Halle: 4. Jahrestag des faschistischen und antisemitischen Terrorangriffs – Kein Vergeben, kein Vergessen!

Leonie Schmidt, ursprünglich veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1233, 9. Oktober 2023

Antisemitismus, Mord, Rassismus

Am 9.10.2019 griff der bewaffnete Nazi B. erst eine Synagoge an, in welcher sich ca. 50 Personen befanden, wofür er sich den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur aussuchte. Da aber die Türen der Synagoge glücklicherweise gegen sein Eindringen standhielten, zog er weiter, um letztendlich zwei scheinbar wahllos ausgesuchte Personen auf offener Straße und in einem Dönerladen zu erschießen. Neben einigen Schusswaffen und scharfer Munition hatte der Nazi auch vier Kilo Sprengstoff in sein Auto geladen und zudem eine Kampfmontur aus einem Stahlhelm, einer schusssicheren Weste sowie einer Art „Uniform“. Letztendlich wurde er nach einer stundenlangen Verfolgungsjagd von der Polizei gestellt und verhaftet.

Motiv & Hintergründe

Ursprünglich wollte der Täter wohl ein linkes Zentrum angreifen, hatte sich jedoch anders entschieden und sich laut seinem eigenen wirren Manifest vom Attentäter in Christchurch (Neuseeland) inspirieren lassen, wenngleich dieser Moscheen angriff. Auch der Attentäter von Halle überlegte wohl zuerst, eine Moschee anzugreifen, da laut seinem faschistischen Weltbild Muslim:innen schlimmer als Linke seien. Entsprechend seiner Ideologie wählte er dann aber aus einem antisemitischen Motiv heraus eine Synagoge, da er den Islam nur als Symptom und nicht als Ursache seines eigenen Elends ansehen würde. Da die Person, die er auf offener Straße erschoss, eine Frau war, kann auch vermutet werden, dass ein Motiv hier Frauenhass und Antifeminismus gewesen sein könnte, da er in seinem Manifest auch den Feminismus zu seinem Feind erklärte. Das wurde jedoch nicht im Abschlussbericht der Bundesregierung zur Tat vermerkt, wenngleich Frauenhass ein gängiger Bestandteil rechtsradikaler Ideologien ist. Im Gerichtsverfahren erklärte der Täter, Jana L. habe ihn beleidigt und da er seine Tat auf Twitch livestreamte, rechtfertigte er den Mord damit, dass er nicht von seinen Zuschauer:innen ausgelacht werden wollte. Das Mordopfer Kevin S., welches er im Dönerladen erschoss, habe er aufgrund seiner Haarfarbe für einen Muslim gehalten, wie er vor Gericht darlegte. Des Weiteren sagte er im Gerichtsprozess aus, dass er nicht wollte, dass weiße Menschen sterben, er es insofern bedauere und breitete seine rechtsextreme Gesinnung für alle hörbar aus. Das alles untermauert nur das perfide Weltbild des Täters, welches die ideologische Basis für sein Verbrechen bildete. Es darf nicht unbeachtet gelassen werden, dass er definitiv versuchte, mehr Personen zu ermorden, was ihm aber glücklicherweise nicht gelang.

Radikalisierung bei der Bundeswehr und im Internet

Der Täter wurde im Grundwehrdienst 2010 – 2011 an der Waffe ausgebildet. Aussagen im Prozess zufolge habe er bereits da das Wort „Jude“ als Schimpfwort verwendet, was in der Truppe so üblich gewesen sei. Immer wieder verschwinden Waffen bei der Bundeswehr, werden rechte Netzwerke aufgedeckt. Dass es sich hier um keinen Einzelfall, sondern mindestens um staatlich geduldeten Rechtsextremismus handelt, muss uns klar sein.

Darüber hinaus radikalisierte sich B. in diversen Internetforen, wo er Hitlers „Mein Kampf“, antisemitische Propaganda und gewaltvolle Mordvideos des IS downloadete. Dort chattete er mit anderen Männern, die ähnlich wie er sozial isoliert waren und sein rechtsradikales Weltbild teilten. So konnten sie sich gegenseitig in ihrer menschenverachtenden Ideologie bestärken und bekamen Anerkennung von Gleichgesinnten, was sie immer weiter radikalisieren konnte. Auch hier ähnelt B. dem Attentäter von Christchurch. Dieser hatte sich ebenfalls in einschlägigen Internetforen herumgetrieben und mit anderen Rechtsradikalen connectet.

Das Versagen der Polizei

Wie immer hat sich die Polizei nicht mit Ruhm bekleckert. Dass es, wenn es um Rechtsradikalismus geht, immer wieder passiert, dass den staatlichen Behörden sehr grobe Fehler unterlaufen, kann wahrlich kein Zufall sein, wie wir schon seit dem NSU-Komplex und dem Attentat in Hanau ahnen können. In Halle war das erste Problem, dass die Polizei nicht die Sorge der jüdischen Community vor Angriffen ernst nahm. Diese hatte seit Jahren die Polizei um Schutz an jüdischen Feiertagen für die Synagogen gebeten, war jedoch in ihrer Sorge ignoriert worden. Wie spätestens am 9.10.19 zu sehen war, eine mehr als berechtigte Sorge. Auch vor dem Gerichtsprozess gegen B. kam es wieder vermehrt zu Angriffen und Einschüchterungsversuchen gegen die hallesche jüdische Gemeinde. Am Tag der Tat musste sich der Rabbiner, der die Polizei nach den Schüssen auf die Synagoge anrief, erst unnötigen, zeitverzögernden Fragen stellen, bevor er überhaupt zur Notrufzentrale durchgestellt wurde. Zusätzlich kritisiert wurde das Verhalten der Polizei gegenüber den Juden und Jüdinnen, die sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge aufgehalten hatten. Bei der Vernehmung waren die Beamt:innen empathie- und insbesondre ahnungslos hinsichtlich der jüdischen Religion, erklärten den Betroffenen nicht, was überhaupt passiert war, und hefteten den evakuierten Juden und Jüdinnen Zettel mit Nummern an, was einige von ihnen an die NS-Zeit erinnerte. Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen, welche gerade so um Haaresbreite dem antisemitischen Mordanschlag des Täters entkommen konnten.

Des Weiteren unterliefen Fehler beim Sichern von Beweismitteln: So konnte die Polizei nicht alle Onlineaktivitäten in einem Bilderforum von B. vor der Löschung am 11.10.19 sichern, welche von einem Moderator beseitigt wurden. Das inkludiert auch die Interaktion mit anderen Teilnehmer:innen des Forums sowie Verweise auf sein Manifest und Waffenbauanleitungen. Die Löschung wirft außerdem die Frage auf, welche Verbindungen durch den Moderator vertuscht werden sollten. Immerhin ging die Polizei anfangs nicht von einem Einzeltäter aus. So durchsuchte sie am 14.10.19 eine Wohnung in Mönchengladbach, von welcher IP-Adresse aus B.s Manifest zeitnah zum Anschlag hochgeladen worden war. Die Bewohner bestritten jedoch, B. gekannt und etwas vom Anschlag gewusst zu haben. Auch das Überprüfen der Gaming-Kontakte als Bestandteil von B.s Ideologie und seiner Radikalisierung wurde von der Polizei unzureichend durchgeführt. B. hatte mehrere Steam-Accounts und spielte Egoshooter. Der Verfassungsschutz teilte mit, in seiner Kontaktliste wären weitere Ermittlungsansätze vorhanden, welche aber nicht weiterverfolgt wurden. Des Weiteren wurde für die Auswertung des Steam-Accounts eine Beamtin eingesetzt, die angab, wenig Ahnung von den Mechanismen der Plattform gehabt zu haben.

Die Gefahr ist nicht gebannt

Nach langwierigem Gerichtsprozess wurde B. im Dezember 2020 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Doch gelöst hat er sich von seiner Ideologie und Gewaltbereitschaft natürlich nicht. Das zeigen auch die Geschehnisse in seiner Haftzeit. So versuchte er mehrmals zu flüchten: einmal 2020, indem er einen Hofbesuch zum Überqueren einer Mauer nutzte, nachdem die JVA eigenmächtig seine Sicherheitsmaßnahme heruntergefahren hatte, und einmal, indem er im Dezember 2022 zwei JVA-Beamte mit einer selbstgebauten Waffe über Stunden als Geisel nahm. Danach wurde er in ein Gefängnis in Bayern verlegt, welches auf besonders schwerwiegende Straftäter spezialisiert ist.

Des Weiteren wurden in seiner Zelle Briefe von polizeibekannten Nazis sowie von einer 20-jährigen Kriminalkommissarin aus Dessau-Roßlau gefunden. Diese war aufgefallen, nachdem sie sich gegenüber einem Kollegen positiv auf B.s Taten und Weltanschauung bezog.

Wir können also sehen: Nur weil der Täter im Gefängnis ist, ist die Gefahr nicht gebannt. Er konnte weiterhin seine Kontakte zu anderen Rechtsradikalen aufrechterhalten und so in seiner Ideologie und Tat weiterhin bestärkt werden. Auch sind in Sachsen-Anhalt weiterhin Naziterrornetzwerke aktiv, so zum Beispiel das aus Großbritannien stammende Netzwerk „Blood and Honour“. Auch die Identitäre Bewegung (IB), deren österreichischer Anführer Martin Sellner mit dem Attentäter von Christchurch in Kontakt stand, hatte bis vor einigen Jahren noch ihr Hausprojekt in der Nähe des Steintor Campus in Halle, wo sie mit Propaganda gegenüber Studierenden, Einschüchterungen in der Mensa und einem Angriff auf Zivilpolizisten auffielen. Hier hatte auch der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider sein Abgeordnetenbüro, obwohl die AfD offiziell eine Unvereinbarkeitserklärung mit der IB hat.

Hier kommen wir auch zu des Pudels Kern: Die Tat von Halle darf nicht als einzelne gewertet werden, sie muss im Kontext von erneuter Zunahme von Naziterror in Deutschland verstanden werden, auch wenn nach wie vor nicht bekannt ist, welche Netzwerke den Täter bei seinem Vorhaben eventuell unterstützt haben könnten. Ob Halle, Hanau oder München: Diese Taten nehmen zu. Auch 4 Jahre später finden wir uns in einer Gesellschaft, welche noch weiter nach rechts gerückt ist, wie wir an den hohen Stimmenprozenten für die AfD sehen, aber auch an der Teilhabe der Grünen an rassistischer Geflüchtetenpolitik. Dementsprechend können wir auch kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat haben, in welchem rechtsextreme Strukturen zum Alltag gehören. Denn dieser bürgerliche Staat als ideeller Gesamtvertreter der Kapitalist:innenklasse gehört zum Produzenten des Rechtsrucks. Rechte Ideologien und Faschismus sind Produkte der kapitalistischen Produktionsweise und gewinnen häufig nach und während Krisen kräftig an Zulauf. Der Rechtsruck entstand im Zuge der Nachwehen der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und wurde ursprünglich von Mittelschichten, v. a. dem Kleinbürger:innentum, getragen, welche sich davor fürchten, in die Arbeiter:innenklasse abzusteigen, da sie in der Krise nicht mehr mit den Großkonzernen mithalten können. Aber auch die desillusionierte und ebenfalls von der Krise geschüttelte Arbeiter:innenklasse war empfänglich für rechte Propaganda. So war es den rechten Akteur:innen möglich, ein Feindbild zu schaffen, welches zu begründen versuchte, warum es der Arbeiter:innenklasse so schlecht geht, obwohl der reale Grund in der Krise selbst und dem Umgang damit lag: beispielsweise Kürzungen im Sozialbereich, Entlassungen, der Agenda 2010 inkl. Leih- und Zeitarbeit, Privatisierungen, der Schuldenbremse usw. Heute nimmt die kapitalistische Krise erneut an Fahrt auf und ist alles andere als gebannt. Daher ist klar: Wenn wir den Faschismus schlagen wollen, wenn sein Terror der Vergangenheit angehören soll, dann müssen wir auch den Kapitalismus zerschlagen! Dafür müssen wir linke Antworten auf die Krisen unserer Zeit finden und populär machen.

Widerstand und Selbstschutz

Was wir gegen den Rechtsruck im Allgemeinen und gegen faschistischen Terror im Besonderen brauchen, ist eine bundesweit gut vernetzte und lokal verankerte Bündnisstruktur aus allen linken und Organisationen der Arbeiter:innenklasse. Unabhängig von inhaltlichen Differenzen muss eine solche Einheitsfront gemeinsam und massenhaft Widerstand auf allen Ebenen organisieren, auch durch militante Selbstverteidigungsstrukturen. Auf den Staat und seine Behörden, wie Polizei oder Verfassungsschutz, ist dabei kein Verlass. Im Gegenteil, diese sind selbst von faschistischen Netzwerken durchzogen.

  • Kampf dem Rassismus und Antisemitismus auf allen Ebenen!

  • Für massenhafte gemeinsame Aktionen der gesamten Linken und der Arbeiter:innenbewegung!

  • Kein Vertrauen in staatliche Behörden! Zerschlagt die faschistischen Netzwerke selbst und organisiert militante Selbstschutzstrukturen!



Wir sind alle linx: Rechte und staatliche Gewalt gemeinsam stoppen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1224, 5. Juni 2023

Am Mittwoch, dem 31. Mai, wurde die Antifaschistin Lina E. zu mehr als 5 Jahren Haft verurteilt. Weitere Angeklagte erhielten mehrjährige Haftstrafen. Das Urteil ist ein Hohn, der Prozess ein politischer Schauprozess. Er soll mahnen und zeigen, wer hier die Oberhand hat und was passiert, wenn man sich gegen die politische Rechte in Deutschland wehrt. Ähnlich rabiat wurde mit den Solidaritätsprotesten verfahren: Die Versammlungsfreiheit wurde einfach mal so eingeschränkt. Hunderte wurden gekesselt und werden nun des schweren Landfriedensbruchs beschuldigt. Handys wurden eingesackt und obendrauf gab’s noch Polizeigewalt und Repression, die nicht für alle kostenlos sein wird.

Die Frage der Selbstjustiz

Unter dem Hashtag #LinaE wurde tausendfach getwittert. Ganz vorne mit dabei: Liberale und Bürgerliche wie Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP, die uns erklären wollen, dass rechte Gewalt ja schlimm ist, die „Selbstjustiz“ von Lina aber gar nicht gehe. Und da sind dann eben solche Urteile gerecht. Dass die Verurteilung wesentlich auf der sog. „Kronzeugenregelung“ basiert, die weniger der „Wahrheitsfindung“ dient, wohl aber Denunziation durch Interessen geleitete und zweifelhafte Aussagen fördert, findet keine Erwähnung. Dass bei der Indizienlage das Prinzip „Im Zweifel für die Angeklagte“ keine große Rolle gespielt hat, wird halt unter den Tisch gekehrt. Im Verfahren reicht es mitunter, eine „weibliche“ Stimme zu haben, um als Täterin identifiziert zu werden.

Doch darüber hinaus stößt etwas auf. Man möchte in die unendlichen Weiten des Internets schreien, dass es alle Buchstaben durcheinanderwirbelt: Wer von Selbstjustiz gegen Faschist:innen redet, aber von rechter Gewalt sowie dem Unwillen des deutschen Staates, diese zu verurteilen, schweigt, sollte einfach mal die Fresse halten.

