Familienrecht: Umkämpfte Schmalspurreformen

Jürgen Roth, Neue Internationale 271, Februar 2023

Schon im Koalitionspapier wurden umfassende Reformen auf dem Gebiet der Frauen-, Familien- und Queerpolitik angekündigt. Der Abschnitt des Koalitionsvertrags ist auch der mit den vergleichsweise progressivsten Absichten der Ampel. Umgesetzt wurde allerdings bisher nur die Streichung des Werbeverbotes für Abtreibungen (§ 129a) im Juni 2022.

Nun steht eine weitere Gesetzesänderung ins Haus. Beim Sorgerecht soll nach einer Trennung generell das paritätische Wechselmodell (auch Doppelresidenzmodell genannt) zum Zuge kommen. Das soll bedeuten, dass die Kinder nach einer Trennung gleich viel Zeit bei beiden Eltern verbringen. Das heißt auch: Künftig sollen Väter mit gleichem Wohnsitz das Sorgerecht ohne Einwilligung der Mutter erhalten können.

Das hört sich gut und gerecht an, ist es aber nicht. Denn das Modell abstrahiert in vielen Punkten von der Realität.

Sorge- und Erwerbsarbeit

So kann dieses dazu führen, dass Väter Rechte erhalten, ohne eine partnerschaftliche Arbeitsteilung gelebt zu haben. 90 % aller Kinder haben schon heute geteiltes Sorgerecht. Doch bei deren Betreuung klafft eine Lücke von 50 % zwischen Vätern und Müttern. Die feministischen Sozialwissenschaftlerinnen Alicia Schlender und Lisa Yashodara Haller erklären das so: „Väter beteiligen sich also weniger an der Sorgearbeit, weil es für sie gesellschaftlich schwieriger ist, Erwerbsarbeit zugunsten der Sorgearbeit zurückzuweisen.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 15.11.2022, S. 3) So weit richtig.

Dass der Zwang zur Lohnarbeit die proletarischen Männer davon abhält, sich genügend um ihre Kinder zu kümmern, ist unstrittig. Doch wirkt der nicht auch für Frauen dieser Klasse, insbesondere nach Scheidung oder Trennung?

Historisch-materialistisch betrachtet liegt die Ursache für den Care Gap im Gender Pay Gap, der selbst wiederum Resultat einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist. Doch statt diese Problematik direkt angehen, begnügen sich Haller und Schlender mit der Forderung nach staatlichen Ausgleichsleistungen.

So befürworten sie steuerliche Anreize, um weniger arbeiten zu müssen, und eine Erhöhung der verpflichtenden Elternzeit für Väter. Ihnen ist bewusst, dass die bisherige Regelung, je mehr ich verdiene, desto mehr Elterngeld bekomme ich, zu Ungerechtigkeiten führt und schlagen die Summe beider Gehälter als dessen Berechnungsgrundlage vor. Analog zum Mutterschutz soll ein Erwerbsverbot für Väter im unmittelbaren Anschluss an die Geburt gelten über die optionalen 2 Wochen hinaus, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) anstrebt. Ferner soll das Ehegattensplitting abgeschafft werden und halbe Vollzeiterwerbstätigkeit pro Elternteil bei vollem Lohnausgleich gelten. Wer das bezahlen soll, erwähnen sie nicht.

Koalitionsmodell

Das im Koalitionsvertrag bevorzugte Modell sieht diese Abfederungen im Interesse der Frauen erst gar nicht vor. Nachdem die Kinder abwechselnd bei beiden Elternteilen wohnen würden, würde für viele Mütter damit der Barunterhalt wegfallen. Dieses Wechselmodell können sich allenfalls, wie Schlender und Haller anmerken, „ökonomisch stabile Familien“ leisten. Woher soll schließlich das Geld für 2 Wohnungen plus doppelte Kinderzimmer nebst Ausstattung kommen?

Schon jetzt erhält mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden – weit überwiegend Mütter – keinen oder nur unvollständigen Unterhalt vom anderen Elternteil. Zwar springt die Unterhaltsvorschusskasse des Jugendamts ein, wo die Mutter aber unabhängig vom Einkommen des Vaters nur den Mindestsatz erhält, von dem auch noch das Kindergeld abgezogen wird.

Doch alle strittigen Fragen rund um Kindesunterhalt bilden kein Thema für die regierende Koalition. Diese beschränkt sich ausschließlich auf eine Kindergrundsicherung. In Zeiten der Aufhübschung von Hartz IV zum Bürgergeld ist Armutskosmetik eben chic.

Kindeswohl und väterliche Gewalt

Doch das Wechselmodell sieht nicht nur von der sozialen Frage und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ab. Auch die häusliche Gewalt gegen Frauen bleibt unterbelichtet und wird tendenziell ignoriert, wie der Artikel „Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell“ zeigt.

So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Familie und Partner:innenschaft sind dabei die wichtigsten Tatorte. Allein für 2021 weist die Statistik des BKA 143.604 Fälle häuslicher Gewalt auf. Die Täter sind zu 80 % Männer. Und selbst das BKA fügt hinzu, dass die Dunkelziffer weit höher liegt.

Doch vor Gerichten und bei Behörden spielt häusliche Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. So verweist die Studie „Familienrecht in Deutschland“ des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer vom April 2022 darauf, dass bei Priorisierung des Wechselmodells  selbst belegtes gewaltförmiges Verhalten der Väter ausgeklammert werde. Ähnliches Verhalten wird auch von Jugendämtern berichtet.

Diese Entscheidungen gehen auch mit der biologistischen Vorstellung einher, dass Kinder vor allem „beide Elternteile“ bräuchten, egal was sie zum Kindeswohl (und dem des anderen Elternteils) beigetragen haben. Der reaktionären Argumentationslinie zufolge würden auch Frauen, die gewalttätigen Männern im Interesse der Kinder das Sorgerecht streitig machen, die Kinder vom anderen Elternteil „entfremden“ – und so deren „natürliche“ Entwicklung beeinträchtigen.

Dafür macht sich seit Jahren auch die reaktionäre „Männerbewegung“ stark, deren Argumente u. a. auch die FDP in der Koalition aufgreift. Von der Gesetzesvorlage der Ampel ist daher auch in dieser Hinsicht wenig zu erwarten.

Elternschaft, Kapitalismus und Feminismus

Uns geht es hier keineswegs darum, den Wunsch nach Kindern, nach Elternschaft (und damit auch nach Sorgerechten für Väter) als solchen abzutun. Wir stimmen Schlender und Haller in folgender Aussage unbedingt zu: „Es geht nicht länger um eine Abgrenzung von Elternschaft, sondern darum, die Zustände zu kritisieren, unter denen Elternschaft zur Zumutung wird.“

Das Problem mit den Reformvorhaben der Regierungskoalition besteht nicht nur darin, dass sie diese Zustände nicht kritisiert, sondern selbst an deren Reproduktion mitwirkt. Reaktionäre Geschlechterrollen und Familienbilder werden nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern als natürliche Zustände betrachtet, die es allenfalls etwas zu dehnen gelte. Und selbst soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen oder zur Unterstützung ärmerer Schichten der Arbeiter:innenklasse bleiben außen vor.

Zu Recht kritisieren die beiden Feministinnen daher: „Gleichberechtigung ist im Kapitalismus nicht zu haben. Sorgearbeit ist ein zentrales Element menschlicher Existenz, aus dem auch Freiheit entsteht.“ Und sie folgern dann:

„Wenn wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben wollen, dann sollten wir Mutterschaft verallgemeinern und nicht abschaffen … Vaterschaft ist historisch allein patriarchale Herrschaft … Aus dieser philosophischen Perspektive braucht Vaterschaft heutzutage kein Mensch, aber Mutterschaft für alle ist ein hohes Gut.“

In dieser Gesellschaft aber gerade nicht, sondern oft ebenso eine Strafe wie Kindheit und Jugend! Haller und Schlender ist ihr subjektiv antikapitalistischer Wunsch zugutezuhalten. Mit der Verteidigung der Mutterschaft als „hohem Gut“ führen sie freilich ungewollt jene Naturalisierung wieder ein, die sie mit der Kritik an der Rolle von Vaterschaft angreifen.

Aufhebung der Geschlechterrollen

Beziehen wir uns unter den Begriffen Vater- und Mutterschaft allein auf das biologisch Notwendige für die Fortpflanzung, so sind sie schlecht abzuschaffen, wenn sich die Menschheit weiter reproduzieren soll.

Betrachten wir freilich die Geschlechterrollen Vater- und Mutterschaft, so sind sie nur idealisierte Vorstellungen einer angeblich natürlichen Ordnung der Geschlechter. Als Sozialist:innen wollen wir die geschlechtliche Arbeitsteilung bis auf das biologisch Unumgängliche (Gebären, Stillen, Zeugen) aufheben. Solange die Sorgearbeit mit Mutterschaft identifiziert wird, werden vom Patriarchat übernommene und überkommene soziale Geschlechterstereotype gerade nicht unterminiert, geschweige aufgehoben, sondern eher fortgeschrieben.

Darüber hinaus fassen die beiden Feministinnen die Klassenfrage ungenügend. Druckmittel und Steuerungsmechanismen versagen beim Kindesunterhalt selbst bei Trennungen von vielen Paaren, die mehr als den Durchschnitt verdienen. Schon gar kritisch wird es erst, wenn getrennte Paare wieder eine neue Familie gründen wollen. Arbeiter:innen können sich den Luxus des Wechselmodells erst recht nicht leisten. Wie für teure Schäden muss eine Art Solidarversicherung her, aber eine staatliche, keine private des Finanzmarkts.

Darum treten Kommunist:innen energisch für Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors ein, nicht nur für die Verwandlung der Hausarbeit in eine öffentliche Industrie, sondern auch der sonstigen Carearbeit in eine gesellschaftliche Dienstleistung mit Rechten und Pflichten für alle. Das bedeutet anzufangen, mit allen Hindernissen bei der Adoption von Kindern und sonstigen Menschen aufzuräumen, mit staatlichem Kindesunterhalt als neuem Sozialversicherungszweig, bezahlt aus progressiven Beiträgen bzw. Steuern von allen und mit Sozialversicherungspflicht (natürlich auch Kranken-, Renten und Arbeitslosenversicherung) für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenorganisationen. Mit solchen Forderungen würde der Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft geebnet, in der menschliche Nähe, gegenseitige Verantwortung und Zuneigung nicht allein das Werk von Blutsverwandten ausmachen.




Gewalt gegen Frauen – welchen Einfluss haben die Preissteigerungen?

Katharina Wagner, Neue Internationale 269, November 2022

Glaubt man den derzeitigen Prognosen, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir auf eine globale Rezession zusteuern. Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES) mit internationalen Wirtschaftsexpert:innen bis 2026 anhalten könnte. Sie gehen in diesem Jahr von einer globalen Inflationsrate von rund 8 % aus und von immer noch knapp 5 % im Jahr 2026.

Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. Für keine einzige Region wird eine Inflation unter 5 % prognostiziert. Vor allem in Halbkolonien und Schwellenländern zeichnen sich massive soziale Angriffen, politische Instabilität und Fluchtbewegungen ab.

Die massiven Preissteigerungen, in erster Linie für Lebensmittel und Energie, treffen die Lohnabhängigen weltweit am stärksten. So sind vor allem rohstoffarme Länder, welche auf Importe angewiesen sind, aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise besonders gebeutelt.

In der Türkei stiegen im August die Preise bereits um mehr als 80 %, aber auch dreistellige Preissteigerungen wie beispielsweise im Sudan mit rund 200 % sind nicht selten. Venezuela steht mit einer Verteuerung von 114 % an der Spitze Lateinamerikas.

Bereits jetzt wird zudem vor vermehrten Hungersnöten gewarnt, zum einen aufgrund der massiven Verteuerung, nicht zuletzt durch den derzeitigen Ukrainekrieg, aber auch durch zunehmende globale Klimakatastrophen und Probleme bei der Düngemittelproduktion, welche ebenfalls große Gasmengen benötigt.

Weitere Sorgen bereiten die zunehmende Verschuldung vieler Halbkolonien und Schwellenländer und nach wie vor anhaltende wirtschaftliche Auswirkungen der Coronapandemie. So gehen Schätzungen (UN-Woman) davon aus, dass im Zuge der derzeit herrschenden Lage über 71 Millionen Einwohner:innen aus Halbkolonien in die Armut gestürzt sind. Die Auswirkungen werden verheerender als während der Corona-Pandemie eingeschätzt.

Frauen besonders stark betroffen – wieder

Frauen sind auch diesmal, vergleichbar mit der Coronapandemie, wieder auf vielfältige Weise überdurchschnittlich von den Krisenfolgen betroffen.

Zum einen tragen Frauen häufig eine deutlich erhöhte finanzielle Belastung, da sie aufgrund traditioneller Geschlechternormen den größten Teil der Haus- und Sorgearbeit übernehmen und zudem in Krisenzeiten überproportional häufig aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Hinzu kommt eine anhaltende Lohnungleichheit sowie meist eine untergeordnete Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und ein schlechterer Zugang zu Land und anderen Ressourcen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die deutliche Vergrößerung der weltweiten Kluft zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Ernährungsunsicherheit. Häufig werden Frauen gezwungen, die eigene Nahrungsaufnahme zugunsten anderer (männlicher) Familienmitglieder zu reduzieren.

Darüber hinaus zeigt sich ein alarmierender Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt weltweit. Aufgrund der sich verschlechternden Lebensbedingungen und gestiegener Lebenshaltungskosten sehen sich viele Frauen zu Sex zum Zweck der Nahrungsmittelbeschaffung gezwungen, sexuelle Ausbeutung, Menschenhandel sowie Zwangsverheiratungen haben in diesem Kontext rapide zugenommen.

Doch warum tritt dies in nahezu allen Krisensituationen auf?

Die Hauptursache für Gewalt gegenüber Frauen und die nach wie vor herrschende gesellschaftliche und kulturelle Unterdrückung ist nach marxistischer Analyse in der Stellung von Frauen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise zu suchen, welche sich im Durchschnitt deutlich von denen der Männer unterscheidet.

