Ukrainekrieg – und kein Ende?

Markus Lehner, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das Sterben geht weiter auf den Schlachtfeldern der Ukraine. In den bisher fast 2 Jahren seit dem russischen Angriff soll etwa ein halbe Million Soldat:innen Opfer dieses Krieges geworden sein, davon etwa 150.000 Tote. Überprüfen lassen sich die Angaben der verschiedenen Seiten und internationaler Geheimdienste zu den militärischen Opfern kaum – doch dies sind die realistischsten Schätzungen aus den unterschiedlichen Quellen. Laut dem zuständigen UN-Kommissariat für zivile Opfer wurden bisher etwas über 10.000 Zivilist:innen Opfer von militärischen Schlägen – bemerkenswerterweise etwa die Hälfte deren, die dieselbe Stelle für 2 Monate Krieg in Gaza angibt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Krieg vor allem auf konventionelle militärische Art, d. h. durch Massakrieren von Soldat:innen vonstattengeht.

Ausgebliebene Wende

Die von vielen im Westen erwartete Wende durch die ukrainische „Sommeroffensive“ trat offenbar nicht ein. Der Krieg entwickelt sich derzeit immer mehr zu einem Stellungskrieg, ähnlich dem Ersten Weltkrieg. In einem bemerkenswerten Interview im „Economist“ (11/4/2023) bemerkte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj: „Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg haben wir eine kriegstechnologische Lage erreicht, die uns zum Stellungskrieg zwingt.“ Gemäß den Lehrbüchern der NATO-Kriegsführung hätten die ukrainischen Offensivkräfte innerhalb von 4 Monaten die Krim erreichen müssen. Tatsächlich, erklärt Saluschnyj im Interview, habe er an allen Fronten schon nach kurzer Zeit ein Steckenbleiben oder nur sehr langsames Vorgehen feststellen müssen, was er zuerst auf schlechte Kommandoführung oder nicht ausreichend ausgebildete Einheiten zurückgeführt habe. Doch als auch Personalrochaden und Truppenumgruppierungen nichts änderten, habe er in alten Handbüchern aus Sowjetzeiten  nachgeschlagen und festgestellt, dass die Beschreibungen des Steckenbleibens der Offensivkräfte im Ersten Weltkrieg genau dem Bild entsprächen, das er von der Front wahrnahm.

Sowohl wenn er Angriffswellen der russischen wie der ukrainischen Seite beobachtete, ergäbe sich immer das Bild, dass die verteidigende Seite einen enormen technologischen Vorteil hat. Beide Seiten würden sofort Massierungen von Panzern oder Truppen mit ihren elektronischen Mitteln bemerken und durch Einsatz von Drohnen oder Artillerie jeglichen Vorstoß zu einem Unterfangen machen, bei dem ein großer Teil von Angreifer:innen und ihrem Material ausgeschaltet wird. Von daher bleibt der Ausbau von Verteidigungsstellungen auf beiden Seiten das bevorzugte Ziel. Auch die ukrainische Führung ist inzwischen von ihrer groß propagierten Offensivstrategie abgerückt und erklärt ihre gegenwärtige generelle Linie als „strategische Verteidigung“. Nur ein besonderer kriegstechnologischer Sprung könne laut Saluschnyj aus diesem Gleichgewicht des Schreckens herausführen. Aber militärhistorische Erfahrungen, wie etwa der Einsatz von Panzern am Ende des ersten Weltkriegs, zeigen, dass solche wirklich qualitativ neuen Technologien länger bis zur erfolgreichen Integration brauchen und zumeist erst im nächsten Krieg entscheidend werden.

Abnutzungskrieg

Da es sich jetzt offenbar um einen Abnutzungskrieg handelt, wird die Frage der Kriegswirtschaft und der quantitativen Versorgung der Truppen mit militärischem Material immer entscheidender. Der Krieg wird also immer mehr durch die Ökonomie entschieden, wie schon im Ersten Weltkrieg. Und hier gewinnt Russland immer mehr an Boden. Wie ein US-Banker kürzlich bemerkte, haben sich Prognosen, dass die russische Ökonomie aufgrund der westlichen Sanktionen und Belastungen durch die Kriegswirtschaft in wenigen Monaten zusammenbrechen würde, als „triumphally wrong“ erwiesen. Anders als auch viele Linke analysiert haben, hat sich die russische Ökonomie eindeutig als die einer imperialistischen Macht erwiesen. Nicht nur, dass die Ausfälle von Kapital- und Warenimporten mit nur leichten Einbrüchen weggesteckt werden konnten, inzwischen hat sich die russische Waffenproduktion um 68 % erhöht und einen Anteil von 6,5 % des BIP erreicht. Nach einer Rezession 2022 ist die russische Ökonomie 2023 um 2,8 % gewachsen. Natürlich haben sowohl steigende Importpreise wie Kriegswirtschaft zu einer wachsenden Inflation um die 7 % geführt. Die Leidtragenden sind wie bei militärischen Opfern vor allem die Arbeiter:innen, die mit immer höheren Lebenshaltungskosten bei eingeschränkterem Angebot zu kämpfen haben. Trotzdem wird für die Präsidentschaftswahlen im März kaum mit einem Machtwechsel gerechnet. Und danach wird wohl der entscheidende Nachschub für die Truppen wieder im größeren Maße fließen: mehr Soldaten durch weitere Mobilisierungen!

Dass die Ukraine größere Probleme mit dem Abnutzungskrieg hat, hat sich in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt: Zu Hochzeiten der Sommeroffensive feuerte die ukrainische Artillerie etwa 7.000 Projektile am Tag ab – wesentlich mehr als die russische. Doch derzeit muss sie sich aufgrund von Knappheit auf 2.000 pro Tag beschränken, während die russische Artillerie 5-mal so viel abfeuert. Ursache dafür sind nicht nur stockende Hilfsgelder aus dem Westen (z. B. die vom US-Kongress zurückgehaltenen Militärhilfen), sondern viel grundlegendere Probleme der westlichen Rüstungsindustrie. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich diese auf hochtechnisierte und spezialisierte Waffen, während es im konventionellen Abnutzungskrieg vor allem auf Masse und traditionelle „Hardware“ ankommt. Nachdem bisher vor allem aus Beständen der westlichen Armeen geliefert wurde, kommt es jetzt immer mehr auf tatsächliche Neuproduktion an. Die Ukraine selbst kann schon aufgrund der kriegsbedingten Infrastrukturprobleme (z. B. Ausfall von mehr als der Hälfte der Stromversorgung) kaum selbst die nötigste Menge produzieren.

Grenzen des westlichen Imperialismus

Doch auch der westliche Imperialismus erweist sich als nicht so übermächtig, wie er von vielen gemalt wird. Munitionsproduktion benötigt Unmengen an Stahl. Sieht man sich die 15 größten Stahlkonzerne der Welt an, so findet sich dort kein einziger US-Konzern mehr, wohl aber rangieren dort 9 chinesische. Die USA sind aus einem der bedeutendsten Stahlproduzenten der Welt heute zu einem der größten Importeure geworden. Sie und Westeuropa müssen unter hohen Kosten für Zulieferungen heute ihre Munitionsproduktion um ein Vielfaches steigern, um mit Russland und China mithalten zu können. Insbesondere bei 155-mm-Geschossen wollen sie bis 2025 ihre Jahresproduktion auf 1,2 Millionen erhöhen, sechsmal so viel wie 2023. Damit wird man vielleicht die russische Produktion einholen, die sich jetzt schon seit Kriegsbeginn verdoppelt hat (nicht gerechnet den massiven zusätzlichen Bezug solcher Munition aus Nordkorea).

Viele solche Versprechen lassen sich jedoch aufgrund von Lieferengpässen und technischer Umstellungsprobleme in der Kürze der Zeit kaum umsetzen. So hatte die EDA (die „Verteidigungsagentur“ der EU) der Ukraine im März 2023 für den Rest des Jahres 1 Million solcher Munition zugesagt, tatsächlich jedoch nur 480.000 beschaffen können. Während die unter Staatskontrolle stehende US-Munitionsproduktion aufgrund politischer Entscheidungen hochgefahren werden kann, sind die europäischen Rüstungskonzerne (vor allem die deutsche Rheinmetall, die britische BAE Systems, die französische Nexter S. A., die norwegisch-finnische Nammo AS) als Privatkonzerne nur durch konkrete finanzielle Zusagen zur Ausdehnung ihrer Produktion bereit. Ihre Auftragsbücher sind jetzt schon dreimal so voll wie vor dem Krieg. Rheinmetall überzieht den Kontinent derzeit mit neuen Produktionsstätten. Trotzdem wird diese Produktion der Quantität nach mindestens bis Anfang 2026 hinter der russischen zurückbleiben.

In einem Abnutzungskrieg, der vor allem durch Verteidigungsstellungen und Artillerie geprägt ist, können solche Faktoren entscheidend sein. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hat, können Munitionsmangel und geballte Artillerieüberlegenheit dann doch immer wieder zu einzelnen Durchbrüchen führen – und letztlich eine Seite zur Aufgabe zwingen. Noch sind die Kriegsparteien aber offensichtlich weit von einem solchen Punkt entfernt. Es werden also nicht nur weitere Milliarden in die Rüstungsindustrien gesteckt, sondern vor allem tausende Soldat:innen in die so entstandene Kriegshölle geschickt werden. In den letzten Monaten gab es insbesondere in der Ukraine wachsende Rekrutierungsprobleme. Auch wenn die Motivation der ukrainischen Verteidiger:innen um ein Vielfaches höher ist, so sind doch viele Soldat:innen nach Monaten des Kampfes und der vielen toten Kamerad:innen einfach ausgebrannt. Ausdruck davon ist die wachsende Bewegung der Angehörigen, die dafür kämpfen, dass ihre Ehemänner oder Söhne endlich abgelöst werden. Doch neue Rekrut:innen werden immer weniger und vor allem weniger militärisch geeignet. Daher werden auch die Rekrutierungsbemühungen des ukrainischen Militärs immer brutaler und weniger „freiwillig“.

Innere Widersprüche

Schließlich werden in der Führung der Ukraine immer deutlichere Widersprüche sichtbar. Das erwähnte Interview von Oberbefehlshaber Saluschnyj führte zu einer wütenden Replik von Präsident Selenskyj, der seine optimistische Darstellung des Kampfverlaufs für die westlichen Geldgeber:innen dadurch in Frage gestellt sah. Andererseits wurde deutlich, dass die politischen Vorgaben lange zu einer verlustreichen Verteidigung Bachmuts wie der schon gescheiterten Offensive führten – und die militärische Führung Selenskyj praktisch die Wende zur Verteidigungsstrategie aufzwingen musste. Saluschnyj hat Ersteren längst in den Popularitätswerten überholt, insbesondere unter den Soldat:innen. Hinter ihn stellt sich auch der Kiewer Bürgermeister Klitschko, so dass hier eine tatsächliche politische Gegenmacht zu entstehen beginnt. Es ist nicht auszuschließen, dass Selenskyj eher als Putin fällt, insbesondere wenn man im Westen eine gesichtswahrende Beendigung der Kampfhandlungen ohne Erreichen der Kriegsziele der Ukraine anstrebt.

In der Linken wird der Ukrainekrieg gerne auf einen Stellvertreterkrieg zwischen den imperialistischen Mächten USA/EU und Russland reduziert. Auch wenn dies ein bestimmendes Moment des gesamten Krieges darstellt, der untertrennbar mit dem neuen Kalten Krieg und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist, so ist er auf Seiten der Ukraine auch ein nationaler Verteidigungskrieg gegen die Jahrhunderte alte Unterdrückung durch das imperiale Russland. Das erklärt jedenfalls die massive Unterstützung auch der ärmeren Bevölkerung in der Ukraine für den Kampf gegen die russischen Invasor:innen.

Zugleich ist die westliche Unterstützung nicht absolut und bedingungslos – trotz aller warmen Worte, dass hier „unsere Freiheit“ verteidigt würde. Einerseits wird das ökonomische Fell der Ukraine schon heftig unter den westlichen Agenturen verteilt (siehe die IWF-Programme für die Ukraine und ihre Auswirkungen auf die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen). Andererseits machten Biden & Co. von Anfang an klar, dass sie nur soviel Militärhilfe leisten würden, wie zur Verteidigung notwendig ist, und nichts liefern wollten, das sie unmittelbar zu Beteiligten in einem Krieg machen – oder sie gar direkt in die militärische Konfrontation mit Russland bringen würde. Dies unterscheidet die Ukraine 2022 auch deutlich von Serbien 1914. Diese Grenzen der Unterstützung für sie durch USA und EU machen auch klar, dass die derzeitigen Engpässe in der militärischen Versorgung möglicherweise den Anfang einer (bewussten oder unbewussten) Ausstiegsstrategie markieren. D. h. in der Hoffnung, dass der Abnutzungskrieg sowohl die Ukraine wie Russland soweit militärisch schwächt, dass beide immer mehr zu einem „Ausgleich“ bereit sind. Ein solches „Minsk 3“ (sicher nicht unter diesem Namen, aber mit ähnlichen Konsequenzen) würde der Ukraine wesentliche Gebiete kosten und Russland im Gegenzug den endgültigen Verlust des größten Teils der Ukraine aus ihrem Einflussgebiet bringen. Mit der gegenwärtigen Führung der Ukraine wird dies kaum zu machen sein – aber dafür stehen ja wohl schon Alternativen bereit.

Millionen ukrainischer Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes und eine demokratische Selbstbestimmung in den Kampf gezogen sind, werden dies als enormen Verrat empfinden. Aber auch ein festgefahrener, länger anhaltender Stellungskrieg wird den Unmut über die Kriegspolitik des kapitalistischen Regimes in Kiew, ja über die Sinnhaftigkeit des Krieges selbst und dessen Führung befördern, zumal dieses während des Kriegs die Ausbeutung der Lohnabhängigen vorantrieb und die gewerkschaftlichen und politischen Rechte der Arbeiter:innenklasse massiv einschränkte. Die inneren Widersprüche in der Ukraine werden noch zusätzlich dadurch befeuert, dass das Regime für ungezügelte Ausbeutungsverhältnisse und Ausverkauf des Agrarreichtums an „westliche Investor:innen“ steht. Wir warnen daher vor jedem Vertrauen in irgendwelche dieser vorgeblichen Führer:innen der nationalen Verteidigung. Es ist vielmehr notwendig, dafür zu kämpfen, dass die Arbeiter:innenklasse den verschiedenen nationalistischen Führungsgruppen jede politische Unterstützung entzieht und sich schon jetzt gegen den Ausverkauf der Ukraine in jeder Hinsicht organisiert, um so den Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine vorzubereiten und in Angriff zu nehmen.

