Deutsche und russische Revolution

Revoutionärer Marxismus 26, Theoretisches Journal der Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale (heute: Liga für die Fünfte Internationale), Winter 1998/99

Paul Frölich versucht, die wichtigsten Ursachen für den Sieg des Feindes in der Novemberrevolution durch einen Vergleich zwischen der russischen und der deutschen Revolution zu erfassen:

“In Rußland war die Arbeiterklasse als Ganzes schwächer als in Deutschland, aber sie war weniger differenziert. Sie war relativ viel stärker konzentriert in den modernen Großbetrieben und hatte keine Arbeiteraristokratie. Hinter sich hatte sie die Riesenklasse der revolutionären Bauern, vor sich eine viel stärker unterhöhlte Staatsmacht und eine verhältnismäßig schwache Bourgeoisie. In Deutschland: eine Arbeiterklasse mit mannigfacher Schattierung der unmittelbaren Interessen und der geistigen Verfassung, ohne Verbündete in anderen Klassen, nur getragen von schwacher Sympathie, mit einer starken, selbstbewußten Klasse als Gegner und einer feindlichen Staatsmacht, die eben den ersten schweren Schlag erhalten hatte. In Rußland war seit langen Jahrzehnten eine revolutionäre Tradition lebendig, und die Arbeiterklasse hatte ihre eigenen praktischen Erfahrungen zwölf Jahre vorher in der Revolution von 1905 gemacht. Es gab keine Partei, die fester in der Masse verwurzelt gewesen wäre als die Partei der Revolution. Darum war die Masse bildsamer und weniger gehemmt durch die Autorität scheinrevolutionärer Parteien. In Deutschland die lähmende Tradition einer langen Periode reformistischer Politik und eine Partei, die in den Massen feste Wurzeln geschlagen hatte, mit einem riesigen bureaukratischen Apparat und einer Autorität, die erst in zähem Kampf vernichtet werden kann. Die Probleme der Revolution, die revolutionäre Taktik und Organisation waren in Rußland schon vor der Revolution klar herausgearbeitet und aus der Theorie in die Praxis überführt worden. In Lenin hatte die Revolution einen genialen Führer, der voraus bedacht hatte, wo unsere Führerin Rosa Luxemburg nach schweren inneren Kämpfen sich erst während der Revolution selbst finden mußte. Und dann verloren wir sie und die beiden anderen besten Führer … Die revolutionäre Partei war erst im Entstehen. Mächtig vorwärtsgetrieben wurde die russischen Revolution durch ein Ziel, das die breiten Volksmassen zusammenfaßte und das nur durch die ganze Revolution erreicht werden konnte: den Frieden. In Deutschland wurde die Friedensfrage zu einer Waffe in den Händen der gegenrevolutionären Demagogen … Schließlich hatte die deutsche Gegenrevolution aus den russischen Erfahrungen sehr viel gelernt. Sie wußte vor allem, daß es galt, schnell zu handeln und die Revolution vorsichtig, schlau, aber entschlossen aus allen Positionen zu vertreiben, und sich selber eine feste Macht zu schaffen. Dagegen hatte die Arbeiterklasse von der russischen Revolution zwar die Schlagworte übernommen, aber die großen taktischen Erfahrungen nicht benutzt. Das zeigte sich besonders bei den Arbeiterräten, die halb die instinktive Erfüllung des Gebots der Stunde, halb die Nachahmung des russischen Beispiels darstellten. In dieser Nachahmung lag eine große Schwäche. Man ließ sich oft an der Form genügen und dachte nicht an den Inhalt. Ueberhaupt litt die ganze Arbeiterklasse an einem unheilvollen Mangel an Willen zur Macht.” (Frölich, S. 859 -861)

Frölichs Erklärung nennt eine Reihe zweifellos zutreffender objektiver Faktoren sowie die Schwäche des subjektiven Faktors, der revolutionären Vorhut. Solange er uns aber nicht verrät, welche Strategie und Taktiken diese Revolution in Rußland erfolgreich gemacht haben und in Deutschland zum Siege hätten führen können, lernen wir nichts. Er selbst sagt, daß eine Revolution beginnt, wenn das praktische Ziel im Kampf der unterdrückten Klassen die Staatsmacht ist, nicht weniger. Er merkt auch an, daß sich eine Klasse ihres praktischen Handelns nicht immer bewußt ist und ihre eigene Klassenmacht anstrebt. (a.a.O., S. 833)

Diese Bedingungen waren in Deutschland zweifellos gegeben. Wenn wir die Novemberrevolution nicht von vornherein für aussichtslos halten wollen, müssen wir eine revolutionäre Politik “entdecken”, die die Massen von ihren verräterischen Führungen losbricht und für kommunistische Politik und die Diktatur des Proletariats gewinnt. Vergleichen wir also die bolschewistische Politik mit der des Linkszentrismus der Revolutionären Obleute und der revolutionären, aber eben nicht bolschewistischen der Spartakusgruppe bzw. KPD in den entscheidenden Schlüsselsituationen der Novemberrevolution.

