheim Zeit verbringt und wo der Mann arbeiten geht, die Frau tagtäglich und unermüdlich die Hausarbeit verrichtet, sowie sich um die Kinder kümmert, wurde jahrzehntelang propagiert und als Ideal verbreitet. Es ist aber nicht nur ein Ideal, weil es schön in Werbungen aussieht und sich auf Milchpackungen so gut macht, sondern weil die bürgerliche Familie für den Kapitalismus einen zentralen Standpfeiler darstellt. Die historische Entwicklung dahin sparen wir an dieser Stelle aus und konzentrieren uns auf das wesentliche: Für die herrschende Klasse regelt die Familie die Erbschaftsverhältnisse und spart ebenso extrem viele Kosten. Wie? Dadurch das Kindererziehung, kochen, Waschen, häusliche Pflege und andere Tätigkeiten nicht gesamtgesellschaftlich organisiert, sondern individuell pro Haushalt erledigt werden.  Denn für die Arbeiter:innenklasse ist die Familie der Ort, in dem im Privaten unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet (oder eher stattfinden muss). Und das Ideal der Familie, was uns vermittelt wird, festigt eben genau diesen Zustand, zusätzlich zu der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Somit stellen LGBTIA+ eine Gefahr für den ideologischen Unterbau der Familie da, denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie mehrere Punkte infrage: a) Sexualität dient nur der bloßen menschlichen Reproduktion  b) die geschlechtliche Arbeitsteilung innerhalb der Familie und ihre Unveränderbarkeit und c) das Konzept der Familie im klassischen Sinne selbst. Letztenendes könnte man zu dem Schluss kommen, dass die heterosexuelle, monogame Zweierbeziehung nicht das absolute Lebensziel eines jeden Individuums auf dieser Erde sein könnte und es Alternativen dazu gibt. Dazu soll angemerkt werden, dass diese Erklärung sehr zugespitzt ist. Denn die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass auch Liberalisierung möglich ist. Dennoch ist diese nicht bedingungslos und geht letztenendes nie besonders weit, wenn man bedenkt wie stark das „Recht auf Ehe“ und selbst die meisten Gesetze zur „Ehe für Alle“ in den imperialistischen Staaten verankert ist. Das führt uns zu dem nächsten Punkt:

Reine Sichtbarkeit reicht nicht

Auch wenn die Demokraten das Thema für sich entdeckt haben, so muss es klar sein, dass ihre Verbesserungen und ihr Schutz alleine nicht ausreichen. Ja, es ist ein Schritt nach vorne, dass trans Frauen wie Rachel Levine Staatssekretärin werden können. Doch es wird nicht helfen, die Lage von trans Menschen grundlegend zu verändern. Deswegen reicht es auch nicht aus, sich nur an den Angriffen der Republikaner:innen abzuarbeiten und Sichtbarkeit sowie rechtliche Gleichstellung zu verteidigen. Wer Erfolg haben will, muss in die Offensive gehen. Statt also um die reine Existenzberechtigung zu verhandeln, braucht es eine Bewegung, die auch aktiv Verbesserungen für trans Menschen erkämpft. Dabei ist es essentiell den Schulterschluss mit den Gewerkschaften, sowie anderen sozialen Bewegungen, zu suchen und sich nicht auf Spaltungsversuche seitens Rechts einzulassen. Das heißt in der Praxis, dass Aktivist:innen sozialer Bewegungen offen Gewerkschaften auffordern sollten, sich den Protesten anzuschließen, während Gewerkschafter:innen in den Gewerkschaften nicht nur für Solidaritätsstatements, sondern auch Mobilisierungen eintreten müssen. Dies ist wichtig herauszustreichen, denn der Protest kann letztenendes nur erfolgreich werden, wenn die Arbeiter:innenklasse diese mit Streiks unterstützt. Gleichzeitig kann es nicht alleinig die Aufgabe von Aktivist:innen sozialer Bewegungen sein, zu versuchen in den Strukturen Gehör zu finden. Dies ist jedoch keine Unmöglichkeit: Denn schaut man genauer hin, sind erstaunlich viele Fragen, die die Situation von trans Menschen verbessern, nicht explizit nur trans Personen betreffend:

  • Nein zu allen Angriffen auf LGBTIA+ Rechte! Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben!

  • Gesetzliche Krankenversicherung für Alle! Kostenlose medizinische Beratung und Geschlechtsangleichung, auch für Jugendliche!

  • Schluss mit Gewalt: Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees zusammen mit der Arbeiter:innenklasse! Nein zu allen Polizeikontrollen!

  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation, sowie einen höheren Mindestlohn!

  • Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper: Für die Möglichkeit, das eigene Geschlecht in staatlichen Dokumenten anzupassen oder nicht angeben zu müssen!

  • Für den Ausbau von geschlechtsneutralen öffentlichen Sanitäranlagen, sowie flächendeckend vorhandenen Schutzhäusern für trans Menschen!

Es bietet sich an zentrale Aktionstage auszurufen, die sich auf die Gesetzesinitiativen beziehen. Im Rahmen dessen sollte an Schulen, Universitäten und Betrieben versucht werden, Vollversammlungen einzuberufen, um über die Situation und Lage von trans Rechten zu informieren. Zusätzlich sollten Aktionskomitees gebildet werden, die zu den Aktionstagen mobilisieren. Gleichzeitig müssen dabei Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden. Sowohl #blacklivesmatter, der Womens March oder die Proteste gegen die Abtreibungen haben gezeigt, dass eine Bewegung alleine zwar das Bewusstsein Vieler erreichen kann – aber auch immer wieder verebbt. Auf der anderen Seite zeigte der Zuspruch zu Bernie Sanders oder der DSA auch, dass es genügend Potenzial und Zulauf gäbe, eine Partei im Interesse der Arbeiter:innenklasse aufzubauen.

Denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass man sich weder den Demokrat:innen unterordnen sollte, noch Hoffnungen in ihre Konsequenz zu setzen. Die Aktivist:innen in den USA stehen also vor mehreren Aufgaben gleichzeitig: zum einen eine Kampagne gegen die Angriffe auf die trans Rechte zu organisieren, anderseits dabei nicht stehen zu bleiben und den Kampf weiter zu tragen durch den Aufbau einer Partei, die es sich selbst zur Aufgabe setzt nicht nur für Verbesserungen im Hier und Jetzt zu kämpfen, sondern diese mit dem Kampf der Zerschlagung des kapitalistischen Systems zu verbinden. Dabei muss klar sein: eine solche Partei muss aus den Kämpfen der sozialen Bewegung und der Arbeiter:innenklasse entstehen und die Verbindung dieser beiden aktiv suchen.

Endnote

* Wie beispielsweise Frauenwahlrechte. Jedoch sollte man auch hier vorsichtig sein, diese als festgeschriebene Gesetze zu betrachten, die nicht rückgängig gemacht werden können. Nur wäre der Widerstand wahrscheinlich größer.




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für Transpersonen rückgängig zu machen

Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf Transpersonen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von Transpersonen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt Transpersonen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von Transmenschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von Transpersonen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Transgendern sieht vor, dass eine Person, die sich als Transmann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine Transfrau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von Transpersonen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 Transpersonen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf die Transgender abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Transsexuellenrechte) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!