Innerhalb des Kapitalismus herrscht eine Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktionsarbeit. Letztere wird fast vollständig von Frauen übernommen, wohingegen Männer in der Regel die gesellschaftliche Produktion, Quelle des Mehrwerts für die Kapitalist:innen, verrichten. Die Folge dessen ist ein weitaus schlechterer Zugang zum Arbeitsmarkt für Frauen. Sie sind zudem weitaus häufiger in Teilzeit, im Niedriglohn- oder informellen Sektor beschäftigt als Männer und so häufig auch ökonomisch vom Ehemann bzw. Partner abhängig.

Hinzu kommen kulturell und gesellschaftlich etablierte Rollenbilder aufgrund der beschriebenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Dies alles trägt zu einer beständigen Reproduktion stereo-typischer Verhaltensweisen und einer sich in Krisenzeiten zuspitzenden Frauenunterdrückung bei.

Wie dagegen kämpfen?

Um die angesprochenen Ursachen zu beseitigen, muss der Kampf gegen sexualisierte und körperliche Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen mit dem gegen den Kapitalismus und mit der allgemeinen Klassenfrage verbunden werden – denn diese dominiert schließlich über alle anderen Unterdrückungsformen.

Es sind auch die Frauen der Kapitalist:innenklasse, die von der Krise profitieren. In ihnen finden wir keine Verbündeten, aber es sind die armen Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Frauen der Arbeiter:innenklasse aller Länder, ohne die der Kampf gegen Inflation und Krise für die Klasse nicht gewonnen werden kann!

Lasst uns gemeinsam für soziale und klassenspezifische Forderungen eintreten!

Wir fordern den organisierten Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen von Frauen, damit sie sich gegenseitig vor sexualisierten und gewalttätigen Angriffen schützen und diese abwehren können. Dies sollte gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und mit Unterstützung der gesamten Arbeiter:innenklasse und ihren Organisationen, wie beispielsweise Gewerkschaften, realisiert werden. Darüber hinaus müssen weltweit die Anzahl an Schutzräumen und Beratungsstellen für betroffene Frauen erhöht und die Verwaltung unter deren Kontrolle gestellt werden.

Außerdem fordern wir die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen unter Beendigung der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Wir kämpfen für eine sofortige Angleichung der Löhne von Frauen und ein festes Mindesteinkommen für die gesamte Arbeiter:innenklasse, welches an die Inflation angepasst wird und eine sichere Existenz auch im Alter ermöglicht. Da Frauen häufig im sogenannten Niedriglohn- oder informellen Sektor beschäftigt sind, müssen wir dort für eine generelle Anhebung der Gehälter und Einführung gesetzlicher Rahmenbedingungen, Arbeitsverträge und Sozialleistungen wie Mutterschafts- und Krankengeld, eintreten.

Um dies alles und die gesellschaftliche und politische Beteiligung von Frauen zu erreichen, müssen wir zudem international für eine Vergesellschaftung der Haus- und Sorgearbeit kämpfen. Die Frauen könnten dadurch von der doppelten Belastung durch unbezahlte Care- und erforderlicher Lohnarbeit befreit und die Hausarbeit gesamtgesellschaftlich organisiert werden. Realisiert werden könnte dies durch die Einrichtung öffentlicher und kostenloser Kantinen und Wäschereien, einen massiven Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und andere Familienangehörigen sowie von Bildungs- und Jugendeinrichtungen.




#LinkeMeToo: Aus den Fehlern lernen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1185, 18. April 2022

Der SPIEGEL-Artikel „Entweder wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht“ und unzählige Tweets unter dem Hashtag #LinkeMeToo sorgen für Aufregung. Es wird von Missbrauchsvorfällen berichtet innerhalb des hessischen Landesverbandes der Linkspartei sowie der Linksjugend. Unter den zehn Betroffenen, mit denen der SPIEGEL gesprochen hat, ist auch eine Person, die zum Zeitpunkt der Vorfälle 2017/18 minderjährig war. Besonders sticht dies heraus, da mehrere Betroffene sagen, dass führende Mitglieder von den Vorfällen gewusst, aber nichts getan hätten – darunter auch Janine Wissler, aktuelle Bundesvorsitzende der Linkspartei. Ein paar Worte zur beginnenden Debatte.

Sexualisierte Gewalt in linken Strukturen

Zuerst muss klar gesagt werden: Lasst uns bitte nicht schockiert tun! Sexismus und sexualisierte Gewalt sind niemals „das Problem der anderen“. Sie sind Alltag in der gesamten Gesellschaft. Politik und linke Strukturen bilden keine Ausnahme. Sie sind keine Inseln der Freiheit, wo alle unbefangen miteinander leben können.
Das ist auch logisch. Wir alle sind von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt, verinnerlichen dementsprechend Rollenbilder sowie Stereotype, die nicht einfach so verschwinden. Gerade in großen Organisationen sind unterschiedliche Wissens- und Bewusstseinsstände normal, auch, weil neue und neu politisierte Menschen hinzukommen. Entsetzt zu sein, dass „so etwas überhaupt jemals passieren konnte“, ist Teil des Problems. Es geht davon aus, dass es sichere Räume geben könne, aus denen ein für alle Mal rückständige Ideen und Verhalten verbannt sein könnten. Das gibt es leider nicht. Gleichzeitig sorgt diese Annahme auch dafür, dass gewaltausübende Personen (Täter:innen) es leichter haben, sich aus der Anklage zu ziehen. Denn wenn es so unglaublich, so unfassbar ist, dass Gewalt stattgefunden hat, ist es auch leichter, Betroffenen nicht zu glauben, zu zweifeln und keine Schritte zur Klärung einzuleiten.

Lasst uns deswegen sagen: Sexismus und sexualisierte Gewalt sind Probleme der Gesellschaft und deswegen ist die Linke nicht frei davon. Das senkt die Hemmschwelle für Betroffene, sich zu erkennen zu geben, und bricht mit der Schweigekultur. Die Frage ist nicht, ob es die Übergriffe überhaupt gibt, sondern welche Strukturen aufgebaut werden, um dagegen anzugehen.

Stellungnahmen und Konsequenzen

Der hessische Landesvorstand hat am 15. April eine kurze Stellungnahme herausgegeben. In dieser wird davon gesprochen, dass dieser Ende November 2021 Kenntnis erlangte und begonnen hat, auf allen Ebenen das Geschehene aufzuarbeiten. Perspektivisch sollen Vertrauenspersonen eingesetzt sowie ein Workshop zur Sexismussensibilisierung organisiert werden. Im Statement der Bundespartei, ebenso vom 15. April, wird klar gemacht: „Patriarchale Machtstrukturen finden sich überall in der Gesellschaft. DIE LINKE ist davon nicht ausgenommen.“ Ebenso wird festgehalten, dass der Parteivorstand im Oktober 2021 die Vertrauensgruppe innerhalb des Parteivorstandes gegründet hat, um Menschen, die innerhalb der LINKEN Erfahrungen mit Sexismus, Übergriffen oder Diskriminierung machen, beratend zur Seite zu stehen. Im SPIEGEL wird dies zwar erwähnt, näher beleuchtet wird die Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses Gremiums aber nicht. In den Fokus gestellt wird dafür ein Handout zu den „Vorwürfen sexualisierter Gewalt“ – geschrieben von einem mutmaßlichen Täter.

Es ist gut, dass es die Schritte gegeben hat. Der Kritikpunkt, der intern aufgearbeitet werden muss, lautet: Warum braucht es für die Einrichtung solcher Dinge erst den öffentlichen Druck von Betroffenen? Welche Annahmen hat es gegeben, dass diese nicht schon früher eingeleitet wurden?

Als Antwort auf die Artikel hat auch der Jugendverband einen offenen Brief verfasst, den bisher 500 Mitglieder unterschrieben haben. In diesem werden u. a. gefordert:

  • Transparente und lückenlose Aufklärung aller Vorfälle.
  • Verpflichtende Awarenessstrukturen, deren Mitglieder nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Partei stehen oder Abgeordnete sind.
  • Verpflichtende Seminare zum Thema Awareness und Feminismus für Funktionär:innen und Angestellte.
  • Finanzielle Unterstützung durch DIE LINKE für alle Betroffenen, wenn sie juristische oder auch psychologische Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen.
  • Eine Vertrauensperson für Mitarbeitende von Partei, Mandatsträger:innen und Fraktionen, die von Sexismus, verbalen Übergriffen und sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Dies sind unterstützenswerte Forderungen. Die Aufarbeitung scheint begonnen zu haben und die Forderung nach Strukturen, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Funktionen stehen, ist enorm wichtig. Auf weitere Punkte, die sinnvoll sein könnten, gehen wir im späteren Teil des Artikels ein. Zuerst wollen wir uns jedoch mit einer anderen Frage beschäftigen:

Rücktritt als Lösung?

Ebenso wird in dem offenen Brief auch der Rücktritt aller beteiligten Personen gefordert – ob sie nun selber Täter:in sind oder die Taten anderer gedeckt haben. Dazu soll an der Stelle gesagt werden: Ein Wechsel von Personen bedeutet nicht immer, dass der Umgang sich verbessert und nachhaltige Strukturen geschaffen werden. Vielmehr kommt es auf Einsicht an. Damit ist nicht gemeint, dass alle, die jetzt aufschreien, aus dem Schneider sind. Das heißt: Jene, die beiseite treten, die offen Fehler eingestehen, jene, die den Raum für Aufklärung freimachen, sollten bedacht werden – denn es ist ein Zeichen, mit den Strukturen brechen zu wollen. So hat Janine Wissler selbst eine Stellungnahme verfasst, in der sie zu den aufgeworfenen Fragen des SPIEGEL Stellung bezieht und klarmacht, dass sie nicht wusste, dass es sich für die Betroffene um eine Grenzüberschreitung gehandelt hat. Ob diese ausreichend ist oder nicht, sollte eine Kommission entscheiden – nicht nur bei ihr, sondern allen, die involviert waren. Besagte Kommission sollte aus FLINTA-Mitgliedern bestehen, die unabhängig vom Parteiapparat sind und die verschiedenen politischen Strömungen der Partei repräsentieren. Auch kann so verhindert werden, dass solche Fälle für politische Machtkämpfe um Posten benutzt werden können.
Aber Achtung: Das Problem bei Awarenessstrukturen und Meldestellen liegt immer darin, dass diese nur so effektiv sind wie das Bewusstsein der Leute dort selber. Denn ein Problem, warum Diskriminierungen totgeschwiegen werden und man auf soviel Widerstand bei der Aufklärung stößt, sind die unklaren Konsequenzen. Wer Angst hat, für jeden Fehler abgestraft zu werden, wird das Beste versuchen, diese Fehler unter den Teppich zu kehren, insbesondere wenn Einkommen und Karriere davon abhängig sind. Das ist an der Stelle kein Appell für einen Freifahrtschein für Täter:innen und jene, die sie schützen. Es ist ein Appell dafür, künftig mit den Konzepten von Transformative Justice zu arbeiten, wo es Sinn macht.

Der Kampf für Verbesserung ist ein gesamtgesellschaftlicher

Viele Dinge müssen geschehen. Die Diskussion in DIE LINKE und [‚solid| könnte so einen Beitrag leisten im Kampf gegen Sexismus und Gewalt in der Linken und in der Arbeiter:innenbewegung. Aber wie? Gesamtgesellschaftlich brauchen wir einen anderen Umgang mit sexualisierter Gewalt. Zuerst braucht es eine politische Kampagne, die konkrete Verbesserungen erkämpft. Forderungen, die dringend notwendig sind:

1. Flächendeckende Meldestellen für sexuelle Gewalt!

Für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt.

2. Finanzielle Unterstützung für Betroffene!

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es besondere Unterstützung für die Betroffenen. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

3. Öffentliche Untersuchungen und Verfahren unter Kontrolle der Betroffenen und der Arbeiter:innenbewegung!

Die ersten beiden Forderungen wären im Hier und Jetzt einfach umzusetzen. Die dritte ist nicht so einfach, aber die substantiellste. Solange der bürgerliche Polizei- und Justizapparat die Untersuchungen und Rechtsprechung beherrscht, werden Verbesserungen immer wieder an diesen Strukturen scheitern oder bestenfalls auf halbem Wege steckenbleiben. Es braucht daher vom Staatsapparat unabhängige Untersuchungskommissionen sowie von den Betroffenen gewählte Richter:innen. Diese sollten mehrheitlich aus Frauen und geschlechtlich Unterdrückten zusammengesetzt sein.

Ebenso sollten sie für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden und Untersuchenden sind. Im Zuge dessen könnte auch das Sexualstrafrecht überarbeitet werden und festhalten, dass das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ eine sinnvolle Grundlage wäre. Warum? Dies liegt dem Ansatz zu Grunde, dass Polizei und Staat zum einen kein materielles Interesse an der Verfolgung solcher Vorwürfe hegen. Zum anderen sind diese Formen wesentlich fortschrittlicher, als wenn jede/r für sich alleine bestimmt, was richtig ist und nicht. Ausführlicher leiten wir das in diesem Artikel her: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/kampf-gegen-sexuelle-gewalt-abseits-des-staates-gegen-oder-mit-ihm/

Und in linken Strukturen?

Der Kampf für so eine Kampagne ist essentiell. Denn linke Strukturen sind aus sich heraus nicht nur meist zu schwach, dauerhafte und professionelle Hilfe für Betroffene zu gewährleisten – was es diesen wiederum erschwert, wieder in politischen Zusammenhängen aktiv zu werden. Sie können und sollen auch keinen Ersatz die Herstellung allgemeiner gesellschaftlicher Rechte im Kampf gegen Unterdrückung bilden. Doch das heißt nicht, dass man bis dahin nichts tun kann. Präventionsarbeit durch beispielsweise regelmäßige Debatten über sexuellen Konsens sind ein Beispiel – unabhängig davon, ob es Übergriffe gegeben hat oder nicht. Dabei braucht es das Verständnis, insbesondere für männlich Sozialisierte, dass ein Ausbleiben eines Ja keine Zustimmung ist. Nur Ja heißt Ja und aktives Nachfragen ist nicht nur nett, sondern notwendig. Zudem braucht es eine Sensibilisierung für den Umgang mit Machtverhältnissen wie Alter, Herkunft oder auch Stellung in der eigenen Gruppe. Für weiblich sozialisierte Menschen macht es Sinn, sich dessen bewusst(er) zu werden und zu lernen, wie die eigenen Bedürfnisse artikuliert werden können. Darüber hinaus braucht es eigene Treffen – Caucusse – für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen, die sich über Missstände innerhalb von linken Strukturen austauschen und Veränderungen einfordern.