Perspektiven

Hierzulande müssen wir gegen die Aufrüstung und die Milliarden für die Rüstungskonzerne kämpfen. Unter dem Vorwand der Verteidigung der Ukraine wird Aufrüstung im Interesse eigener aggressiver imperialistischer Ziele betrieben und die Kapazität der Rüstungsindustrie entsprechend ausgebaut. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

In Russland sind die Bedingungen für eine Opposition gegen den Krieg seit dessen Beginn nicht leichter geworden. Der russische Imperialismus konnte sich nach den ersten, sicher so nicht erwarteten, schweren Rückschlägen stabilisieren. Sowohl ökonomisch wie auch politisch hat das Regime die Lage weitgehend im Griff. Die Pseudoopposition der Wagner-Anführer:innen hat ihren Zweck der Kanalisierung von Protest gegen „die da oben“ erfüllt und konnte in Person von Prigoschin zum Absturz gebracht werden. Allerdings werden Preissteigerungen, Knappheit bestimmter Waren und eine massive Auswanderungswelle insbesondere von gut ausgebildeten Menschen langfristig zu neuen Erschütterungen führen. Hunderttausende Tote und Verwundete für kleine Landgewinne in der Ukraine werfen Fragen an die Führung auf. Die jüngsten massiven Proteste in der Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga zeigen, dass die Ruhe in dem Riesenreich nur eine scheinbare ist. Das mutige Auftreten des Umweltaktivisten Fayil Alsynov gegen den Ukrainekrieg und die übermäßige staatliche Repression dagegen haben genügt, um eine bisher passive Provinz in Aufruhr zu versetzen. Je länger und blutiger der gegenwärtige Abnutzungskrieg in der Ukraine andauert, um so mehr wird der Ruf nach „Brot und Frieden“ wieder das russische Regime erschüttern. Es kommt für die russischen Sozialist:innen darauf an, diesen Moment für einen neuen russischen Oktober vorzubereiten!

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verknüpft werden, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




2022 – ein Jahr des Kriegs um die Ukraine

Martin Suchanek/Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Der Krieg um die Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der sich seit Jahren entwickelnde Antagonismus zwischen den tradierten westlichen imperialistischen Mächten, also allen voran den USA und ihren Verbündeten, sowie China und Russland als globalen Konkurrenten eröffnet ein neues Stadium im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Zurzeit wird dieser vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges ausgefochten. Der reaktionäre Überfall Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der ukrainischen Nation, die Leugnung von deren Existenz sowie die barbarische Kriegsführung stellen ohne jeden Zweifel einen Akt der imperialistischen Aggression dar, der das ukrainische Nationalgefühl gestärkt hat.

Charakter des Krieges

Für sich genommen wäre der Kampf gegen die russische Invasion ein gerechtfertigter nationaler Verteidigungskrieg – und zwar unabhängig vom reaktionären Charakter des Kiewer Regimes. Das politische Regime einer Halbkolonie stellt für Marxist:innen nicht den entscheidenden Faktor für die Bestimmung des Kriegscharakters dar (so war die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen die imperialistische Invasion gerechtfertigt und unterstützenswert trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad oder Kabul).

Umgekehrt stellt es eine Verkürzung dar, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Warum Ukraine?

Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland gerade um die Ukraine zuspitzte, stellt keinen Zufall dar. Vielmehr ist dieser selbst Resultat der Entwicklung seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, dem Versuch der Errichtung einer neuen Weltordnung und dem schärfer werdenden Konflikt mit Russland seit dessen Rekonsolidierung als imperialistischer Macht unter Putin.

Die Zuspitzung rund um die Ukraine seit den 1990er Jahren kann nur in diesem Zusammenhang verstanden werden. Wie der Balkan vor 1914 hat sich dieser Konflikt schon lange als Pulverfass für einen potenziellen imperialistischen Krieg entwickelt. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden Verbindungen ihrer Ökonomie mit Russland hatte sich die Ukraine nach 1991 zunächst in Abhängigkeit vom sich neu etablierenden russischen Imperialismus befunden – was sich auch in einem fragilen System aus west- und ostukrainischen politischen Kräften und Oligarch:innen niederschlug. Dagegen hatte sich insbesondere in der Westukraine eine starke nationalistische (bis rechtsextreme) politische Bewegung herausgebildet, die einer „prowestlichen“ Orientierung im Bruch mit der russischen Dominanz zum Durchbruch verhelfen wollte. Dies führte letztlich zum Bürgerkrieg, als wegen der Frage der EU-Assoziation durch die „Maidan-Bewegung“ das den bisherigen Kompromiss repräsentierende Regime Janukowytsch 2014 gestürzt wurde. Die Annexion der Krim und die Abtrennung der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk waren die Folge. Während die Führung der EU um Deutschland und Frankreich den Konflikt durch einen „Ausgleich“, in den Abkommen von Minsk, zu entschärfen suchte, waren die USA und die nationalistische Führung in Kiew von Anfang an gegen einen solchen neuen Kompromiss mit Moskau oder den Vertreter:innen der russischen Minderheit – und führten den Krieg seitdem unvermindert fort.

Interessen der westlichen Mächte

Warum kam es zu einer solch offensichtlichen Differenz zwischen den USA und Britannien mit dem Rest der EU? Für letztere war eine Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotentials und seiner militärischen Kapazitäten immer schon eine Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber der schwächer werdenden US-Hegemonie zu erlangen. Ihre Politik zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt ähnlich wie denjenigen in Jugoslawien auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einfrieren zu lassen, damit sich die Spannungen zu Russland letztlich in Grenzen hielten.

Für die USA bildete dagegen die Ukraine einen strategischen Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie seit langem als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung ausgemacht hatten. Aufgrund der schlechten Performance der ukrainischen Armee 2014 begannen die USA und Britannien daher seit 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land das seit 2015 praktisch bankrott ist, hochverschuldet und unter Schuldenregime von IWF-Paketen dahinvegetiert, gibt einen Großteil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt dazu noch jährlich Militärhilfe aus dem Westen in Milliardenhöhe (allein von Anfang des Jahres bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Damit konnten nicht nur wichtige Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr etc.) mit entsprechender Ausbildung verbreitet werden, sondern es wurde auch eine Infrastruktur an Unterstützung geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis zur strategisch-taktischen Führung.

Unterschied

Damit wird auch klar, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von solchen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa USA gegen Irak oder UK gegen Argentinien, unterscheidet. Es steht hier nicht deren hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee einem tausendfach militärtechnisch überlegenen Imperialismus gegenüber. Es handelt sich vielmehr um eine vom westlichen Imperialismus systematisch auf diesen Krieg vorbereitete und hochgerüstete, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Kriegsausbruch hat sich ihre Unterstützung nochmals vervielfacht. Dies nicht nur in Bezug auf Waffenlieferungen, sondern auch Aufklärung, Ausbildung, strategische Beratung und Wirtschaftshilfe.

Auch wenn sich die NATO-Staaten nicht offen am Kampf beteiligen, sind sie längst als Kriegspartei auch in die ukrainische Kriegsführung eingebunden. Den einzigen Grund, warum die Ukraine hier „stellvertretend“ handelt, bildet natürlich die Gefahr einer Ausweitung des Krieges zu einer direkten NATO-Russland-Konfrontation, die auch den Einsatz von Nuklearwaffen mit einbeziehen könnte.

Die Art und Weise, in der im herrschenden Demokratiekriegsnarrativ inzwischen die Gefahr einer Ausweitung des Kriegs und der Blockkonfrontation heruntergespielt wird, dient dazu, ein immer offensiveres und direkteres Eingreifen in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Dabei kann auch der Übergang zu einem begrenzten innerimperialistischen Krieg nicht ausgeschlossen werden. Schließlich ist die Logik der Ausweitung der Kriegshandlungen im aktuellen Konflikt direkt angelegt. Auch in diesem Sinn kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

Zusätzlich besitzt die innerimperialistische Zuspitzung der Situation auch einen unmittelbar ökonomischen Aspekt. Die Wirtschaftssanktionen des Westens (Ausschluss aus SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzen der Aktivitäten westlicher Konzerne in Russland, weitreichende Handelseinschränkungen etc.) sind tatsächlich von einem historisch noch nie gesehenen Ausmaß (nicht einmal in den bisherigen Weltkriegen).

Der Grad der westlichen Unterstützung stellt also nicht bloß ein Beiwerk bezüglich des Krieges dar, sondern ein wesentliches, für seinen Charakter entscheidendes Moment. Natürlich finden wir auch bei zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis oft eine Intervention einer konkurrierenden Macht auf Seite der unterdrückten Nation vor. Doch diese trägt dabei meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht ändert.

Doch dies nimmt keinesfalls in jedem Krieg zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie einen untergeordneten Aspekt ein. Im imperialistischen Krieg ist dies am deutlichsten. So bestand z. B. bei den Ländern des Balkans im 1. Weltkrieg kein Zweifel, dass das nationale Moment einen untergeordneten Charakter trug, eine Politik der nationalen Verteidigung Serbiens eindeutig reaktionär gewesen wäre und daher in Serbien und anderen Balkanstaaten eine Politik des revolutionären Defätismus notwendig war.

Im Krieg um die Ukraine haben wir es zwar nicht mit einem offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten zu tun, aber die westlichen Mächten, allen voran die USA, bestimmen wesentlich die Kriegsführung und -ziele der Ukraine mit. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land agieren, zu schließen, dass deren Intervention einen untergeordneten Stellenwert annehme (siehe oben).

Der Kriegsverlauf hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Zugleich müssen wir festhalten, dass revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Staaten und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus!

Russland ist eine imperialistische Macht. Die Politik des revolutionären Defätismus greift hier am deutlichsten von allen kriegführenden Staaten. Niederlage und Rückschläge Russlands können die Revolution stimulieren und die Herrschaft Putins erschüttern. Das entscheidende Ziel ist die Umwandlung des reaktionären Kriegs in einen Klassenkrieg zu seinem Sturz und zur Errichtung einer Arbeiter:innenregierung. Unmittelbar geht es in Russland darum:

  • Entlarven des imperialistischen Charakters des Kriegs und der Kriegsziele Russlands.

  • Rückzug der russischen Armee.

  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.

  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).

  • Kampf für demokratische Rechte, gegen die Abwälzung der Kosten auf die Massen (Kontrolle über Verteilung der Güter, Enteignung von Betrieben).

  • Aufbau einer Bewegung, die sich auf Aktionsausschüsse in Betrieben und auf Wohnviertel des Proletariats stützt.

Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind essentiell, um die Revolution vorzubereiten.

Die Entscheidung Putins, mit Pseudoreferenden die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson zu annektierten, stellt zusammen mit der Teilmobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland einen reaktionären Verzweiflungsakt dar, der zugleich aber auch seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter verheizt werden sollen, und der prekären ökonomischen Lage wird sich die Lage in Russland massiv zuspitzen. Aber das hängt wesentlich auch davon ab, wie sehr und stark die nationalistische Propaganda wirkt bzw. diese aufgrund von politischen, militärischen und ökonomischen Erschütterungen in Frage gestellt wird.

Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist dabei essentiell, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Land voranzubringen.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

Hier ist die Lage wohl am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, wie für die Taktik, weil einerseits der innerimperialistische Konflikt auch eine prägende Rolle spielt, andererseits auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung existiert. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

Es geht v. a. darum, die Kriegsziele Russlands – Verhinderung der militärischen, weniger der ökonomischen Integration der Ukraine in den Westen (NATO, Neutralität, Sicherheitsgarantien) sowie Eroberung von Donezk, Luhansk und der Südukraine (und sei es als Faustpfand für mögliche zukünftige Verhandlungen) – zu begreifen. Dem stehen die v. a. der USA und damit der NATO sowie der ukrainischen herrschenden Klasse und Regierung entgegen.

Diese wollen eine volle Westintegration (NATO, EU, … ) und das Zurückdrängen Russlands aus der gesamten Ukraine einschließlich der sog. Volksrepubliken und der Krim auch auf Kosten eines langwierigen Krieges. Eigentlich besteht in der Westbindung der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im wesentlichen deckungsgleich mit jenen des Westens und v. a. der USA sind – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zum vollen imperialistischen Krieg billigend in Kauf nimmt, ja geradezu fordert.

In der Ukraine schließt das jedoch den Kampf gegen die Okkupation keineswegs aus. Es wäre selbstmörderisch zu erklären, dass die Frage, ob russische Panzer und Flugzeuge ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hätte. Aber zugleich darf und kann es kein Zurückstellen des Klassenkampfes gegen die reaktionäre Regierung geben. Zentrale Elemente revolutionärer Politik müssen Folgendes umfassen:

  • Agitation, revolutionäre Propaganda, die den Charakter des Krieges enthüllen, nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.

  • – Forderung nach wirksamem Schutz, Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.

  • Kampf um Kontrolle von Waffen und knappen Versorgungsgütern in Betrieben, Städten, Dörfern, wenn möglich auch Aufstellung von Milizen.

  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation in und gegenüber der russischen Armee; Kampf gegen die Festigung der Okkupation.

  • Kampf gegen die Einschränkung demokratischer Rechte und Angriffe auf das Arbeitsrecht durch das Kiewer Regime.

Außerdem müssten wir in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“ (inkl. ihres Rechts auf Anschluss an Russland oder Eigenstaatlichkeit).

Keinen Fußbreit der NATO!

In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen kommt es darauf an zu verhindern, dass sie bzw. die NATO weiter in den Krieg „schlittern“, aus der weiteren Zuspitzung des Konflikts ein offener imperialistischer oder ein neuer Kalter Krieg resultieren und ein globales Sanktionsregime durchgesetzt wird.