Was geschah, als der NSU mehr als 10 Menschen ermordet hat? Was war, als vor 2 Jahren der Faschist einen Journalisten angegriffen hat? Was passierte in Hanau? Das war rechte Selbstjustiz und der Spruch im Kopf hallt: „Wo, wo, wo wart ihr in Rostock? Wo, wo, wo wart ihr in Hanau?“

Wer also über Linas Selbstjustiz redet, aber sonst über rechte Gewalt schweigt, der macht klar, dass migrantische Leben weniger wert sind. Macht klar, dass die Wohnungslosen, die angezündet wurden, halt einfach Kollateralschäden sind. Wer glaubt, dass „linke“ Gewalt schlimmer ist als rechte, legitimiert Gewalt und Tod von uns, die wir nicht ins Weltbild der Faschist:innen passen. Und es ist auch irgendwo klar, warum gegen Lina E. gehetzt wird. Denn wer sich gegen rassistische Gewalt wehrt, wehrt sich irgendwann auch gegen die, die der bürgerliche Staat tagtäglich in Form von Abschiebungen, Arbeitsverboten, Racial Profiling und Armut ausübt. Und wo würden wir da nur hinkommen, wenn man aufhören würde, in Hufeisenform zu denken? Man würde sehr schnell zur Erkenntnis gelangen, dass der bürgerliche Staat schlichtweg wenig Interesse hat, rassistische Morde und rechte Gewalt zu bekämpfen – weil er selber Rassismus reproduziert.

Antifa ist Handarbeit: Was braucht es?

Nein, die Perspektive sollte nicht sein, dass wir alle in den Baumarkt rennen und Hämmer kaufen. Sie kann auch nicht darin bestehen, dass für jede weitere Haftstrafe, die im Zusammenhang mit den Tag-X-Protesten verhängt wird, noch mehr Sachschäden verursacht werden. Das hilft nicht gegen die rechte Gewalt und auch nicht gegenüber der Ohnmacht, die viele von uns erleben. Die Wut in Bahnen lenken, heißt, sich aktiv Gedanken zu machen, wie wir eine gesamtgesellschaftliche, eine Klassenperspektive aufwerfen können gegenüber Faschist:innen und staatlicher Gewalt.

Wenn wir schlagkräftig auftreten wollen, dann reicht es nicht nur, wenn diejenigen stellvertretend handeln, die sportlich, kräftig und mutig genug sind, Rechte in ihre Schranken zu weisen. Unsere Aufgabe muss es sein, demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees aufzubauen, die flächendeckend agieren können. Das ist nur möglich, wenn es mit Rückhalt von breiteren Teilen der Bevölkerung – und das heißt vor allem der Lohnarbeiter:innen – passiert. Denn Einzelaktivist:innen, die machen natürlich einen Unterschied, können aber auf Dauer kein gesellschaftliches Kräftemessen gewinnen. Denn man muss ja nicht nur gegen Rechte, sondern auch gegen den bürgerlichen Staat kämpfen. Und vor allem heißt Antifaschismus und -rassismus, die Ursachen zu bekämpfen, die sie immer wieder hervorbringen.

Deswegen müssen wir uns fragen: Wie kommen wir aus der Situation der Schwäche, wo rechte Positionen spätestens seit 2015 salonfähig sind, heraus? Wie können wir die Debatte umdrehen und aus der Defensive kommen?

Perspektive: 2 Kampagnen, ein Weg

Die Kunst liegt darin, Forderungen aufzustellen, die eine/n aus der Defensive bringen und gleichzeitig unterschiedliche Kämpfe miteinander verbinden. Das bedeutet leider auch, dass man sich anschauen muss, was die aktuelle politische Lage prägt. Ich hätte gerne eine Kampagne für offene Grenzen, Staatsbürger:innenrechte für alle und Selbstverteidigungskomitees, weil dies schon mehr als notwendig ist, als es 2014/2015 war, als die Proteste gegen die Festung Europa und gegen die AfD noch Zehntausende auf die Straße gebracht haben, aber in Chemnitz Menschen von Faschist:innen gejagt wurden. Ich hätte sie gerne, denn ich bin mit den Schulstreiks gegen Rassismus politisiert worden, die in Solidarität mit den Geflüchteten des Oranienplatzes in Berlin oder der Gerhart-Hauptmann-Schule stattfanden. Doch die politische Lage ist vom Rechtsruck geprägt, aber nicht nur durch die zunehmende rechte Gewalt oder innere Militarisierung, sondern die Inflation und den Krieg. Aber was heißt das in der Praxis?

1. Kampf gegen Krise ist ein Kampf für uns alle

Entgegen manch populistischer Ansichten muss, ja darf man Antirassismus nicht aussparen oder gar explizit chauvinistische Hetze betreiben, um Leute für eine Bewegung zu begeistern. Für höhere Löhne, gegen Aufrüstung und Waffenlieferungen – all das geht, ohne bei der AfD fischen gehen zu müssen. Auf der anderen Seite darf man aber auch keine Angst haben und erst gar nicht zu Aktionen gehen, weil ja Rechte da sein könnten. Rechtspopulist:innen und Faschist:innen kann man aus Demos schmeißen und damit klar Stellung beziehen.

Darüber hinaus müssen wir beim Aufbau einer Antikriegs- und -krisenbewegung klar Stellung beziehen: Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte sollten nicht nur für ukrainische Geflüchtete gelten, sondern für alle, die fliehen müssen. Sei es, weil Kriege Länder verwüsten oder die Inflation die Preise so hoch schießen lässt, dass man sich nichts mehr zu essen kaufen kann, oder seien es andere Gründe zu fliehen. Wir ziehen keine Trennlinie. Auch nicht im Kampf dafür, dass Löhne an die Inflation angepasst werden sollten. Bei Streiks oder sonstigen Protesten gegen die Inflation müssen wir dafür eintreten, dass Geflüchtete in die Gewerkschaft eintreten können, von unseren Kämpfen profitieren – und auch als Aktivist:innen eingebunden werden können. Nur wenn wir so gemeinsame Kämpfe schaffen mit den Beschäftigten, Aktivist:innen und Geflüchteten können wir existierende Vorurteile abbauen. Dabei machen es Klimaaktivist:innen vor, die zu den Beschäftigten in Betriebe gehen und das Gespräch suchen. Denn im Rahmen von solchen Bewegungen können Vollversammlungen an Schulen, Unis und in Betrieben stattfinden, wo wir in Debatten gemeinsam Verbindungen eingehen können.

Darüber hinaus muss die Linke in Deutschland sich einer weiteren Frage annehmen:

2. Gemeinsamer Kampf für demokratische Rechte

Was haben die Letzte Generation, Lina E. und die Palästinaproteste gemeinsam? Sie alle sind einer medialen Hetzkampagne sowie staatlicher Repression ausgesetzt worden. Die sonst so hochgelobten demokratischen Grundrechte wurden eingeschränkt. Man möchte fragen: Und das ist die angebliche Freiheit des Westens, die in Kiew verteidigt wird? Die Freiheit, die Klimaaktivist:innen in Präventivhaft schickt und in der Münchner Innenstadt das Mitführen von Sekundenklebern verbietet? Die Freiheit, die Antifaschist:innen zu 5 Jahren verurteilt, während Mithelfer:innen beim NSU, die mehrere Menschen ermordet haben, weniger bekommen haben? Die Freiheit, die einfach mal Tausend Menschen für rund 11 Stunden kesselt und versucht, politische Äußerungen zu unterbinden?

Da wird klar: Tolle Freiheit, aber definitiv nicht unsere. Denn ob beim Kampf gegen Umweltzerstörung, Faschismus oder die Interessen des deutschen Imperialismus: Sobald die eigene Ansicht nicht mehr deckungsgleich mit der des bürgerlichen Staats ist, kann es für Aktvist:innen unbequem werden. Das bedeutet für die Praxis: Die Verteidigung demokratischer Grundrechte wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht – oder im Falle der EVG das zu streiken – wird in Zukunft eine größere und bedeutendere Rolle einnehmen. Und das heißt eben auch, dass man zwar auf Gerichtsurteile warten kann – aber viel Hoffnung sollte nicht reingesteckt werden, sondern vielmehr in den Willen, dass es auch Momente gibt, in denen sich Organisationen zusammenschließen und absprechen müssen, um gewisse Grundrechte praktisch durchzusetzen.

Organisation statt Einzelkampf

Antifaschismus, Antirassismus und Antikapitalismus können nur erfolgreich sein, wenn sie Hand in Hand gehen. Das heißt: Einzelkampagnen sind sinnvoll, um zu versuchen mehr Menschen zu erreichen und die Kräfte für ein Ziel zu bündeln, aber letzten Endes braucht es eine Organisation, die nicht nur unterschiedliche Kampagnen organisiert und dadurch miteinander verbindet, dass man Kampagne X bei Kampagne Y vorstellt und sich dann dafür feiert. Doof in Zeiten der Krise der Linkspartei und der radikalen Linken. Viele, die in den letzten Jahren aktiv gewesen sind, haben eher das Gefühl bekommen, dass alles wegbricht (weil auch alles ein bisschen eingebrochen ist). Statt also zu sagen, dass es weitergehen muss wie bisher (vielleicht mit ein bisschen mehr Methoden wie Mapping oder mit weniger Inhalt, um sich nicht noch mehr zu streiten), braucht es innerhalb der Linken eine politische und inhaltliche Diskussion darüber, was revolutionäre Klassenpolitik, revolutionäres Programm, revolutionäre Organisation heute bedeuten und wie wir sie konzipieren und aufbauen können. Es braucht, Mut neue Wege auszuprobieren, anstatt alte Fehler zu wiederholen. Ansonsten fehlt die Kraft, obige Bewegungen zu schaffen und mehr Teile der Bevölkerung anzusprechen.  Denn sowas fällt nicht vom Himmel oder passiert zur „richtigen Zeit“ von alleine, sondern wird auch durch Organisationen vorangetrieben und aufgebaut. Passiert das nicht, bleiben Wut und Ohnmacht zurück – und ein Staat, der voranschreitet, seine Meinung durchzusetzen, sowie eine Rechte, die immer aggressiver wird. Also lasst uns gemeinsam vorwärtsgehen!




Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Seit mehr als einem Jahr bestimmt der Ukrainekrieg die Schlagzeilen. Im Folgenden wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Situation anfertigen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die aktuelle Situation auf Frauen auswirkt, um schließlich allgemein Kriegsfolgen für Frauen zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz Stellung zum Konflikt beziehen.

Vom Angriffskrieg zum Stellungskampf

Klar ist, dass der Angriff seitens des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verurteilen und der Wille zur Selbstverteidigung seitens der ukrainischen Bevölkerung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig muss das Geschehen auch im internationalen Kontext betrachtet werden. Es spielt sich nicht im luftleeren kraRaum ab, sondern vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und eines Kampfs um die Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten.

Somit ist es auch nicht irgendeine Auseinandersetzung, die zufällig mehr Aufmerksamkeit bekommt als der Bürger:innenkrieg im Jemen, weil der bewaffnete Konflikt im Westen stattfindet. Er ist auch Ausdruck einer zugespitzten globalen Weltlage und trägt in sich das Potenzial, mehr Kräfte in kriegerische Auseinandersetzungen zu ziehen. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung zwar augenscheinlich nur zwischen der Ukraine und Russland statt. Doch das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und prorussischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine und der Ausgleich zwischen ihren Nationalitäten wurde mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwandte zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und ihren Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war letztlich auch der bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedroht fühlenden Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine vorprogrammiert und Russland nahm den inneren Bürger:innenkrieg zum Vorwand für die Inkorporation der Krim, wo jedoch schon länger eine prorussische Mehrheit lebte.

Weder Putin noch NATO!

Somit geriet das Gebiet der Ukraine zum Zankapfel zwischen russischem Imperialismus und der NATO. Wirkliche Verbesserung für alle Teile der Bevölkerung kann es nicht geben, wenn man sich einer dieser Kräfte politisch unterordnet. Dabei sind die von Putin angegebenen Gründe für seine „Militäroperation“ mehr als scheinheilig. Ihm geht es nicht um eine Denazifizierung, sondern darum, den seit 2014 stärker gewordenen Einfluss des westlichen Imperialismus zurückzudrängen. Dieses Interesse ist vor allem durch die Zunahme der internationalen Konkurrenz seit der Wirtschaftskrise um die Pandemie stärker geworden und auch durch die wirtschaftliche Schwäche Russlands bedingt.

Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass sowohl die massive finanzielle Unterstützung sowie die Waffenlieferungen seitens der NATO-Verbündeten nicht aus reiner Selbstlosigkeit erfolgen, weil man die ukrainische Bevölkerung nicht leiden sehen kann, sondern das Ziel anpeilen, die Ukraine als geostrategische Einflusssphäre zu festigen sowie den russischen Imperialismus zu schwächen und seine Fähigkeit, als Weltmacht zu agieren, massiv zu reduzieren, wenn nicht zu verunmöglichen. Natürlich agiert der Westen dabei nicht als geschlossener, einheitlicher Block. Vielmehr erweisen sich die USA als eindeutige Führungsmacht auch über ihre europäischen Verbündeten, für die jede stärkere ökonomische Durchdringung Russlands in weite Ferne gerückt ist.

Auswirkungen weltweit

Bevor wir zur Situationen in der Ukraine kommen, wollen wir uns den internationalen Folgen des Krieges widmen. Neben einer verstärkten Militarisierung haben der Krieg und vor allem die massiven Sanktionen nicht nur den Wirtschaftskonflikt mit Russland zugespitzt, sondern auch die Inflation befeuert und Energiepreise in die Höhe schnellen lassen. Die steigenden Kosten für Öl und Gas haben erhebliche Auswirkungen auf die Energiearmut von Frauen und Mädchen und den ohnehin schon ungleichen Zugang dazu. Dieser wurde vor allem durch die Pandemie drastisch verschlechtert, da so jene, die erst vor kurzem Zugang zu Energie erhalten hatten, diesen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit verloren, darunter 15 Millionen Afrikaner:innen südlich der Sahara. Der Krieg verschärft dies nun, da der sprunghafte Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren der stärkste ist seit der Ölkrise von 1973. Darüber hinaus verursacht der Krieg eine Lebensmittelkrise. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war der höchste seit 2008, was daran liegt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine zentrale Getreideproduzent:innen sind. So importieren Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Eritrea oder Somalia über 90 % des Getreides aus diesen beiden Ländern. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine wichtige Weizenlieferantin des Welternährungsprogramms (WFP) dar, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt.

Situation vor dem Krieg

Auch wenn es nicht möglich ist, hier ein komplettes Bild der Situation von Frauen zu zeichnen, wollen wir einen kurzen, allgemeinen Überblick geben. Vor dem Krieg machten Frauen 54 % der Gesamtbevölkerung aus und etwa 48 % aller Erwerbstätigen. Eine genaue Aufschlüsselung, wie hoch die Arbeitsbeteiligung von Frauen in unterschiedlichen Industrien ausfällt, ist nicht verfügbar. Jedoch lieferte die ILO 2008 einen groben Überblick, aus dem hervorgeht, dass Frauen vorwiegend im Caresektor sowie in der industriellen Produktion tätig waren (https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Country_Report_No8-Ukraine_EN.pdf, S. 31).