Lenin schrieb dazu:

“Unser Ziel ist die Diktatur des Proletariats … denn anders kann das Volk weder einen demokratischen Frieden noch Land für die Bauern, noch die volle Freiheit (eine wahrhaft demokratische Republik) erlangen … Ein Kompromiß ist unsererseits die Rückkehr zu der Forderung, die wir bis zum Juli stellten: Alle Macht den Sowjets, eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki … Der Kompromiß bestünde darin, daß die Bolschewiki, ohne Anspruch auf Beteiligung an der Regierung zu erheben (was für einen Internationalisten ohne tatsächliche Verwirklichung der Voraussetzungen zur Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft unmöglich ist), darauf verzichten würden, unverzüglich den Übergang der Macht an das Proletariat und die armen Bauern zu fordern, daß sie darauf verzichten würden, diese Forderung mit revolutionären Methoden des Kampfes durchzusetzen. Eine selbstverständliche und für die Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht neue Bedingung wäre volle Freiheit der Agitation … Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre wären als Regierungsblock (vorausgesetzt, der Kompromiß ist verwirklicht) einverstanden, eine Regierung zu bilden, die vollständig und ausschließlich den Sowjets verantwortlich ist, wobei auch die ganze örtliche Macht an die Sowjets übergehen müßte. Das wäre die “neue” Bedingung. Weitere Bedingungen würden die Bolschewiki … nicht stellen, da sie sich darauf verlassen, daß die tatsächlich volle Agitationsfreiheit und die unverzügliche Verwirklichung eines neuen Demokratismus bei der Zusammensetzung (Neuwahlen) und der Tätigkeit der Sowjets die friedliche Vorwärtsentwicklung der Revolution und das friedliche Austragen des Parteienkampfes innerhalb der Sowjets ganz von selbst sichern würden.” (Lenin: Über Kompromisse, S. 314 f.)

In Deutschland hätten Revolutionäre im November fordern müssen: “Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten, eine ihnen verantwortliche Regierung der beiden sozialdemokratischen Parteien!” Das Kabinett war aus SPD und USPD zusammengesetzt, es war keine Volksfrontregierung wie in Rußland mit den 10 offen bürgerlichen Ministern, weshalb die Bolschewiki deren Ausschluß forderten: “Brecht mit den kapitalistischen Ministern!” Es war eine unechte Arbeiterregierung. Unecht, weil die Regierungsparteien die Diktatur des Proletariats, den Übergang der Macht an die Räte und den Bruch mit dem alten bürgerlichen Staatsapparat, den Richtern, Beamten, Militärs und Fachministern nicht wollten. Folglich mußte man die Parole “Alle Macht den Räten!” um die nach einem Bruch mit diesen Elementen ergänzen, was in der Konsequenz die Zerschlagung der abgehobenen und unwählbaren Staatsmaschine des Bürgertums bedeutete.

Unter Führung der sozialdemokratischen Parteien wäre das nicht automatisch gleichbedeutend mit der Diktatur des Proletariats gewesen, aber die Kapitalisten hätten neue bewaffnete Körperschaften bilden müssen, um ihre Diktatur gegen diesen Staat gewaltsam wieder zu errichten bzw. ihre Expropriation, den drohenden Verlust ihrer sozialen Herrschaft überhaupt zu verhindern. Eine Räteregierung hätte die Arbeiterklasse ideologisch von der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie gelöst und eine elementaren Schritt in Richtung ihrer eigenen Klassenherrschaft getan. Davor schreckten Reformisten und Zentristen zurück, hätte es doch einen Bürgerkrieg gegen den Staat der Bourgeoisie bedeutet, selbst um nur eine “demokratische Diktatur der Arbeiter” in einer “wahrhaft demokratischen Republik” zu errichten, die eine friedliche Weiterentwicklung der Revolution ermöglicht hätte.