DIE LINKE hat sicher Mist gebaut. Aber sie hat die Chance, ja die Pflicht, ihre Politik zu ändern. Sie verfügt über die Ressourcen, eine Kampagne zu starten, wie sie hier umrissen ist. Das würde nicht nur den Betroffenen am ehesten gerecht werden. Es kann auch dafür sorgen, dass DIE LINKE mal wieder irgendeinen ernstzunehmenden Kampf führt, was zur Zeit sicher keine/r behaupten kann.




Katholische Kirche in der Krise

Gerald Falke, Infomail 1179, 3. März 2022

Was mit einer Skandalgeschichte des Kardinal Woelki begann, hat sich inzwischen zu einer imposanten Gewitterwolke ausgewachsen. Nachdem mehr und mehr aufsehenerregende Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche öffentlich wurden, scheint kein Ende der immer umfassender werdenden Missbrauchsserien in Sicht zu sein.

Neben denen zu den häufigen Straftaten offenbarte sich zunehmend ein zusätzlicher Skandal aus den Formen des Umgangs der Kirche damit. Die Institution mit den höchsten moralischen Ansprüchen zeigt sich hartnäckig tolerant gegenüber den eigenen Straftätern. Um ihr eigenes Ansehen nicht zu schädigen, werden Straftaten verleugnet und verheimlicht. Dadurch werden letztlich die Täter geschützt und die Opfer zusätzlich traumatisiert. Vom Kirchendiener bis zum Kirchenvater, vom eingesetzten Priester bis zum ehemaligen Papst Benedikt XVI. offenbart sich eine systematische Mauer des Schweigens, die jetzt unter dem Druck der zu diesem Thema entstandenen Initiativen einzubrechen beginnt und das Ausmaß der Missbrauchstraditionen zunehmend sichtbar macht.

Vorhersehbare Reaktion

Die Reaktion der Kirche darauf besteht vorzugsweise in einer internen Untersuchung, deren zensierte Veröffentlichung mit einem Ausdruck des Bedauerns geschieht. Bemühungen um eine angemessene Wiedergutmachung bleiben regelmäßig aus und von einer Bezahlung sollte erst gar nicht gesprochen werden.

Um die Empörung über Woelki, den Erzbischof des größten deutschen Bistums in Köln, wieder etwas abklingen zu lassen, wurde ihm nach seiner „langfristigen Überbeanspruchung“ seit Oktober 2021 päpstlicherseits eine „geistliche Auszeit“ verordnet, die jetzt am 1. März endete. Die erhoffte Versöhnung ist inzwischen nicht eingetreten.

Im Gegenteil scheint die Kluft zwischen den loyalen und kritischen Kräften zunehmend unversöhnliche Positionierungen zu entwickeln. Auf der einen Seite offenbart sich die Hartnäckigkeit der klerikalen Unterstützung für Woelki, auf der anderen die wachsende Formierung einer ablehnenden Front, welche die Kirchgemeinde in ihrer Gesamtheit durchzieht. Daraus resultierte jetzt die Wiederaufnahme seiner Amtsführung nicht mit der Wahrnehmung der vorgesehenen kirchenöffentlichen Termine, sondern mit Teilnahmeabsagen, die offenbar eine schleichende Wiederkehr ermöglichen sollen. Er hofft auf einen Neuanfang seiner Amtsführung und bot zur Besänftigung der Kritik daran dem Papst einen Amtsverzicht an. Von dessen Seite war bislang allerdings lediglich eine Kritik an den Kommunikationsfehlern zu vernehmen.

Die Auseinandersetzung mit Woelki ist mittlerweile auch in die Jahre gekommen. Als Weihbischof erklärte er beispielsweise vor über einem Jahrzehnt, dass er die Homosexualität als „Verstoß gegen die Schöpfungsordnung“ verstehe. Im Zuge wiederkehrender Diskussionen zu sexualisierter Gewalt innerhalb der Kirche gab er ein Gutachten in Auftrag, das auch die entsprechenden Verantwortlichen benennen sollte. Wegen angeblicher methodischer Fehler verweigerte er dann aber dessen Veröffentlichung. Unter Druck bemühte er sich in der Folge um eine vollständige Neufassung, die dann später für einzelne Personen einsehbar sein sollte. Soweit die Betroffenen eine Vertretung in einem Beirat fanden, zeigten sich für diese rasch Bemühungen einer Irreführung und Instrumentalisierung, worauf einige Mitglieder des Gremiums mit einem Rücktritt reagierten. Für eine Einsicht in das Gutachten hätten Journalist:innen zuvor einer Vereinbarung zur Vertraulichkeit zustimmen müssen, was diese allerdings ablehnten. Insgesamt ergab sich jedenfalls immer mehr der Eindruck einer versuchten Vertuschung.

Synodaler Weg

Um eine Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche zu ermöglichen, wurde 2019 von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken der sogenannte synodale Weg zum systematischen Austausch eingerichtet. Wie zu erwarten, positionierte sich Woelki auch hiergegen, weil damit strukturelle Veränderungen eingeleitet werden könnten, die zu einer Art Abstimmung über die unveränderliche kirchliche Lehre führen könnten

Inzwischen stellte sich heraus, dass Woelki bei seinem Amtsantritt als Erzbischof selbst auch einen Fall einer sexualisierten Gewalt durch einen Priester verheimlichte. Eine entsprechende Untersuchung einer Glaubenskongregation kam allerdings zur Einsicht, dass zu dieser Zeit noch keine entsprechende strenge Meldepflicht bestanden habe. 

Was sich in diesem Zusammenhang verdeutlich, ist die besondere Rolle der Kirche innerhalb der Gesellschaft. Sie fungiert wie ein Staat im Staat, erhält vom bürgerlichen Staat vielfältige Unterstützungen und Bevorzugungen, ist aber in wesentlichen Belangen seinem Zugriff entzogen. So hilft der Staat bei der Erhebung der Kirchensteuer, schützt die religiösen Anschauungen im Unterschied zu anderen Weltanschauungen als besonders hohes Gut. Er gewährt Zutritt zu Schulen und garantiert Religionsunterricht, also die Propagierung der einen Weltanschauung auf Staatskosten. Ferner erlaubt er die Führung eigener Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialbereich, aber die internen Regelungen wie die rechtlichen Standards und die Tarifgestaltung in ihren sogenannten Tendenzbetrieben werden autonom vollzogen. Im Zeichen der Nächstenliebe lässt sich die Ausbeutung eben besonders gut umsetzen und für sexuellen Missbrauch bietet die Kirche offensichtlich einen speziellen Schutzraum an.

Diese Verhältnisse haben ihren Ursprung weit in der Vergangenheit, reichen zurück in feudale Verhältnisse, in der sich die kirchliche gegenüber der weltlichen Macht als gewissermaßen übergeordnet verstand. In bürgerlichen Verhältnissen wurde die Kirche als ein überholtes Relikt beibehalten, um ihre ideologischen Verdienste weiter nutzen zu können.

Funktion

Aber aus eben dieser für die herrschende Klasse durchaus verdienstvollen Funktion erwachsen zunehmende Zeichen ihres Niedergangs. Weil eine Jahrtausende alte Vorstellungswelt schlichtweg überholt und die Unvereinbarkeit zwischen den verkündeten Idealen und der verheimlichten eigenen Praxis für die Kirchengemeinden selbst nicht mehr erträglich ist.

Auseinandersetzungen durchziehen diese Glaubensgemeinschaften in vielfältigen Fragestellungen. So betrifft etwa ein weiterer Dauerkonflikt der katholischen Kirche die Rolle der Frauen. Entsprechend der uralten Vorstellungen von einem funktionierenden Sozialleben werden Frauen weiterhin als nicht vollwertige Menschen behandelt und sogar als potentielle Gefahr, die beispielsweise mit dem Zölibat abgewehrt werden muss.

Zur Uneinsichtigkeit und Unbeweglichkeit der Kirche mag von Tiefgläubigen das Bild eines Felsens in der Brandung gesehen werden, an dem sie in den vielfältig verwirrenden gesellschaftlichen Verhältnissen Halt suchen. Tatsächlich passt das aktuelle Bild des schmelzenden Eisberges besser. Auch hier bleibt die selbst verursachte Klimaerwärmung unverstanden.

Worauf die jüngere Entwicklung hinweist, und hier steht Woelki gewissermaßen als deutliches Zeichen, ist die Unhaltbarkeit einer weiteren Aufrechterhaltung des privilegierten Sonderstatus’ der Kirche. Kriminelles Agieren in kirchlichen Einrichtungen darf nicht der Willkür einer amtskirchlichen Befassung überlassen werden. Vielmehr müssten aus der Basis der Kirchengemeinden Vertretungen gewählt werden, die mit denen der Opfer einen Untersuchungsausschuss bilden, dem Zugang zu allen relevanten Dokumenten gewährt werden muss und der letztlich auch über personelle, strukturelle und finanzielle Konsequenzen entscheiden soll. Vergewaltigungen und alle anderen Formen sexueller Übergriffe und von Gewalt durch Kirchenvertreter müssen strafrechtlich verfolgt, jeder institutionelle Schutz durch die Kirche muss verboten werden.

Die regelmäßigen und systematischen Missbräuche fußen freilich nicht nur auf innerkirchlichen, überholten, undemokratischen Strukturen, sie werden auch staatlich begünstigt. Daher müssen ihr alle staatlich und traditionell zugestandenen Privilegien entrissen werden, die ihr erlauben, einen Staat im Staat zu bilden. Es müssten alle staatlichen Pfründe trockengelegt werden: Abschaffung der Kirchensteuer, des Kirchengelds und des Religionsunterrichts, Schließung der kirchlichen Schulen und Überführung in öffentliche; Aufhebung der arbeits- und sozialrechtlichen Privilegien (Tendenzbetriebe) der kircheneigenen Unternehmen und Überführung in Beschäftigungsverhältnisse mit allen gewerkschaftlichen und Mitbestimmungsrechten. Vollständige Trennung von Staat und Kirche!




Frauen, Kapitalismus, Pandemie

Katharina Wagner, Neue Internationale 260, November 2021

Frauen sind die großen Verliererinnen in der Pandemie. Dieser Satz gilt aber nicht nur für Deutschland oder Europa, sondern weltweit. Ihre Situation hat sich in vielen Bereichen, beruflich wie privat, im Zuge der Pandemie und damit einhergehender Maßnahmen deutlich verschlechtert.

Aktuelle Situation weltweit

Die Lage ist trotz der Konjunkturpakete der reichen, imperialistischen Staaten in vielen Ländern, gerade unter den ärmsten, weiter von einer weltweiten Wirtschaftskrise gekennzeichnet, die 2020 den gesamten Globus ergriff. Sie wurde zwar nicht durch die Pandemie verursacht, aber von ihr deutlich verstärkt.

In deren Gefolge wurden viele der ohnedies schon viel zu geringen Maßnahmen der weltweiten Armutsbekämpfung zerstört und zurückgenommen. Eine zunehmende globale Verschuldung sowie eine Zuspitzung imperialistischer Konflikte sind weitere Begleiterscheinungen dieser Krise. Auch hier sind Frauen wieder einmal auf besondere und vielfältige Weise deutlich stärker betroffen.

Der Verlust von Verdienstmöglichkeiten, eine starke Zunahme häuslicher und sexueller Gewalt sowie eine stärkere Belastung durch Sorgearbeit innerhalb des Haushalts und der Familie – das sind nur die Hauptaspekte, mit denen Frauen in der derzeitigen Situation wohl am meisten zu kämpfen haben. Diese negativen Folgen für sie sind nicht neu, wurden aber während der Pandemie nochmals drastisch verschärft.

Im Zuge der Maßnahmen zu deren Eindämmung wurden teilweise ganze Branchen wie die Gastronomie oder andere Dienstleistungsbereiche stark heruntergefahren oder sogar zeitweise ganz geschlossen. Dies betraf vor allem Frauen, da deren Anteil in diesen Berufen doch überdurchschnittlich hoch ist. In Deutschland beispielsweise beträgt dieser rund 64 %.

Konnten die finanziellen Einbußen mithilfe des Kurzarbeitergeldes in reichen Industriestaaten wie Deutschland zumindest abgemildert und Entlassungen vorerst verhindert werden, haben die meisten globalen Beschäftigten keinerlei Zugang zu solchen staatlichen Hilfen. Frauen sind weltweit deutlich häufiger von Entlassungen betroffen als Männer, auch weil sie überdurchschnittlich im sogenannten informellen Sektor beschäftigt sind. Im südlichen Afrika etwa arbeiten rund 92 % aller weiblichen Erwerbstätigen ohne jegliche Absicherungsmaßnahmen wie Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung bei Krankheit.

Covid-19

Ein weiterer wichtiger Beschäftigungssektor für Frauen ist der Gesundheits- und Sozialbereich, hier beträgt ihr Anteil in der Pflege weltweit rund 70 %. Demgegenüber steht allerdings ihre relativ niedrige Quote von 30 % in der ÄrztInnenschaft.

Dieser Umstand spiegelt sich auch sehr gut in den Infektionszahlen für Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitsbereich wider, sind diese doch aufgrund der Tätigkeit selbst einem deutlich erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt – nicht zuletzt auch aufgrund schlechtem oder ungenügendem Zugang zu Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln sowie einer enormen Arbeitsbelastung. In Spanien hatten sich während der Pandemie bisher dreimal so viele weibliche Pflegekräfte mit COVID-19 angesteckt wie männliche Beschäftigte in diesem Bereich.