Rechtliche Gleichstellung existierte zwar formal auch in Bezug auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch gab es ein recht hohes Gender Pay Gap von 27 – 33 % im Zeitraum 2003 – 2012. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen oftmals in den schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Doch auch innerhalb von Berufsgruppen gab es Unterschiede. So wurden die größten geschlechtsspezifischen bei den Gehältern im Finanzsektor festgestellt, während die geringsten in der Landwirtschaft bestehen, wo die Löhne jedoch im Allgemeinen viel niedriger ausfallen als in allen anderen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft.

Flucht

Im Krieg sind Frauen besonders Gewalt ausgesetzt, neben Bomben, ausländischen Armeen direkt vor der Haustür, Angst und Engpässen bei der Strom- oder Nahrungsmittelversorgung. Kein Wunder also, dass mehrere Millionen Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, seit Beginn des Krieges geflohen sind. Laut Angaben der UN sind davon 5,3 Millionen Binnenvertriebene, also innerhalb des Landes geflohen. Dies verschärft die Situation, da bereits seit 2014 aufgrund des Konflikts in der Ostukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen gezwungen wurden umzusiedeln. Zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder, die seitdem unter dem erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie Beschäftigung leiden.

Darüber hinaus sind im Februar 2022 rund 8 Millionen Menschen über die ukrainischen Landesgrenzen geflohen. Davon sind über 80 % Frauen und Kinder, was unter anderem daran liegt, dass die Ausreise von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seitens der ukrainischen Regierung verboten wurde. Frauen sind dabei auf der Flucht besonders sexueller Gewalt ausgesetzt. So stiegen die Suchanfragen nach Schlüsselwörtern wie „Escort“, „Porno“ oder „Vergewaltigung“ in Verbindung mit dem Wort „ukrainisch“ um 600 %, während sich „Ukraine refugee porn“ laut OSZE-Büro der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels in Wien als Trendsuche herauskristallisierte. (https://www.euronews.com/2023/01/17/ukraine-refugee-porn-raises-risks-for-women-fleeing-the-war).

Zwar ist noch unklar, inwiefern ukrainische Frauen stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere Gruppen weiblicher Geflüchteter. Klar ist jedoch, dass rassistische Stereotype, die innerhalb der EU existieren und osteuropäische Frauen sexualisieren, dies mitverursachen. Die Gefahr, sexuellen Missbrauch zu erleben oder Opfer von Menschenhandel zu werden, wird durch unsichere Fluchtrouten oder die Praxis z. B. in Großbritannien, wo 350 Pfund für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten gezahlt werden, begünstigt.

Um die Situation für Geflüchtete zu verbessern, müssen wir für Folgendes eintreten:

  • Offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

  • Statt Behausung in Lagern: Dezentrale Unterbringung durch die Enteignung von leerstehendem Wohnraum, Hotels sowie Spekulationsobjekten!

  • Nein zur Spaltung: Anerkennung der Bildungsabschlüsse sowie das Recht, die Muttersprache bei Ämtern zu benutzen, für alle Geflüchteten!

Auch wenn die letzte Forderung für ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, größtenteils Realität ist, muss sie aufgestellt werden, um eine weitere Spaltung zwischen ukrainischen und anderen Geflüchteten zu verhindern. Dass die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen etc. für Ukrainer:innen so rasch passierte, zeigt nur, was eigentlich möglich ist, wenn die eigene Regierung ein unmittelbares Interesse dabei verfolgt. Deswegen sollte dies genutzt werden, um die Rechte anderer Geflüchteter anzugleichen.

Situation der Daheimgebliebenen

Jedoch konnten nicht alle fliehen. Alter, persönliche Fitness, Kontakte in anliegenden oder anderen europäischen Ländern sind weitere Faktoren, die es realistischer erscheinen lassen, sich mittel- oder langfristig ein „neues Leben“ aufzubauen. Wer hingegen pflegebedürftig ist oder selber jemanden pflegt, gehört zu den Gruppen, die es besonders schwer haben, das Land zu verlassen. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten von Gruppen wie bspw. von etwa 180 Gehörlosen, die es nach Berlin geschafft haben. Doch wer ans Bett gefesselt oder auf fremde Hilfe angewiesen ist, hat schlechte Chancen.

Hier tragen auch vor allem Frauen die Hauptlast. Bereits vor der Eskalation der Feindseligkeiten im Februar 2022 führte die unbezahlte Hausarbeit in der Ukraine zu einer massiven Mehrbelastung. Frauen brachten im Schnitt 24,6 Stunden pro Woche für reproduktive Tätigkeiten auf, während es bei Männern 14,5 waren. Laut UN-Bericht „Rapid Gender Analyses in Ukraine“ geben die Befragten durchweg an, dass seit dem Beginn des Krieges der Umfang der unbezahlten Arbeit sowohl für Männer als auch für Frauen zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass Sozialdienste, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie Kinderbetreuung durch den Krieg eingestellt oder reduziert wurden.

Das Wegbrechen dieser Infrastrukturen führt dementsprechend auch zu Verschlechterungen in allen diesen Bereichen. So sind beispielsweise Schwangere durch den Wegfall medizinischer Versorgung einer Lage ausgesetzt, die auch den Kindstod begünstigt. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu machen, treten wir ein für:

Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein!

So kann flächendeckend verhindert werden, dass Lebensmittel unterschlagen werden, wie beispielsweise durch zwei führende Ministeriumsbeamte, die Ende Januar dafür entlassen wurden. Das ist keine Kleinigkeit, denn über ein 1/3 der ukrainischen Bevölkerung ist von starken Nahrungsmittelengpässen betroffen. Viele Teile der Bevölkerung sind bereits in Hilfsstrukturen integriert – und sie sollten diese auch selber kontrollieren.

Denn zum einen kann durch die Verteilungskomitees überprüft werden, in welchen Regionen nicht nur mehr Hilfsgüter benötigt werden, sondern auch, wo es noch anderer Strukturen wie beispielsweise Kantinen oder anderer Hilfe bedarf. Diese sollten zum anderen als Momente kollektiver Reproduktionsarbeit nach dem Krieg erhalten bleiben und flächendeckend ausgeweitet werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also der Aufteilung der Sorge- und Carearbeit auf alle Hände – kann die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.

Arbeitsrechte

Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass unter der Regierung von Selenskyj seit Beginn des Krieges massive Angriffe auf die Arbeitsrechte vorgenommen wurden. Am 24. März 2022 trat das Gesetz Nr.-2136-IX Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht in Kraft, was unter anderem die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche auf 60 hochsetzt, Arbeit an Wochenenden, Feiertagen und arbeitsfreien Tagen nicht mehr verbietet und Betrieben ermöglicht, die Auszahlung des Gehalts zu verzögern, wenn nachgewiesen werden kann, dass Krieg oder „höhere Gewalt“ eine solche Verzögerung verursacht haben. Das Ganze wird begleitet vom Verbot von Oppositionsparteien, die Verbindungen nach Russland haben, sowie einer Degradierung von Gewerkschaften zu Organen der „Bürgerkontrolle“, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen.

Diese Verschärfungen sind dabei nur eine zugespitzte Fortführung Selenskyjs neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Bereits 2020 gab es den Versuch eines reformierten Arbeitsgesetzes, welches eine massive Aufweichung der Arbeits- und Tarifrechte enthielt. Durch Proteste seitens der Gewerkschaften konnte damals verhindert werden, was nun Praxis ist.

Was das für praktische Auswirkungen hat, skizziert Bettina Musiolek (Clean Clothes Campaign; Kampagne für Saubere Kleidung) in einem Interview mit der GEW. Zwar ist der Anteil der Textilindustrie innerhalb der Ukraine am BIP gering. Laut Angaben von Ukraine Invest existieren jedoch rund 2.500 Textilbetriebe mit mehr als 200.000 Mitarbeiter:innen innerhalb des Landes, von denen zwischen 80 und 90 % der gesamten Erzeugnisse für den Export bestimmt sind. Die überwiegende Mehrheit ihrer Beschäftigten ist weiblich. Produziert wird unter anderem für Marken wie Adidas, Benetton, Boss, S.Oliver, Tommy Hilfiger, Zara oder Handelskonzerne wie Picard oder Aldi. Diese nutzen die Not brutal aus, wie Musiolek erklärt:

 „Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. [ … ] Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hungerloehne-unter-dem-deckmantel-des-kriegsrechts)

Das bedeutet praktisch, dass wir uns gegen diese Angriffe wehren müssen, was leichter geschrieben als getan ist. Es verdeutlicht, dass die herrschende Klasse der Ukraine nicht nur eine enge Verbündete der NATO ist, sondern – wie jede andere – auch im Krieg ihre Klasseninteressen vertritt.

Das Kriegsrecht richtet sich hier ganz konkret gegen die Lohnabhängigen und muss bekämpft werden. Die Aufgabe von Revolutionär:innen und fortschrittlichen Kräften muss darin bestehen aufzuzeigen, dass der Krieg alleine nicht den Klassencharakter aufhebt, nicht alle Ukrainer:innen vor ihm gleich werden und dieselben Interessen verfolgen dürfen. Deswegen muss gesagt werden:

  • Nein zu den Angriffen des Arbeitsrecht! Für die sofortige Rücknahme der Verschärfungen wie des einseitigen Kündigungsrechts oder der Ausweitung der Arbeitszeit!

  • Statt Arbeitslosigkeit und mehr Stunden braucht es Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation!

  • Entschädigungslose Enteignung aller Kriegsgewinnler:innen, ukrainischer wie imperialistischer Unternehmen, die sich auf Kosten der Massen bereichern, unter Arbeiter:innenkontrolle!

Gewalt

Dass Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Krisen zunimmt, ist spätestens seit der Coronapandemie kein Geheimnis mehr. Aktuelle offizielle Zahlen sind nicht verfügbar, jedoch gaben laut einer vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Jahr 2019 veröffentlichten Studie etwa 75 Prozent der ukrainischen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben. Eine von drei Frauen berichtete, dass sie körperliche Formen von sexueller Gewalt erleiden musste.

Durch die verschlechterte ökonomische Situation kann sich dies verschlimmern, und da darüber hinaus in Konflikten sexuelle Gewalt und Vergewaltigung häufig als Kriegswaffe eingesetzt werden, um Macht über den Feind zu demonstrieren, sind die ukrainischen Frauen – inmitten der militärischen Invasion Russlands in ihrem Land – einem erhöhten Risiko sexueller und körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter ausgesetzt. Um sich gegen die zunehmende Gewalt zu wehren, treten wir ein:

  • Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees der Bevölkerung, die auch Zugang zu Waffen haben!

  • Für Entschädigungszahlungen an Betroffene von Gewalt sowie kostenlosen Zugang zu therapeutischen Angeboten auch nach dem Krieg!

Militär

Doch es wäre falsch, die Rolle von ukrainischen Frauen derzeit auf Care- und Hilfsarbeit zu reduzieren. In der ukrainischen Armee dienen schätzungsweise zwischen 15 – 22 % Frauen. Manche kehren sogar aus den sicheren Ländern, in die sie geflohen waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Dies ist jedoch eine neuere Entwicklung. Seit 2014 sind Frauen Teil der ukrainischen Armee. Seit 2016 ist auch erlaubt, dass sie nicht nur klassische Hilfskraftjobs wie medizinische Versorgung oder Kochen ausüben. Dass sie nun auch an der Front kämpfen dürfen, heißt jedoch nicht, dass das Militär sich in einen Ort der Gleichberechtigung verwandelt. So hat die Zahl der Soldatinnen zwar zugenommen, aber ihre Mobilisierung erfolgte eher unregelmäßig. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die klassische Arbeitsteilung in Armeen (Fokus der Frauen auf Hilfsjobs) trotz ihrer höheren Beteiligung erhalten bleibt, was begleitet wird durch Berichte über sexistische Kommentare oder die Tatsache, dass Frauen Uniformen wesentlich schlechter angepasst werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Männer mittels Kriegsrecht hat darüber hinaus verfestigt, dass es Frauen sind, die außerhalb der Armee die Last der Betreuung von Kindern und älteren Menschen tragen müssen. Um die tatsächliche Gleichstellung in der Armee zu gewährleisten, treten wir ein:

  • Für die Wähl- und Abwählbarkeit von Offizier:innen durch Soldat:innenräte sowie deren Kontrolle über Ausbildung und Waffen!

  • Für eine Kampagne innerhalb der Armee für Gleichstellung, aber auch gegen Nationalismus und Chauvinismus! Recht der Frauen auf gesonderte Treffen!

Zentral ist es darüber hinaus, dass Soldat:innen auch dafür argumentieren, den Krieg nur solange zu führen, wie er zur Selbstverteidigung dient, und beispielsweise gegen die Rückeroberung der Krim oder der Volksrepubliken auftreten. Vielmehr sollte die dort lebende Bevölkerung entscheiden, wo sie zukünftig leben und welchem Staat sie angehören möchte. Alles, was darüber hinausgeht, führt zu einer weiteren Verlängerung des Krieges, ohne seine tatsächliche Ursache zu bekämpfen.

Perspektiven

Die reaktionäre Invasion des russischen Imperialismus stellt bekanntlich nicht den einzigen Faktor im Krieg dar. Es wäre vielmehr verkürzt, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO auf internationaler Ebene selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklassen in Russland wie auch in den NATO-Staaten vor allem für den Kampf gegen die Kriegsziele ihrer eigenen Bourgeoisien gewonnen und mobilisiert werden müssen. Dort steht der Hauptfeind eindeutig im eigenen Land.

In der Ukraine ist die Lage differenzierter zu betrachten. Hier sind die Massen Opfer der russischen imperialistischen Invasion. Einerseits spielt der innerimperialistische Konflikt eine prägende Rolle, andererseits existiert auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, verteidigen müssen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

In der Ukraine bildet daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Invasion ein Element revolutionärer Politik, doch für den Fall des Rückzugs von russischen Truppen sollte klar sein, dass der Kampf danach weitergeht. Jedoch nicht mit dem Ziel, Vergeltung gegen Russland als Aggressor auszuüben, sondern in dem Wissen, dass NATO & Co. ihre Unterstützung nicht zugesagt haben, damit sie dann ebenfalls die Ukraine in Ruhe lassen, sondern sie als ausgebeutete Halbkolonie in ihren Machtbereich integrieren werden.

Neben stärkerer militärischer Präsenz ist es wahrscheinlich, dass westliche Firmen sich freuen, die ukrainische Infrastruktur wieder aufzubauen – auf dem Rücken der Bevölkerung vor Ort, die als billige Arbeitskräfte überausgebeutet werden kann. Die rechtlichen Grundlagen wurden ja bereits geschaffen. So ein Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn bereits im Hier und Jetzt Strukturen aufgebaut werden, die sich der prowestlichen und neoliberalen Politik Selenkyjs nicht unterordnen wollen, aber auch kein Interesse hegen, sich an Putins Regime zu verkaufen. In Regionen wie der Krim, Donezk oder Luhansk sollten Referenden durch die Bevölkerung organisiert werden – nicht durch irgendeine Großmacht.

Im Westen, in der EU und den USA muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet ein Nein zur jeder Aufrüstung, zu Waffenlieferungen und vor allem zu Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe. Hier gilt es, Solidarität und Widerstand aufzubauen, die die objektiven Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse unterstützen, und nicht mit den Machtinteressen der jeweils eigenen Regierung zu paktieren.