D. h., nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. zu stellen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht „Demokratie“ und Menschenrechte verteidigen, sondern eigene imperialistische Interessen verfolgen.

Dies ist essentiell, weil sich nur so die Ablehnung von Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Verlagerungen an die Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen durch die Regierung oder „begrenzten“ Flugverbotszonen schlüssig begründen lässt. Der Verweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, trägt einen schalen Beigeschmack, wenn die Kriegsziele der NATO-Staaten – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Es müssen daher auch Kriegsziele und Klassencharakter der imperialistischen Politik entlarvt werden.

Zentrale Losungen in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen, Waffenlieferungen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt daraus!

  • Keinen Cent für die imperialistische Politik! Abwälzung der Kosten, Preissteigerungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Erwerbslose, Rentner:innen, Niedriglöhner:innen, Übernahme gestiegener Wohnungskosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle an dem Ort, wo sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

  • Bei direkter Intervention (z. B. Errichtung von Flugverbotszonen, Entwicklung neuer Brandherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!

  • Ablehnung jeder Burgfriedenspolitik!

Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Staaten entscheidend. Zugleich müssen so die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklung

Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik der kommenden Monate, wenn nicht Jahre. Es ist durchaus möglich, dass es in den nächsten Monaten und vor allem in Winter 2022/23 zu einer Befestigung aktueller Stellungen kommt. Andererseits wird Russland auf keinen Fall eine Rückgabe der besetzten Gebiete ohne substantielle Zugeständnisse der NATO akzeptieren. Diese sind im Gegenzug äußerst unwahrscheinlich.

Die Tatsache, dass die internationale ökonomische Isolierung Russlands durch NATO und G7 auf massive Schwierigkeiten trifft und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos voll mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien sehr viel schwächer, wenn überhaupt vorhanden. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens greift dort weitaus weniger. Zweitens drücken sich darin aber auch die Erschütterung der US-Hegemonie und eine Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses aus. Daher können die Sanktionen gegen Russland gerade für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang geraten.

Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskriegs gegen Russland ist jedoch trotz dieser offenkundigen Schwierigkeiten ein Einlenken beider Seiten alles andere als sicher.

Zum anderen machen der Krieg, die Sanktionen und Tendenzen zur Fragmentierung des Weltmarktes in den kommenden Monaten eine tiefe ökonomische Krise, die sich in Form in Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in Form von drohenden Hungerkatastrophen manifestieren wird, sehr wahrscheinlich. Der Krieg und Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen – und die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale auf die Tagesordnung setzen.




Embargo russischen Erdöls: PCK Schwedt als Kollateralschaden?

Jürgen Roth, Neue Internationale 255, Juli/August 2022

Seit den 1960er Jahren fließt russisches Erdöl vom Südural über 5.000 km nach Ostdeutschland, aber u. a. auch Tschechien, Ungarn, Bulgarien und in die Slowakei. Am Ende des Nordastes der „Drushba“ (Freundschaft) genannten Pipeline befindet sich das PCK Schwedt in Nordostbrandenburg, zu DDR-Zeiten Petrolchemisches Kombinat. Doch auch Leuna in Sachsen-Anhalt wurde aus ihr versorgt.

Ölembargo

Von ehemals 8.000 Arbeitsplätzen im Jahr 1990 sind noch 1.200 übriggeblieben. Weitere 2.000 Arbeitsplätze in der Region hängen von der Schwedter Raffinerie ab, die Berlin und Brandenburg zu 90 % und Westpolen zu 50 % mit Kraftstoffen versorgt, daneben aber auch Grundstoffe z. B. für Kunststoffverarbeitung erzeugt. Der Süden der ehemaligen DDR hängt in ähnlicher Weise am Tropf der Leunaer Raffinerie. Während diese dem französischen Ölkonzern Total gehört, befindet sich das PCK als GmbH mehrheitlich in der Hand des russischen Staatsölkonzerns Rosneft.

Zwar musste die EU nach heftigem Einspruch v. a. Ungarns just ihre Embargopläne herunterschrauben, doch die Bundesregierung hält weiterhin stur am Auslaufen der Importe bis zum Jahresende fest. Die EU hatte ursprünglich nur einige osteuropäische Länder vom Lieferstopp ab Anfang 2023 ausgenommen, lässt nun aber den Transport über Pipelines ausdrücklich länger zu und schränkt „nur“ den auf dem Seeweg ein, was aber auch auf erbitterten Widerstand z. B. Griechenlands stößt. Selbst hochrangige US-Diplomat:innen gaben ihre Bedenken gegen das ursprünglich geplante Embargo bei der EU-Kommission zu Protokoll. Biden fürchtet wohl höhere Kraftstoffpreise im eigenen Land so kurz vor den Zwischenwahlen im November. Saudi-Arabien, weltweit größter Erdölexporteur und einer der engsten US-Verbündeten nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich nämlich gegen ein Ölembargo Russlands ausgesprochen und weigert sich, seine Fördermenge zu erhöhen.

Doch Bundeswirtschaftsminister Habeck ficht das nicht an. Auf einer PCK-Betriebsversammlung am 9. Mai mimte er den Weichspüler: Er versprach den Beschäftigten eine Zukunft mit Öl aus anderen Ländern auf dem Seeweg über Rostock und Gdansk. Expert:innen gehen davon aus, dass angesichts der dortigen Umschlagskapazitäten nur höchstens 60 % des „schwarzen Flüssiggolds“ für Schwedt kompensiert werden könnten – bei höheren Transportpreisen. Eine Verarbeitung anderer als der sibirischen Rohölqualität ginge zudem mit Umstellungsmaßnahmen in den Cracktürmen der Raffinerie einher. Rosneft gesteht zwar auch die Möglichkeit der Verarbeitung anderer Sorten zu, doch zu welchem Preis für die Allgemeinheit der Steuerzahler:innen? Leuna z. B. scheint bereits ein größeres Volumen norwegischen Rohöls akquiriert zu haben. Unklar bleibt ferner, ob der Ausstieg aus russischen Lieferungen ohne Weiteres erfolgen kann, ohne die langfristig vertraglich georderten Abnahmequoten zu bezahlen.

Für den Superminister stellt sich auch die Frage der Enteignung des Rosneftanteils in Form einer Treuhandanstalt.

Reaktionen: SPD …

Für Brandenburgs SPD-Ministerpräsidenten Woidke stellte Habecks Auftritt ein „gelungenes Signal“ dar. Schwedts Bürgermeisterin und Parteigenossin, Annekathrin Hoppe, macht sich dagegen Sorgen angesichts der geringen Menge, die aus Rostock kommen soll. Belieferung aus Gdansk, so die polnische Regierung, solle erst erfolgen, wenn die BRD ganz auf russische Importe verzichtet habe. Beim besten Willen ist nicht zu erkennen, wie das PCK mit einer Auslastung unter 70 % marktwirtschaftlich überleben kann. Da nützen auch Finanzhilfeversprechen des grünen Bundesministers nicht, zumal sie einerseits für den Übergang zur neuen, angedachten Eigentumsstruktur verwendet werden und die kritische Auslastungsgrenze nicht überwinden helfen können.

… DIE LINKE

Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter warnt deutlicher. Er hält das Ölembargo für eine Entscheidung gegen den Osten Deutschlands und fordert die Landesregierung auf, für eine Beschäftigungsgarantie der 3.200 Arbeitsplätze und beim Bund dafür einzutreten, dass es nicht zu höheren Preisen für Benzin, Diesel, Kerosin und Heizöl in Ostdeutschland führe. Und für Westpolen? Dem Fraktionsvorsitzenden kann man zwar bezüglich seiner Befürchtungen zustimmen, doch ist seine Haltung weder sozialistisch noch sozial, sondern provinziell beschränkt.

Im Landtag forderte DIE LINKE darüber hinaus, per Beschluss festzustellen, Habecks Auffassung nicht zu teilen, die Bundesregierung aufzufordern, ihre Haltung zu überdenken und sich bei der EU für eine Verlängerung der Fristen wie im Falle Ungarns und der Slowakei einzusetzen – zumindest für die ostdeutschen Bundesländer. Die Landtagssitzung erfolgte vor dem oben erwähnten EU-Kompromiss. Schnellstmöglich solle PCK in staatliche Treuhandschaft überführt und fit gemacht werden für den Ausstieg aus fossilen Brenn- und Rohstoffen.

Kritik

Auch die Landtagsfraktion verrennt sich also in den ostdeutschen Provinzialismus ihres Vorsitzenden, statt das Ganze wenigstens in einen zumindest bundesweiten Kampf gegen Teuerung und Energiekrise einzubetten. Dagegen müssen wir ihr beipflichten, was Verstaatlichung und ökologischen Umbau betrifft. Doch warum eine Treuhandanstalt? Hat nicht diese Eigentumsform die DDR-Industrie zugrunde gerichtet und stellte eine Art Staatsbesitz im Übergang zur Privatisierung bzw. Abwicklung dar? Wird sich nicht die neue Betriebstreuhandmehrheitsanteilseignerin schnellstmöglich nach einer „anständigen“ Firma umschauen, die PCK aufkauft und zum Zweck seines rentablen Betriebes auf Beschäftigungsgarantien pfeift?

Wir brauchen stattdessen Zweierlei: erstens Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Klassenorganisationen über PCK und ausnahmslos alle großen Unternehmen im Energiesektor: Gas, Öl, Kohle, Strom, Netzbetrieb und Erneuerbare; zweitens deren sofortige Verstaatlichung zum Nulltarif – entschädigungslos! Das wäre sowohl sozial wie Vorstufe für eine wirkliche Transformation. DIE LINKE in Brandenburg unterscheidet sich kaum von „Garantieversprechen“ in Sozialplänen, wie sie SPD und Gewerkschaftsbürokratie seit Jahr und Tag abgeben.

Deutlicher, aber letztlich auf ähnlicher Linie, geht Ko-Fraktionschef Dietmar Bartsch im Bundestag gegen die Embargopläne der Bundesregierung zu Werke. Er fordert einen „Schutzschirm für Ostdeutschland“, damit „die Strategie von Putin, den Westen zu spalten, eben nicht aufgeht.“ In der Tat könne die Bereitschaft der Bevölkerung, außenpolitische Maßnahmen mitzutragen, langfristig durchaus abhängig sein von innen- und sozialpolitischer Stabilität, gerade wenn sich der Krieg wahrscheinlich länger hinziehe.

Wir haben bereits an anderer Stelle deutlich gemacht, warum wir grundsätzlich gegen ein Embargo seitens imperialistischer Staaten sind, sogar wenn es sich gegen einen Aggressor richtet, der ein Land überfällt. Und das Embargo trifft auch nicht Waffen, sondern grundlegende Güter des unmittelbaren Lebens. Wir treten im Übrigen nicht deshalb gegen den Boykott ein, weil er die BRD und EU womöglich härter trifft als Russland, sondern weil er ein Mittel des Kampfes um Einflusssphären zwischen imperialistischen Mächten ist, in dem Fall der BRD und ihrer Alliierten,  und diesen Kampf notwendigerweise weiter verschärft.

Aus gänzlich anderen Motiven wandte sich dagegen die Brandenburger AfD-Landtagsfraktion gegen das Embargo. Alles soll beim Alten bleiben, damit es sich Deutschland nicht für alle Zukunft mit Putins Großreich verscherze.

Bartsch vertritt indes eine lupenreine sozialchauvinistische Position, die der Arbeiter:innenklasse mit ein paar Brosamen, die ihre Verelendung „sozialer“ gestalten sollen, seinen Hurrapatriotismus schmackhaft machen will.

Embargo im grünen Rock

Auch aus ökologischer Sicht ist der Ausstieg aus dem russischen Erdgas aberwitzig. Schließlich soll es durch ökologisch schädlichere „Alternativen“ ersetzt werden: Kohle und möglicherweise Weiterbetrieb der AKWs. Grundsätzlich richtig bleibt deshalb der Verweis der Brandenburger Landtagslinksfraktion auf den Ausstieg aus fossiler Energieerzeugung. Doch über diese vage Weisheit kommt sie nicht hinaus. Sie hätte stattdessen auf die an den Standorten ehemaliger DDR-Kombinate wie Leuna, Schwarze Pumpe und Schwedt entwickelten Patente und ihre weiteren Ergänzungen verweisen können, die z. B. in Gestalt der Wasserstoffstrategie für den ökologischen Umbau eine bedeutende Rolle spielen könnten.

Das Know-how der Beschäftigten hier, aber auch in den Braunkohlekraftwerken wie Jänschwalde wird eine unverzichtbare Rolle für einen organisierten Ausstieg spielen (Power to Gas, Wärmespeicherung, CO2-Abscheidung CCS usw.), vorausgesetzt diese legen die Patente offen, um die besten und miteinander kompatiblen technischen Lösungen für den Übergang herauszufinden und mittels Arbeiter:innenkontrolle in einer verstaatlichten Branche in Kraft zu setzen.

Ein solcher Ausstieg mag „radikalen“ Umweltschützer:innen wie denen vom „Aufstand der letzten Generation“ nicht schnell genug gehen. Jüngst unterbrachen zwei von ihnen den Ölfluss der Drushba-Pipeline an der Pumpstation Glantzhof im uckermärkischen Strasburg. Sie wollten „in den Notfallmodus umschalten“, eine „Lebenserklärung“ von Habeck erhalten, dass in Deutschland keine neue fossile Infrastruktur geschaffen wird. „Wenn wir jetzt auf erneuerbare Energien umsteigen, machen wie uns unabhängig von Diktaturen wie Russland oder Katar.“

Radikal sind nur solche Stunts. Lammfromm ist ihr Vertrauen in „unsere“ Demokratie. Für einen echten Ausstieg, eine wirkliche, organisierte Energiewende mit allem Drum und Dran braucht es eine Planwirtschaft, nicht eine EEG-Umlage aus den Taschen der Masse der Stromkund:innen unter Verschonung der Großkonzerne. Die vage Hoffnung, damit das Kapital zum Ausstieg aus kostengünstigen Energieträgern zu locken, hat dazu geführt, dass 100 Mrd. kWh zeitweilig überschüssiger Strom aus erneuerbaren Energien nicht ins Netz eingespeist wird, genug, um die Gasspeicher sofort zu füllen, wenn man daraus Methan herstellte. Träger eines solchen rationalen, umfassenden und integrierten Planes kann aber nur die Arbeiter:innenklasse sein. Insbesondere ihre Fachkräfte in der Energiewirtschaft müssen dafür sorgen, dass wir im Winter nicht frieren, im Dunkeln sitzen und uns nur noch zu Fuß und auf dem Fahrrad fortbewegen können. Kosten? Für Krieg und neue, fossile, aber schlechtere Infrastruktur ist natürlich genug Geld da, Habeck sei Dank. Wir sollten diesen Bock nicht wie unsere beiden „aufständischen“ Aktivist:innen mittels leerer Appelle zum Gärtner machen.