Hinzu kommen die weiterhin beträchtlichen Lohnunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Erwerbstätigen, größtenteils bedingt durch die deutlich geringeren Verdienste in den oben genannten Bereichen im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren. Laut dem WEF (World Economy Forum) verdienen Frauen weltweit durchschnittlich nur 68 % dessen, was Männer für dieselbe Arbeit erhalten würden, bei den Ländern mit der geringsten Kaufkraftparität sind es sogar nur 40 %. Und auch hier hat die Pandemie die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Erste Untersuchungen deuten bereits darauf hin, dass das Lohn- und Gehaltsgefälle sich im Zuge der Pandemie um 5 % vergrößert hat. Weiterhin gibt es Schätzungen des WEF, dass beim derzeitigen Tempo der „Angleichung“ vermutlich erst in 257 Jahren Lohngleichheit erreicht sein könnte. In weiterer Folge bedeutet dies natürlich auch in Bezug auf die Rente eine deutlich schlechtere Ausgangslage, vielen Frauen droht daher Altersarmut.

Auch im privaten Umfeld hat die Pandemie die Situation vieler Frauen teilweise dramatisch verschlechtert. Bereits im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 konnte eine starke Zunahme häuslicher und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Kindern festgestellt werden. Tatsächlich wird statistisch gesehen jede dritte Frau weltweit Opfer von Gewalt und auch die Anzahl tödlicher Delikte gegen Frauen (Femizide) verzeichnet einen Anstieg von bis zu 23 %, wie Zahlen aus verschiedenen Ländern belegen. Obwohl zahlreiche, darunter auch Deutschland, die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) unterzeichnet haben, werden selbst die dort festgehaltenen Beschlüsse meist nicht vollständig umgesetzt. So fehlte es bereits vor der Pandemie vielerorts an ausreichend vorhandenen Schutzräumen und leicht zu erreichenden Hilfsangeboten für betroffene Frauen.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

Die Ursachen dieser Verschlechterungen müssen im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung betrachtet werden, bei der die Frau auf die Tätigkeit in der sogenannten Reproduktionsarbeit fixiert ist, das heißt auf Aufgaben zur Erhaltung des unmittelbaren Lebens wie Kindererziehung, Pflege von Familienangehörigen oder die Hausarbeit im privaten Umfeld. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um unbezahlte und aus Sicht des Kapitals unproduktive Arbeit, da sie meist keinen Mehrwert generiert. Demgegenüber übernimmt der Mann die produktiven, also Mehrwert generierenden Arbeiten. Mit Entstehung der bürgerlichen Familie als Norm, welche sowohl ideologisch als auch repressiv gegenüber anderen modernen Formen durchgesetzt und verteidigt wird, reproduziert sich die eben angesprochene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bis heute.

Der Kapitalismus hat sich diese lange vorher existierende Arbeitsteilung zunutze gemacht, in dem der Mann einen sogenannten „Familienlohn“ erhält und die Frau quasi als „Zuverdienerin“ das familiäre Haushaltsvermögen aufstockt. Dies erklärt den weiterhin herrschenden Lohnunterschied (Gender Pay Gap) zwischen Männern und Frauen. Global betrachtet stimmt dieses Modell zwar schon lange nicht mehr mit der Realität überein, denn in vielen Fällen ist sogar die Frau mittlerweile die Hauptverdienerin und ein Lohn oft nicht ausreichend, um das Überleben der Familie zu sichern. Dennoch trägt auch dieser Umstand weiterhin zur Festigung der bürgerlichen Familie und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei.

Reserve

Eine weitere Folge letzterer ist die stärkere Betroffenheit von Frauen in Krisenzeiten wie in der derzeit herrschenden Pandemie. Frauen wurden stets von Seiten der KapitalistInnen als sogenannte Reservearmee angesehen, welche in konjunkturell starken Phasen eingestellt und in Krisenzeiten rasch wieder entlassen werden können. In diesen werden zudem die sogenannten Reproduktionsarbeiten aus Gründen der Kostenersparnis sehr gerne zurück ins private und nicht entlohnte Umfeld ausgelagert. Dies bedeutet für viele Frauen eine stärkere Doppelbelastung aus Erwerbs- und Carearbeit, tragen doch sie die Hauptlast der Reproduktionsarbeit. Hinzu kommt eine (stärkere) finanzielle Abhängigkeit vom männlichen Partner, was Betroffenen von Gewalt ein Beenden der Partnerschaft häufig unmöglich macht. Dieser Rollback konnte auch in der derzeitigen Pandemie beobachtet werden.

Schließlich profitiert das Kapital selbst von Spaltungen wie jener zwischen Mann und Frau und nutzt diese zu seinen Gunsten. Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft besonders unter den Pandemiefolgen leiden. Daher darf diese Thematik nicht unabhängig vom kapitalistischen Gesamtsystem betrachtet werden, sondern muss mit der Klassenfrage und dem Kampf gegen es verknüpft werden. Denn aus Sicht von MarxistInnen handelt es sich beim Kapitalismus nicht nur um ein Produktions-, sondern um ein gesellschaftliches System, welches alle Lebensbereiche sowie unser Denken und Handeln beeinflusst und formt. Nicht zuletzt wird dies deutlich durch die gesellschaftlich zugeschriebenen Geschlechterrollen, die anerzogen werden und sich dadurch weiter reproduzieren.

Wofür kämpfen?

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung muss international organisiert und mit der Klassenfrage und dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Auch wenn sich die Situationen von Frauen in verschiedenen Ländern teilweise deutlich unterscheiden, müssen wir global einige gemeinsame Forderungen aufstellen.

Um die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen abzubauen, muss die Forderung nach einem Mindestlohn sowie eine vollständige Abschaffung des informellen Sektors auf die Tagesordnung gesetzt werden. Auch prekäre Arbeitsverhältnisse müssen durch die Einführung von tariflichen Löhnen verschwinden. Dabei müssen die Kontrolle über deren Umsetzung und die Festlegung von Gehältern in die Hände der ArbeiterInnenklasse und der Gewerkschaften gelegt werden. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Forderung, keine Entlassungen zu akzeptieren und während der Schließung ganzer Wirtschaftsbereiche für eine vollständige Auszahlung der Gehälter einzutreten. Diese Auseinandersetzungen müssen wir darüber hinaus mit dem Kampf für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten verbinden: den Ausbau von Kitas, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, des Gesundheitssystems, einer Altersvorsorge für alle usw. unterstützen. Ein solches muss von den Profiten der Unternehmen bezahlt und von den ArbeiterInnen kontrolliert werden.

Um Frauen vor Unterdrückung und Diskriminierung zu schützen, bedarf es des Rechts auf eigene Treffen, sogenannte Caucuse, in allen Organisationen der ArbeiterInnenklasse. Nur so ist gewährleistet, dass sie im Kampf für vollständige Frauenbefreiung und gegen den Kapitalismus eine Schlüsselrolle einnehmen und aktiv gegen Sexismus, Chauvinismus und rechtliche Benachteiligung vorgehen können. Um ihnen eine aktive Beteiligung an politischen Kämpfen zu ermöglichen, ist neben einer massiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich auch eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit notwendig. Nur so können die Doppelbelastung aufgehoben und Arbeiten des täglichen Lebens auf viele Schultern verteilt werden. Statt Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich sind massive Investitionen für den Ausbau von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie öffentlichen Gesundheitssystemen und Kultureinrichtungen einzufordern. Nur so ist es möglich, den herrschenden Rollback zu Ungunsten der Frauen und jungen Mädchen umzukehren.

Frauenbewegung

Zum Schutz von Frauen vor physischer und sexualisierter Gewalt müssen dringend die zur Verfügung stehenden Schutzräume massiv ausgebaut und Selbstverteidigungsorgane innerhalb der ArbeiterInnenklasse aufgebaut werden. Ebenso ist es wichtig, die Forderung nach rechtlicher Gleichheit und einem Scheidungsrecht, welches Frauen nicht benachteiligt, aufzustellen.

Der Kampf gegen die Folgen von Pandemie und Krise, von denen die lohnabhängigen Frauen besonders hart getroffen werden, hat aber auch zu vielen Abwehrkämpfen und Bewegungen geführt, wo Arbeiterinnen an vorderster Front stehen. Diese zeigen, dass Frauen nicht in erster Linie Opfer und Betroffene, sondern vor allem Kämpferinnen sind. Die Frauen*streiks der letzten Jahre, die Bewegungen im Gesundheitssektor und Frauen, die in Afghanistan unter extremen Bedingungen ihre Rechte verteidigen – sie alle zeigen, dass vor unseren Augen auch die Basis für eine neue internationale proletarische Frauenbewegung entsteht.

Lasst uns gemeinsam für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine vollständige Frauenbefreiung kämpfen! Für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung!




Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.




Mord an Sarah Everard: Not one more!

Linda Loony, Neue Internationale 254, April 2021

An einem Mittwochabend, dem 3. März 2021, verließ die 33-jährige Sarah Everard das Haus eines Freundes im Londoner Stadtteil Clapham, um sich zu Fuß auf den 2,5 km langen Heimweg nach Brixton zu machen. Sie kam nicht mehr nach Hause. Ihre Leiche wurde eine Woche später in einem Wald in Kent gefunden.

Die Ermittlungen gegen Sarahs Mörder führten zu einem 48-jährigen Polizeibeamten der London Metropolitan Police, Wayne Couzens. Ihm wird vorgeworfen, Sarah gekidnappt und getötet zu haben. Dieser Mann hatte vor dem Mord bereits mehrfach Frauen sexuell belästigt und sich z. B. in der Öffentlichkeit vor ihnen entblößt. Anzeigen, die von den Frauen gegen ihn erstattet wurden, liefen ins Leere. Couzens blieb unbestraft und arbeitete weiter im polizeilichen Dienst. Mittlerweile befindet sich der Mann in Untersuchungshaft und ein Gerichtsverfahren gegen ihn wird vorbereitet.

Protest und Repression

Kurz nach dem Fund von Sarahs Leiche und der Ermittlung des Tatverdächtigen versammelten sich über Tausend Menschen in Clapham zu einer friedlichen Mahnwache auf einer der Kreuzungen, die Sarah in der Nacht ihres Todes überquert hatte. Die örtliche Polizei griff ein, um die Versammlung aufzulösen, da diese wegen der aktuellen Corona-Lage eine zu große Infektionsgefahr darstelle – und das, obwohl die Anwesenden Masken trugen und auf Abstände achteten. Die BeamtInnen gingen dabei mit voller Härte vor. TeilnehmerInnen der Mahnwache wurden zu Boden gedrückt, geschlagen und abgeführt. Viele Videos und Bilder kursierten danach im Internet und bezeugten die Gewalt, die die Polizei gegen die mehrheitlich weiblichen TeilnehmerInnen ausübte.

Die Nachricht von Sarahs Ermordung führte zu einer neuen #MeToo-ähnlichen Bewegung auf der ganzen Welt, mit Hunderttausenden von Frauen, die sich in den sozialen Medien über ihre eigenen Erfahrungen äußerten, sich unsicher zu fühlen, wenn sie nachts nach Hause gehen, zusammen mit Männern, die fragten, was sie tun können, damit sich Frauen sicherer fühlen. Viele solidarisierten sich auch mit den Protestierenden an der Mahnwache in Clapham.

In den folgenden Tagen und Wochen fanden mehrere Großdemonstrationen im Gedenken an Sarah Everard und gegen sexualisierte Gewalt trotz Verboten statt. Die Aktionen wurden dabei thematisch mit dem Widerstand gegen die Einschränkungen des Demonstrationsrechts verbunden, die das britische Parlament zur Zeit durchzupeitschen versucht.

Diese Geschehnisse lenken das Augenmerk auf zwei zentrale Aspekte: Zum einen zeigt der Fall Sarah Everard wie viele andere und wie das riesige Social-Media-Echo, welcher Gefahr Frauen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. Zum anderen zeigt er, dass die Polizei als Exekutivorgan eines Staates, in dem Frauen immer noch systematisch unterdrückt werden, uns nicht schützen wird.

Wie die meisten anderen Frauen fühle ich mich auf dem nächtlichen Nachhauseweg allein nicht sicher. Wir vermeiden solche Wege, wir haben ein Pfefferspray dabei, wir hören keine Musik aus Angst, herannahende Gefahr nicht zu registrieren. Wir halten unseren Haustürschlüssel in der Faust umklammert, bereit, damit um uns zu schlagen, wenn wir angegriffen werden. Wir wechseln die Straßenseite, wir gehen im Dunkeln nicht einfach spazieren oder joggen. Wir gehen nicht alleine auf eine Party zum Tanzen, wir rufen FreundInnen auf dem Heimweg an, um uns zu beruhigen. Potenzielle Gewalt gegen uns, ist eine reale Gefahr, sexuelle Belästigung, dass Männer uns anquatschen, zuzwinkern, Küsse zuwerfen, uns hinterherpfeifen. Aber wieso ist das unsere Realität?

Reaktionen

Die Polizei hatte nach Sarahs Verschwinden Frauen geraten, nachts nicht rauszugehen. Dieser Vorschlag zeigt, wie die Situation in unserer Gesellschaft betrachtet wird. Frauen sollen sich anpassen, das Haus lieber nicht verlassen, lieber keine knappe Kleidung tragen, dann passiert ihnen nichts. Dies verdeutlicht die vorherrschende Kultur, die Opfer zu  Schuldigen zu machen. Statt Frauen zu sagen, dass sie ihr Verhalten ändern sollen, muss der Fokus darauf liegen, männliche Gewalt gegen Frauen zu beenden.

Dabei kann die Lösung nicht nur in der Aufklärung oder Bewusstseinsbildung liegen, erst recht nicht darin, dass das Problem nur als eines zwischen Individuen erscheint. Individuelle Gewalttaten oder Diskriminierung müssen entschieden bekämpft werden. Aber diese Arbeit bleibt letztlich nur eine Symptombekämpfung, wenn wir nicht auch und vor allem die Ursachen für Gewalt gegen Frauen – die systemische gesellschaftliche Unterdrückung – angehen.