Britannien: Rapist police off our streets!

Jeremy Dewar, Infomail 1214, 24. Februar 2023

Die Londoner Metropolitan Police (Met) ist von brutalen Frauenhassern durchsetzt. Dies ist nicht etwa eine rhetorische Übertreibung. Es ist eine Tatsache.

Seit der Ermordung Sarah Everards im März 2021 wurden zwölf aktive Beamte der Met wegen Sexualdelikten verurteilt, also alle zwei Monate einer.

Met-Commissioner Mark Rowley räumt ein, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Er überprüft derzeit 1.071 weitere Beamte, gegen die 1.633 Fälle von sexueller Gewalt und anderer Dienstvergehen gemeldet wurden. Rowley geht davon aus, dass mindestens bis ins Jahr 2025 wöchentlich „zwei oder drei” Beamte wegen Sexualdelikten und häuslicher Gewalt angeklagt werden.

Es kommen ständig neue Meldungen hinzu. Bei einer für die Öffentlichkeit eingerichteten Notfallhotline gehen derzeit durchschnittlich 40 Anrufe pro Tag ein. Derartige Straftaten werden viel zu selten gemeldet; die tatsächliche Zahl ist sicher um ein Vielfaches höher.

David Carrick

Die Mauer des Schweigens wurde am 16. Januar endgültig durchbrochen, als der Polizeibeamte David Carrick wegen 85 Fällen von Vergewaltigung sowie weiteren gegen Frauen gerichtete Sexualstraftaten verurteilt wurde, was ihn zu einem der schlimmsten Sexualstraftäter in der Geschichte des Vereinigten Königreichs macht.

Carrick vergewaltigte Frauen, sperrte sie in Schränke, urinierte auf sie, nannte sie seine „Sklavinnen” und drohte ihnen mit Mord, „ohne irgendwelche Beweise zu hinterlassen”. Er nutzte regelmäßig seine Position, um seine Opfer zu ködern und ihnen zu drohen, falls sie von seinen Taten erzählen würden.

Wie auch Wayne Couzens, der Sarah Everard ermordete, gehörte Carrick dem „Parliamentary and Diplomatic Protection Command” an, der bewaffneten Eliteeinheit, die Ministerien und Botschaften betreut. Dies zeigt einerseits, wie ineffektiv der so genannte Auswahlprozess der Met ist und belegt andererseits, dass sich Polizeibeamt:innen umso schlechter verhalten, je näher sie der staatlichen Macht kommen.

Carrick war für seine Frauenverachtung und Brutalität bekannt. Sein Spitzname lautete „Bastard Dave”. In seinen 20 Dienstjahren wurde er sage und schreibe neun Mal wegen gegen Frauen gerichteter Übergriffe bei der Met angezeigt. Nur ein einziges Mal wurde er zu eingeschränktem Dienst verdonnert und erhielt einige Monate später seine Waffe zurück, als das Opfer nicht mehr mit der Polizei kooperierte. Suspendiert wurde er nie.

Kapitalistenschweine

„Bereiten Sie sich auf weitere schmerzhafte Geschichten vor, wenn wir uns mit Fällen konfrontiert sehen, … die unsere Integrität untergraben”, warnte Commissioner Rowley und gab zu, dass Carrick nicht das letzte Monster wäre, das in den kommenden Monaten entdeckt würde. Auch in anderen Polizeidienststellen herrscht die gleiche sexistische Kultur wie in Londons „Elite” und die gleichen Verbrechen werden begangen.

Die Polizei ist institutionell sexistisch. Aber sie ist auch institutionell rassistisch, homophob, transphob und arbeiter:innenfeindlich. Sie verhaftet und misshandelt Umweltschützer:innen, streikende Gewerkschafter:innen, Schwarze und Minderheiten und greift bei friedlichen Demonstrationen von Frauen und LGBTIA+-Personen zu. Seit 1990 gab es 1.740 Todesfälle von Menschen in Gewahrsam oder nach Konfrontationen mit der Polizei.

Die Polizei wird nicht nur mit mehr Waffen, darunter CS-Gas, Schusswaffen und Taser, sondern auch mit immer mehr Rechten ausgestattet – der sogenannte „Police, Crime, Sentencing and Courts Act” (Polizei-, Verbrechens-, Verurteilungs- und Gerichtsgesetz) vom letzten Jahr gab ihr die Befugnis, Proteste aufzulösen, die zu „lästig” sind, zu lange andauern oder den Wirtschaftsbetrieb stören.

Das Gesetz über die öffentliche Ordnung („Public Order Bill”), das kurz vor der Verabschiedung steht, wird es der Polizei ermöglichen, Demonstrant:innen mit sogenannten „Serious Disruption Prevention Orders” (SDPO; Verordnungen zur Vorbeugung ernster Störungen) zu belegen. Dabei geht es [ähnlich der in Bayern bereits angewandten Präventivhaft; Anm. d. Red.] darum, eine Art Gedankenpolizei zu etablieren, die schon gegen diejenigen, die nur verdächtigt werden, künftig eine Straftat zu begehen, Maßnahmen verhängen darf. Die von diesen SDPO Betroffenen könnten u. a. elektronisch markiert, aus Teilen der Stadt oder des Landes verwiesen oder auch gezwungen werden, sich auf Polizeistationen zu melden. Es ist sogar möglich, unter eine 24-stündige Ausgangssperre gestellt zu werden, was einem Hausarrest gleichkommt.

Dass diese Ausweitung der polizeilichen Befugnisse jetzt im Eiltempo durchgesetzt wird, ist kein Zufall. Wie auch das neue Antistreikgesetz kommt die „Public Order Bill” zu einem Zeitpunkt, an dem die Regierung weiß, dass die Umwelt- und Wirtschaftskrisen noch mehr wütende Menschen auf die Straße bringen werden. Statt ihre Auswahlverfahren zu überprüfen, bereitet sie sich auf ein hartes Durchgreifen vor.

Gegenwehr

In der Nacht, als Carrick sich schuldig bekannte, skandierten die Aktivist:innen vor dem New Scotland Yard den Slogan „No justice, no peace – no rapist police!” (Kein Frieden, keine Gerechtigkeit – keine Vergewaltigerpolizei!). Sie hätten auch „no racist police” (keine rassistische Polizei) hinzufügen können, wie es „Black Lives Matter“ immer wieder gefordert hat, oder gar „no police”, wie es die „Kill-the-Bill”-Bewegung forderte.

Um all diese Forderungen zu erreichen, brauchen wir eine Bewegung all jener, die allein wegen ihres Geschlechts, ihrer Sexualität, ihrer Hautfarbe, ihrer Geschlechtsidentität oder, weil sie bereit sind, sich gegen ihre Unterdrücker:innen zu wehren, von Polizeigewalt bedroht sind.

Wir müssen für Gerechtigkeit für alle Frauen kämpfen, die unter der Hand von Polizeibeamten gelitten haben. Alle Polizisten, die beschuldigt werden, Verbrechen gegen Frauen begangen zu haben, müssen ohne Bezahlung suspendiert werden. Wir fordern eine unabhängige Untersuchung aller Vorwürfe durch die Arbeiter:innenklasse und die Strafverfolgung aller Beamten, die für schuldig befunden werden, um sie an weiteren Gewalttaten zu hindern. Außerdem brauchen wir die Entwaffnung und Auflösung von Spezialeinheiten, die glauben, sie stünden über dem Gesetz.

Um jedoch die Polizei abzuschaffen, müssen wir ihre wahre Natur verstehen. Sie bildet einen Arm des kapitalistischen Staates, der dazu da ist, Eigentumsrechte zu verteidigen, Proteste und Streiks zu brechen und Sexismus, Rassismus, Homo- und Transphobie, die uns spalten, zu verstärken. Das Ziel der Polizei besteht in der Aufrechterhaltung der kapitalistischen und patriarchalen Ordnung. Wenn wir die Polizei abschaffen wollen, müssen wir den kapitalistischen Staat selbst zerschlagen.

Nur eine demokratisch rechenschaftspflichtige Verteidigungseinheit der Arbeiter:innenklasse kann sowohl die Polizeigewalt zurückdrängen als auch die Polizei selbst durch Einheiten ersetzen, die uns gegen die wahren Verbrecher:innen verteidigen – die Kapitalistenklasse, die Schläger wie Carrick und Couzens gegen uns einsetzt.




Proteste gegen Inflation und Energiekrise: Klare Kante gegen rechts!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 268, September 2022

Die Inflationsrate steigt und steigt. Betrug sie im August 2022 in Deutschland 8,8 %, wird im Herbst schon eine zweistellige Steigerungsrate erwartet. Bürgerliche Ökonom:innen sprechen zwar davon, dass die Spitze der Inflation bald erreicht sein solle und es sich wieder „zu den normalen“ 2 % hin entwickeln würde. Eins ist aber sicher: die Preise werden oben bleiben und mit ihnen der finanzielle Druck im Alltag etlicher Menschen. Vergleicht man die Inflationsraten mit denen anderer Länder, wird deutlich, wohin die Reise gehen könnte: Österreich 9,2 %, Estland 25,2 % sowie die Türkei mit satten 80,1 % im August 2022 weisen alle eine höhere Inflation auf.

Somit ist es nicht verwunderlich, dass die stark ansteigenden Preise nicht nur Gesprächsthemen in Politshows und bürgerlichen Kolumnen einnehmen, sondern auch täglich für Gesprächsstoff an den Frühstückstischen, in den Pausenräumen und Betrieben sorgen. Die Arbeiter:innenklasse bekommt die Auswirkungen täglich durch gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise zu spüren und der Unmut darüber wird immer lauter. Auch wenn es noch nicht überkocht, die Stimmung scheint zu brodeln und die Menschen suchen nach Aktivitätsmöglichkeiten, um ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Einen Hinweis darauf stellen zum Beispiel die Teilnehmer:innenzahlen bei den ersten Montagsdemonstrationen wie z. B. 4.000 Teilnehmer:innen in Leipzig dar.

Rechte Mobilisierungen

Neben den Mobilisierungen linker Kräfte versuchen auch rechte wie die AfD oder „Freie Sachsen“, das Thema für sich zu besetzen und mit ihren reaktionären Perspektiven zu verbinden. Auch wenn sich daraus noch keine regelmäßig mobilisierende Massenbewegung wie gegen Corona entwickelt hat, wird die bundesweit beworbene AfD-Kundgebung am 8. Oktober in Berlin ein Gradmesser dafür sein, wie stark rechte Organisationen oder Strukturen dieses Thema für sich nutzen können. Schon jetzt dominieren rechte und faschistische Kräfte in Sachsen viele lokale Demos.

Der Herbst wird also auch ein Kräftemessen zwischen rechts und links, zwischen reaktionärer kleinbürgerlicher Demagogie und der Arbeiter:innenklasse. Schon jetzt erfolgt dieses: Die jeweilige Größe von Demonstrationen wie jene des linken Bündnisses Brot Heizung Frieden am 3. Oktober, der Mobilisierung der Sozialverbände, Umweltorganisationen und Gewerkschaften am 22. Oktober wird für den Stand des Einflusses ebenso wesentlicher Indikator wie die AfD-Kundgebung am 8. Oktober werden.

Währenddessen werden die bürgerlichen Medien nicht müde, gemäß der Hufeisentheorie die linken wie rechten Proteste in einen Topf zu werfen und zu diffamieren. Alle Proteste gegen die Inflation und ihre Auswirkungen soll als putinfreundlich, rechtsradikal oder antisemitisch gebrandmarkt werden.

Wie umgehen mit rechten Gegenprotesten?

Diese rechten Mobilisierungen zeigen aber auch Auswirkung auf die Diskussionen innerhalb der (radikalen) Linken im Umgang damit. Hier unterscheiden sich drei Ansätze: 1) Entweder es wird der Kampf gegen rechts in den Vordergrund gestellt und Blockaden der rechten Demonstrationen als oberstes Ziel ausgerufen; 2) es wird sich in populistischer Natur rechts offen gegeben und darauf hingewiesen, dass auch reaktionäres Gedankengut zunächst innerhalb einer breiten, populären Massenbewegung gegen die Inflation ausgehalten werden müsse; und 3) die Notwendigkeit einer unabhängigen Massenbewegung der Arbeiter:innen aufzubauen betont, die aus ihrer Perspektive heraus nicht nur den proletarischen Kampf gegen die Inflation und Teuerung, sondern auch gegen rechts in einer Massenbewegung vereinen könne.

Diese Ansätze werfen direkt die Frage des Charakters einer solchen – dringend notwendigen – Massenbewegung auf. Soll sie einen populistischen Charakter tragen? Eine Bewegung, die vor klaren Klassenpositionen wie Internationalismus und Antirassismus zurückschreckt, um Teile „des Volkes“ nicht zu verprellen und für die Bewegung zu gewinnen? Oder soll sie einen internationalistischen, proletarischen Charakter besitzen? Eine Bewegung, die sich an den Kampforganen sowie -formen der Arbeiter:innenklasse orientiert? Die sich auf Basisstrukturen der Arbeiter:innenklasse in Betrieben, Nachbarschaften und an Schulen zur Mobilisierung, Diskussion und Verbreitung der Bewegung stützt und ihr dadurch einen basisdemokratischen, multiethnischen Charakter verleiht?

Wir argumentieren für den Aufbau einer internationalistischen, proletarischen Massenbewegung – die einen Attraktionspol für die Menschen darstellen und gleichzeitig einen Ausweg im Interesse der arbeitenden Bevölkerung aufzeigen kann. Nur durch eine klare Positionierung können breite Teile der Arbeiter:innenklasse für eine solche Bewegung gewonnen und Gegenmacht gegen die rassistische Demagogie der Rechten formiert werden.

Dies bedeutet, auch innerhalb der linken Mobilisierung einen offenen und solidarischen Kampf gegen politische Konzeptionen von Kräften wie „Aufstehen“ rund um Sahra Wagenknecht, gegen kleinbürgerliche Politiken von Umweltverbänden zu führen – und natürlich auch gegen Sozialpartnerschaft und Kompromisslerei auf Seiten der Gewerkschaftsbürokratie oder der Reformist:innen in der Linkspartei. Letztlich wird die entscheidende Frage im Kampf gegen rechts sein, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, der Bewegung ihren Stempel aufzudrücken und eine Perspektive zu weisen. Daher ist es auch so zentral, die Gewerkschaften in die Aktion zu ziehen, denn die aktuellen Angriffe können letztlich nicht wegdemonstriert, sondern müssen weggestreikt werden.

Rechte Aktionen und Provokationen

Zweifellos ist es auch richtig, sich rechten Mobilisierungen entgegenzustellen wie am 5. September in Leipzig oder sich am 8. Oktober an den Gegenaktionen zum AfD-Aufmarsch zu beteiligen. Den Kampf um die Massen, die jetzt eine Perspektive und eine Bewegung gegen Inflation und Verarmung brauchen, können wir aber durch diese Aktionen alleine nicht führen. Mehr noch. Wenn sich die Linke auf die Verhinderung von rechten Aufmärschen fokussiert, wird sie selbst keine attraktive Kraft werden können, sondern überlässt letztlich den Rechten die Opposition zur Regierung.