Habeck und der Gas-Notfallplan: Nein zur Preiserhöhung! 

Leo Drais, Infomail 1191, 24. Juni 2022

Wirtschafts- und angeblich auch Klimaminister Habeck hat die zweite Stufe des sogenannten Gas-Notfallplans ausgerufen, der Arbeiter:innenklasse drohen massive Gaspreisanstiege. Sie wird sie zahlen müssen, wenn wir keine Gegenwehr aufbauen.

Es sind die Kosten des Krieges, die auf die Arbeiter:innenklasse abgewälzt werden. Während Kanzler Scholz rätselt, ab wann man eigentlich Kriegspartei ist, bekommen wir die Kosten von Waffenlieferungen und einem nie dagewesenen Sanktionsprogramm sehr konkret zu spüren. Die grüne Partei des deutschen Imperialismus ist da ein bisschen ehrlicher. Robert Habeck hat die jüngste Drosselung der russischen Gaslieferungen um etwa die Hälfte als „Waffe gegen Deutschland“ bezeichnet. Und wo kommen Waffen zum Einsatz? Im Krieg, natürlich, im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, den die Ukraine stellvertretend für Deutschland und die NATO gegen Russland ausfechtet – und deren Bevölkerung weit mehr als horrende Gaspreise dafür zahlt. 

Kalt und teuer

Unmittelbar verantwortlich für die Gasdrosselung, wie für den Überfall auf die Ukraine auch, ist natürlich der russische Imperialismus. Aber deshalb schlagen wir uns nicht auf die Seite des deutschen Imperialismus mit seinen Werten, die er schon im Kosovo und in Afghanistan so glänzend verteidigt hat, und seiner Demokratie, die über Nacht 100 Milliarden an der Bevölkerung vorbei ins Militär steckt.

Das ist nicht unser Krieg. Von einem Schulterschluss mit den Herrschenden profitieren nur westliche Kapitale wie Shell und Rheinmetall sowie ihre politischen Vertreter:innen – von Biden bis Macron, von Baerbock bis Selenskyj. Wir werden auch nicht für sie frieren. Wir werden frieren, weil wir uns das Heizen und Duschen und Kochen mit blauer Flamme bald vielleicht nicht mehr leisten können. 

Eine Preiswelle rolle auf Deutschland zu, die faktisch nicht mehr abzuwenden sei, so Habeck. Das klingt wie eine Naturkatastrophe, Schulterzucken, da kann man nichts machen. Die jetzt ausgerufene Stufe zwei des Gas-Notfallplans beschreibt Erdgas nun als knappes Gut in Deutschland. Die Folgen zeigen die kommenden Wochen. Schon vor diesem Schritt wurde für einen Haushalt mit einem Verbrauch von 20.000 Kilowattstunden pro Jahr errechnet, dass 1000 – 2000 Euro Zusatzkosten auf ihn zukommen. Eine drohende drei- bis vierfache (400 %!) Gaspreiserhöhung ist für viele – der Zusammenbruch. Der Markt befiehlt, diese vom Kapitalismus erschaffene Pseudonatur. Preisgarantien sind nichts mehr wert. Auf den Markt wird gehofft. Habeck will der Industrie Anreize zum Energiesparen geben, bei Auktionen sollen Firmen eingespartes Gas versteigern dürfen. Wer dieses Spekulationsspiel wohl am Ende bezahlt? 

Die Gaskonzerne werden wahrscheinlich die Kosten an die Verbraucher:innen und die Industrie direkt weitergeben dürfen, die Industrie wird die Kosten an die Verbraucher:innen weitergeben, die Verbraucher:innen sind im wesentlichen die Arbeiter:innenklasse, die lohnabhängigen Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum. In Habecks Geldbeutel wird die Gaspreisexplosion genauso wenig Kratzer hinterlassen wie in den Taschen der deutschen Kapitalist:innen. Bei uns entstehen klaffende Spalten. Es ist ideologischer Bullshit, dass wir jetzt alle den Gürtel enger schnallen. Wir kriegen den Gürtel von denen enger geschnallt, bei denen er weiter im weitesten Loch sitzt.

Wenigstens für‘s Klima gut?

Viele werden mit dem Gas sparen – sparen müssen, Rechnungen und Kontostände sprechen eine eindeutige Sprache. Manchen hilft es dann, sich unter der kalten Dusche mantraartig „Es ist gut für‘s Klima, es ist gut für‘s Klima,…“ vorzubeten. Aber, davon wird vielleicht die Gänsehaut verschwinden, der Klimawandel wird damit nicht gestoppt, nicht mal im kleinsten Ansatz. 

Denn die Konsequenzen der Ampelregierungen aus dem Krieg und der Abhängigkeit vom russischen Gas sind ja nicht, einen schnellstmöglichen Ausstieg aus fossiler Energie zu forcieren. Nein. Es geht um den Ausstieg aus russischerfossiler Energie, und selbst der dauert. An die Stelle des sibirischen Gas tritt die rheinische RWE-Braunkohle, das den Krieg im Jemen finanzierende saudische Öl und das vollkommen zerstörerische, abgefrackte Schiefergas aus den USA, von rußkotzenden Flüssiggastankern einmal um die halbe Welt geschippert. Unterm Stich – eine Katastrophe für‘s Klima. 

Dabei gebe es Möglichkeiten jetzt und sofort viel mehr fossile Energie und auch Gas einzusparen. Zum Beispiel indem der größte deutsche Industriesektor schnellstmöglich restrukturiert wird. Die Autoindustrie produziert sowieso im Minutentakt eine Verkehrsweise, die weder ökologisch, noch sonst in irgendeiner Weise sinnvoll ist.

Wir zahlen nicht!

Die Gaspreisexplosion ist eben nicht das, was Habeck uns weiß machen will. Sie ist keine unabwendbare Katastrophe, schon gar nicht eine natürliche. Ein angeblicher Klimaminister sollte die Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft besser kennen. Aber gut, Habeck ist ja auch das glatte Gegenteil eines Klimaministers. Die aktuelle Gaspreisexplosion hilft der Absicherung deutscher Konzerne im Ringen mit Russland auf unsere Kosten und die unserer Lebensgrundlage. Nichts anders.

Dafür zahlen wir nicht! Der Kampf gegen den Krieg, Waldbrände in Brandenburg und das völlige Abgebrannt-sein unserer Ersparnisse hat gemeinsame Nenner: 

  • Für die sofortige, entschädigungslose Enteignung der gesamten Energieindustrie unter demokratischer Arbeiter:innenkontrolle!

  • Sofortiger Preisstopp! Keine Gassperre für Privathaushalte! Für Preiskontrollkomitees der Gewerkschaften und der Konsument:innen aus Arbeiter:innenklasse und Kleinbürger:innentum! Keine Subventionierung der Energiekonzerne, sie sollen für Mehrkosten zahlen! 

  • Gegen die Weitergabe der Kosten an uns! Wir zahlen nicht für Krieg und Klimakrise! Für einen demokratischen Sofortnotfallplan der Arbeiter:innenklasse zum schnellstmöglichen Ausstieg aus fossiler Energie, bezahlt durch die Profite und Kapitale von Rheinmetall, Shell, RWE, Vattenfall und Co! Energie sparen durch eine ökologische, demokratische Kreislaufplanwirtschaft!

  • Bei etwaiger Knappheit an Erergie: Geplantes Herunterfahren nicht lebensnotwendiger Bereiche unter Arbeiter:innenkontrolle anstatt Hoffen und Bangen auf den Markt!

  • Umbau unnötiger Industrien wie der Autobranche hin zu einer sinnvollen Produktion! Umschulung statt Entlassung, keine einziger Job darf gestrichen werden, Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich! Sofortige Anhebung des Mindestlohns! Automatische Anpassung der Löhne, Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation!

  • Verbindung der laufenden Tarifrunden mit dem Kampf gegen die Preissteigerung! Die DGB-Gewerkschaften müssen mit ihrer Unterordnung unter die Regierungspolitik brechen! Für eine bundesweite Massendemonstration und politische Massenstreiks gegen die steigenden Lebenshaltungskosten!



Die Kriegsziele des westlichen Imperialismus in der Ukraine

Dave Stockton, Infomail 1191, 16. Juni

Die Weltlage im Jahr 2022 ist durch mehrere Krisen gekennzeichnet – die unmittelbarste und in ihren globalen Folgen weitreichendste ist der Krieg in der Ukraine, der die Aufrüstung, die Ausweitung der NATO, des weltweit größten kriegführenden Bündnisses, und damit die globale Hegemonie der USA massiv vorangetrieben hat, gepaart mit einer globalen Nahrungsmittelkrise.

Zu diesen Faktoren, die die globalisierte Weltwirtschaft destabilisieren und fragmentieren, kommen noch die Schließungen und Unterbrechungen der internationalen Lieferketten infolge der Covid-Pandemie in den letzten zwei Jahren sowie das Versagen von COP26, des Klimagipfels in Glasgow, etwas gegen die drohende Klimakatastrophe zu unternehmen, das sich in der zunehmenden Serie von Dürren, Überschwemmungen und Waldbränden manifestiert.

Jede dieser Krisen hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Profitsystem und im Wirtschaftskrieg zwischen den Großmächten, der sich in Sanktionsregimen und Blockaden ausdrückt. Diese Faktoren sowie die zerstörerischen regionalen Kriege in Syrien, im Jemen, am Horn von Afrika und jetzt in der Ukraine sind alle Ausdruck der höchsten Stufe des Kapitalismus – des Imperialismus.

Die Erweiterung der NATO

In den Jahren 1989 – 1991 hätte man meinen können, dass mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe der Nordatlantischen Paktorganisation NATO, wie sie von ihren Gründer:innen definiert wurde, abgeschlossen sei. In der Tat stellte Russland in den folgenden 10 Jahren – nach einem massiven Rückgang seines Bruttoinlandsproduktes und dem Ausscheiden der drei baltischen Staaten, der Ukraine und Georgiens – trotz seiner Kriege in Tschetschenien kaum eine Bedrohung für die NATO-Staaten dar.

Unter US-amerikanischem Druck wuchs das Bündnis jedoch weiter und nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn auf, während Boris Jelzins und später Wladimir Putins Vorschläge, auch Russland beitreten zu lassen oder das Bündnis durch einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag zu ersetzen, abgelehnt wurden.

Die Interventionen der NATO auf dem Balkan und ihre spätere Beteiligung an Amerikas Kriegen im Nahen Osten zeigten, dass sie weit davon entfernt war, ein defensives oder friedliches Bündnis darzustellen. In der Zwischenzeit erholte sich Russland dank der steigenden Öl- und Gaspreise von seiner Demütigung und begann, sein „Recht“, als „Großmacht“ behandelt zu werden, wieder geltend zu machen und diese Macht im Nahen Osten zu demonstrieren.

Prorussische und sogar neutrale Regime wurden von den so genannten „farbigen Revolutionen“ in Georgien (2003) und der Ukraine (2004) getroffen. Diese hatten zwar echte innenpolitische Ursachen in der Unzufriedenheit mit den oligarchischen Regimen, aber US-Diplomat:innen und „Nichtregierungsorganisationen“ spielten eine offensichtliche Rolle. Diese Putsche zeigten die Gefahr eines ähnlichen Schicksals für Putins zunehmend autoritäres bonapartistisches Regime auf, insbesondere als der Boom der Öl- und Gaspreise mit der Rezession zu Ende ging.

Russischer Imperialismus

Angesichts der wiederholten Weigerung der USA, das kapitalistische Russland mit demselben Respekt zu behandeln wie die Sowjetunion, obwohl es den USA und ihren Verbündeten bei der Besetzung Afghanistans im Jahr 2001 logistisch geholfen hatte, versuchte Wladimir Putin ab 2008, sein Prestige mit Nachdruck wiederherzustellen.

Russland ist mit seiner herrschenden Klasse von milliardenschweren Oligarch:innen, die sich auf einen Rentierkapitalismus stützen, sowie mit der von der Sowjetunion geerbten und von Putin entwickelten Raumfahrt-, Nuklear- und Waffentechnologieindustrie wirtschaftlich in den imperialistischen Club aufgestiegen. Putins Regime beschnitt die unabhängige Macht der Oligarch:innen und stellte die staatliche Kontrolle über strategische Industrien wieder her.

Im Jahr 2008 reagierte Putin auf die prowestliche Ausrichtung Georgiens mit einem kurzen, aber entschiedenen Einmarsch in die autonomen Regionen Abchasien und Südossetien. Dies bildete das Muster für seine Interventionen im Jahr 2014, als der prorussische ukrainische Präsident Janukowytsch durch den Maidan-Putsch gestürzt wurde, was die Einnahme der Krim und das Eingreifen russischer Streitkräfte zur Unterstützung der Separatist:innen in den Gebieten Luhansk und Donezk zur Folge hatte.

Die Invasion der Ukraine

Beim Maidan-Putsch von Dezember 2013 bis Februar 2014 wurde der gewählte prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch von einer Allianz aus ukrainischen Neoliberalen, rechtsextremen Nationalist:innen und Faschist:innen mit Hilfe von US-Diplomat:innen und Nichtregierungsorganisationen gestürzt. Auf diese Weise wurde die Ukraine aus der Umlaufbahn Putins in die der NATO gebracht und zu einer Halbkolonie des Westens, die unter wirtschaftlicher Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union steht und Waffen und Ausbildung durch die NATO erhält.