Die Schuldigen sind nicht nur die einzelnen Männer, die Frauen so etwas antun, sondern der Staat, die Medienkultur, die ihnen ein hohes Maß an Straffreiheit gewährt. Deren Grundlage bildet eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Frauen im Arbeitsleben benachteiligt und sie zur Verrichtung des größten Teils der privaten Hausarbeit zwingt. Diese gesellschaftliche System bringt ein reaktionäres Rollenbild der Frauen hervor, das sie als unterlegene, sexuelle Objekte darstellt, die dem Mann verfügbar sein sollen. Diese Rolle, diese Degradierung zum Objekt macht uns minderwertig, benutzbar, verfügbar und damit setzt sie uns unangenehmen Belästigungen über körperliche Übergriffe bis hin zu Mord aus. Diese Rolle verfestigt selbst noch einmal die gesellschaftlichen Strukturen, die sie hervorbringen.

Der Mord an Sarah Everard ist ein Weckruf, eine Erinnerung daran, dass selbst in den „fortschrittlichsten“ Ländern Gewalt gegen Frauen systemisch ist, dass sie zu unserem Alltag gehört, selbst wenn wir „all die richtigen Dinge“ tun, um uns zu schützen.

Kein Vertrauen

Im Kampf für Gleichberechtigung, Schutz und Sicherheit können wir uns nicht auf die Polizei oder staatliche Institutionen verlassen, wie der Fall von Sarah Everard zeigt. Viele Frauen erleben, dass ihnen von Beamten nicht geglaubt wird, wenn sie sexuelle Übergriffe melden. Beamte, die selbst übergriffig werden, erfahren viel seltener eine Bestrafung, weil sich die Polizei in Ermittlungen gegen sich selbst natürlich zurückhält. Wenn Frauen protestieren wollen, wie letzte Woche in Clapham, werden sie niedergeschlagen, von eben dieser Polizei.

Aber das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Mahnwache in Clapham ist nur die jüngste Erinnerung daran, dass die Polizei, das Gesetz und der Staat wiederholt versagt haben, Frauen und andere unterdrückte Minderheiten zu schützen.

Beispielsweise ist die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung auf einem historischen Tiefstand in England. Nur 1,4 % der Fälle, die der Polizei gemeldet werden, führen zu einer Anklage. Die Beweislast liegt bei den Frauen, um ZeugInnen zu finden, und zu oft ist der Ermittlungsprozess selbst aufdringlich und traumatisierend.

Während Morde an Frauen, die von Fremden begangen werden, vergleichsweise selten sind und häufiger von Bekannten der Frauen ausgehen, bedeutet der institutionelle Sexismus der Polizei, dass es vielen Männern freisteht, mehrere Sexualdelikte zu begehen, die in ihrer Schwere eskalieren und manchmal in Mord enden.

Die Polizei hat wiederholt ihre Verachtung für Frauen gezeigt, die Opfer tödlicher Gewalt wurden, wie z. B. als zwei englische Polizeibeamte letztes Jahr Selfies mit den Leichen von zwei schwarzen Frauen machten, die ermordet in einem Park gefunden wurden.

Was brauchen wir?

Wenn der Staat Repression ausübt und seinen wahren frauenfeindlichen Charakter zeigt, müssen wir uns selbst verteidigen, uns organisieren und eine kämpfende Bewegung von Frauen aufbauen. Die Geschehnisse hätten ebenso gut in Deutschland stattfinden können. Das System ist dasselbe, die Unterdrückung ist dieselbe, der Kampf ist ein gemeinsamer, internationaler.

Wir müssen das Recht der Polizei ablehnen, ausschließlich gegen sich selbst zu ermitteln. Stattdessen fordern wir unabhängige Kommissionen aus VertreterInnen der Bevölkerung, der ArbeiterInnen- und Frauenorganisationen, um unterdrückerisches Verhalten und Gewalt durch die Polizei zu untersuchen.

Wir lehnen die Verschärfung von polizeilichen Befugnissen und die Erhöhung der Polizeipräsenz als Lösungen ab. Die Exekutive eines Systems in dem Frauen unterdrückt werden, wird uns nicht schützen, sondern dieses System verteidigen. Sie werden unsere Bewegung zerschlagen wollen, erst recht, wenn wir mehr tun wollen, als auf Zugeständnisse zu hoffen. Während wir natürlich weiterhin für unmittelbare Forderungen kämpfen, sollte eine neue Frauenbewegung ihre Ziele höher stecken – hin zur Überwindung des Systems, des Kapitalismus, der im Namen des Profits Frauen an unbezahlte Hausarbeit in der Familie fesselt und die sexistischen Institutionen hervorbringt, die es erlauben, dass sich Sexismus und Frauenfeindlichkeit auf jeder Ebene der Gesellschaft und in jedem Teil der Welt ausbreiten.

Darum lautet unser Slogan: Frauen die kämpfen, sind Frauen, die leben. Lasst uns das System aus den Angeln heben!

Anhang: Häusliche Gewalt

So schockierend die Details von Sarahs Fall auch sind, so ist sie kein Einzelfall. Durchschnittlich werden täglich 137 Frauen getötet, weil sie Frauen sind. So die Erhebungen der UN, die zu dem Schluss kommen, dass häusliche Gewalt die häufigste Ursache für Mord von Frauen auf der Welt ist.

Ohne den Horror von Sarahs Ermordung zu schmälern, sollten wir uns daran erinnern, dass Frauen viel eher von einem Partner oder Ex-Partner getötet werden als von einem Fremden.

Die Krise der häuslichen Gewalt hat sich während der Lockdowns extrem verschlimmert, die Frauen in ihren Häusern mit ihren Missbrauchstätern gefangen halten und Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit anheizen, was es für Frauen schwieriger macht, missbräuchliche Beziehungen zu verlassen. Während des ersten Lockdowns stieg in Britannien die Zahl der Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt um 7 % gegenüber dem Vorjahr, und die britische  National Domestic Abuse Helpline verzeichnete einen Anstieg der Anrufe um 80 %. Gleichzeitig sank die Zahl der Strafverfolgungen und Verurteilungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als die Hälfte.

Die überwältigende Mehrheit dieser Frauen wird vor den Gerichten keine Gerechtigkeit erfahren. Frauenhäuser und spezialisierte Dienste in der Gemeinde sind lebenswichtig, doch die Mittel für sie wurden in den letzten zehn Jahren drastisch gekürzt. Trotz der Versprechen der Tory-Regierung, nach der Pandemie „wieder besser aufzubauen“, erleben die lokalen Behörden, die diese Dienste finanzieren, einige der schlimmsten Haushaltskürzungen aller Zeiten. Schätzungsweise 50 % der Frauenhäuser und Dienste mussten in den letzten zehn Jahren schließen oder wurden privatisiert.

Die konservative Regierung ist direkt verantwortlich für die systematische Zerstörung des Sicherheitsnetzes, das Frauen die Möglichkeit gibt, Gewalt und Missbrauch zu entkommen.




Pan y Rosas: Zwischen Reform und Revolution?

Aventina Holzer, Arbeiter*innenstandpunkt, REVOLUTION Österreich, Fight 9, März 2021

Seit Jahren nehmen nicht nur Angriffe auf Frauenrechte zu, sondern stellen sich auch Bewegungen in unterschiedlichen Ländern dieser Realität. Dies hat auch zu einer Wiederbelebung linker Strömungen geführt, die darauf eine Antwort geben wollen. Auf der einen Seite wird versucht, die Bewegungen zu unterstützen und zu analysieren, auf der anderen sie loszutreten, sie zu befeuern und in eine richtige Richtung zu lenken. Was die wenigsten Organisationen und Strömungen aber begreifen, ist die Notwendigkeit, Frauenkämpfe nicht nur abstrakt im Zusammenhang mit dem Kapitalismus zu sehen, sondern auch dementsprechend revolutionäre und klassenspezifische Organisierung zu erreichen. Deshalb halten wir es für zentral, in eine politische Debatte mit jenen Kräften zu treten, die diesen Anspruch an sich selbst und die Bewegung stellen. Schon in früheren Publikationen haben wir uns mit programmatischen Manifesten und Theorien beschäftigt, die selbst einen antikapitalistischen, sozialistischen oder marxistischen Anspruch formulieren. So diskutierten wir in der letzten Ausgabe von Fight! das Manifest Feminismus der 99 %. Im Revolutionären Marxismus 53 beschäftigten wir uns mit Lise Vogels Marxismus und Frauenunterdrückung und der Social Reproduction Theory.

Brot und Rosen

Im Folgenden besprechen wir das 2013 in Argentinien erschienene Buch Brot und Rosen: Geschlecht und Klasse im Kapitalismus (1) von Andrea D’Atri, dessen deutsche Übersetzung 2019 veröffentlicht wurde. Andrea D’Atri ist eine Aktivistin der argentinischen Frauenbewegung und eine Genossin der Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen) sowie der Partido de los Trabajadores Socialistas (Partei der sozialistischen ArbeiterInnen, PTS). Als eine der Gründerinnen von Brot und Rosen hat sie auch einen beachtlichen theoretischen Beitrag ihrer Organisation geleistet. Im Folgenden werden wir ihr Buch hinsichtlich ihres historischen Verständnisses und ihrer Programmatik untersuchen, aus denen sich maßgeblich ihre Vorstellungen für den anvisierten politischen Kampf ergeben. Im Anschluss werden wir daher auch auf  die programmatischen Grundlagen und Schlussfolgerungen  des Internationalen Manifests von Brot und Rosen eingehen.

Auch wenn Andrea D’Atris Buch nicht das Produkt eines gemeinsamen Beschlusses der gleichnamigen Organisation ist, so kann man es durchaus als die politische Grundlage des Manifests von Brot und Rosen betrachten. Es beginnt mit einer Geschichte von Frauenkämpfen. Mit einer Mischung aus historischem Gesamtblick und einzelnen biographischen Erzählungen sollen aus einer proletarischen Perspektive die Zugänge zum Kampf um Frauenbefreiung und Feminismus erläutert werden. Beginnend mit Getreideaufständen in Europa und gefolgt von der Französischen Revolution, über die Industrialisierung, die Pariser Commune bis hin zum Kampf für die demokratischen Rechte der Frau wird an episodischen Einzelschicksalen die Situation und die Notwendigkeit der Kämpfe verdeutlicht. Danach werden des Weiteren die Kriegssituation und auch die Kämpfe der sozialistischen Frauenbewegung anhand der Organisationen und Debatten der Zweiten Internationale dargestellt. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit der Sowjetunion und Frauenrechten. Im weiteren Verlauf wird auch deren stalinistische Degeneration beleuchtet. Schließlich werden die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, der Aufschwung der Linken nach 1968, das damit verbundene Anwachsen und die Radikalisierung des Feminismus betrachtet. Am Ende findet sich eine Kritik des institutionalisierten Feminismus wie des mit Postmodernismus, Dekonstruktivismus und Postmarxismus einhergehenden Vordringens von Individualismus und Skeptizismus.

Dieser Überblick verdeutlicht schon, worum es sich beim Buch handelt – und worum nicht. Brot und Rosen ist sowohl eine geschichtliche Darstellung der Frauenunterdrückung und der Entwicklung des Kampfes dagegen wie der Entwicklung des Feminismus. Oft erscheinen auch die linken Strömungen des Feminismus als synonym mit revolutionärer, marxistischer Politik. Anders als der Untertitel des Buches – Geschlecht und Klasse im Kapitalismus – suggeriert, stellt es keine theoretische Ausarbeitung des Verhältnisses von kapitalistischer Ausbeutung zu systematischer Unterdrückung der Frauen dar. Das Buch betont zwar immer wieder zu Recht, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht vom Klassenkampf getrennt begriffen werden darf, dass die ArbeiterInnenklasse das zentrale Subjekt im Kampf für Sozialismus und die Überwindung aller Unterdrückungsformen darstellt. Es verweist auch immer wieder berechtigter Weise darauf, dass das Kapital von der Fesselung der proletarischen Frau an die Hausarbeit unmittelbar ökonomisch profitiert und die Spaltung der Klasse seine Herrschaft politisch festigt. Auf analytischer Ebene allerdings bleibt die Darstellung im Wesentlichen bei diesen allgemeinen Wahrheiten stehen, die sowohl der Marxismus wie auch Teile des sozialistischen Feminismus anerkennen. Die spannende, für MarxistInnen zu beantwortende Frage wäre allerdings, wie die private Hausarbeit, und damit die spezifische Form der Frauenunterdrückung, mit dem Kapitalverhältnis zusammenhängt, wie das  Lohnarbeitsverhältnisses der Reproduktionsarbeit seinen Stempel aufdrückt. Diese theoretischen Schwächen werden insbesondere dann deutlich, wenn die Konzeptionen verschiedener feministischer Strömungen betrachtet werden. Im Buch wird sich ebenfalls mit der zweiten Welle des Feminismus und weiteren neueren Strömungen beschäftigt. Diese werden auch stärker politisch analysiert und eingeordnet. Hier können wir auf die politische Position der Autorin selbst Rückschlüsse zu ziehen und die Abgrenzung zum bürgerlichen Feminismus besser verstehen. Es werden dabei speziell die Unterschiede zwischen Gleichheitsfeminismus, zu denen D’Atri auch einige Strömungen des sozialistischen Feminismus zählt, und des Differenzfeminismus herausgearbeitet.

Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus

D’Atri beschreibt in diesem Kontext die feministische Bewegung Ende der 1960er Jahre sehr unkritisch: „Die generelle Perspektive der feministischen Bewegung der 70er Jahre ist anti-institutionell. Deshalb ist sie nur im Rahmen der weltweiten aufständischen Bewegungen zu verstehen […].“  (S. 175) Dies geht für sie – auch mit einem gewissen historischen Recht – mit einer Radikalisierung des Feminismus einer. Der Gleichheitsfeminismus betritt die Bühne. Dieser beschäftigt sich mit Geschlecht als Konstrukt, worauf auch die Unterscheidung in sex und gender, also zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, aufbaut. Diesbezüglich schreibt D’Atri:

„Der Gleichheitsfeminismus hat das Verdienst, Geschlecht als soziale Kategorie zu begreifen […]. Er macht sichtbar, dass die Unterdrückung der Frauen einen historischen Charakter hat und keine „natürliche“ Konsequenz aus anatomischen Unterschieden ist. Der Differenzfeminismus wiederum widersteht der Anpassung an ein System, das auf der Unterordnung, Diskriminierung und Unterdrückung all dessen basiert, was vom „universellen“ Modell abweicht, welches unter patriarchaler Herrschaft geschaffen wurde.“ (S. 196)

Die Radikalität der zweiten Welle des Feminismus verortet die Autorin also darin, dass sie an den Versprechen der bürgerlichen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – anknüpfe und diese gegen Patriarchat und Kapitalismus wende. D’Atri entgeht dabei zwar nicht, dass auch der bürgerliche und liberale Feminismus genau daran ansetzen. Sie geht jedoch nicht auf die Grenzen der Methode ein, die Kritik an Ausbeutung und Unterdrückung durch einen Abgleich mit den uneingelösten Freiheitsversprechen zu begründen. Es entgeht ihr damit, dass diese selbst zu einer reformerischen Lösung drängt, wie sie in der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft selbst noch in deren Idealen befangen bleibt, statt diese selbst als Ideologie zu begreifen.