Gänzlich verfehlt und problematisch wird die Sache, wenn beispielsweise der Demonstration am 5. September in Leipzig von der antideutschen Antifa vorgeworfen wird, dass diese eine „Querfront“ gewesen wäre, weil DIE LINKE und andere eine eigene Veranstaltung durchgeführt haben, statt sich auf die Blockade der Rechten und Nazis zu konzentrieren. In Wirklichkeit offenbart diese Anschuldigung nicht nur einen albern dümmlichen Gebrauch des Querfrontvorwurfs, sondern auch die politische Perspektivlosigkeit vieler Antifa. Selbst hat man keinen Plan, keine Vorschläge, keine Forderungen, wie gegen Preissteigerungen und die Kriegspolitik der Regierung vorzugehen wäre. Was als besonders „militant“ daherkommt, stellt im Grunde eine politische Bankrotterklärung dar.

Ein gänzlich anderes Problem wirft freilich die Frage auf, wie organisierte rechte Präsenz, Provokationen oder Infiltrationsversuche auf linken Demos effektiv gestoppt werden können. Natürlich spielen auch hier die Forderungen und klassenpolitische Ausrichtung selbst schon eine wichtige Rolle. Darüber hinaus braucht es klare Stellungnahmen, dass rechte Organisationen, Faschismus, Rassismus und Antisemitismus auf den linken Kundgebungen und Aktionen keinen Platz haben.

Bei Ankündigungen darf es dabei natürlich nicht bleiben. Es braucht einen organisierten Ordner:innendienst und Schutz der Aktionen, die organisierte rechte oder rechts offene Kräfte von den Demonstrationen und Kundgebungen auch entfernen können. Solche Ordner- und Selbstverteidigungsstrukturen müssen von den linken Aktionsbündnissen gebildet und diesen auch verantwortlich sein.

Dies ist vor allem notwendig, weil wir es nicht nur, in etlichen Städten wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie, mit organisierten rechten, faschistischen oder rechtspopulistischen Strukturen zu tun haben. Diese haben bei den Aktionen nichts verloren und müssen rausgeschmissen werden.

Anders stellt sich das Problem bei bisher kaum mobilisierbaren Lohnabhängigen und Kleinbürger:innen mit politisch diffusem Bewusstsein dar, die die reale Existenzangst auf die Straße treibt. Wir wollen diese Menschen in die Bewegung ziehen und für unsere Aktionen gewinnen, denn auch im politischen Kampf um deren Herzen und Hirne wird entschieden, ob die Rechte oder die Linke zur hegemonialen Kraft im Kampf gegen Preissteigerungen, Energiekrise und Regierungspolitik wird.

Schließlich kann und darf eine „richtige“ Positionierung zum Ukrainekrieg keine Vorbedingung zur Teilnahme an einer Bewegung gegen die Teuerung darstellen. Das gilt natürlich noch mehr, wenn die vom DGB, den Sozialverbänden und Umweltorganisationen für den 22. Oktober geforderte Position die falsche ist. Versuche, eine Kritik an den reaktionären Sanktionen zu untersagen, haben mit einem Kampf gegen rechts nichts zu tun, sondern stellen bloß eine politische Flankendeckung für die Regierung und ihren imperialistischen Kurs dar. Sie schrecken Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende potentielle Unterstützer:innen ab, vor allem im Osten.

Die klare Kante gegen rechts, die klare Abgrenzung von AfD und Co. wird nur dann eine scharfe politische Waffe sein, wenn sie auch eine gegen Kapital und Regierung, gegen Krieg und Krise, gegen den deutschen Imperialismus beinhaltet.




USA: Eine Geschichte von zwei Erschießungen

Andy Yorke, Infomail 1172, 5. Dezember

Nach dem Freispruch des rechtsgerichteten Selbstjustizlers Kyle Rittenhouse am 19. November in den USA ist es zu massiven Kontroversen gekommen. Videos zeigen, wie Rittenhouse in Kenosha, Wisconsin, während eines Protests gegen die Polizei am 25. August 2020 zwei Demonstranten erschießt und mindestens einen weiteren verwundet, indem er dem unbewaffneten Schwarzen Jacob Blake sieben Mal in den Rücken schießt und ihn dadurch lähmt. Nach dem angekündigten Freispruch twitterte der ehemalige National-Football-League-Spieler Colin Kaepernik: „Wir haben soeben erlebt, wie ein System, das auf weißer Vorherrschaft aufgebaut ist, die terroristischen Handlungen eines weißen Verteidigers dieser Vorherrschaft bestätigt hat“. Vorhersehbarerweise haben rechtsgerichtete Gruppen und sogar Donald Trump selbst Rittenhouse als Helden bezeichnet.

Erstaunlich und erschreckend ist jedoch, dass einige Linke argumentieren, er sei kein Rassist oder Faschist, sondern habe sich einfach nur verteidigt, und diejenigen, die das Gegenteil behaupten, seien nur in einen angeblichen linksliberalen „Kulturkampf“ verwickelt. Wenn wir den Fall isoliert, sondern im Kontext des Rassismus in den USA, der Polizeigewalt und des Wachstums der extremen Rechten betrachten wird deutlich, dass die Morde und der Freispruch Teil eines rassistischen, rechtsgerichteten Systems sind.

Rittenhouse und die Realität

Nach den Schüssen auf Jacob Blake kam es in Kenosha zu Protesten – eine Fall in einer langen Reihe von Protesten seit Trayvon Martin, die eine breitere und wütendere Bewegung ausgelöst haben, die Gerechtigkeit fordert, die jedoch nur selten kommt. Der 17-jährige Rittenhouse nahm ein ArmaLite-AR-15-Gewehr und stand vor einer Tankstelle neben rechtsextremen Milizen Wache. Die Polizei gab ihnen sogar Wasser und dankte ihnen für ihr Kommen. Sie griff ihrerseits die DemonstrantInnen mit Tränengas und Gummigeschossen an, was zu einer wütenden Reaktion führte, bei der einige Gebäude verwüstet und in Brand gesetzt wurden. Ein völlig unbewaffneter, möglicherweise psychisch kranker Mann, Joseph Rosenbaum, sah Rittenhouse und „griff“ ihn an, möglicherweise um ihn zu entwaffnen. Er wurde von Rittnehouse in den Kopf geschossen, obwohl er wusste, dass Rosenbaum unbewaffnet war.

Andere, die den Mord sahen, identifizierten Rittenhouse als einen rechtsextremen „aktiven Schützen“ und versuchten, ihn zu entwaffnen. Anthony Huber wurde dabei erschossen, nachdem er Rittenhouse mit seinem Skateboard getroffen hatte – kaum eine tödliche Waffe. Gaige Grosskreutz, ein Sanitäter und Rechtsbeobachter der American Civil Liberties Union (Amerikanische Bürgerrechtsunion) auf der Demonstration, trug eine Handfeuerwaffe bei sich und sagte, er habe sich nicht dazu durchringen können, auf Rittenhouse zu schießen, und wurde seinerseits am Arm verwundet. Umstehende wiesen die Polizei auf Rittenhouse als den Schützen hin, der immer noch die Waffe trug, aber die Hände zum Aufgeben erhoben hatte, doch die Polizei fuhr vorbei, ohne ihn zu festzunehmen.

Manche sagen, es gehe nicht um Rassismus, weil er weiße AktivistInnen erschossen habe, die für „Black Lives“ protestierten – „Rassenverräter“ im Sprachgebrauch der extremen Rechten – oder sich nur verteidigt habe. Aber was gab Rittenhouse das Recht, sich zu „verteidigen“? Ist es nicht genauso vernünftig zu sagen, dass die DemonstrantInnen versuchten, sich und ihren Protest vor ihm zu verteidigen? Einige haben versucht, Rosenbaum für seinen eigenen Tod verantwortlich zu machen. Er hatte psychische Probleme und war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, verhielt sich aggressiv und es wurde in Frage gestellt, ob er überhaupt ein Demonstrant war, aber Tatsache ist, dass er niemanden bei der Demonstration angegriffen hat. Wenn Rittenhouse nicht nach Kenosha gefahren wäre, wäre niemand gestorben.

Der Prozess, der von einem rechtsgerichteten Richter geleitet wurde, zeigte, dass die gleiche Voreingenommenheit auch im amerikanischen „Justiz“-System herrscht. Der Richter verbot den StaatsanwältInnen, die drei erschossenen Männer als „Opfer“ zu bezeichnen und irgendetwas aus Rittenhouses Texten in sozialen Medien vor dem Mord zu erwähnen, was gezeigt hätte, dass er ein eifriger Pro-Trump- und Pro-Polizei-online-Aktivist war (er hatte eine Spendenaktion organisiert), der „Blue Lives Matter“ propagierte, die rechte, rassistische Unterstützung für die Polizei gegen „Black Lives Matter“. Ebenso wenig durften die AnwältInnen der Opfer ein Video anführen, an dem sie geltend machten, Rittenhouse habe vor einer CVS-Drogerie (CVS: Einzelhandelsunternehmen der Pharmaziebranche; Anm. d. Red.) zu schwarzen Menschen gesagt: „Junge, ich wünschte, ich hätte mein verdammtes Jagdgewehr und würde euch alle über den Haufen schießen.“ Seine Verteidigung hingegen durfte die Protestierenden als PlündererInnen und RandaliererInnen bezeichnen und damit im erweiterten Sinne auch die Opfer von Rittenhouse diffamieren, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie irgendetwas in dieser Richtung getan haben.

Dass Rittenhouse freigesprochen wurde, lag zum Teil an der Voreingenommenheit des Richters, zum Teil an den fast ausschließlich weißen Geschworenen und zum Teil an einem hochkarätigen Verteidigungsteam, das von der Rechten und von Polizeigruppen mit 2 Millionen US-Dollar ausgestattet wurde. Während des Prozesses zeigte er keine Reue gegenüber seinen Opfern. Als er im noch laufenden Verfahren gegen Kaution auf freiem Fuß war, wurde er in einer Kneipe mit Mitgliedern der faschistischen Proud Boys fotografiert, wobei er das auf dem Kopf stehende OK-Zeichen der weißen RassistInnen zeigte (er sagte, er wisse nicht, was es bedeute). Der Richter verbot auch dies, vor Gericht zu erwähnen. Ex-Präsident Trump beglückwünschte ihn und der Fox-Nachrichtensprecher Tucker Carlson verteidigte Rittenhouse und seine Taten und implizit auch jede/n, der/die seinem Beispiel folgt: „Wie schockiert sind wir darüber, dass 17-Jährige mit Gewehren beschlossen haben, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn es sonst niemand tut?“

Fakten oder sozialer Kontext

„Fakten“ haben immer eine soziale Bedeutung, wie die Umkehrung dieser Rollen zeigt. Wenn ein/e junge/r Schwarze/r mit einem automatischen Gewehr auf die Straße und in einen rechten Aufmarsch gegangen wäre und drei TeilnehmerInnen erschossen hätte, wäre er/sie wahrscheinlich von der Polizei getötet worden, noch bevor sich die „DemonstrantInnen“ um ihn/sie kümmern konnten. Wäre diese Person verhaftet worden, hätte sie mit ziemlicher Sicherheit eine sehr lange Gefängnisstrafe oder in einem anderen Staat sogar die Todesstrafe erhalten. Wenn ein/e weiße/r Linke/r das Gleiche getan hätte, wäre er/sie mit Sicherheit viel schlechter behandelt worden als Rittenhouse. Es ist also nicht nur eine Frage des weißen Privilegs, sondern auch der inhärenten arbeiterInnenfeindlichen und gegen Linke voreingenommenen Haltung der „dünnen blauen“ Frontlinie des Staates, der Polizei und des dahinter stehenden Justiz- und Gefängnissystems im Kapitalismus.

Tragischerweise haben wir den Beweis dafür. Am 28. August 2020, drei Tage nach den vielbeachteten Morden in Kenosha, erschoss der antifaschistische Aktivist Michael Reinoehl in Portland, Oregon, den rechtsextremen Gegendemonstranten Aaron Danielson. Danielson war zu diesem Zeitpunkt mit gefährlichem Pfefferspray, einem ausziehbaren Polizeischlagstock und einem Gewehr bewaffnet. Nachdem er tagsüber an einem provokativen Pro-Trump-Konvoi teilgenommen und getrunken hatte, waren Danielson und ein weiterer, ebenfalls bewaffneter Angehöriger der rechtsextremen Gruppe Patriot Prayer absichtlich in eine Antipolizeidemonstration gelaufen. Reinoehl hatte das gleiche „Recht“, sich zu verteidigen wie Rittenhouse, und er erklärte vor und nach der Schießerei, er habe versucht, die DemonstrantInnen vor rechtsextremen Anschlägen zu schützen.

Aber das Ergebnis hätte nicht unterschiedlicher sein können. Bei der polizeilichen Fahndung nach Reinoehl wurde dieser einige Tage später von BundespolizistInnen erschossen, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, ihn festzunehmen, wie Zeugen berichten, die auch sagen, dass er seine Waffe nicht gezogen hatte. Trump, der Reinoehl zuvor als „kaltblütigen Mörder“ bezeichnet hatte, sagte unter dem Jubel seiner Fans: „Wir haben ihn erwischt“: „Dieser Mann war ein gewalttätiger Krimineller, und die US-Marschalls haben ihn getötet. Und ich sage euch etwas, so muss es sein. Es muss Vergeltung geben.“

Trump hat wiederholt auf das Schreckgespenst des „linksradikalen Faschismus“ und der Antifagewalt eingehämmert, während er sich weigerte, die tatsächliche organisierte Gewalt der Rechten und der Polizei zu verurteilen, ja Kommentare wie der obige schüren sie sogar noch. Doch Danielsons Tod war die erste aufgezeichnete Tötung durch einen Antifaschisten, verglichen mit 329 Morden durch weiße RassistInnen und andere RechtsextremistInnen, wie aus einem 25 Jahre zurückreichenden Bericht des Zentrums für strategische und internationale Studien (CSIS) hervorgeht. Außerdem wurde festgestellt, dass die Rechte im Jahr 2020 für 67 Prozent der inländischen Terroranschläge und -komplotte verantwortlich war, wobei die Hälfte dieser Gewalt gegen DemonstrantInnen gerichtet war. Darüber hinaus ist die Polizei von weiß-suprematistischen Gruppierungen durchsetzt.

Trump, Fox News und die Rechten stellen die Realität auf den Kopf, indem sie eine ideologische Blase aus Bedrohung und linker Verschwörung aufpeitschen, um die Unterdrückung antirassistischer Proteste durch Polizei und Milizen zu entschuldigen und zu ermöglichen. Letztlich sind sie mitverantwortlich für die Morde Rittenhouses.

„Wir dürfen nicht voreingenommen sein“?

Einige haben behauptet, dass die Linke, wenn die Situation umgekehrt wäre, die Angeklagten verteidigen und ihren Freispruch unterstützen würde. Deshalb müssten wir Rittenhouse anders behandeln.