Als Reaktion darauf beschlagnahmte Putin die Krim mit ihrem riesigen Marinestützpunkt und unterstützte – zunächst etwas widerwillig – eine De-facto-Abtrennung von Teilen von Luhansk und Donezk, die von den nationalistischen Maßnahmen des neuen Regimes in Kiew und den von Faschist:innen begangenen Gräueltaten entfremdet waren.

Die russische Invasion am 24. Februar dieses Jahres hat die Situation noch verschärft. Die Gräueltaten, die wir in Falludscha und Aleppo gesehen haben, sehen wir jetzt in Butscha, einem Vorort von Kiew, und die Verwüstung von Mariupol als Ergebnis eines dreimonatigen erbarmungslosen Bombardements, bei dem 95 Prozent der Stadt zerstört wurden und Tausende ums Leben kamen. Dies wiederholt sich nun in anderen Städten in den östlichen Provinzen Luhansk und Donezk.

Die Flucht von fünf Millionen Flüchtlingen über die Westgrenzen der Ukraine und die Vertreibung von über sieben Millionen Menschen innerhalb des Landes zeigen das Ausmaß der Zerstörung. Dies ist der Krieg einer imperialistischen Macht, die die Souveränität einer Nation verletzt, die nach Ansicht des russischen Diktators kein Recht hat zu existieren.

Auch wenn Putin und sein Regime die unmittelbaren Aggressor:innen sind, so haben doch die Handlungen der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und insbesondere seit 2013 diesen Krieg ebenfalls provoziert. Zusätzlich zu den Übergriffen der NATO auf Osteuropa haben die USA und andere westliche Länder die Ukraine seit 2014 mit Raketensystemen und kleinen Drohnen bewaffnet, die in der Lage sind, russische Panzer auszuschalten, sowie mit Boden-Luft-Raketen, um russische Flugzeuge abzuschießen, und ihre Streitkräfte für eine asymmetrische Kriegsführung umgeschult.

Allein die USA haben der Ukraine in diesem Zeitraum mehr als 2,5 Mrd. US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt und seit Februar weitere 3 Mrd. an Rüstungsgütern, darunter 1.400 Stinger-Flugabwehrraketen und 5.100 Javelin-Panzerabwehrraketen sowie Mi-17-Hubschrauber, Patrouillenboote, Langstreckenartillerie, Radarsysteme zur Drohnenabwehr und Küstenschutzschiffe. Am 19. Mai brachte Präsident Biden einen Gesetzentwurf ein, der der Ukraine weitere 40 Mrd. US-Dollar an Unterstützung verspricht.

Washingtons Ziel ist es nicht nur, Russland strategisch zu schwächen, sondern auch seine Vorherrschaft über die eigenen Verbündeten, wie Deutschland und Frankreich in Europa, und die untergeordneten Länder in der ganzen Welt zu behaupten. Der Beweis, dass sich niemand mit den USA anlegt und ungeschoren davonkommt, ist eine Lektion, die sich vor allem an den strategischen Rivalen China unter Xi Jinping richtet.

Der neue Kalte Krieg

Teil dieser Strategie ist die Rückkehr zur Politik des Kalten Krieges gegenüber Russland, die in der beispiellos harten Sanktionsblockade gegen dieses Land zum Ausdruck kommt. Als Reaktion darauf hat es die ukrainischen Getreideexporte über Odessa blockiert, was zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit geführt hat. Russland hat eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug für die Aufhebung der Blockade gefordert. Unterdessen drohen die NATO-Länder unter Führung Großbritanniens mit der Entsendung von Kriegsschiffen, um den Hafen zu öffnen, wobei es zu einem direkten Zusammenstoß mit der russischen Marine kommen könnte.

Die US-Strategie besteht in der Ausweitung der NATO auf ganz Skandinavien, kombiniert mit dem Aufbau eines NATO-Äquivalents im asiatisch-pazifischen Raum, einer von den USA dominierten Allianz für die Konfrontation mit China. Sie versuchen, den „unaufhaltsamen Aufstieg“ Chinas zu verhindern, den sie in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unterstützt haben. Doch als China, das den Kapitalismus wiederhergestellt hat, wenn auch unter einer vermeintlich kommunistischen Partei, sich zu einer eigenständigen imperialistischen „Großmacht“ entwickelte, drohte dies, ein „zweites amerikanisches Jahrhundert“ zu beenden.

Aus diesem Grund haben die USA unter Barack Obama und Hillary Clinton eine „Hinwendung zu Asien“ angekündigt. Dies wurde durch Trumps chaotische Präsidentschaft etwas unterbrochen, aber Joe Biden hat die Strategie seines  Vorgängers von der Demokratischen Partei noch einmal aufgegriffen. Zusammen mit Australien und dem Vereinigten Königreich hat er AUKUS gegründet, einen Pakt zur Lieferung von Atom-U-Booten an Australien.

Biden ist auch dabei, die so genannte Quad (den vierseitigen Sicherheitsdialog) – Australien, Japan, Indien und die USA – sowie den Indo-Pazifischen Wirtschaftsrahmen aufzuwerten. Washington bemüht sich intensiv darum, Indien enger in sein System einzubinden, obwohl Premierminister Narendra Modi sich weigert, sich den Sanktionen gegen Russland, einem wichtigen Waffenlieferanten Indiens, anzuschließen. Bidens Versprechen, Taiwan im Falle eines Angriffs durch China militärisch zu verteidigen, basiert auf diesem neuen Militärbündnis, das gerade im Entstehen ist.

Deutschland, das sich lange Zeit dem Druck der USA widersetzte, seine Verteidigungsausgaben auf das NATO-Niveau von 2 % zu erhöhen, das sich zunächst weigerte, das Nord-Stream-2-Pipeline-Abkommen aufzugeben, und weiterhin auf russische Gas- und Öllieferungen angewiesen ist, sieht sich nun gezwungen, seine Militärausgaben massiv zu erhöhen und sich um Treibstofflieferungen aus Quellen in oder nahe den USA und ihren Verbündeten im Nahen Osten zu bemühen.

All dies wurde unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz erreicht, dessen Partei lange Zeit die Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland als Teil einer größeren Autonomie der EU gegenüber Washington verteidigt hat, ein Ziel, das Frankreich noch unverblümter verfolgt. Diese Politik liegt nun in Trümmern, ebenso wie die jahrhundertelange Neutralität Finnlands und Schwedens.

Das Ziel der USA und ihrer Verbündeten bildet nicht die Befreiung der Ukraine oder der Schutz der Demokratie in Taiwan, sondern Putin und Xi Jinping davon abzuhalten, Amerika und seine untergeordneten Verbündeten und Halbkolonien in der ganzen Welt in Schwierigkeiten zu bringen.

Krieg und Revolution

Die Schrecken und das Elend, die durch Putins Invasion verursacht wurden, und das wirtschaftliche Chaos, das durch die Antwort der NATO droht, werfen die Frage auf, wie ein solcher Krieg beendet werden kann. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat verschiedentlich angedeutet, dass ein Waffenstillstand und sogar eine Friedensregelung möglich sein könnten, einschließlich des Verzichts des Landes auf einen NATO-Beitritt im Gegenzug zu einer gesamteuropäischen Verteidigungsregelung, aber Sprecher:innen der USA sowie der Druck von ukrainischen Rechtsnationalist:innen und Faschist:innen schlossen dies schnell aus.

Sicher ist, dass keiner der Kombattanten, ob Putin, Selenskyj, Biden, Johnson oder die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU, diesen Krieg auf eine Weise lösen wird, die eine stabile und dauerhafte Regelung für die Völker in der Region gewährleistet. Auf keine/n von ihnen ist Verlass, wenn es darum geht, eine demokratische und dauerhafte Lösung zu suchen oder anzubieten.

Seit über einem Jahrzehnt sind wir in eine neue Periode der innerimperialistischen Rivalität eingetreten, des Afghanistan- und Irakkrieges sowie der anderen Interventionen im Kampf gegen den Terror.

Außerdem endete die Boomphase der Globalisierung mit dem Einbruch von 2008. Die Senkung der Zinssätze auf nahezu null in den 2010er Jahren, um den Aufschwung zu fördern, führte nicht zu einer Rückkehr zu ernsthaftem Wachstum. Jetzt heizen selbst vorsichtige Erhöhungen der Zentralbankzinsen eine Inflation ohne Wirtschaftswachstum (Stagflation) an. Der Krieg und die Sanktionen könnten durchaus eine ausgewachsene Rezession auslösen.

Die Politik der Arbeiter:innenbewegungen aller Länder gegenüber dem aktuellen Konflikt sollte derjenigen entsprechen, die revolutionäre Sozialist:innen wie Karl Liebknecht und Lenin während des Ersten Weltkriegs verfolgten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! In den westlichen Ländern müssen wir uns gegen alle weiteren militärischen Interventionen und den Anspruch des Westens wenden, eine gerechtere oder demokratischere Version des Kapitalismus zu vertreten, im Gegensatz zu den autoritären Regimen von Putin oder Xi. Die jahrhundertelange globale Unterdrückung durch unsere eigenen kapitalistischen Oberherr:innen, die sich bis in die Gegenwart erstreckt, entlarvt solche Behauptungen als völlig haltlos.

Heute kämpfen wir für den Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine, die Beendigung des G7-Sanktionsregimes und der russischen Blockade der ukrainischen Häfen, die Auflösung sowohl der NATO als auch der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und dafür, den Krieg in der Ukraine in eine Revolution gegen die Herrscher:innen beider Länder zu verwandeln und den Weg zu den sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa zu öffnen.




Die Odyssee der Sunny Liger

Leo Drais, Infomail 1188, 15. Mai 2022

Die Irrfahrt der mit russischem Gasöl beladenen „Sunny Liger“ geht weiter. Die Besatzung versuchte es in Göteborg, in Rotterdam, in Amsterdam – an allen Häfen verweigerten Hafenarbeiter:innen die Entladung des Tankers. Nun reist er weiter, Kurs auf Gibraltar.

Was ist von diesem Boykott zu halten? Wir feierten die Blockaden von Rüstungsgütern durch belorussische und griechische Eisenbahner:innen und italienische Flughafenbeschäftigte. Sie stoppten russisches und NATO-Kriegsmaterial auf dem Weg in die Ukraine. Aber, es gibt wichtige Unterschiede. Ladung ist nicht gleich Ladung. Waffen sind kein Gasöl. Und wer welche Aktion gegen oder für wen oder was macht, das ist die essenzielle Frage.

Kritik

Zur Blockade der „Sunny Liger“ sagte die niederländische Gewerkschaft FNV, dass dies aus Protest gegen Putins Angriffskrieg geschehe. Wo ist da das Problem?

Grundsätzlich sind Aktionen der Arbeiter:innenklasse erstmal etwas Positives und etwas, worauf wir uns beziehen. Aber das heißt nicht, dass diese Aktionen immer fortschrittlich und positiv sind. Zum Beispiel gab es in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung auch schon Streiks gegen die Beschäftigung von migrantischen Arbeiter:innen. So was lehnen wir kategorisch als rassistisch ab.

Im Fall der „Sunny Liger“ wiederum kommen mehrere Faktoren zusammen. Natürlich ist eine Aktion und ein Protest von Arbeiter:innen gegen Putins Krieg erstmal nicht falsch. Aber nur erstmal. Bleibt sie dabei stehen, wird sie falsch.

Denn die einseitige Blockade russischer Waren um Putins Krieg zu stoppen führt zugleich dazu, nicht nur der Ukraine zum Sieg zu helfen, sondern auch die Ziele der NATO voranzubringen. Hinter der Ukraine steht die NATO, für die die ukrainische Armee auch den Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit Russland ausfechtet. Angesichts des widerwärtigen Überfalls Putins wirkt es natürlich so, als wäre alles, was die NATO in der Ukraine treibt, eine selbstlose Hilfe und Verteidigung von nationale Souveränität und Demokratie. Faktisch ist das jedoch die ideologische Verschleierung der eigenen imperialistischen Interessen. Wäre nationale Souveränität für die NATO-Staaten so wichtig, hätte es keinen Überfall auf den Irak oder auf Afghanistan gegeben. Wäre ihnen Demokratie so wichtig, würde sie zumindest anders mit der Krimfrage umgehen, würden sie in den NATO-Staaten selbst nicht massive Kriegspolitik über die Bevölkerung hinweg betreiben.

Frieden mit wem?

Was am in Göteborg und den Niederlanden passierte, ist nicht einfach eine Anti-Kriegsaktion. Es ist zugleich die indirekte Unterstützung der Kriegsbemühungen der eigenen Regierungen und Konzerne – es ist der Frieden mit dem eigenen Kapital, mit dem eigenen Imperialismus, um das russische Kapital zu schwächen. Und das ist das politische Problem. Es zementiert den eigenen Kapitalismus, die jetzt schon geplante Ausnutzung einer russischen Niederlage für die eigenen Profite – es zementiert die eigenen Ausbeutung unter dem europäischen Kapital.

Zudem ist die Blockade des inkonsequent und problematisch in anderer Hinsicht. Inkonsequent, weil gerade der Tanker „Amphion“ mit saudischem Öl Kurs auf Rotterdam hält und es wahrscheinlich nicht passieren wird, dass er dort aus Protest gegen des saudischen Krieg im Jemen verweigert wird.

Schädlich, weil – die Aktionen in Schweden und den Niederlanden mal groß gedacht – sie ein komplettes Embargo russischen Öls und Gas bedeuten würden, was letztlich wir als Arbeiter:innenklasse bezahlen würden. Es ist teurer (und nebenbei gesagt viel umweltschädlicher) das Gas und Öl aus den USA oder den Emiraten per Schiff zu importieren, während Putin grinsend in China und Indien Abnehmer findet.