Innerhalb des Gleichheitsfeminismus unterscheidet sie drei Formen: Den liberalen, den radikalen und den sozialistischen. Ersterer wolle den Kapitalismus reformieren, um die Lage der Frauen zu verbessern. Zweiterer betrachte das Patriarchat als die grundlegende Gesellschaftsstruktur, die es abzuschaffen gelte. Der Zugang, den die radikalen Feministen wählen, macht den Feminismus zu einer politischen Theorie, die die Gesamtheit des politischen Systems beschreiben soll. Hier werden die Frauen selbst als eigene Klasse betrachtet. Die sozialistischen Feministen konzentrieren sich, so D’Atri, währenddessen auf die Verbindung von marxistischer Gesellschaftsanalyse mit Frauenunterdrückung.

„Er (der sozialistische Feminismus; d. Red.) setzt den Schwerpunkt auf das Konzept des Patriarchats und auf die historische Entwicklung der Art und Weise, wie Familienverhältnisse in den verschiedenen Produktionsweisen organisiert sind. Die sozialistischen Feministinnen verstehen die Ungleichheit als eine ganz und gar gesellschaftliche Frage: Sie beschäftigen sich vor allem mit dem Konzept der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – eine Teilung, die für sie die Ursache für die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist. Sie definieren das Patriarchat als die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse der menschlichen Reproduktion, die von der männlichen Dominanz über Frauen und Kinder strukturiert sind.“ (S. 180)

Für einige, so D’Atri weiter, stellt das Patriarchat den Fokus und auch den Ausgangspunkt aller anderen Unterdrückung dar, der aus historisch-materialistischer und dialektischer Perspektive aufgearbeitet werden muss. Für andere besteht die Hauptaufgabe darin, Frauenunterdrückung mit der Entstehung der Klassengesellschaft zu begreifen und sie im Hinblick auf Produktion und Reproduktion zu analysieren. Die Autorin belässt es bei dem Verweis, dass sozialistische Feministen das Verhältnis von Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung verschieden fassen. Dabei liegt das Grundproblem des sozialistischen Feminismus gerade darin, dass er eine methodisch-theoretische Versöhnung zwischen radikalem Feminismus und Marxismus versucht, bei ihm Patriarchat und Kapitalverhältnis als mehr oder weniger gut miteinander verbundene, parallele, die gesellschaftliche Dynamik strukturierende Verhältnisse dargestellt werden.

Für den Marxismus stellt allerdings das Kapitalverhältnis den grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch dar, der die spezifischen Formen der modernen Reproduktion und damit auch die Frauenunterdrückung formt (2). Der sozialistische Feminismus vertritt hingegen letztlich eine dualistische Auffassung. Diese muss logisch und politisch-praktisch zu einem unterschiedlichen Begriff des revolutionären Subjekts führen. Für den Marxismus ist dies die ArbeiterInnenklasse, für den sozialistischen Feminismus gibt es hingegen letztlich zwei Befreiungssubjekte, die Lohnabhängigen und die Frauen. Unterschiedliche Strömungen innerhalb des sozialistischen Feminismus legen ein stärkeres Augenmerk auf das eine oder andere Subjekt. Tatsächlich ist dies im Endschluss allerdings eine Negation Zetkins vollkommen korrekter Bemerkung, dass es eine „Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend [gibt]; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine andere Gestalt an.“ (Zetkin, Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen)

Von dieser grundsätzlichen Problematik des sozialistischen Feminismus findet sich im Buch kein Wort. D’Atri unterstellt vielmehr, dass der sozialistische Feminismus eigentlich auf dem Boden der revolutionären ArbeiterInnenpolitik stehen würde: „die sozialistischen Feministinnen – strategisch und mit verschiedenen Nuancen – [bestehen] auf der Notwendigkeit einer antikapitalistischen Revolution.“ (S. 181) Wir möchten keinesfalls in Frage stellen, dass einige sozialistische FeministInnen durchaus subjektiv revolutionäre Ambitionen hegen. Allerdings verwischen solche Formulierungen die eigentlich fundamentalen Unterschiede zum Marxismus. Anstatt sozialistische FeministInnen für den historisch-dialektischen Marxismus zu gewinnen, werden letztlich gewichtige Positionen des letzteren aufgegeben. Unterschiedliche Theorien, oft auch mit unterschiedlichen praktischen Resultaten, erscheinen als reine Nuancen. Logischerweise wird daher auch der Niedergang des Gleichheits- und die Krise des sozialistischen Feminismus ohne Bezug auf deren eigene, innere Problematik erklärt. Er erscheint einzig als Resultat einer geschichtlichen Epochenwende:

„Während die bürgerliche Restauration voranschreitet, kann weder die Integration in die kapitalistische Demokratie des Gleichheitsfeminismus noch die widerspenstige Gegenkultur des Differenzfeminismus verhindern, dass sich Gewalt und Unterdrückung von Millionen Frauen auf der ganzen Welt fortwährend reproduzieren […].“ (S. 197)

Richtig ist sicherlich die kritische Haltung gegenüber dem institutionalisierten Gleichheits- und zum Differenzfeminismus. Stärker wird außerdem mit der Intersektionalität und Identitätspolitik abgerechnet, obwohl diese nur am Rande erwähnt werden. Die Kritik konzentriert sich darauf, dass eine Individualisierung der Unterdrückung nicht der Weg sein kann, um sie kollektiv zu überwinden. Es sei gefährlich, Ausbeutung auf eine Stufe mit Unterdrückung zu setzen, damit also auch die Ursprünge der Unterdrückung im Kapitalismus unscharf zu machen. Während dies der richtige Ansatzpunkt ist, wundern wir uns, warum diese Erkenntnis nicht auf die eigene Analyse der gesellschaftlichen Rolle von Frauen konsequent angewandt wird. Die Auseinandersetzung mit postmodernen Strömungen ist vor allem auf Judith Butler bezogen und kritisiert im weiteren Verlauf vor allem deren individualistische und idealistische Ansprüche, keine Theorie für die Massen schaffen zu können und zu wollen, daher auch teilweise keinen Anspruch zu hegen, das kapitalistische System zu überwinden. Neben dieser sehr berechtigten Kritik an unterschiedlichen Strömungen des Feminismus stellt sich für die LeserInnen ein bisschen die Frage, was denn nun die eigene Perspektive der Autorin ist. Das ist zwar nicht unbedingt die Fragestellung des Buches, wird aber auch im Manifest nicht ausreichend beantwortet, das am Ende des Buches veröffentlicht ist.

Brot und Rosen als Manifest

Das Internationale Manifest von Brot und Rosen stammt aus dem März 2017. Die Genossinnen dieser Organisation sind zugleich Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale. Ähnlich wie das Buch beginnt das Manifest mit einem kurzen Abriss von Frauenkämpfen, von einzelnen Biografien revolutionärer Frauen und von Kämpfen, die langfristige Veränderungen und Verbesserungen für die ArbeiterInnenbewegung gebracht haben. Es wird damit versucht zu erklären, in welcher Tradition Brot und Rosen sich sieht. Mit diesen historischen Verweisen wird im weiteren Verlauf auch die Notwendigkeit einer Abgrenzung von neoliberalen Lösungsversuchen und vom bürgerlichen Feminismus begründet, die sich auf individuelle statt kollektive Lösungsversuche verlassen. Zeitgleich wird aber auch betont, wie die Kämpfe der Vergangenheit zu einer kompletten Veränderung der Situation von Frauen weltweit führten, speziell was die Frage von demokratischen Rechten angeht. Dies wirft, laut dem Manifest, auch ein besonders schlechtes Licht auf den Stalinismus, der nicht nur eine reaktionäre Rolle in Frauenkämpfen spielte, sondern damit auch die Abkehr vieler Frauen vom Sozialismus zu verantworten hatte.

Die weitere Analyse leitet den Existenzgrund der Gruppierung aus dem speziellen Faktor der Gewalterfahrung aufgrund sexistischer Diskriminierung ab, was mit der Bewegung „Ni una menos“ auch ein wichtiger Ausgangspunkt der Entstehung der Organisation ist. Hierbei geht es in der Analyse speziell um die Ohnmacht, die Frauen fühlen und ihre Rolle als Opfer, wogegen sich Brot und Rosen stark machen möchte. Frauen sollen ihren Subjektstatus wiedererlangen. Zeitgleich wird argumentiert, dass man sich nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen könnte, um dieses Problem zu lösen und stattdessen der Hass gegen Unterdrückung und unfaire Behandlung auf den wahren Übeltäter, den Staat, gerichtet werden muss.

Im nächsten Abschnitt werden die ersten Forderungen mit den vorhergehenden Analysen verbunden. Es geht auf der einen Seite um den Kampf um politische Freiheiten und demokratische Rechte. An dieser Stelle wird zu Recht eine ultralinke Politik abgelehnt und argumentiert, dass man durchaus auch im Parlament für Verbesserungen und  Frauenrechte kämpfen kann. Andererseits wird für die breiter gefächerten Forderungen wie „gegen Gewalt an Frauen“ auch konkret vorgeschlagen, Frauenkommissionen in Betrieben, Wohnorten und Ähnlichem zu gründen, die sich selbst organisieren. Was diese Kommissionen dann aber konkret tun müssen, um aktiv gegen Gewalt an Frauen anzukämpfen, wird nicht weiter ausgeführt. Schlussfolgerungen wie Selbstverteidigung und demokratische Kontrolle an und über Arbeitsplätze/n werden nicht erwähnt. Weitere Forderungen beziehen sich auf antiimperialistische Positionen und ein „Ende von Rassismus“, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, Ausbau von Kinderbetreuung und Trennung von Staat und Kirche. Auch arbeitsrechtliche Verbesserungen haben ihren Platz im Manifest wie das Ende von prekärer Arbeit und einzelne Übergangsforderungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle Hände.

Der Ursprung der Frauenunterdrückung?

Es wird sich zwar immer wieder auf klassenkämpferische Politik bezogen, aber zeitgleich eine Ebene etabliert, auf der sexistische Unterdrückung zusätzlich, daher letztlich auch begriffslogisch unabhängig vom Kapitalverhältnis existiert. Folglich werden also die Fragen von Reproduktionsarbeit und der Vergesellschaftung dieser sowie zur Einbeziehung der gesamten Klasse in gemeinsame politische Kämpfe um diese herum nicht als zentraler programmatischer Ausgangspunkt gesehen – weder im Buch noch im Manifest.

Dieser Mangel führt auch dazu, dass wichtige Teilforderungen nach sozialer und politischer Gleichheit nicht mit der eigentlich strategischen Frage verbunden werden, in welche Richtung denn die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung überwunden werden muss. Eine Reihe von Minimalforderungen aufzustellen, ist zwar gut und richtig, führt aber zu keiner nachhaltigen Überwindung des Systems und entwickelt auch keinen Ansatz dazu, wie nach einer erfolgreichen Revolution Frauenunterdrückung überwunden werden kann.

Der ganze Text wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von Ungerechtigkeiten als eine systematische Analyse, aus der sich logisch der gemeinsame Kampf gegen Staat und Kapital ergibt. Am Ende wird anerkannt, dass die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus die Aufgabe der ArbeiterInnenklasse ist. Diese Schlussfolgerung wird aber davor kaum argumentiert. Sätze wie: „Denn in der unbezahlten Hausarbeit ruht ein Teil der Profite der Kapitalist*innen, die so den Arbeiter*innen nicht die Tätigkeiten entlohnen müssen, die für ihre eigene tägliche Reproduktion als Arbeitskräfte […] nötig sind“ (S. 252) beinhalten auch ein einseitiges Verständnis der Ökonomie der privaten Hausarbeit. Es wird suggeriert, dass diese immer mit einer Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft einhergehen würde. Dies ist aber keineswegs immer der Fall. Unter bestimmten Bedingungen können die Akkumulationsbedürfnisse sogar eine begrenzte Sozialisierung der Reproduktionsarbeit erfordern, die ihrerseits mit einer Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft einhergeht, wenn z. B. die Kosten für Lebensmittel sinken und Teile der Reproduktionsarbeit staatlich organisiert werden. Die Steigerung des Profits ist in diesem Fall nicht auf  Vermehrung privater Hausarbeit zurückzuführen, ja kann sogar mit deren Abnahme einhergehen.

Ein Übergangsprogramm zur Frauenbefreiung?

Schlussendlich betont das Manifest, dass Klassenunabhängigkeit erreicht werden muss. Die logische Schlussfolgerung ist die Schaffung einer unabhängigen ArbeiterInnenbewegung, die am Aufbau einer revolutionäre Massenpartei und Internationale beteiligt sein müsse. Das Programm endet mit der Betonung auf einem klaren Bruch mit dem Reformismus und einem Bekenntnis zur ArbeiterInnenbewegung. Damit steht es weit links von den meisten feministischen Strömungen. Die Frage ist freilich, ob das Manifest selbst eine konsequente programmatische Antwort liefert. Brot und Rosen steht in einer trotzkistischen Tradition und vielen Forderungen lässt sich das auch anmerken. Es fehlt aber eine Systematik, die versucht, ein schlüssiges Programm miteinander verbundener Übergangsforderungen zu entwickeln. Letztlich bleibt die Verbindung zwischen den heutigen Kämpfen und der Revolution hölzern. Vielmehr handelt es sich beim Manifest um eine Reihe an Minimal- und Maximalforderungen, die ohne einen roten Faden mit sporadischen Einsprengseln einzelner Übergangsforderungen aufgezählt werden.