Die Wahrheit ist, dass Linke nicht auf rechtsextreme Demos schlendern, weil sie gelyncht würden. RechtsextremistInnen tun dies so selbstbewusst, um die DemonstrantInnen einzuschüchtern oder zu provozieren, weil sie wissen, was der Fall Rittenhouse bewiesen hat: Die Polizei, die Gerichte, republikanische PolitikerInnen und ein Großteil der Medien werden sie verteidigen. Trotz der Anwesenheit einzelner DemonstrantInnen mit Handfeuerwaffen ist die Linke im Allgemeinen unbewaffnet. Die kleinen, organisierten bewaffneten Reaktionen, die sich entwickelt haben, sind defensiv, eine schützende Antwort auf rechtsextreme Gewalt, aber auch unzureichend. Die Polizei wird sie angreifen, statt ihnen zu danken. In der Zwischenzeit bilden bewaffnete Mobilisierungen zur Einschüchterung oder zum Angriff auf die Linke und Minderheiten den einzigen Grund für die Existenz faschistischer Milizen.

Beide Ergebnisse, der Freispruch von Rittenhouse und der Polizistenmord an Reinoehl, wurden von der extremen Rechten gefeiert, allen voran von Trump. Ein Proud Boy erklärte, die Gewalt werde erst aufhören, wenn die Leichen der Linken „wie Klafter Holz aufgestapelt sind“. Die Lehre aus dem Fall Rittenhouse lautet, dass die Rechten unsere Demos ungestraft kontrollieren, einschüchtern und unterdrücken können, die aus dem Fall Reinoehl, dass das System sie verteidigen wird, wenn wir uns wehren. Die Urteile werden die Rechten nur ermutigen, die darin einen Freibrief sehen werden, ihre bewaffnete „Sicherheit“ auf unseren Protesten zu verstärken. Die einzige Antwort besteht in organisierter Selbstverteidigung.

SozialistInnen unterstützen das Recht der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sich selbst zu verteidigen, von der Streikpostenkette bis zu den „Black Panthers“. Wir stellen uns nicht auf die Seite der Polizei und der Gerichte, wenn sie die Armen verurteilen und kriminalisieren, weil sie nach Polizistenmorden aufbegehren, Polizeistationen niederbrennen, auf denen sie festgesetzt, geschlagen und eingesperrt wurden, oder Geschäfte für die Dinge plündern, die der Kapitalismus anpreist, die sie sich aber nicht leisten können.

Ausschreitungen sind jedoch keine Lösung. Nur eine Massenbewegung, die sich auf Organisationen mit gewählten Delegierten aus Nachbarschaftskomitees, Gewerkschaftsgruppen und Betrieben, Hochschulen und Schulen sowie linken und antirassistischen Organisationen stützt, kann einen anhaltenden Massenkampf für Gleichheit und Gerechtigkeit führen. Dieser Kampf wäre zwar überwiegend politisch, um die Polizei zu entwaffnen und ihnen die Geldmittel zu entziehen und den Gefängnisstaat abzubauen, doch müsste eine solche Bewegung die Verteidigung ihrer Proteste und Gemeinden gegen rechtsextreme oder polizeiliche Gewalt „mit allen notwendigen Mitteln“ organisieren. Als Bewegung der Armen und der ArbeiterInnenklasse könnte sie zwangsläufig dazu beitragen, die Kräfte für die Beseitigung des Kapitalismus selbst aufzubauen, da dies der einzige Weg ist, die Welt von Rassismus und Polizei zu befreien.




100 Jahre Teilung Irlands – ein „Karneval der Reaktion“

Bernie McAdam, Infomail 1149, 14. Mai 2021

James Connolly, der große irische Sozialist, sagte richtig voraus, dass die Folge der Teilung Irlands ein „Karneval der Reaktion sowohl im Norden als auch im Süden“ sein würde. Wie zur Bestätigung seiner Aussage wurde der diesjährige hundertste Jahrestag mit Angriffen eines protestantischen Mobs auf die ironisch benannte Friedenslinie in Belfast gefeiert. Obwohl sich heute fast die Hälfte der Bevölkerung mit einem vereinten Irland identifiziert und nichts zu feiern hat, haben LoyalistInnen damit gedroht, das Karfreitagsabkommen zu ignorieren und zu versuchen, durch nationalistische Gebiete zu marschieren, was unterstreicht, dass „Nordirland“ einem großen Teil seiner Bevölkerung nichts als Unterdrückung und Repression geboten hat.

Nationale Revolution

Die Gründung von „Nordirland“ fand vor dem Hintergrund einer nationalen Revolution in Irland, Großbritanniens ältester Kolonie, zwischen 1916 und 1923 statt. Beim Osteraufstand von 1916 wurde die irische Republik ausgerufen und Dublin sechs Tage lang gehalten, bevor die RebellInnen kapitulierten. Sie genossen zwar nicht die Unterstützung der Mehrheit der Stadtbevölkerung, aber nach der anschließenden Hinrichtung von 16 AnführerInnen des Aufstands im Gefängnis von Kilmainham (Stadtteil Dublins) wandte sich die Mehrheit der irischen Bevölkerung entschieden gegen die britische Herrschaft. Zu den AnführerInnen, die sich dem Erschießungskommando stellten, gehörte auch James Connolly, der verwundet und an einen Stuhl gefesselt wurde. Patriotische britische Labour-Abgeordnete bejubelten die Bekanntgabe der Hinrichtungen im Unterhaus.

Die britischen Parlamentswahlen von 1918 sicherten der republikanischen Partei Sinn Fein eine überwältigende Mehrheit der irischen Sitze. Deren Mitglieder traten 1919 prompt als souveränes irisches Parlament, das erste Dail Eireann, zusammen. Dieses wurde von Großbritannien für illegal erklärt. Bald folgten die ersten Schüsse in einem Guerillakrieg, als sich die Irisch Republikanische Armee (IRA), die Schutzeinheit des Dail, mit britischen Truppen und der Polizei anlegte.

Parallel zum Unabhängigkeitskrieg und mit ihm verbunden war die Massenaktion der irischen ArbeiterInnen. Ein Generalstreik wehrte 1918 erfolgreich den Versuch Großbritanniens ab, die Wehrpflicht in Irland einzuführen. Ein weiterer im Jahr 1920 wurde für die Freilassung von über hundert republikanischen Gefangenen ausgerufen, die aus Protest gegen ihre Internierung in den Hungerstreik getreten waren. „Sowjets“ wurden in Irland zu einem populären Ausdruck für Aktionskomitees der ArbeiterInnenklasse mit dem Limerick-Rat und über hundert weiteren „Sowjets“, die von Streikkomitees bis hin zu Genossenschaften reichten.

Dies zeigte das enorme Potenzial der irischen ArbeiterInnenklasse, die Führung in der nationalen Revolution gegen die britische Herrschaft zu übernehmen. Eine entschlossene Führung durch irische ArbeiterInnen an der Seite von Kleinbauern, -bäuerinnen und LandarbeiterInnen hätte in ganz Irland Räte aufbauen können, die von einer ArbeiterInnenmiliz auf dem Weg zu einer ArbeiterInnenrepublik verteidigt worden wären.

Ein Guerillakrieg allein war wahrscheinlich nicht genug, um die BritInnen zu vertreiben, angesichts der Knappheit an Waffen und Munition und der ungleichmäßigen Stärke der IRA-Einheiten, so dass der Druck für Verhandlungen stark wurde. Dennoch erkannte auch die britische Regierung, dass sie den größten Teil Irlands nicht länger direkt regieren konnte. Home Rule (eine eigene Regierung), gegen die die britischen Tories und Sir Edward Carsons „Ulster“-UnionistInnen mit bewaffnetem Widerstand gedroht hatten, wurde plötzlich für zwei Teile einer geteilten Insel zugestanden.

Konterrevolution

Am 3. Mai 1921 trat der Government of Ireland Act (1920) (Regierungsgesetz für Irland) in Kraft. Dieses „Teilungsgesetz“ sah zwei getrennte, vermeintlich eigene Gerichtsbarkeiten in Irland vor, die jedoch beide der britischen Regierung  und der Krone unterstellt und immer noch Teil des britischen Empire waren. Im Nordosten der Insel sollte das „Nordirland“, das sechs der neun Grafschaften der historischen Provinz Ulster umfasste, ein eigenes Parlament wählen. In ähnlicher Weise war beabsichtigt, für die verbleibenden südlichen 26 Grafschaften ein „eigenes Parlament“ einzurichten.

Die Wahlen fanden am 24. Mai  1921 statt. Im Norden wurden 40 unionistische KandidatInnen und 12 NationalistInnen bzw. RepublikanerInnen gewählt. In den 26 Grafschaften wurden keine Wahlen abgehalten, da 124 irisch-republikanische (Sinn Fein) KandidatInnen ohne GegenkandidatInnen mit 4 unabhängigen UnionistInnen vom Trinity College, Dublin, wiedergewählt wurden. Das südliche Home-Rule-Parlament kam nie zustande, da Sinn Fein gegen das Teilungsgesetz war und weiterhin ihre VertreterInnen in den Dail Eireann schickte.

Nach jahrzehntelanger Feindseligkeit der UnionistInnen gegenüber einer eigenen Regierung für Irland überzeugte die revolutionäre Welle von 1916 bis 1921 sie schließlich, zumindest die in den sechs Grafschaften, dass die Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft über KatholikInnen und NationalistInnen in Irland als Ganzes eine verlorene Sache war. Die IndustriekapitalistInnen und GroßgrundbesitzerInnen von Ulster, deren überwältigende Abhängigkeit vom britischen Markt längst feststand, gaben sich mit einer territorialen Enklave mit einer eingebauten protestantischen Mehrheit, einem dezentralisierten Parlament, einer schwer bewaffneten, sektiererischen Polizei und den berüchtigten Spezialeinheiten zufrieden, einer neuen reaktionären Miliz, die auf Einheiten der Ulster Volunteer Force, UVF (Freiwilligentruppe), basierte.

Kein Wunder also, dass die Wahl in den sechs Grafschaften von weit verbreiteter Gewalt gegen KatholikInnen und den Wahlkampf der Sinn Fein begleitet wurde. Im Jahr zuvor war es auch zu der empörenden Vertreibung von 7.000, hauptsächlich katholischen, WerftarbeiterInnen von ihren Arbeitsplätzen in Belfast gekommen, darunter etwa 2.000 „verrottete Prods“, also protestantische GewerkschafterInnen und SozialistInnen. Die Vertreibungen breiteten sich in der gesamten Maschinenbauindustrie aus, als loyalistische protestantische ArbeiterInnen auf Edward Carsons (unionistischer Politiker) aufrührerische Anti-Sinn-Fein-Rhetorik reagierten.

Trotz des Wahlsiegs von Sinn Fein hatte das Teilungsgesetz durch die Bildung einer Regierung in den sechs Grafschaften vollendete Tatsachen geschaffen, und Winston Churchill rühmte sich: „Von diesem Moment an wurde die Position von Ulster unangreifbar“. In der Tat. Das war eine gute Voraussetzung für die britische Regierung, im Juni Sinn Fein Verhandlungen anzubieten. Im Wissen um die militärische Schwäche der IRA und im Bewusstsein des Vertrauens der nördlichen UnionistInnen in ihre etablierte Macht stimmte diese zu.

Es folgte ein Waffenstillstand und Ende 1921 wurde ein anglo-irischer Vertrag vereinbart. Anfang 1922 wurde der Vertrag von der britischen Regierung und einigen der Sinn-Fein-AnführerInnen unterzeichnet. Seine Bestimmungen waren weit entfernt von einer separaten Republik. Die GouverneurInnen des neuen Freistaates mussten einen Eid auf den König ablegen. Er würde dann den Status eines Dominions als Mitglied des britischen Commonwealth erlangen, wobei Großbritannien seine Marinestützpunkte im Süden behalten würde. Was den Norden anbelangt, so war die Übertragung von Befugnissen an die dezentralisierte Regierung bereits im Gange, und das Versprechen, eine Grenzkommission einzusetzen, kam nie zustande.

Der britische Premierminister, der gerissene David Lloyd George, drohte mit einem „schrecklichen und sofortigen Krieg“, falls der Vertrag nicht angenommen würde. Der Vertrag wurde von einer Minderheit der Sinn-Fein-Führung, einschließlich Éamon de Valera, und 9 von 15 Abteilungen der IRA verurteilt. Aber der Dail Eireann akzeptierte den Vertrag mit 64 zu 57 Stimmen. Die südliche Bourgeoisie mit dem Rückhalt der katholischen Kirche stellte sich hinter den Vertrag. Der darauf folgende Bürgerkrieg im Süden sah die Niederlage der vertragsfeindlichen IRA, da Großbritannien schnell die neue Armee des Freistaats bewaffnete. Bis 1923 war die Konterrevolution abgeschlossen, und der irische Freistaat konsolidierte sich zu einem klerikalen und arbeiterInnenfeindlichen Vasallen des britischen Imperialismus, genau wie Connolly es vorhergesagt hatte.

Der Nordstaat

Im Norden wurde der Charakter des neuen Staates perfekt vom ersten Premierminister Nordirlands, Lord Craigavon, zusammengefasst, der ihn anerkennend „ein protestantisches Parlament und einen protestantischen Staat“ nannte. Allerdings war etwa ein Drittel der Bevölkerung katholisch, und durch skandalöse Wahlkreiseinteilung wurde ihnen jedes Fünkchen politischer Macht vorenthalten. Für eine Gemeinschaft, die in gemischten Gebieten bösartige Pogrome mit dem Verlust von Häusern, Arbeitsplätzen und Leben erlebt hatte, war dieser Staat ein Gefängnis.

Der Sonderermächtigungsgesetz, das 1922 im neuen Nordparlament verabschiedet worden war, war als Notmaßnahme während der schlimmsten Gewalt in Belfast gedacht. Er wurde schließlich zu einem dauerhaften Gesetz und wurde von Südafrikas Apartheid-Premierminister B. J. Vorster in den 1960er Jahren bewundert. Es beinhaltete die Todesstrafe für einige Schusswaffen- und Sprengstoffdelikte und Auspeitschung und Gefängnis für andere. Seine wirksamste Macht war die Internierung, die die unbefristete Inhaftierung aller Personen bedeuten konnte, die verdächtigt wurden, eine Bedrohung darzustellen, ohne dass ein Geschworenenprozess durchgeführt wurde.

So wurde für diejenigen, die sich als Iren und Irinnen identifizierten, hauptsächlich KatholikInnen, die systematische Diskriminierung in allen Lebensbereichen institutionalisiert. Besonders deutlich wurde dies bei Wohnungen und Arbeitsplätzen. Die willkürliche Wahlkreisfestlegung der Kommunalverwaltung durch die UnionistInnen sorgte dafür, dass der Bau und die Zuteilung von Sozialwohnungen und sowie Tausenden von Arbeitsplätzen an ProtestantInnen ging. Derry war das deutlichste Beispiel dafür. 1966 wurde die Körperschaft von den UnionistInnen kontrolliert, obwohl die erwachsene Bevölkerung aus 20.102 KatholikInnen und nur 10.274 ProtestantInnen bestand.