Schädlich ist die Blockade der „Sunny Liger“ auch noch aus einem anderen Grund: Sie untergräbt die internationale Solidarität mit jenen, die Putin eigentlich stoppen können (und müssen) – der russischen Arbeiter:innenklasse. Der Fall der „Sunny Liger“ ist ein weiteres gefundenen Fressen für Putins Propaganda über dem russisch-feindlichen Westen.

Welcher Gegner?

Die Arbeiter:innen Europas sind gut beraten sich Karl Liebknechts Ausspruch „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ zu Herzen zu nehmen. Wie auch immer der Krieg in der Ukraine weitergeht, ob er sich einfriert oder zu einem vollen inter-imperialistischen Krieg weiterentwickelt – ein fortschrittliches Ende des Krieges, dass weder unsere Kolleg:innen in der Ukraine, noch in Russland, noch in Europa (mit dem Leben) bezahlen, kann nur gegen alle beteiligten Regierungen, Konzerne, Großmächte durchgesetzt werden. Ein Sieg des Russlands hat schon jetzt katastrophale Folgen für Millionen Ukrainer:innen. Ein Sieg der Ukraine und des Westens hat katastrophale Folgen für Millionen russische Arbeiter:innen – und baut wohl kaum die Ukraine zur blühende Demokratie auf.

Aber ein Sieg der Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die direkt oder indirekt am Krieg beteiligt sind, ein Sturz Putins, Bidens, Scholz, Anderssons und Ruttes, nur das kann dazu führen, dass die die Kosten des Krieges tragen, die ihn jetzt an ihm verdienen und durch ihn ihre Stellung auf der Welt absichern wollen.

Was also tun, an den Häfen, Flughäfen und Güterbahnhöfen Europas und Russlands? Die Blockade russischen Gasöls halten wir für falsch. Die Blockade aller russischen und westlichen Militärtransporte ist demgegenüber – richtig, und dringend erforderlich!




Unsere strategische Position ist nicht zu unterschätzen

Interview mit einem Bahnbeschäftigten, ursprünglich veröffentlicht auf klassegegenklasse.org, Infomail 1188, 12. Mai 2022

Frage: Lieber Genosse, danke, dass du uns ein Interview gibst. Magst du dich zu Beginn kurz vorstellen und erzählen, welchen Beruf du ausübst?

Antwort: Hi, freut mich auch. Ich bin A. und arbeite als Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn. Wir machen so etwas Ähnliches wie Fluglotse:innen, nur eben mit Zügen. Wir überwachen und steuern den Bahnbetrieb in unseren Bahnhöfen und auf den Strecken, stellen Weichen und Signale und ohne unsere Zustimmung findet keine Zugfahrt statt.

Politisch bin ich Unterstützer der Gruppe Arbeiter:innenmacht. Außerdem bin ich aktiv beim Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und versuche, mich mit Kolleg:innen bei der Bahn zu vernetzen (bei Interesse können sich Eisenbahner:innen und andere Beschäftigte im ÖPNV an info@bahnvernetzung.de wenden). Soweit zu mir. Wichtig ist vielleicht noch, dass ich hier nur sehr begrenzt für meine Kolleg:innen von der VKG oder der Bahnvernetzung sprechen kann. Deswegen bitte ich die Leser:innen, das Interview vor allem als meine eigene Meinung zu verstehen.

Frage: In Belarus, Italien und Griechenland haben Beschäftigte im Transportsektor Waffenlieferungen sabotiert bzw. blockiert. Welche Rolle können Eisenbahner:innen im Kampf gegen den Militarismus strategisch einnehmen?

Ich denke, dass unsere strategische Position im Krieg nicht zu unterschätzen ist. Osteuropa ist durch die NATO seit Jahren hochgerüstet worden, was ohne den Schienenweg so kaum möglich gewesen wäre. Gerade wenn es um den groß angelegten Transport schwerer Waffen wie Panzer geht, bleibt auf dem Landweg fast nur die Schiene. Genauso hat Russland seine Panzer in Richtung der Ukraine geschickt, was die Kolleg:innen in Belarus ja zumindest etwas sabotieren konnten.

Sie und die Kolleg:innen in Pisa und bei der OSE haben gezeigt, dass Krieg keine Katastrophe ist, der wir uns einfach ergeben müssen. Der Krieg kann gestoppt, Kriegsgerät und Truppentransporte können aufgehalten werden – in Russland und in der NATO. Das setzt aber ein hohes Bewusstsein bei den Beschäftigten voraus und vor allem eine gute, militante Organisierung, sei es gewerkschaftlicher oder politischer Art.

Gleichzeitig bin ich natürlich dagegen, einfach jeden Zug in die Ukraine zu stoppen. Hilfsgüter und Geflüchtete – egal woher – müssen transportiert werden.

Frage: Warum sollten sich auch Eisenbahner:innen in Deutschland gegen den Krieg positionieren? Warum, denkst du, fällt es vielen Kolleg:innen so schwer, den internationalen Beispielen zu folgen?

Antwort: Egal ist der Krieg wahrscheinlich kaum wem und gegen den Krieg an sich sind sicher die meisten. Aber was heißt das schon, gegen den Krieg zu sein? Für viele bedeutet es, auf der Seite der Ukraine zu stehen. Die Deutsche Bahn und die Gewerkschaften EVG und GDL verbreiten das auch mehr oder weniger genauso. Das ist auf den ersten Blick auch irgendwo ziemlich gut zu verstehen, weil Russland eben den Überfall gestartet hat, Millionen in die Flucht treibt und die russische Armee Massaker wie in Butscha verübt hat.

Aber diese Idee, dass die Unterstützung der Ukraine und ein Sieg Selenskyjs Frieden bedeuten, die halte ich für brandgefährlich – zumal die Regierung in Kiew seit acht Jahren Krieg im Donbass führt, auch gegen die Zivilbevölkerung dort.  Und versteh‘ mich nicht falsch: Natürlich hat jede:r meine:r ukrainischen Kolleg:innen das Recht, sich zu verteidigen, und ich rufe hier nicht zur Kapitulation auf. Gleichzeitig ist es jedoch so, dass uns jede Waffenlieferung an Kiew dem Abgrund eines Dritten Weltkrieges näher bringt.

Das Ganze eskaliert deshalb so, weil die Politik des Westens hier alles andere als selbstlos ist. Im Gegenteil. Es geht der BRD, der EU, den USA und der NATO überhaupt um die Neuaufteilung der Ukraine. Gewinnt sie in deren Interesse gegen Russland, hätte sie sich auch die noch krassere Abhängigkeit von Berlin, Brüssel und Washington erkämpft. Davon kann vielleicht ein Selenskyj sehr gut leben, aber eine nationale Selbstbestimmung im Interesse der breiten Bevölkerung sieht für mich anders aus. So weit mal zur Position gegen den Krieg, die eigentlich bedeutet müsste, gegen die NATO oder eben Scholz sein zu müssen – so wie die Arbeiter:innen in Russland in Putin ihren Hauptfeind erkennen müssen.

Was meine Kolleg:innen hier angeht, ist es jetzt auch nicht so, dass alle stramm hinter der westlichen Politik stehen. Natürlich dominiert die Angst und die Einbindung in die westliche Ideologie. Deshalb gibt es auch Kolleg:innen, die stolz posten, dass sie Waffen Richtung Osten transportiert haben, oder Leute, die mehr Aufrüstung fordern – ganz klar. Aber es gibt schon auch viel Skepsis gegenüber der Regierungspolitik, die sich jetzt auch mit der Sorge über die horrenden Preise vermischt. Viele sehen zum Beispiel auch die NATO-Osterweiterung kritisch.

Unterm Strich und definitiv sind wir zur Zeit aber leider weit davon entfernt, dass meine Kolleg:innen und ich Waffentransporte stehenlassen.

Die internationalen Beispiele zeigen da, denke ich, auch ein bisschen, was hier fehlt. In Belarus stehen die Menschen unter dem Eindruck von Massenaufständen in den letzten Jahren. Das Regime dort ist alles andere als stabil und ziemlich verhasst. Auf irgendeine Weise muss das für meine Kolleg:innen dort auch eine Rolle gespielt haben, sonst wären sie Putin und seinem Freund Lukaschenko nicht in den Rücken gefallen. Am Flughafen von Pisa wurde die Blockade von militärischen Gütern möglich, weil dort mit der Unione Sindacale di Base eine Gewerkschaft existiert, die sich in einer gewissen kommunistischen Tradition sieht. In Griechenland sah das ähnlich aus. Den Kolleg:innen dort ist die Rolle der NATO einfach klarer und sie sind militanter organisiert. Die deutschen Gewerkschaften EVG und GDL betreiben das Gegenteil: Sie sorgen für eine ideologische Einbindung in den NATO-Imperialismus und seinen angeblichen demokratischen Werten – über die viele aus Afghanistan, Palästina und dem Irak wahrscheinlich nur wütend lachen können.

Frage: Du hast gerade die deutschen Gewerkschaftsführungen erwähnt. Kannst du noch mal genauer auf ihre Rolle zur Zeit eingehen?

Antwort: Die Führung des DGB, aber auch die Spitze der GDL sind für den deutschen Kapitalismus systemrelevant, und zwar weil sie entscheidend sind, wenn es darum geht, die Arbeiter:innenklasse ruhig zu halten, beziehungsweise sie in die nationalen Interessen der Bosse oder der Ampel-Regierung einzubinden. Bei der GDL passiert das mehr durch passive Zustimmung zur Kriegspolitik der BRD: Erst hat sie wochenlang überhaupt nichts von sich hören lassen. Dann gab es ein Statement, das im Grunde auch vom DGB hätte stammen können.

Der DGB, worin die EVG eine Mitgliedsgewerkschaft ist, hat wiederum viele seiner sowieso bescheidenen Grundsätze über Bord geworfen. Eigentlich stimmt er der Regierung im Großen und Ganzen zu, solange noch ein kleines bisschen Geld für soziale Angelegenheiten übrig bleibt.

Der Erste Mai hat das auch nochmal unterstrichen. In Düsseldorf hatte der DGB gleich Kanzler Scholz eingeladen, um seine Kriegspropaganda zu verbreiten. In Berlin hat der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann satte zwanzig Minuten lang gelabert und wären aus der Versammlung nicht Pfiffe und Buhrufe gekommen, hätte er wahrscheinlich noch mehr über „europäische Sicherheit und Werte“ geschwatzt. So warf er ein paar mehr soziale Floskeln als gewollt ein.

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die Gewerkschaftsspitzen – die Gewerkschaftsbürokratie – nicht einfach nur eine falsche Politik machen, die nur korrigiert werden müsste. Das Ganze hat System. Hoffmann, Weselsky, Hommel und die ganzen anderen sind ziemlich privilegiert und stehen den Konzernspitzen, dem Staat und den Berufspolitiker:innen sehr nah – auch gehaltstechnisch.

Sie haben von ihrer gesellschaftlichen Position aus überhaupt kein Interesse daran, der deutschen Kriegspolitik in den Rücken zu fallen, weil sie – nennen wir‘s beim Namen – im Imperialismus der BRD einfach sehr gut leben können und selbst an dessen Werte usw. glauben. Von den EVG- und GDL-Spitzen ist nicht zu erwarten, dass wir dazu aufgerufen werden, Panzerzüge stehenzulassen. Im Gegenteil. Sie halten die Gewerkschaftsmitglieder passiv und die Panzerzüge für Teil einer gerechten Sache, den Kampf für Demokratie und zur Verteidigung der überfallenen Ukraine, obwohl es doch eigentlich der extrem gefährliche Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist.

Frage: Was können Beschäftigte konkret im Kampf gegen Krieg und die Gewerkschaftsbürokratie tun?

Antwort: Allgemein gesprochen braucht es, denke ich, einen politischen Kampf für eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften, die zum Beispiel die Tarifrundenrituale kritisiert und fordert, dass der Lohn  der Inflation entsprechend steigen muss oder dass wir Gewerkschaften wollen, die direkt und demokratisch von der Basis kontrolliert werden und wo ein/e Vorsitzende/r nur den Durchschnittslohn kriegt und über die eigene Politik rechenschaftspflichtig ist. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist, die Preissteigerung und Lohnverluste mit den Kriegsausgaben der Regierung, den Sanktionen und der direkten Aufrüstung zu verbinden.

Ein kleiner –  sehr kleiner – Startpunkt, aber immerhin ein Anfang für so etwas wie eine organisierte Opposition ist die eben erwähnte VKG, an die sich Kolleg:innen wenden können, die keinen Bock mehr auf die offizielle Gewerkschaftspolitik haben und in ihren Gewerkschaften etwas verändern wollen.

Das ist zugegeben etwas abstrakt.

Konkrete Ideen habe ich aber auch. Als Bahnvernetzung haben wir zum Beispiel vor einigen Wochen vor dem Berliner Hauptbahnhof eine Kundgebung gegen den Krieg veranstaltet, die zwar nicht groß, aber dafür sehr sichtbar war. Dabei solidarisierten wir uns auch mit den Kolleg:innen in Belarus oder forderten unsere Gewerkschaften auf, dass sie für das Recht einstehen, keine Militärgüter transportieren zu müssen – sprich keine Abmahnung und keine Kündigung weil z. B. ein/e Lokführer:in sich weigert, einen Panzerzug zu fahren. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch das  Recht, überhaupt in die Ladung schauen zu dürfen, um zu überprüfen, was wir da eigentlich bewegen sollen.

So eine kleine Kundgebung können Kolleg:innen schon mit wenigen Kräften starten und vielleicht mehr werden.

Als Bahnvernetzung treffen wir uns außerdem einmal im Monat, um uns über betriebliche Fragen auszutauschen, wobei wir offen sind für Kolleg:innen aus dem gesamten Bundesgebiet. Es gibt ja Internet. Es ist egal, welches Eisenbahnunternehmen oder welche Gewerkschaft – wir wollen ja die Spaltung zwischen EVG und GDL überwinden.

Wenn du keinen Bock darauf hast, was Weselsky und Hommel treiben, und eine linke Perspektive in die Gewerkschaften tragen willst, musst du nicht alleine anfangen, sondern kannst uns anschreiben. 🙂

Frage: Danke für das Interview.

Antwort: Gerne!