Am augenscheinlichsten ist dabei, dass die Frage nach ArbeiterInnenkontrolle kaum erwähnt wird. Die Forderung aufzuwerfen, dass es „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ braucht oder auch eine Aufteilung der Arbeit auf alle Hände notwendig ist, ist sicher richtig, beantwortet aber nicht, wer das kontrolliert und wie diese Forderungen umgesetzt werden sollen. Die häufiger erwähnten Frauenkommissionen, die an Arbeitsplätzen, Schulen und Wohnorten gegründet werden sollen, bleiben relativ zahnlos. Es wird nicht erklärt, wie sie zu einem Interaktionspunkt einer militanten und von den kapitalistischen Institutionen unabhängigen Frauenbewegung werden können. Hierfür müssten sie sowohl Organe der  Selbstverteidigung einerseits sowie andererseits der Kontrolle am und über den Arbeitsplatz, Wohnort etc. sein. Es müsste außerdem dargestellt werden, in welchem Verhältnis sie zu den bestehenden Massenorganisationen stehen sollten. Es erscheint, als würden Gewerkschaften, reformistische oder links-populistische Parteien sich zu solchen Organen nicht verhalten oder diese gar kontrollieren falls sie morgen geschaffen würden.

Inwiefern sollen und können diese Frauenkommissionen mit dem vorherrschenden Bewusstsein brechen? Unter welchen Umständen können sie Gegeninstitutionen des bürgerlichen Staates verkörpern? Vor allem aber bleibt auch unklar, ob solche Kommission als Organe der proletarischen Einheitsfront oder Organe einer Minderheit der Klasse auftreten sollen.

Richtigerweise wird im Manifest die Notwendigkeit des Bruchs mit dem bürgerlichen Staat, dessen Institutionen und den bürgerlichen Parteien gefordert. Aber dies bleibt abstrakt ohne Bezugnahme auf die sehr reale Bewegung von ArbeiterInnen, die organisatorisch oft von reformistischen Parteien und bürokratischen Gewerkschaften kontrolliert, ideologisch von unterschiedlichen nicht-revolutionären feministischen Ideologien beeinflusst werden. In solchen Situationen sind Einheit in der Aktion und revolutionäre Kritik von oberster Bedeutung. Eine prinzipienfeste Anwendung der Einheitsfronttaktik kann sogar zeitweilige Bündnisse mit bürgerlichen oder liberalen Feministinnen wie mit VertreterInnen des Differenz- oder Queerfeminismus als auch dem Reformismus erlauben. Aber natürlich tragen solche Formationen einen Klassencharakter. Eine Schwäche von Brot und Rosen ist die fehlende theoretische Tiefe, welche wiederum kein breites taktisches Reservoir bietet. Das beinhaltet auch die Gefahr, dass praktischer Kontakt mit z. B. einer bürokratischen Gewerkschaft, die ArbeiterInnen organisiert, oder liberalen FeministInnen, die eine kämpfende kleinbürgerliche Frauenbewegung anführen, impressionistisch bleiben muss.

Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass die subjektiv revolutionären Linke – und dazu gehört auch Brot und Rosen – eine kleine Minderheit innerhalb der ArbeiterInnenklasse und der Frauenbewegung darstellt. Erfolgreiche Kämpfe sind auch auf dem Gebiet der Verteidigung der Rechte der Frauen nur möglich, wenn es gelingt, die AnhängerInnen von Massenbewegungen zu gewinnen, wenn wir die Forderung nach Einheit im Kampf sowohl an deren Mitglieder als auch an deren Führungen systematisch stellen. Diese methodische Schwäche bezüglich der Einheitsfront betrifft sicher nicht nur Brot und Rosen alleine, sondern bildet eines der Kernprobleme der zentristischen Politik der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale.

So erscheint das Entstehen einer revolutionären Kraft, der Bruch mit der Bourgeoisie vor allem als deklamatorische Übung. Natürlich kann es einer solchen Politik manchmal gelingen, eine beträchtliche Minderheit von Radikalen zu versammeln. Aber welche Richtung wird diese Minderheit einschlagen, um die Tore der gesamten Klasse zu stürmen? Wir fürchten, dass Brot und Rosen eine theoretische Schwäche innewohnt, die die Gefahr einer scharfen Wendung zum Opportunismus oder einer Fortsetzung des Sektierertums in sich birgt, sobald eine solche Organisation auf die Probe gestellt wird, wenn sie sich tatsächlich in der größeren Arena des Klassenkampfes praktisch verhalten muss. Dies ist verbunden mit einer Konzeption, die leicht als idealistischer Ansatz missverstanden werden kann, der erklärt, dass die Erfahrung der Unterdrückung und des radikalen Bruchs an sich das Potenzial für die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus bieten würde.

Revolution, aber wie?

Neben diesen programmatischen Unklarheiten ist auch die Schwerpunktsetzung etwas undurchsichtig. Für ein Programm, das sich selbst auf die Fahne schreibt, für eine Überwindung des Kapitalismus zu stehen, wird über diese letztlich kaum konkret geschrieben. Vielleicht sieht sich Brot und Rosen nicht in der Verantwortung, als Vorfeldorganisation eine eigenständige konsequente, revolutionäre Programmatik vorzuschlagen, sondern überlässt das lieber der Trotzkistischen Fraktion. Nichtsdestotrotz: Für eine Organisation, die sich in Worten so stark auf die Revolutionärin Luxemburg bezieht, wäre  eine Revolutionskonzeption durchaus angebracht. Das Manifest erklärt das Ziel der Schaffung einer Internationalen, aber auch hier erscheint dies vor allem als eine Willensbekundung.

Die Forderungen des Manifests spiegeln weitestgehend den Inhalt des Buches wider. Während wir mit den meisten konkreten Forderungen übereinstimmen, fallen diese jedoch recht knapp aus. Ein wichtiger blinder Punkt ist der Kampf um LGBTQIA+-Rechte, die vor allem in den letzten Jahren ein essenzieller Bezugspunkt für Frauenkämpfe geworden sind. Es wird weder klar, warum diese Kämpfe erneut an Bedeutung gewonnen haben, noch wie diese in der revolutionären Konzeption von Brot und Rosen zusammengeführt werden können.

Wie bereits erwähnt, fehlt ein zentraler programmatischer Punkt: die Vergesellschaftung der Hausarbeit und zentrale damit verbundene Forderungen. Leider fehlt auch eine Positionierung zu den Frauen*streiks, immerhin eine Massenbewegung unserer Zeit, die die Trennung von reproduktiver und produktiver Arbeit in den Vordergrund gestellt hat.

Sowohl Buch als auch Manifest übersehen oder bestreiten, dass der sozialistische Feminismus eine dualistische Interpretation des gesellschaftlichen Grundwiderspruchs darstellt. Zumindest implizit akzeptieren Brot und Rosen die Grundannahme aller feministischen Strömungen, dass es eine spezielle Frauenfrage gibt, die mit den Werkzeugen des historisch-dialektischen Materialismus nicht adäquat erklärt werden kann. Statt den Marxismus weiterzuentwickeln, auch durch kritische Auseinandersetzung mit empirischen, historischen oder theoretischen Konzepten des Feminismus, wird der Marxismus dem sozialistischen Feminismus angepasst.

So erklärt sich die dargestellte Dichotomie zwischen Feminismus und ArbeiterInnenbewegung, der die LeserInnen nur schwer entkommen können. Dies mag auch mit der Schwäche des Buches und des Manifests zusammenhängen, unterschiedliche analytische Ebenen zu etablieren: Theoretische Abstraktionen, historische Realitäten und zukünftige Interventionen erscheinen nebeneinander. Während die Auseinandersetzung mit der Historiografie und konkrete persönliche Beispiele das Verständnis und die empathische Beziehung zu einem Thema stärken können, wird es aber problematisch, wenn sich eine solche Methode im Manifest widerspiegelt.

Buch und Manifest schwanken stark zwischen Proklamationen, Geschichtsschreibung, persönlichen Erzählungen, theoretischen Zusammenfassungen, Forderungen und einer Kritik am liberalen Feminismus. Ein konsistentes Programm und zentrale Taktiken unserer Zeit werden jedoch kaum entwickelt. Der implizite Fokus, so scheint es, ist, den Feminismus wieder (?) sozialistisch zu machen. Dies scheint der Weg zu sein, auf dem eine proletarische, eine revolutionäre Frauenbewegung aufgebaut werden kann.

Letztlich ist es daher nicht verwunderlich, dass sowohl eine theoretische als auch eine programmatische Trennung zwischen dem Marxismus und den verschiedenen Spielarten des sozialistischen Feminismus fehlen, wo diese notwendig wären. Dies wird durch eine mangelnde Konzeption für die Intervention der revolutionären Organisationen gegenüber den Massenorganisationen ergänzt. Der Aufbau der proletarischen Frauenbewegung erscheint daher, wenn überhaupt, als ein ambivalenter und diskursiver Prozess des subjektiven sozialistischen Flügels innerhalb des Feminismus, nicht aber als eine theoretisch klärende Intervention des Marxismus gegenüber Strömungen des Feminismus.

Damit soll der wichtige Beitrag in den täglichen Kämpfen der Genossinnen von Brot und Rosen nicht unterschätzt werden. Ganz im Gegenteil. Gerade aufgrund der Impulse, die die Genossinnen gegeben haben, sind wir der Meinung, dass theoretische und programmatische Schwächen diskutiert werden sollten, bevor der gewonnene Fortschritt durch die bevorstehenden größeren praktischen Tests rückgängig gemacht wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass diese Kritik auch als eine solidarische verstanden wird. Wir haben unsererseits ein großes Interesse sowohl an einem gemeinsamen Klärungsprozess als auch an einer gemeinsamen Praxis beim Aufbau der heutigen Bewegungen.

Endnoten

(1) Andrea D’Atri, Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus, Argument Verlag, Hamburg 2019; Zitate aus dieser Ausgabe

(2) Ausführlicher dazu: Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale, Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, in: Revolutionärer Marxismus 42 und Stefan Katzer, Kritik des Feminismus, in: Fight! Revolutionärer Frauenzeitung Nr. 6




Bangladesch: Massenprotest gegen Vergewaltigung

Joe Crathorne/KD Tait, Infomail 1122, 19. Oktober 2020

Die Todesstrafe wurde für Vergewaltigungsfälle in Bangladesch als Reaktion auf eine Woche von Demonstrationen gegen weit verbreitete und zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen eingeführt.

Die Proteste brachen in der Hauptstadt Dhaka aus, nachdem Bildmaterial, das eine Gruppe von Männern zeigt, die eine Frau sexuell missbrauchen, über soziale Medien verbreitet wurde. Die Wut breitete sich schnell aus, und an mehreren Orten in ganz Bangladesch wurde zu Protesten aufgerufen.

Frauen- und StudentInnenorganisationen gehörten zu den ersten, die zu Demonstrationen aufriefen, darunter das Zentralkomitee der StudentInnengewerkschaft, das diesen Aufruf am 11. Oktober veröffentlichte:

„Die StudentInnengewerkschaft Bangladesch sendet einen internationalen Aufruf zur Solidarität an unsere FreundInnen und GenossInnen in der ganzen Welt, sich uns in diesem Kampf gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe anzuschließen. Ihre Solidarität in Form von Demonstrationen, Online-Botschaften, aufgezeichneten Erklärungen wäre ein wesentlicher Teil unseres Kampfes in Bangladesch. Die Regierung versagt dabei, ihren BürgerInnen Sicherheit und Schutz zu bieten, und mobilisiert stattdessen Polizei und Schlägertrupps, um unsere Proteste anzugreifen. Daher rufen wir alle Genossen und Genossinnen auf, sich uns anzuschließen und in diesem Kampf zusammenzustehen.“

Als Reaktion auf eine Reihe von Vergewaltigungen von Studentinnen in der Hauptstadt haben studentische Organisationen das ganze Jahr über eine herausragende Rolle bei Protesten gespielt.

Struktureller Sexismus

Der starke Anstieg der Fälle im letzten Jahr – von 942 im Jahr 2019 auf über 1.000 in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 – kann zum Teil auf die sozialen Veränderungen in einem Land zurückgeführt werden, in dem traditionelle patriarchalische Werte mit einer wachsenden Zahl von Frauen in den Bereichen Arbeit und Bildung in Konflikt geraten. Sexuelle Gewalt ist ein Mittel, um Frauen zu terrorisieren, damit sie einen den Männern untergeordneten Status akzeptieren.

Aber wie in praktisch allen Ländern schafft der systemische Sexismus im Rechtssystem eine Kultur der Straflosigkeit. Die Verurteilungsrate für angezeigte Vergewaltigungen liegt in Bangladesch unter einem Prozent, was durch institutionellen Sexismus innerhalb der Polizei und der Justiz sowie durch Gesetze aus der Kolonialzeit, die AnwältInnen dazu ermutigen, den moralischen Charakter der AnklägerInnen anzugreifen, erschwert wird.

Infolgedessen sehen sich die Überlebenden mit Stigmatisierung und Arbeitsplatzverlust konfrontiert und werden, insbesondere in ländlichen Gebieten, von den Familien oft gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten.

Die Entscheidung der Regierung von Bangladesch zur Einführung der Todesstrafe, die von vielen Protestierenden gefordert wurde, aber von der Rechtsreformkoalition in Bezug auf Vergewaltigung, einer Frauenrechtsgruppe des Landes, ausdrücklich abgelehnt wird, greift religiöse und konservative Vorurteile unter den Protestierenden auf, anstatt die von Frauenorganisationen geforderten demokratischen Reformen zu übernehmen.

Das Beispiel des benachbarten Indien, das ebenfalls Wellen von Massenprotesten gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe erlebt hat, zeigt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Todesstrafe von Vergewaltigung abschreckt. Tatsächlich machen Todesurteile Verurteilungen durch Geschworene weniger wahrscheinlich, und in einem Land, in dem die Einschüchterung der Opfer weit verbreitet ist, kann sie Überlebende davon abhalten, Angriffe zu melden.