Da Hausbesitz eine Voraussetzung für Kommunalwahlrecht war, wirkte sich dies massiv gegen KatholikInnen aus, daher der Ruf der BürgerInnenrechtsbewegung nach „Eine Person, eine Stimme“. SteuerzahlerInnen stimmten ab, aber nicht UntermieterInnen, und FirmenchefInnen erhielten zusätzliches Stimmrecht. Die Diskriminierung war in der verarbeitenden Industrie genauso heftig, wenn nicht noch schlimmer. Im Jahr 1970 beschäftigte die Werft von Harland und Wolff nur 400 KatholikInnen von 10.000 Beschäftigten. Ähnlich winzige katholische Minderheiten gab es bei Mackie’s und Sirocco Engineering Works. Die Vertreibungen aus den Werften der 1920er Jahre wurden nie wieder gutgemacht und bestimmten die Szene für die kommenden Jahre. 1972 war die katholische männliche Arbeitslosigkeit in Belfast doppelt so hoch wie der Gesamtdurchschnitt, was zu einer höheren Auswanderungsrate führte.

Antiunionistische Massenrevolte

Die sektiererischen Widersprüche im Herzen des Nordstaates explodierten schließlich 1968 mit der Geburt der nordirischen Bürgerrechtsbewegung NICRA. Inspiriert von der zeitgenössischen US-BürgerInnenrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King, sammelte sich die Masse der katholisch-nationalistischen Bevölkerung hinter den Forderungen, die Diskriminierung und Schikanen durch den Staat zu beenden. Der Marsch am 5. Oktober in Derry wurde von der Royal Ulster Constabulary (britische Polizei in Irland) brutal angegriffen und die Krise vertiefte sich.

Je mehr Märsche stattfanden, desto mehr wurden sie von TotschlägerInnen der loyalistischen Banden und staatlichen Kräften bedroht. Als 1969 ein groß angelegter Einsatz der britischen Polizeitruppe in der Bogside-Siedlung in Derry begann, vertrieben NationalistInnen die Polizei mit Benzinbomben und Ziegelsteinen, was den Innenminister der Labour-Partei, Jim Callaghan, dazu veranlasste, britische reguläre Truppen zu schicken. Neben der Schlacht von Bogside kam es auch in Belfast zu schweren Zusammenstößen, als LoyalistInnen, oft unterstützt von Polizeieinheiten, versuchten, katholische Familien zu vertreiben.

Der anfängliche „Sandwiches und Tee“-Willkommensgruß für die Truppen als Beschützerinnen vor dem loyalistischen Mob verflüchtigte sich bald, als alle Reformen ausblieben und es in der Folge zu Straßenkämpfen zwischen britischen Truppen und NationalistInnen kam. Als die Forderungen der NICRA vom unionistischen Staat und seinen britischen UnterstützerInnen ignoriert wurden, begannen die NationalistInnen, sich anderweitig, auf direkte Aktionen, zu orientieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

Die Pogrome in katholischen Gebieten warfen die Frage der Selbstverteidigung auf und bestätigten den KatholikInnen, dass sie sich nicht auf den Schutz des Staates verlassen konnten. Dies erklärt das Wachstum der BürgerInnenverteidigungskomitees und den Aufstieg der Provisorischen IRA. Ein Kampf um die Reform des Staates war zu einem Kampf zur „Zerschlagung des nordirischen Parlaments Stormont“ und zur Beseitigung der Grenze übergegangen. Die britische Herrschaft war nun als zentrales Problem erkannt. Ohne diese konnte die Grenze zwischen Nord und Süd abgeschafft werden.

Das Ballymurphy-Massaker 1971 in Westbelfast und die Ermordung von 14 DemonstrantInnen in Derry am Blutsonntag 1972 durch das Fallschirmjägerregiment hatten den bewaffneten Kampf gegen Großbritannien eskalieren lassen und die ganze katholische Gemeinschaft entfremdet. Das Gemetzel in Derry geschah unter einer Tory-Regierung, aber von der Labour Party kam kein Protest. Die parlamentarische Labour-Partei stimmte sogar dafür, den Widgery-Bericht zum Blutsonntag zu akzeptieren, der die britische Armee für unschuldig erklärte, ein Urteil, das erst viele Jahre später, 2010, durch die Saville-Untersuchung gekippt wurde.

Das erste Jahr der Massenrevolte wich einer bewaffneten republikanischen Guerillakampagne, die nach dreißig Jahren nicht in der Lage war, die BritInnen aus dem Norden zu vertreiben. Der politische Flügel dieser Bewegung, Sinn Fein, plädierte schließlich für Frieden und einen Deal, und das Karfreitagsabkommen, GFA (Good Friday Agreement), wurde 1998 geschlossen. Das Markenzeichen dieses Abkommens war eine dezentralisierte nordirische quasi-parlamentarische Körperschaft, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, und eine Regierung mit Machtteilung zwischen protestantischen und katholischen Kräften. Sinn Fein gab seinen militanten Widerstand gegen den Staat auf. Sie legte ihre Waffen ab, erkannte die umbenannte Polizei an, deren katholische Zusammensetzung erhöht wurde, und akzeptierte ein Veto der UnionistInnen gegen ein vereinigtes Irland.

Unionismus in der Krise

Jetzt, 23 Jahre nach dem Abkommen, kämpft das GFA damit zu funktionieren. Es wurde für drei Jahre ausgesetzt, ist aber jetzt gerade wieder am Laufen. Das SektiererInnentum der pro-britischen ProtestInnen ist so weit verbreitet wie eh und je, die „Friedensmauern“ sind immer noch vorhanden und werden angegriffen. Die Teilung der Macht ist eine Farce, der eine sektiererische Verteilung von Geldern gegenübersteht, um die wichtigsten politischen Parteien und Gemeindegruppen ruhig zu halten. Es ist auch bequem für die Londoner Regierung, die Verantwortung für die Umsetzung der Sparpolitik zu übertragen. Die Exekutive hat den Vorsitz über die am meisten benachteiligte Region Großbritanniens.

Die Krise des Unionismus ist tiefgreifend. Nach einem Jahrhundert verfügen die LoyalistInnen nun über weniger als die Hälfte der Stimmen der Bevölkerung. Die materiellen Privilegien der protestantischen ArbeiterInnenaristokratie wurden mit dem Niedergang der verarbeitenden Industrie und dem Abbau der eklatanten Diskriminierung von KatholikInnen massiv ausgehöhlt. Vor allem die Auswirkungen des Brexit haben viele davon überzeugt, dass ein vereinigtes Irland eine klare reale Möglichkeit ist.

Der Brexit hat gezeigt, wie nutzlos eine Grenze auf der irischen Insel ist. Als beide Teile Irlands in der Europäischen Union waren, förderte eine „unsichtbare Grenze“ den reibungslosen Handel. Die Probleme der Handelshemnisse und der Bürokratie werden nun zunehmen. Die Pro-EU-Mehrheit beim Referendum deutete auf eine gewisse Unterstützung der UnionistInnen und der Wirtschaft hin, was teilweise das Wachstum der bürgerlichen Allianzpartei erklärt.

Obwohl die DUP den Brexit unterstützte, war sie gezwungen, gegen eine harte Grenze zu wettern, da dies zu einem wirtschaftlichen Chaos führen würde. Aber sie hat nie damit gerechnet, durch Boris Johnsons Nordirland-Protokoll, das eine Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See schafft, die den Handel mit Britannien beeinträchtigen würde, über den Tisch gezogen zu werden. Also wäre jetzt eine harte Landgrenze für die DUP (Demokratisch Unionistische Partei) und ihre loyalistischen KollaborateurInnen vorzuziehen. Wie üblich wurde die orange Karte gespielt und die Angst vor einem vereinigten Irland durch Anzetteln von Unruhen auf den Straßen geschürt.

Loyalistische Mobilisierungen nehmen immer wieder isolierte nationalistische Gebiete aufs Korn. Der Übergriff an der Schnittstelle Lanark Way Anfang April wurde von nationalistischen Jugendlichen zurückgeschlagen. Wenn in den nächsten Monaten die Marschsaison der loyalistischen  AnhängerInnen beginnt und sie ankündigen, dass sie sich nicht an die Entscheidungen der Paradekommission halten werden, die einige ihrer Marschrouten eingeschränkt hat, könnte die Frage der Verteidigung der nationalistischen Gebiete erneut kritisch werden. Organisierte Verteidigungstrupps, die sich die Militanz der Jugend zunutze machen können, müssen sowohl gegen Übergriffe der LoyalistInnen als auch der Polizei aufgestellt werden.

Der Unionismus ist jedoch von tiefen Spaltungen zerrissen. Die bisher relativ geringe Zahl loyalistischer RandaliererInnen auf den Straßen zeigt seine Schwäche. Sie stehen einer Tory-Regierung gegenüber, die sich mehr davor fürchtet, Biden, die EU und die irische Regierung zu verärgern als sie. Zweifellos werden die Tories versuchen, die UnionistInnen zu beschwichtigen und einen kosmetischen Deal über das Protokoll zusammenzuflicken, da jede Rückkehr einer harten Landgrenze noch schädlicher wäre.

Für eine ArbeiterInnenrepublik

Nach einem „Karneval der Reaktion“, der ein Jahrhundert andauert, taumelt Großbritanniens Gefängnisstaat weiterhin von einer Krise in die nächste. Währenddessen ist in der Republik die skandalumwitterte katholische Kirche gezwungen, ihre kulturelle Vorherrschaft aufzugeben, indem sie den sukzessiven Bewegungen für Frauen- und LGBTQ-Rechte nachgibt. Der britische Imperialismus, der für die Erschaffung dieses kleinen Monsters zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse im Norden verantwortlich ist, schaut mit zunehmender Irritation und Unverständnis auf seine „loyalistischen“ UnterstützerInnen.

Es ist an der Zeit, diesen Staat und die dazugehörige Grenze abzuschaffen. Aber es wäre unklug, sich auf eine Grenzabstimmung zu verlassen, wie Sinn Fein und andere es tun, um diese Aufgabe zu erledigen. Obwohl dies vollständig in der Zuständigkeit der britischen Regierung liegt, hat der britische Premierminister Johnson, der mit den Forderungen der Schottischen Nationalistischen Partei nach einem Unabhängigkeitsreferendum konfrontiert ist, gewarnt, dass es für eine „sehr, sehr lange Zeit“ keine Abstimmung geben wird.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich die irischen ArbeiterInnen in den bevorstehenden Kämpfen auf ihre eigene Stärke verlassen, gegen den Orangestaat nicht weniger als im Süden. Die ArbeiterInnen sehen sich einer drohenden wirtschaftlichen Verwüstung durch den Brexit und die Pandemie sowie einer verschärften Unterdrückung gegenüber, und das gilt für beide Seiten der „Friedensmauern“.

Die Einheit der ArbeiterInnenklasse muss geschmiedet werden, um Lebensstandard und Arbeitsplätze rund um ein kämpferisches Aktionsprogramm zu verteidigen. Es gibt viel mehr, was die ArbeiterInnen eint, als was sie trennt. Gegen jeden Arbeitsplatzverlust und jede Kürzung muss mit Solidaritätsaktionen Widerstand geleistet werden, und die Basis muss ihre Gewerkschaften aufrütteln, damit die FührerInnen innerhalb der Gewerkschaft und durch demokratische Versammlungen am Arbeitsplatz zur Aktion gezwungen und zur Rechenschaft gezogen werden können. Aktionen der ArbeiterInnenklasse sind der Schlüssel zum Widerstand gegen die Angriffe, die von jeder DUP/Sinn Fein-Exekutive auf Befehl aus Westminster kommen werden.

Das Erbe des britischen Imperialismus in Irland zeigt jedoch, dass gemeinsame wirtschaftliche Interessen allein die Einheit der ArbeiterInnenklasse nicht fördern können. Klassenbewusstsein entspringt nicht spontan oder automatisch aus wirtschaftlichem Kampf. Es ist unaufrichtig zu glauben, dass das Ignorieren der Politik der Diskriminierung und der nationalen Unterdrückung es leichter machen wird, ArbeiterInnen zu vereinen. Die pro-imperialistische Ideologie der protestantischen ArbeiterInnen ist ein Hindernis für die Fortsetzung des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus und eine Waffe in den Händen reaktionärer LoyalistInnen.

Es gibt ein tiefes Unbehagen innerhalb der protestantischen und unionistischen Gemeinschaft angesichts der Möglichkeit, ihre britische Identität in einem vereinigten Irland zu verlieren. Wir müssen sie darauf hinweisen, dass die britische Regierung, wenn sie es will, ihre Bedenken ignorieren und auf sie einhämmern wird, wie sie es mit der nationalistischen Gemeinschaft getan hat. Wenn deine sogenannten besten Verbündeten sich wenig um dich kümmern, ist es an der Zeit, neu über deine potenziellen Klassenverbündeten nachzudenken.

In der Tat, wenn man für den Schutz seiner wirtschaftlichen Interessen kämpft, kann man die gleiche Antwort von den kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden erwarten. Deshalb brauchen wir Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um so besser einen mächtigeren Kampf gegen die Bosse organisieren zu können. Es ist besser, sich mit den ArbeiterInnen in ganz Irland und Britannien zusammenzutun und für eine Gesellschaft zu kämpfen, die der ArbeiterInnenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird, eine ArbeiterInnenrepublik in Irland, verbunden mit schottischen, walisischen und englischen ArbeiterInnen, die alle Teil der Sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa sind.




Polizeimorde in den USA, diesmal in Chicago

Tom Burns, Infomail 1146, 19. April 2021

Ende letzten Monats wurde ein 13-jähriger Junge namens Adam Toledo von der Polizei in Chicago erschossen. Adam war ein Latino. Unmittelbar nach dem Vorfall erklärte die Chicagoer Polizei, dass es eine „bewaffnete Konfrontation“ gewesen war. Sie behauptete, dass Adam Toledo eine Schusswaffe zur Seite warf, als er von den BeamtInnen gestellt wurde, was die Anwendung von Gewalt laut Gesetz rechtfertigen würde. Auf Grund von Filmaufnahmen des Geschehens musste die Polizei allerdings einen Rückzieher machen. Die Aufnahme eine Kamera, die ein Polizist am Körper trugt, zeigt jedoch, wie Toledo befohlen wird, seine Hände zu heben. Er tat dies, beide Hände waren eindeutig leer. Ein Polizeibeamter erschoss ihn trotzdem.

Die BeamtInnen hatten ursprünglich behauptet, Adam Toledo sei bewaffnet gewesen. Chicagos Polizeisprecher Tom Ahern twitterte: „BeamtInnen beobachteten zwei Personen in einer nahe gelegenen Gasse. Eine floh zu Fuß, was zu einer bewaffneten Konfrontation geführt hat. Eine Person wurde angeschossen und getötet. Die zweite wurde in Gewahrsam genommen. Eine Waffe wurde am Tatort sichergestellt“. Die offizielle Erklärung der Polizei lautete: „Ein bewaffneter Täter floh vor den BeamtInnen. Es folgte eine Verfolgung zu Fuß, die in einer Konfrontation endete.“

Die AnwältInnen von Cook County (dem Bezirk, in dem Chicago liegt) behaupteten ebenfalls, dass Toledo „eine Waffe hatte“. Die Bürgermeisterin Lori Lightfoot wiederholte ähnliche Aussagen am 5. April. Sie erklärte: „Toledo hatte eine Waffe“ und fuhr fort, die Schuld für seinen Tod auf die Bandengewalt in Chicago zu schieben, anstatt auf die berüchtigtste bewaffnete Bande des Landes, die Polizei. Der Familie wurde damals der Zugang zu den Aufnahmen der Körperkamera verweigert. Es würde 10 Tage dauern, bis sie zur Verfügung gestellt werden könnten.