Krieg dem Krieg! Keinen Cent für die imperialistische Politik!

Gruppe Arbeiter:innenmacht, Neue Internationale 264, Mai 2022

Vorschläge für eine Antikriegsbewegung

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!
  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!
  • Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampel-Koalition!
  • Die Kosten der Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!

Die Ablehnung jeder Klassenzusammenarbeit, jeder Unterstützung der Regierung und ihrer militärischen und wirtschaftlichen Interessen ist nicht nur unerlässlich im Kampf gegen den „eigenen“ Imperialismus, den Hauptfeind im eigenen Land. Sie schafft zugleich auch die besten Voraussetzungen für den Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung – insbesondere auch in Russland und in der Ukraine.




Solidarität mit der Antikriegsbewegung in Russland

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 263, April 2022

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gibt es weltweit Proteste – auch in Russland selbst. Ihnen ist dieser Artikel gewidmet.

Die Aktivist:innen selber begegnen dabei seit dem ersten Tag des Krieges einer massiven Repression seitens des russischen Staates. Es drohen Haftstrafen von bis zu 15 Jahren sowie Geldstrafen bis zu 5 Millionen Rubel (nach derzeitigem Kurs ca 50.000 Euro).

Vereinzelt ist es auch zu Hausdurchsuchungen gekommen sowie Fällen von Folter wie bei dem baschkirischen Umweltaktivisten Aytugan Sharipov. Dieser wurde stundenlang Elektroschocks ausgesetzt wegen der Versendung von Antikriegs-Nachrichten auf WhatsApp. Darüber hinaus spricht die massive Zahl der Festnahmen für sich. Seit Beginn der Invasion wurden laut Tagesschau bis zum 13. März rund 14.000 Menschen festgenommen. Häufig enden diese in 10 – 15 Tagen „Ordnungsverwahrung“.

Deutlich wird die Härte, wenn man sich die Festnahmen nur vom Aktionstag am 6. März genauer anschaut. In Moskau demonstrierten ca. 2.500 Menschen, in St. Petersburg 1500. Verhaftet wurden in Moskau 1.700 aufgrund der Teilnahme an einer „nicht genehmigten Kundgebung“, in St. Petersburg 750. Also rund die Hälfte bis zwei Drittel jener, die sich auf die Straße gewagt haben. Ein weiteres großes Problem stellt die  Informationsblockade an sich dar. Fast alle unabhängigen sowie viele westliche Medien und soziale Netzwerke sind blockiert oder geschlossen, während staatliche Stellen Desinformationen über die „militärische Sonderoperation“ verbreiten.

Grober Überblick

Als unmittelbare Reaktion auf den Einmarsch gab es mehrere Petitionen und Positionierungen von bekannten Personen der russischen Öffentlichkeit gegen den Krieg. So unterzeichneten mehr als 30.000 Techniker:innen, 6.000 Mediziner:innen, 3.400 Architekt:innen, mehr als 4.300 Lehrer:innen, über 17.000 Künstler:innen, 5.000 Wissenschaftler:innen und 2.000 Schauspieler:innen, Regisseur:innen und andere Kreative offene Briefe, in denen sie Putins Regierung aufforderten, den Krieg zu beenden.

Etliche Unterstützer:innen der Petitionen gegen die Invasion verloren ihren Arbeitsplatz. Es folgten Aktionen von Künstler:innen wie beispielsweise aus dem Kollektiv Nevoina aus Samara. Diese veranstalteten eine Aktion mit dem Titel „Ein Wort an die Toten“. Die Aktivist:innen zogen sich schwarze Säcke an und formten auf dem Eis der Wolga eine Linie aus ihren Körpern aus, um die Opfer des Krieges zu symbolisieren. Andere Protestformen zeigt die anonyme Bewegung „Krankschreibung gegen den Krieg“ auf. Darüber hinaus gibt es viele Guerilla-Aktionen und „stille Mahnwachen“ als Alternative zu Straßenprotesten.

Den Höhepunkt der Proteste bilden bisher jedoch die zwei zentralen Aktionstage gegen den Krieg am 6. und 13. März.

Frauen und Jugend voran!

Präsent war bei den Protesten der „Feministische Widerstand gegen Krieg“. Eine der Gründerinnen gab an, dass Antimilitarismus ein integraler Bestandteil des Feminismus sei, denn dieser wende sich gegen alle Formen von Gewalt, einschließlich militärischer Aggression. Das Netzwerk fokussiert sich im Rahmen der Proteste vor allem darauf, die Informationsblockade zu überwinden, bspw. durch virale WhatsApp-Nachrichten oder Guerilla-Straßenaktionen.

Auch zu erwähnen ist die Jugendbewegung Vesna. Sie ist Teil der Europäischen Liberalen Jugend und hat mit zu beiden Aktionstagen aufgerufen, wo sie klar sagte, dass Putin nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung Krieg führe. Den nächsten Aktionstag hat sie für den 2. April ausgerufen.

Wesentlich kleiner ist die Initiative „Studierende gegen den Krieg“. Diese hat am 18. März auf ihrem Telegram-Kanal (3.100 Follower) zu Aktionen an den russischen Universitäten aufgerufen, nachdem sie zwischen dem 9. und 12. März versuchten, dort Bildungsstreiks durchzuführen. Sie riefen dazu auf, sich mit Dozierenden in Verbindung zu setzen, die gegen den Krieg sind und diesen in Seminaren zu thematisieren, Flugblätter und Aufschriften gegen die Informationsblockade zu hinterlassen und Studierenden zu helfen, die von Exmatrikulation bedroht sind. Darüber hinaus sollen Hochschulrektor:innen aufgefordert werden, ihre Unterschrift auf Unterstützungsschreiben für den Krieg zurückzuziehen.

Russische Linke

Die Kommunistische Partei Russlands KPRF (mit 43 Sitzen zweitgrößte Partei in der Staatsduma nach Putins „Einiges Russland“ – 334 Sitze) ist als „kremltreu“ zu begreifen und ordnet sich dem russischen Imperialismus unter. Trotzdem gibt es Bewegung gegen deren Führung. So entstand die Initiative „KPRF/KOMSOMOL-Mitglieder gegen den Krieg” mit der sich mehrere Abgeordnete der Staatsduma für die Beendigung des Krieges einsetzen. Darüber hinaus gibt es ein Schreiben von 462 Mitgliedern der KPRF, das die „die sofortige Beendigung des Bruderkriegs zwischen den Völkern Russlands und der Ukraine“ und ein Programm für die Veränderung Russlands und der Welt nach dem Krieg fordert. Dieses soll auf allen Ebenen der Partei diskutiert werden. Ebenso positiv hervorzuheben ist, dass der Krieg Russlands klar als imperialistischer bezeichnet wird.

Die Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR) mit mehr als 27 Millionen Mitgliedern wiederum ist stark in den Putinismus eingebunden. Eine Partnerin gegen den Krieg ist sie unter ihrer bürokratischen Führung nicht. Diese steht stramm hinter dem russischen Überfall, wobei eine Führung nicht mit der Basis verwechselt werden darf.

Jedoch sieht es bei der KTR, der Konföderation der Arbeit Russlands, anders aus. Der Zusammenschluss von rund 20 Gewerkschaften hat 2 Millionen Mitglieder. Eine der Mitgliedsgewerkschaften ist die MPRA, die als kämpferische Organisation in der transnationalen Automobilindustrie (Ford, VW, BENTELER) aktiv ist. Seit ihrer Gründung im Jahr 2006 hat sie sich durch militante Streiks ihren Platz erkämpft. Ihre Führer:innen sind immer wieder der Repression ausgesetzt und manche von ihnen vertreten sozialistische Positionen. Am 26. Februar hat die KTR ein Statement abgegeben, das zwar keine offene Ablehnung des Krieges ist, aber auffordert, dass es eine „schnellstmögliche Einstellung der Militäraktionen und die Wiederaufnahme des friedlichen Dialogs und der Koexistenz zwischen den multinationalen Völkern Russlands und der Ukraine“ geben muss.

Herausforderungen

Die Proteste gegen den Krieg ziehen sich durch ein breites Spektrum. Es gab Petitionen, Guerilla-Aktionen sowie Mobilisierungstage. Zudem darf der stille Protest tausender Menschen, die Russland nun verlassen, nicht verkannt werden. Der diffuse und weitgehend vereinzelte Charakter der Gegenwehr hängt dabei jedoch mit einer Schwäche der Linken in Russland selbst zusammen.

Das unmittelbar größte Problem für alle auf der Straße ist der massive und allgegenwärtige Repressionsapparat des Putin-Regimes. Es fehlt an Strukturen, die in dieser Situation illegale Arbeit mit der Nutzung der eng beschränkten legalen Möglichkeiten verbinden könnten.

Weiterhin fehlt eine Verankerung der radikalen Linken innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Letztere ist massenhaft vor allem in der staatstragenden Gewerkschaftsföderation organisiert und kontrolliert. Die aktuellen Proteste können sich somit richtigerweise gegen den Krieg Russlands richten, aber darüber hinaus können sie in der aktuellen Form nur die Keimform einer breiten Antikriegsbewegung darstellen. Davon, den Krieg stoppen zu können, sind sie weit entfernt, die Linke ist marginalisiert, die Arbeiter:innenklasse tritt nicht als eigenständige Kraft auf.

Die eher autonom geprägte Gruppe „Alt-Left“ geht dementsprechend in ihrer Auswertung eines Aktionstages davon aus, dass die Führung der Bewegung eine liberale Prägung habe und es in der Bevölkerung eine mehrheitliche Unterstützung für die Krimoperation und eine starke Zunahme des Nationalismus gäbe. Natürlich ist das auch ein Ergebnis von Putins Propagandahoheit, aber auch der Tiefe der historischen Niederlage, die mit der Restauration des Kapitalismus einherging, und einer Linken, die an sich selbst den Zusammenbruch des Stalinismus erfuhr und sich und die Arbeiter:innenklasse bisher nicht so reorganisieren konnte, dass sie einen alternativen gesellschaftlichen Pol gegen Putin darstellt.

Aufgaben

Revolutionär:innen und Antikriegsaktivist:innen stehen in Russland vor zwei großen Herausforderungen:

  • Sie müssen programmatische Klarheit über den imperialistischen Charakter Russlands und des Krieges entwickeln. Der Krieg ist nicht einfach ein „Bruderkrieg“, sondern einer, der die Ukraine Russland unterwerfen soll. Er ist zugleich auch ein innerimperialistischer Konflikt und eine Vorstufe zum direkten Krieg gegen die NATO, USA und EU.

Daraus leitet sich die Position ab, nicht einfach nur für einen falschen (weil imperialistischen) Frieden einzutreten, sondern offen gegen den russischen Imperialismus und seine Kriegsziele aufzutreten. In Russland muss der Kampf gegen den Krieg mit dem zum Sturz des Putin-Regimes und des russischen Kapitalismus real verbunden werden.

Es gilt dabei, demokratische Forderungen mit sozialistischen zu verbinden: Rückzug der Truppen, weg mit Putin, gegen die Abwälzung der Kosten des Krieges und der Sanktionen auf die Massen, demokratische Kontrolle über Produktion und Verteilung der Güter, Enteignung von Betrieben, für den Streik und die Sabotage des Krieges, antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee.

Unbedingt Teil der Programmatik muss natürlich auch der Kampf für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine sein. Dass das keine wilde Träumerei ist, zeigt die russische Geschichte nach der Oktoberrevolution 1917 selbst.

  • In wechselseitiger Beziehung mit der programmatischen Klärung steht die Organisierung und Kombination von illegaler und legaler Arbeit (Strukturen schaffen zum Schutz vor dem Staat und zur illegalen Publikation und Agitation, Kanäle schaffen zur offenen Diskussion, Legalität ausreizen, …)

Die Klärung der Position und das Schaffen von organisatorischen Strukturen wird umso wichtiger, wenn sich die Bewegung gegen den Krieg spontan und von sich aus verbreitert (z. B. in Streiks gegen die schlechter werdende Lebenssituation). Nur so kann sie politisch aufgefangen und in eine revolutionäre Richtung gelenkt werden.

Abschließend: Der Kampf gegen den Krieg ist auch keine Aufgabe der russischen Arbeiter:innenklasse alleine. Die Linke hierzulande muss sich solidarisch mit den existierenden Protesten zeigen und gleichzeitig die Politik der BRD gegenüber Russland bekämpfen. Es ist essenziell für den Kampf in Russland, dass wir hier gegen Aufrüstung und Sanktionen kämpfen. Damit können wir der russischen Bevölkerung zeigen, dass die internationale Arbeiter:innenklasse ihre Verbündeten ist, ihre Interessen teilt. So können wir auch dazu beitragen, Putins großrussischer nationalistischen Propaganda und damit seiner Unterstützung den Boden zu entziehen.




Der Krieg in der Ukraine und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, 7. März 2022, Infomail 1181, 9. März 2022

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eingeleitet. Der Krieg um die Kontrolle der Ukraine ist der jüngste und schärfste Ausdruck dieses Konflikts, der die Welt mit einem dritten Weltkrieg zwischen den imperialistischen Staaten und ihren Bündnissen bedroht.

Putins Angriff auf die Ukraine, seine Leugnung der Nationalität und Souveränität dieses Landes, bestätigt voll und ganz den imperialistischen und räuberischen Charakter des Staates und der herrschenden Klasse, der er vorsteht. Die Politik der NATO-Verbündeten, insbesondere der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die EU und die NATO zu ziehen, hat Putin den Vorwand, wenn auch nicht die Rechtfertigung, geliefert, die Ukraine anzugreifen.

Die Darstellung des Krieges in den westlichen Medien als Fortsetzung eines langen Krieges Russlands gegen die Ukraine, der 2014 begann, ist völlig falsch. Der Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch war ein Versuch des US- und EU-Imperialismus, mit Hilfe pro-europäischer ukrainischer Oligarch:innen und Ultranationalist:innen die Ukraine endgültig in die Sphäre der westlichen imperialistischen Ausbeutung zu überführen. Dies löste eine Reaktion Russlands zur Verteidigung seiner imperialistischen Interessen aus – die Annexion der Krim, um seinen Marinestützpunkt im Schwarzen Meer zu sichern, und die Unterstützung einer separatistischen Rebellion mit dem Ziel, ein Veto gegen den Beitritt der Ukraine zur EU und NATO einzulegen.