Frauenorganisationen in Bangladesch setzen sich für eine Reihe demokratischer Reformen ein, die von der ArbeiterInnenbewegung aufgegriffen werden sollten, darunter der ZeugInnenschutz, die Ausweitung der Definition von Vergewaltigung, das Verbot der Verwendung von Leumundszeugnissen und die Einführung von Einwilligungspflicht und Sexualerziehung in Schulen.

So wie die Verteidigung von Frauen nicht in den Händen der Familie liegen kann, kann sie auch nicht dem Staat oder seinen Zwangsinstrumenten überlassen werden, egal wie viele Kurse zur Sensibilisierung von PolizeibeamtInnen besucht werden.

Perspektive

Auf dem Campus und in den ArbeiterInnenvierteln sollten Selbstverteidigungsgruppen aus Frauen und Männern gebildet werden, um gegen antisoziales, unterdrückendes und gewalttätiges Verhalten vorzugehen, das sich gegen Frauen und unterdrückte Gruppen richtet.

Da Vergewaltigung und sexuelle Gewalt in engem Zusammenhang mit der sozialen Stellung von Frauen stehen, muss die ArbeiterInnenbewegung den Kampf nicht nur für demokratische Reformen, den massiven Ausbau staatlich finanzierter Zufluchtsorte, öffentliche Dienste zur Entlastung der Frauen von der Bürde der Hausarbeit, sondern auch für gleiche Bezahlung, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und für die volle und gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an der Gewerkschaftsbewegung aufnehmen, einschließlich der Selbstorganisation von Frauen und anderen unterdrückten Gruppen in eigenen Abteilungen und separaten Treffen (Caucuses) zur Bekämpfung von Vorurteilen und Sexismus.

Die Proteste in Bangladesch und Indien müssen im Kontext einer wachsenden weltweiten Bewegung gegen Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gesehen werden, die den physischen Ausdruck der Unterordnung der Frauen unter die Männer in der Klassengesellschaft darstellen.

Die Tatsache, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und in zunehmendem Maße auch gegen Kinder auf dem Vormarsch ist, von der halbkolonialen Welt bis zu den imperialistischen Zentren, zeigt, dass die Unterdrückung von Frauen zwar unterschiedliche kulturelle Formen annehmen kann, ihr Wesen aber der Klassengesellschaft immanent ist. Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise untermauert die Frauenunterdrückung den Profit durch unbezahlte Arbeit im Haus und Überausbeutung am Arbeitsplatz.

Während im Westen durch begrenzte staatliche Gesundheits- und Sozialfürsorge, Bildung, Scheidungs- und Reproduktionsrechte einige Fortschritte erzielt wurden, macht die brutale Ausbeutung der halbkolonialen ArbeiterInnenklasse durch die imperialistischen Staaten solche Reformen in der sog. Dritten Welt zu einer Utopie, solange das Profitsystem und die Spaltung in antagonistische Klassen bestehen.

Die Unterdrückung der Frauen ist keine nationale, sondern eine globale Frage. Nur eine auf internationaler Ebene koordinierte Bewegung von Frauen-, ArbeiterInnen- und Jugendorganisationen, die auf sozialistischen Prinzipien der Frauenbefreiung und des Kampfes gegen den Imperialismus basiert, kann einen konsequenten Einsatz gegen patriarchalische Gewalt führen.

Der Aufruf zur internationalen Solidarität von StudentInnen aus Bangladesch zeigt einen Schritt in diese Richtung, und es ist die Pflicht der KommunistInnen und SozialistInnen in der ganzen Welt, insbesondere im Westen, diesem Aufruf nachzukommen.




Gesellschaftliche Unterdrückung und linke Organisationen

Jonathan Frühling, Infomail 1108, 24. Juni 2020

Gesellschaftliche Unterdrückung ist nahezu allgegenwärtig und auch als AktivistInnen in linken Organisationen sind wir nicht frei davon, weil wir durch eben diese Gesellschaft geprägt werden. Wir alle sind durch das Schulsystem gegangen, welches bekanntermaßen neben Bildung auch die Funktion hat, ein bürgerliches Bewusstsein zu vermitteln. Rassistische und sexistische LehrerInnen, Konkurrenzkampf und Mobbing sind hier einige Schlagworte, die den meisten Menschen bekannt sind. Doch auch die Hetze gegen Geflüchtete in den Zeitungen, die Darstellung von Frauen in untergeordneten Rollen in Filmen und Serien oder ein sexistischer Kommentar durch ArbeitskollegInnen hinterlassen in unserem Denken ihre Spur. Diese Prozesse finden praktisch ständig und überall um uns herum statt. Zwar kann man linke Tageszeitungen lesen, explizit sexistische Filme vermeiden und dem Arbeitskollegen seine Meinung sagen, aber ganz entziehen kann man sich der Gesellschaft natürlich nicht.

Natürlich bestehen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse grundlegend unabhängig vom subjektiven Verhalten einzelner Menschen oder erst recht der Mitglieder linker politischer Gruppen. Sie lassen sich daher auch nur durch den gemeinsamen Kampf und letztlich nur durch den Sturz des kapitalistischen Systems selbst überwinden und die Errichtung einer Gesellschaftsordnung, die der Unterdrückung nicht mehr bedarf. Letzteres deutet nicht, dass die Unterdrückungsverhältnisse wie auch Unterschiede innerhalb der ArbeiterInnenklasse – z. B. zwischen Hand- und Kopfarbeit – mit einer sozialistischen Revolution automatisch verschwinden, aber die Enteignung des Kapitals und die bewusste gesellschaftliche Planung stellt eine notwendige Voraussetzung für ihre Überwindung dar.

Der Kampf gegen die Reproduktion unterdrückerischen Verhaltens in der ArbeiterInnenbewegung schafft also nicht die Wurzeln der gesellschaftlichen Unterdrückung aus der Welt, ist aber unerlässlich, um diesen überhaupt bewusst führen zu können.

Es versteht sich deshalb von selbst, dass es auch innerhalb linker Organisationen Probleme mit Unterdrückungsmechanismen gibt, die durch die eigenen Mitglieder ausgeübt werden.

Dies nicht zu leugnen, ist kein Eingeständnis des eigenen Scheiterns, sondern nur ehrlich und öffnet den Weg für notwendige Diskussionen: Es stellt überhaupt erst die Frage, wie entsprechende Unterdrückungsmechanismen in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden können und müssen. Ansonsten werden unterdrückerisches Verhalten und entsprechende Bewusstseinsformen unwillkürlich reproduziert.

Wir wollen daher im Folgenden einige Formen darstellen, die wir bei uns, aber auch in der ArbeiterInnenbewegung selbst für notwendig im Kampf gegen soziale Unterdrückung erachten.

Das Caucusrecht

Als Grundlage sollte es ein Caucusrecht für alle sozial Unterdrückten, wie z. B. Frauen oder People of Colour, geben. Das bedeutet, dass diesen Personen das Recht eingeräumt wird, sich innerhalb der Organisationen gesondert zu treffen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, geschützt vor potenziellen UnterdrückerInnen zu diskutieren. Es soll so ein Schutzraum geboten werden, indem Betroffene ungehemmt Hilfe und Beistand bei individuellen und kollektiven Unterdrückungserfahrungen außerhalb und innerhalb der Organisation erhalten können. Wichtiger ist jedoch der Aspekt, dass die Betroffenen dort selbst (politische) Vorschläge erarbeiten, wie die Unterdrückung innerhalb und außerhalb der Organisation bekämpft werden soll. Solche innerorganisatorischen Strukturen sind keine Selbsthilfegruppen für Betroffene, sondern solche, die den Finger auf mögliche Wunden legen können. Daher räumen wir nicht nur unseren GenossInnen intern das Recht ein, bei Bedarf einen Caucus ins Leben zu rufen, sondern stellen dies auch als Forderung auf. Das Recht zur Caucusbildung sollte unterdrückten Schichten der Gesellschaft in allen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ermöglicht werden. So können unsere Organisationen einerseits von eigenem Fehlverhalten lernen wie auch das Ziel ermöglichen, die ArbeiterInnenklasse in ihrer Gesamtheit zu organisieren.

Maßnahmen gegen sexuelle Grenzüberschreitungen

Auch sexuelle Grenzüberschreitungen können in linken Organisationen vorkommen. Es ist daher wichtig, dass sich die Organisation bei der Klärung und Sanktionierung entsprechender Vorfälle an ein im Vorhinein demokratisch abgestimmtes Verfahren hält. Dabei sollte festgehalten werden, welche Personen oder Gremien damit beauftragt sind, solche Vorwürfe aufzuklären, oder wann und in welcher Form die Mitgliedschaft darüber informiert wird. Welche Personen Sanktionen aussprechen dürfen (zumeist sind dies Schiedskommissionen oder die Leitungen), sollte auch festgelegt werden. Natürlich müssen alle an diesem Prozess beteiligten Personen der Organisation in ihrer Gesamtheit rechenschaftspflichtig sein.

Bei der Behandlung sexueller Grenzüberschreitungen sollten Untersuchungskommissionen eingerichtet werden, die mehrheitlich aus gesellschaftlich Unterdrückten bestehen. Sollte das z. B. in einer kleinen Ortsgruppe nicht möglich sein, so kann diese auch aus GenossInnen aus anderen Städten zusammengesetzt werden. Wir lehnen zwar das Prinzip der Definitionsmacht über einen Vorwurf durch die betroffene Person ab, aber die beschuldigten GenossInnen sind zur aktiven Mitarbeit an der Aufklärung eines Vorwurfs verpflichtet. Schließlich sind Mitglieder für die Zeit der Untersuchung eines Vorwurfs suspendiert (d. h. sie verlieren in diesem Zeitraum ihre Mitgliederrechte).

Die Stellung  sozial unterdrückter Personen in linken Organisationen

In den meisten politischen Organisationen (auch linken) sind sozial unterdrückte Menschen wie z. B. Frauen, Jugendliche, People of Color und Menschen aus der LGBTQIA+-Bewegung unterrepräsentiert, was auch mit ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung zusammenhängt. Es ist deshalb wichtig, dass sich Unterdrückte in besonderem Maße zu politischen AktivistInnen entwickeln können und der Reproduktion gesellschaftsspezifischer Arbeitsteilung aktiv entgegengesteuert wird. So sollten technische Aufgaben (wie z. B. das Drucken eines Flyers), wann immer möglich, nicht an Frauen delegiert werden. So können sie sich mehr auf ihre politische Entwicklung konzentrieren und aktiv nach außen hin auftreten – und die Organisation sollte diese Entwicklung auch bewusst vorantreiben.

Sie sollten dabei von den anderen Mitgliedern bestärkt werden und Unterstützung erhalten, wenn sie dies wünschen. Politische Schulungen, die ausschließlich von und für sich als weibliche verstehende Mitglieder offen sind, können für Frauen ein zusätzliches Schulungsmoment sein. Die Organisierung von Kinderbetreuung, damit Mütter (und Väter) an Ortsgruppentreffen, Veranstaltungen oder Schulungen teilnehmen können, sollte vor allem durch die männlichen Teile einer linken Organisationen sichergestellt werden.

Die Aufgabe der gesellschaftlich Privilegierten

Aber auch die relativ privilegierten Teile der Gruppe, die nicht selten auch als Unterdrücker oder Träger rückständiger Bewusstseinsformen in Erscheinung treten, müssen natürlich in die Verantwortung genommen werden. Dabei reicht es im Kampf gegen Sexismus beispielsweise nicht aus, sich mit feministischer Theorie auszukennen. Sexistische Verhaltensmuster spiegeln sich nämlich trotzdem in dem Handeln linker Männer allzu oft wider. Deshalb müssen sich Männer über ihr eigenes unterdrückerisches Verhalten bewusst werden und aktiv dagegen ankämpfen. Deshalb haben wir damit begonnen, antisexistische Männertreffen  abzuhalten. Auf diesen Treffen sollen Männer ihre Sozialisierung und ihr eigenes Verhalten kritisch analysieren. So kann z. B. das Bewusstsein geschärft werden, inwiefern Blicke bereits als sexuelle Belästigung wahrgenommen, ob Frauen häufiger unterbrochen oder ob die Vorschläge von Frauen und anderen unterdrückten Schichten genauso ernst genommen werden wie die der Männer. Diesen Prozess können Frauen natürlich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit dieser Unterdrückung, wenn nötig, kritisch unterstützen. Vor allem aber geht es auch darum, nicht nur Bewusstsein für eigenes Verhalten zu schärfen, sondern vor allem die eigene Praxis in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, im Kampf gegen Sexismus und andere Formen der Unterdrückung im Betrieb, an der Uni, an der Schule zu entwickeln.

Schluss

Der Kampf gegen Unterdrückung in der eigenen Organisation sollte einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Erstens wollen wir eine Welt schaffen, die frei von Unterdrückung ist. Das bedeutet aber auch, dass RevolutionärInnen zu bewussten VorkämpferInnen gegen alle Formen der Unterdrückung erzogen werden. Das ist zwar in erste Linie eine politische Frage, aber es gehört auch dazu, selbst zu lernen, die Anliegen, die Sprache von Unterdrückten aufzunehmen und zu unterstützen. Wenn eine Organisation ihre Mitglieder nicht aktiv und immer wieder darauf vorbereitet, wird sie auch unfähig sein, die ArbeiterInnenbewegung und die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Zweitens können wir nur so den unterdrückten Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft eine politische Organisation bieten, in der ihre Unterdrückung, wenn auch nicht aufgehoben, so zumindest gemindert ist und aktiv bekämpft wird.

Drittens kann und muss jedoch eine revolutionäre Organisation besonders Unterdrückten die Möglichkeit geben, sich zu politischen AktivistInnen zu entwickeln und den Klassenkampf in ihrem Sinne mitzuprägen. Nur so werden RevolutionärInnen Zugang zu diesen Schichten erhalten, von ihnen lernen und gemeinsam unterdrückerische Verhaltensweisen und die Verhältnisse, die sie hervorbringen, bekämpfen können. Mithilfe der GenossInnen aus verschiedenen unterdrückten Schichten kann das revolutionäre Programm weiter ausgearbeitet, bereichert und konkretisiert werden, so dass sichergestellt wird, dass es der gesamten ArbeiterInnenklasse entspricht (und nicht unbewusst an deren privilegierte Teile angepasst wird).