Jetzt haben die BeamtInnen ihre Lesart geändert. Ihre Täuschung kann die Fakten nicht verbergen. Adam Toledo wird jetzt als „ein Kind in Kontakt mit einem Erwachsenen mit einer Waffe“ charakterisiert. Jetzt gibt es keine Aussagen, die an „Bandengewalt“ appellieren. Jetzt ist er nicht mehr sichtbar im Besitz einer Waffe. Die Polizei behauptet immer noch, dass Adam eine Waffe zur Seite geworfen hat, bevor er vor der Polizei seine Hände in die Luft streckte. Doch es bleiben Zweifel. Die BeamtInnen in Chicago haben einmal gelogen. Können wir wirklich wissen, ob sie jetzt die Wahrheit sagen? Immerhin hat Bidens Kandidat für den Posten des Direktors der Behörde für Alkohol, Tabak, Feuerwaffen und Sprengstoffe, David Chipman, während der Anhörungen über die Tragödie von Waco (Überfall auf das Quartier einer Sekte) 1993 unter Eid gelogen.

Der Schütze in diesem Fall ist der Polizeioffizier Eric Stillman. Nach Angaben des Invisible Institute, das Spuren und Aufzeichnungen von polizeilichen Aktionen dokumentiert, liegen gegen ihn drei Beschwerden und vier Berichte wegen Gewaltanwendung vor. Die Vorwürfe umfassen unsachgemäße Durchsuchungen und Beschlagnahmungen und Verletzungen durch Gewaltanwendung.

Die ChicagoerInnen sind auf die Straße gegangen. Überall im Land sind Proteste ausgebrochen. Solche Bewegungen wurden durch den Tod von Daunte Wright und den Prozess gegen den Mörder von George Floyd angestachelt. Wir wissen, dass die Polizei gewaltsam reagieren wird und darauf abzielt, uns zu terrorisieren. Sie hat dies bereits in New York und in Brooklyn Center, Minnesota, getan. Berichten zufolge wurde der Kopf eines Fotografen durch einen Schlag der Polizei auf den Boden gerammt. Die Polizei in Brooklyn Center verstieß gegen die Vorschriften, als sie mit Tränengas auf DemonstrantInnen schoss. Das Muster der Polizeigewalt gegen den George-Floyd-Aufstand wird sich leider wiederholen.

Genau wie bei der Ermordung von Daunte Wright ist jetzt die Zeit zum Handeln gekommen. Revolutionäre SozialistInnen müssen in Solidarität mit den DemonstrantInnen stehen. Wir müssen sehen, dass alle Organe der ArbeiterInnenbewegung und diejenigen, die Anspruch auf eine solche Vertretung erheben würden, solidarisch sind. Schon jetzt gibt es ermutigende Anzeichen. TransportarbeiterInnen in Minnesota weigerten sich, verhaftete DemonstrantInnen zu transportieren. Der Ortsverband der Demokratischen SozialistInnen Amerikas (DSA) in den Nachbarstädten Minneapolis und Saint Paul hat begonnen, Spenden für die SanitäterInnen und die Familie von Daunte Wright zu sammeln. Allerdings müssen DSA-Sektionen und Gewerkschaften im ganzen Land ihre Unterstützung verstärken. Sie müssen dazu aufrufen, dass alle auf die Straße gehen und ihre Arbeitsplätze verlassen. Wir müssen die Abschaffung der Polizei und ihre Ersetzung durch die Selbstverteidigungskräfte der ArbeiterInnen und der schwarzen und lateinamerikanischen Gemeinden fordern.




USA: Mord an Daunte Wright zeigt die Unreformierbarkeit der Polizei

Tom Burns, Workers Power USA, Infomail 1146, 14. April 2021

Am 11. April 2021 wurde Daunte Wright, 20 Jahre alt, bei einer Verkehrskontrolle von PolizeibeamtInnen in Brooklyn Center, Minnesota, einem Vorort von Minneapolis, ermordet. Die Polizei behauptet, dass auf Mr. Wright ein Haftbefehl ausgestellt gewesen wäre und dass er versuchte hätte, mit seinem Auto zu entkommen. Das Fahrzeug fuhr noch einige Blocks weiter, bevor es nach der Schießerei mit einem anderen Fahrzeug kollidierte. Dauntes Freundin befand sich im Auto und wurde wegen leichter Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Die an der Schießerei beteiligte Polizeibeamtin behauptet, sie habe versehentlich ihre Waffe statt eines Elektroschockers gezogen. Die anschließenden Proteste sahen die Polizei Tränengas und Gummigeschosse einsetzen, um die Menge zu zerstreuen.

Kein Vertrauen in die Polizei!

Der Mord ereignete sich nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Derek Chauvin im Mai letzten Jahres George Floyd das Leben genommen hatte, und geht in die dritte Woche des Prozesses gegen den Polizisten, in dem die Staatsanwaltschaft versucht hat, Chauvin nur als einen „faulen Apfel“ darzustellen. PolizeibeamtInnen, die an der Ausbildung beteiligt waren und in der Befehlskette über Chauvin standen, haben im Namen der Anklage ausgesagt. Doch der Mord an Daunte Wright und die schiere Anzahl solcher Morde über viele Jahre hinweg beweist den inhärent rassistischen Charakter der Polizei. Sie kann nicht reformiert werden. Sie muss abgeschafft und durch die Selbstverteidigung der ArbeiterInnen und der schwarzen Gemeinschaft ersetzt werden.

Die „Black Lives Matter“-(BLM)-Proteste nach dem Tod von George Floyd legten die brutale Natur der Polizeiarbeit im ganzen Land offen. Es gab unzählige Videos im Internet von gewaltsamer Repression gegen unschuldige DemonstrantInnen: ihr Tränengaseinsatz in Raleigh, North Carolina, oder Polizeiautos, die Protestierende in New York oder Kalifornien überfuhren. Das Ziel war eindeutig, uns zu terrorisieren. Aber trotz dieser Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte blieben die DemonstrantInnen im ganzen Land unbeugsam. Bei den Protesten nach Floyds Tod wurde ein Polizeirevier in Brand gesetzt, der erste derartige Fall in der jüngeren amerikanischen Geschichte.

Nach der Tötung von Daunte Wright versammelten sich lokale DemonstrantInnen. Wie es die Polizei in Minneapolis, Raleigh, New York, Los Angeles und anderen amerikanischen Städten tat, überzog sie die Protestierenden mit Gewalt und versuchte, die Menge mit Gummigeschossen und Tränengaskanistern zu zerstreuen.

In Minneapolis hatten sich am selben Tag rassistische und rechtsextreme protestierende GegnerInnen zusammengerottet. Natürlich ging die Polizei nicht gegen diese Proteste vor. Ähnlich wie während Trumps Putsch in der Hauptstadt Washington betrachteten die BeamtInnen solche AkteurInnen als „Kumpel“ und „FreundInnen“. Die Polizei existiert, um private Eigentumsrechte und die Interessen des bürgerlichen Staates durchzusetzen.

Wir müssen uns landesweit mit den DemonstrantInnen in Minnesota solidarisch zeigen. Diese Solidarität muss alle Organe der ArbeiterInnenbewegung und Organisationen, die beanspruchen, uns zu vertreten, einbeziehen, über Worte hinausgehen und jetzt handeln. Die organisierte ArbeiterInnenklasse und die Demokratischen SozialistInnen Amerikas (DSA) erhalten eine weitere Chance, eine wichtige Rolle bei der Organisierung und den Protesten gegen Polizeigewalt, ja gegen die Institution selbst, zu übernehmen. Wenn die DSA wirklich die ArbeiterInnenklasse anführen will, muss sie mit der Verurteilung der „RandaliererInnen“ durch die demokratischen PolitikerInnen und den Aufrufen zum Frieden in Unterwerfung brechen. Sie muss entschlossen in Solidarität mit der BLM handeln und dazu aufrufen, dass alle von ihren Arbeitsplätzen hinaus und auf die Straße gehen.




Bangladesch: Massenprotest gegen Vergewaltigung

Joe Crathorne/KD Tait, Infomail 1122, 19. Oktober 2020

Die Todesstrafe wurde für Vergewaltigungsfälle in Bangladesch als Reaktion auf eine Woche von Demonstrationen gegen weit verbreitete und zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen eingeführt.

Die Proteste brachen in der Hauptstadt Dhaka aus, nachdem Bildmaterial, das eine Gruppe von Männern zeigt, die eine Frau sexuell missbrauchen, über soziale Medien verbreitet wurde. Die Wut breitete sich schnell aus, und an mehreren Orten in ganz Bangladesch wurde zu Protesten aufgerufen.

Frauen- und StudentInnenorganisationen gehörten zu den ersten, die zu Demonstrationen aufriefen, darunter das Zentralkomitee der StudentInnengewerkschaft, das diesen Aufruf am 11. Oktober veröffentlichte:

„Die StudentInnengewerkschaft Bangladesch sendet einen internationalen Aufruf zur Solidarität an unsere FreundInnen und GenossInnen in der ganzen Welt, sich uns in diesem Kampf gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe anzuschließen. Ihre Solidarität in Form von Demonstrationen, Online-Botschaften, aufgezeichneten Erklärungen wäre ein wesentlicher Teil unseres Kampfes in Bangladesch. Die Regierung versagt dabei, ihren BürgerInnen Sicherheit und Schutz zu bieten, und mobilisiert stattdessen Polizei und Schlägertrupps, um unsere Proteste anzugreifen. Daher rufen wir alle Genossen und Genossinnen auf, sich uns anzuschließen und in diesem Kampf zusammenzustehen.“

Als Reaktion auf eine Reihe von Vergewaltigungen von Studentinnen in der Hauptstadt haben studentische Organisationen das ganze Jahr über eine herausragende Rolle bei Protesten gespielt.

Struktureller Sexismus

Der starke Anstieg der Fälle im letzten Jahr – von 942 im Jahr 2019 auf über 1.000 in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 – kann zum Teil auf die sozialen Veränderungen in einem Land zurückgeführt werden, in dem traditionelle patriarchalische Werte mit einer wachsenden Zahl von Frauen in den Bereichen Arbeit und Bildung in Konflikt geraten. Sexuelle Gewalt ist ein Mittel, um Frauen zu terrorisieren, damit sie einen den Männern untergeordneten Status akzeptieren.

Aber wie in praktisch allen Ländern schafft der systemische Sexismus im Rechtssystem eine Kultur der Straflosigkeit. Die Verurteilungsrate für angezeigte Vergewaltigungen liegt in Bangladesch unter einem Prozent, was durch institutionellen Sexismus innerhalb der Polizei und der Justiz sowie durch Gesetze aus der Kolonialzeit, die AnwältInnen dazu ermutigen, den moralischen Charakter der AnklägerInnen anzugreifen, erschwert wird.

Infolgedessen sehen sich die Überlebenden mit Stigmatisierung und Arbeitsplatzverlust konfrontiert und werden, insbesondere in ländlichen Gebieten, von den Familien oft gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten.

Die Entscheidung der Regierung von Bangladesch zur Einführung der Todesstrafe, die von vielen Protestierenden gefordert wurde, aber von der Rechtsreformkoalition in Bezug auf Vergewaltigung, einer Frauenrechtsgruppe des Landes, ausdrücklich abgelehnt wird, greift religiöse und konservative Vorurteile unter den Protestierenden auf, anstatt die von Frauenorganisationen geforderten demokratischen Reformen zu übernehmen.

Das Beispiel des benachbarten Indien, das ebenfalls Wellen von Massenprotesten gegen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe erlebt hat, zeigt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Todesstrafe von Vergewaltigung abschreckt. Tatsächlich machen Todesurteile Verurteilungen durch Geschworene weniger wahrscheinlich, und in einem Land, in dem die Einschüchterung der Opfer weit verbreitet ist, kann sie Überlebende davon abhalten, Angriffe zu melden.

Frauenorganisationen in Bangladesch setzen sich für eine Reihe demokratischer Reformen ein, die von der ArbeiterInnenbewegung aufgegriffen werden sollten, darunter der ZeugInnenschutz, die Ausweitung der Definition von Vergewaltigung, das Verbot der Verwendung von Leumundszeugnissen und die Einführung von Einwilligungspflicht und Sexualerziehung in Schulen.

So wie die Verteidigung von Frauen nicht in den Händen der Familie liegen kann, kann sie auch nicht dem Staat oder seinen Zwangsinstrumenten überlassen werden, egal wie viele Kurse zur Sensibilisierung von PolizeibeamtInnen besucht werden.

Perspektive

Auf dem Campus und in den ArbeiterInnenvierteln sollten Selbstverteidigungsgruppen aus Frauen und Männern gebildet werden, um gegen antisoziales, unterdrückendes und gewalttätiges Verhalten vorzugehen, das sich gegen Frauen und unterdrückte Gruppen richtet.

Da Vergewaltigung und sexuelle Gewalt in engem Zusammenhang mit der sozialen Stellung von Frauen stehen, muss die ArbeiterInnenbewegung den Kampf nicht nur für demokratische Reformen, den massiven Ausbau staatlich finanzierter Zufluchtsorte, öffentliche Dienste zur Entlastung der Frauen von der Bürde der Hausarbeit, sondern auch für gleiche Bezahlung, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und für die volle und gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an der Gewerkschaftsbewegung aufnehmen, einschließlich der Selbstorganisation von Frauen und anderen unterdrückten Gruppen in eigenen Abteilungen und separaten Treffen (Caucuses) zur Bekämpfung von Vorurteilen und Sexismus.

Die Proteste in Bangladesch und Indien müssen im Kontext einer wachsenden weltweiten Bewegung gegen Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gesehen werden, die den physischen Ausdruck der Unterordnung der Frauen unter die Männer in der Klassengesellschaft darstellen.

Die Tatsache, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und in zunehmendem Maße auch gegen Kinder auf dem Vormarsch ist, von der halbkolonialen Welt bis zu den imperialistischen Zentren, zeigt, dass die Unterdrückung von Frauen zwar unterschiedliche kulturelle Formen annehmen kann, ihr Wesen aber der Klassengesellschaft immanent ist. Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise untermauert die Frauenunterdrückung den Profit durch unbezahlte Arbeit im Haus und Überausbeutung am Arbeitsplatz.

Während im Westen durch begrenzte staatliche Gesundheits- und Sozialfürsorge, Bildung, Scheidungs- und Reproduktionsrechte einige Fortschritte erzielt wurden, macht die brutale Ausbeutung der halbkolonialen ArbeiterInnenklasse durch die imperialistischen Staaten solche Reformen in der sog. Dritten Welt zu einer Utopie, solange das Profitsystem und die Spaltung in antagonistische Klassen bestehen.

Die Unterdrückung der Frauen ist keine nationale, sondern eine globale Frage. Nur eine auf internationaler Ebene koordinierte Bewegung von Frauen-, ArbeiterInnen- und Jugendorganisationen, die auf sozialistischen Prinzipien der Frauenbefreiung und des Kampfes gegen den Imperialismus basiert, kann einen konsequenten Einsatz gegen patriarchalische Gewalt führen.

Der Aufruf zur internationalen Solidarität von StudentInnen aus Bangladesch zeigt einen Schritt in diese Richtung, und es ist die Pflicht der KommunistInnen und SozialistInnen in der ganzen Welt, insbesondere im Westen, diesem Aufruf nachzukommen.