Die Frage, wer den ersten Schuss abgefeuert hat oder wessen Aktionen „defensiv“ oder „aggressiv“ sind, ist nicht entscheidend für die Bestimmung des wesentlichen Charakters des Konflikts: ein von Putin offen und vom Westen verdeckt geführter Kampf darum, welche Imperialist:innen in der Ukraine herrschen werden. Der Konflikt ging und geht nicht darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute der europäische Schauplatz des Kampfes zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt. Und sie hat eine neue Phase dieses Kampfes eröffnet, indem sie die Bildung von kriegführenden Blöcken beschleunigt hat, die leicht in einen direkten militärischen Konflikt, d. h. einen zwischenimperialistischen Krieg, münden könnte.

Die USA und die ukrainischen Nationalist:innen haben systematisch jede Verhandlungslösung vereitelt, da sie auf einen eventuellen Beitritt des Landes zur NATO setzten. In der Zwischenzeit hat die NATO das Land mit massiver militärischer Hilfe und Ausbildung versorgt – was die lächerliche Behauptung widerlegt, dass „die NATO nicht in den Konflikt verwickelt ist“. Diese Aktionen sind Teil eines Prozesses der Einkreisung Russlands durch das westliche imperialistische Bündnis. Seit 1991 haben die USA wiederholt und systematisch versucht, Russland aus der NATO oder einem alternativen europäischen Sicherheitssystem auszuschließen. Sie haben dies nicht nur mit dem langfristigen Ziel getan, die eurasische Macht zu zerschlagen, sondern auch, um die Entwicklung eines unabhängigen europäischen Imperialismus unter der Führung Frankreichs und Deutschlands zu behindern. Mit dem Krieg und einer beispiellosen Runde von Sanktionen haben sie die Aussicht auf eine Neuausrichtung mit Russland unter Putin, die von Teilen der deutschen und europäischen herrschenden Klassen befürwortet wird, begraben. Dies wird die Hegemonie der USA über die NATO und ihre imperialistischen Verbündeten zumindest kurzfristig stärken, aber auch als Vorwand für die Militarisierung und Aufrüstung der westeuropäischen Mächte auf eigene Rechnung dienen.

Die ukrainischen Machthaber:innen waren weder bloße Zuschauer:innen in dieser Rivalität der Großmächte um das Schicksal ihres Landes, noch sind sie Verfechter:innen der „Demokratie“. Das Regime nach 2014 wurde durch einen reaktionären Sturz Janukowytschs im Auftrag der USA an die Macht gebracht, der von rechtsextremen und faschistischen Milizen angeführt wurde. Indem sie die verfassungsmäßige Neutralität des Landes durch ein Bekenntnis zur NATO-Mitgliedschaft ersetzt, den östlichen Regionen das demokratische Selbstbestimmungsrecht verweigert und auf der Rückgabe der Krim besteht – unabhängig von den Wünschen der Bevölkerung –, kämpft die führende Fraktion der ukrainischen herrschenden Klasse nicht für die nationale Souveränität, sondern für das Recht, die ukrainischen Arbeiter:innen unbehelligt von den von Russland unterstützten Rival:innen auszubeuten, an der gemeinsamen Ausplünderung der europäischen Arbeiter:innen durch die Architektur der Europäischen Union teilzuhaben und dies unter der Deckung des nuklearen Schutzschirms der NATO zu tun.

Die Taktik in der Ukraine

Putins imperialistische, großrussisch-chauvinistische Verweigerung des Rechts der Ukraine auf Unabhängigkeit, seine Invasion und sein Versuch, ein Klientelregime zu installieren, wenn nicht sogar Teile des Landes zu besetzen und zu annektieren, führt jedoch dazu, dass große Teile der ukrainischen Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen sich der Besetzung widersetzen und ihre Städte verteidigen wollen.

Diese berechtigte Antwort auf die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, verdient die Unterstützung der Revolutionär:innen. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen. Aber das ist nicht dasselbe wie die Unterstützung der reaktionären Kriegsziele der ukrainischen Bourgeoisie, einschließlich der Einheit der Ukraine ohne Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ihrer Minderheiten sowie der Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union.

Deshalb darf die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine kein Vertrauen in eine Regierung setzen, die den Beitritt zum Kriegsbündnis der NATO zum Ziel hat. Sie sollte daran arbeiten, die größtmögliche politische Unabhängigkeit von der Regierung, von der herrschenden Klasse der Oligarch:innen und den NATO-Imperialist:innen zu erlangen. Das Ziel muss sein, die Kräfte der Arbeiter:innenklasse in den Widerstand einzubinden, Organe unter der Kontrolle der Massen zu schaffen, mit dem Endziel, die Kräfte zu bilden, die diese Regierung stürzen können.

Sowohl der großrussische als auch der ukrainische Nationalchauvinismus sind reaktionäre politische Linien, die die räuberische Ausbeutung und Verelendung sowohl der ukrainischen als auch der russischen Arbeiter:innenklasse vertiefen würden. Sie ziehen die Völker Europas in eine katastrophale militärische Konfrontation zwischen den atomaren Großmächten hinein. Die Strategie und Taktik einer proletarischen Verteidigung gegen die russische Besatzung muss daher dieser drohenden Gefahr eines globalen Krieges zwischen Russland und der NATO Rechnung tragen. Sie darf auf keinen Fall zu einer bloßen Hilfstruppe der westlichen Imperialist:innen werden, wie es die Regierung Selenskyj anstrebt.

Die ukrainische Bourgeoisie in Form ihres Staates, ihrer Regierung und ihrer Armee kann den Kampf für echte Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit der Ukraine nicht anführen, denn ihre Politik ist das genaue Gegenteil: Sie macht die Ukraine militärisch, wirtschaftlich und politisch vom europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus abhängig!

Aus diesen Gründen ist die Parole „Verteidigung der Ukraine“, losgelöst von der Frage, welche Klasseninteressen verteidigt werden, in Wirklichkeit eine Aufforderung an die NATO-Mächte, ihre neue Klientin noch energischer zu unterstützen. Die ukrainische Selbstbestimmung kann nicht durch einen Sieg der ukrainischen Bourgeoisie errungen werden, der ihren Würgegriff über die ukrainischen Arbeiter:innen verstärken würde, sondern nur durch den Abzug der russischen Truppen, die Auflösung des NATO-Bündnisses, die Enteignung der ukrainischen Oligarch:innen und den Kampf für die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa, denen sich jedes Land anschließen kann, wenn es dies will.

Wir treten für eine Politik der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und des Widerstands ein. Diese besteht in erster Linie in der Bewaffnung der Arbeiter:innen, ihrer Organisation in Selbstverteidigungsmilizen in den Betrieben und Stadtvierteln, die unabhängig vom Generalstab der Armee oder der rechtsextremen Nationalgarde sind, in Sabotage und Betriebsstörungen der Besatzung, in Agitation und Propaganda, um den Betrug aufzudecken, dass die Oligarch:innen der Ukraine das Vaterland verteidigen, indem sie es dem europäischen Imperialismus schenken, und vor allem in der Solidarisierung mit ihren russischen Klassengenoss:innen, um die Lügen, die den russischen Truppen erzählt werden, zu untergraben und sie für den Widerstand gegen Putin zu gewinnen.

Unser Ziel ist es, die imperialistische Kriegstreiberei in einen Klassenkrieg zu verwandeln, der die Niederschlagung des russischen Angriffs und den Sturz des bonapartistischen Regimes von Putin zum Ziel hat, aber auch die Pro-NATO-Ambitionen von Selenskyj zu verhindern und sein Marionettenregime zu stürzen. Wir kämpfen dafür, diese reaktionäre „Verteidigung des Vaterlandes“ in einen fortschrittlichen Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine umzuwandeln, die auf der freiwilligen Vereinigung aller ihrer Bewohner:innen beruht.

Revolutionärer Defätismus

Revolutionär:innen in Russland, Europa und den USA müssen deutlich machen, dass sie in dem Kampf zwischen Russland und den NATO-Mächten um die Neuaufteilung der Welt keine der beiden Seiten unterstützen dürfen. Sie müssen eine Politik des revolutionären Defätismus verfolgen. Ihr Hauptfeind ist nicht der eine oder andere imperialistische Konkurrent, der Hauptfeind steht im eigenen Land! Ihr Hauptziel ist es, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zum Auslöser eines offenen globalen Krieges zwischen den imperialistischen Mächten wird. Der Einmarsch Russlands, die Sanktionen, die Russland vom Weltmarkt abschneiden sollen, die Waffenlieferungen und die Aufrufe und ernsthaften Vorbereitungen zur Luftunterstützung der Ukraine (z. B. durch polnische Flugzeuge, die an die Ukraine ausgeliefert werden und die Nutzung polnischer Flugplätze erlauben) sind alles Schritte in diese Richtung.

Revolutionär:innen müssen deutlich machen, dass der Kampf zwischen Russland und den NATO-Mächten um die Neuaufteilung der Welt diesem seinen übergeordneten und prägenden Charakter verleiht. Wir sind nicht nur Zeug:innen eines weiteren brutalen Angriffs eines imperialistischen Landes auf eine Halbkolonie, auch nicht nur eines weiteren Stellvertreterkrieges. Die Brisanz des Krieges wird vielmehr dadurch bestimmt, dass die Erschütterungen, die er in Gang gesetzt hat, zu einem zwischenimperialistischen Krieg zu führen drohen. Und das gilt es zu verhindern. Deshalb muss die Arbeiter:innenklasse in einem Konflikt zwischen ihnen eine revolutionär-defätistische Position gegenüber beiden einnehmen, insbesondere in den imperialistischen Kriegsländern. Ihr Hauptfeind ist nicht einer der beiden imperialistischen Konkurrent:innen, sondern der Hauptfeind ist die herrschende Klasse im eigenen Land!

In Russland heißt das, für die Niederlage des russischen Imperialismus bei seinem Versuch, die Ukraine zu erobern, zu kämpfen, die sofortige Beendigung des Krieges und den Abzug aller russischen Truppen zu fordern. Angesichts des diktatorischen Charakters des Putin-Regimes wird der Kampf für demokratische Rechte, für das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, für die Freilassung Tausender politischer Gefangener ein Schlüssel, oft ein Ausgangspunkt des Kampfes sein. Er muss mit dem Ziel verbinden werden zu verhindern, dass Putin und sein Regime die Arbeiter:innen für das durch die Sanktionen verursachte Elend, für Betriebsschließungen, Inflation und die Kriegstreiberei selbst bezahlen lassen. Eine solcher Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit dem dagegen verbinden, dass die Arbeiter:innen dafür bezahlen müssen, mit Massenstreiks, der Blockade von Transportwegen für Waffen und dem Kampf für die Enteignung der Oligarch:innen und der Reichen unter Arbeiter:innenkontrolle. Kurz gesagt, es bedeutet, den imperialistischen Krieg in einen Klassenkampf zu verwandeln, um das Putin-Regime und den russischen Kapitalismus durch eine Arbeiter:innenregierung zu stürzen.

In den imperialistischen Staaten der NAT0 wenden wir uns gegen die Kriegstreiberei, die massive Aufrüstungspolitik des deutschen Imperialismus, die Forderung nach einer eigenen Atommacht EU, die schnelle Stationierung von NATO-Truppen an den russischen Grenzen, die Forderung Japans nach Atomwaffen auf seinem Territorium und alle Versuche, direkt oder indirekt eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Wir lehnen alle Waffenlieferungen der NATO-Mächte an die Ukraine und andere militärische Unterstützung ab. Wir lehnen alle Wirtschaftssanktionen ab. Im Rahmen des Kampfes für die Neuaufteilung der Welt sind zivile Zwangsmittel entweder eine Fortsetzung des Krieges oder ein Vorspiel zu noch zerstörerischerem, militärischem Zwang, zu einer umfassenden imperialistischen militärischen Konfrontation.

Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften und die Linke müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen im Namen ihrer gefälschten „Demokratie“ ablehnen. Sie müssen gegen alle reaktionären Gesetze, alle Waffenlieferungen kämpfen, sich auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen allen Sanktionen widersetzen, die von „unserer“ Bourgeoisie verhängt werden. Die Abgeordneten der Arbeiter:innenklasse in den Parlamenten müssen die Heuchelei der herrschenden Klasse in den bürgerlich demokratischen Institutionen anprangern. Eine echte Antikriegsbewegung und echte Solidarität mit fortschrittlichen Kräften in der Ukraine muss den wahren, imperialistischen Charakter der westlichen „Unterstützung für die Ukraine“ aufdecken. Revolutionär:innen müssen bereit sein, gegen einen Strom von Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus unter diesem Deckmantel anzuschwimmen. Revolutionäre und internationalistische Organisationen müssen den Sozialpazifismus der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen oder sogar linken Parteien entlarven, die zur Aufrüstung der NATO aufrufen, die Sanktionen gegen Russland fordern. Es zeigt sich, dass die Pazifist:innen von gestern schnell zu Sozialchauvinist:innen werden, zu Verteidiger:innen „ihres“ kapitalistischen Staates.

Die Revolutionär:innen müssen jedoch unterscheiden zwischen den Illusionen der Massen, die ein von der russischen Armee bombardiertes Volk unterstützen wollen, und dem sozialen Pazifismus der reformistischen Führer:innen, die sich in imperialistische Patriot:innen und sogar Kriegstreiber:innen verwandeln. Sie müssen letztere als Unterstützer:innen der Bourgeoisie entlarven. Gleichzeitig müssen sie den Massen geduldig den wahren Charakter des Krieges erklären, sie zum Kampf gegen die Militarisierung ihres eigenen Imperialismus auffordern und dagegen, sie für die Kosten dieser „Sicherheit“ und „Freiheit“ aufkommen zu lassen. Sie müssen für den Aufbau einer internationalistischen Antikriegsbewegung kämpfen, die den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen gegen die Kapitalist:innenklasse verwandelt.