Die Einheit mit den reformistischen und zentristischen Arbeitern hätte natürlich auch bedeutet, jede Reform der Ebert-Haase im Interesse der Arbeiterklasse zu unterstützen (8-Stunden-Tag) und sie im Fall eines versuchten Sturzes durch einen deutschen Kornilow zu verteidigen, wenn diese die o.a. Forderungen nicht erfüllten. Diese Taktik hätte der SPD- und USPD-Arbeiterbasis die Erfahrung mit ihren Führern ermöglicht, daß diese selbst vor der Durchsetzung der demokratischen Forderungen des Erfurter Programms zurückschreckten, die im antimilitaristischen Massenbewußtsein eine große Rolle spielten. Eine Einheit mit den sozialistischen Parteien in einer Regierung, die nicht die Voraussetzungen für die Diktatur des Proletariats schafft, konnte es aber nicht geben. Sie verteidigten die Herrschaft der Kapitalisten gegen die Räte, aber nicht nur das: eine vollständig demokratische Republik, einen gerechten Frieden konnte es nur unter einer Diktatur des Proletariats geben, die die Vorherrschaft des Kapitals vollständig bricht. Die Spartakisten machten sich gewiß keines falschen Kompromisses schuldig, sie traten nicht in die Regierung ein wie die revolutionären Obleute. Ihr Fehler bestand eher darin, keine Taktik gegenüber den Massen und ihren verräterischen Führungen anzuwenden, keine freiwilligen und prinzipienfesten Kompromisse gemäß o.a. Linie einzugehen.

Die Losung “Alle Macht den Räten!” gaben die Bolschewiki im Juli vorübergehend auf, weil Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Sowjetdemokratie außer Kraft setzten, die Bolschewiki verfolgten, revolutionäre Defaitisten an der Front erschossen etc. In Deutschland hat die KPD das auch getan. Dies war auch spätestens während der Januarkämpfe notwendig. Wie die Bolschewiki vom Juli bis zum Kampf gegen Kornilow forderte auch die KPD hier “Nieder mit der Regierung!” Aber die Bolschewiki ließen sie später wieder fallen, als die Sowjetdemokratie wieder hergestellt war. Die Forderung “Alle Macht den Sowjets!” war in dieser Situation falsch. Man konnte nicht fordern, daß von Menschewiki und Sozialrevolutärne beherrschte Räte die Macht ergreifen sollten, die sich mit Blut besudelt hatten – wie Ebert & Companie!

Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß diese Räte nie wieder zur Arbeiterdemokratie zurückkehrten, weshalb womöglich die Betriebskomitees der Arbeiterkontrolle ihre Rolle übernehmen konnten und revolutionär geführte neue politische Räte hervorbringen könnten – so dachten die Bolschewisten. Daraus zogen sie aber nicht den Schluß, zu einem Aufstand aufzurufen – weder im Juli noch danach -, der sich nicht halten konnte, weil die Mehrheit im Lande nicht hinter den Anhängern Lenins stand:

“Die Arbeiter Rußlands sind bereits klassenbewußt genug, um nicht auf eine Provokation zu einem offensichtlich für sie ungünstigen Zeitpunkt hereinzufallen. Jetzt in Aktion treten und Widerstand leisten würde bedeuten, der Konterrevolution helfen, das ist unbestreitbar.” (Lenin: Zu den Losungen [Mitte Juli 1917], S. 187)

Die Bolschewiki bremsten eine Demonstration, die in einen vorzeitigen Aufstand überzugehen drohte. Die KPD verhielt sich im Januar uneinheitlich. Dazu Frölich:

“Schon während der Januarkämpfe tauchte im Spartakusbund die Meinung auf, der Kampf müsse abgebrochen werden, ehe die Niederlage vollständig werde. Man wies auf das Beispiel des Julikampfes in Petersburg (1917) hin, wo die Bolschewiki auch zum Rückzug bliesen. Rosa Luxemburg hat anders gehandelt. Sie bemühte sich, dem politischen Ziel des Kampfes Grenzen zu setzen (Karl Liebknecht ging über diese Grenze hinaus und es gab deshalb in der Leitung des Spartakusbundes einen Konflikt), aber sie forderte nicht zum Rückzug auf. Man darf den Unterschied zwischen dem Juli 1917 und dem Januar 1919 nicht übersehen. Dort handelte es sich um eine Aktion, die von den Bolschewiki eingeleitet und deshalb auch in ihrer Hand war. Der Kampf konnte im Anfangsstadium abgebrochen und in eine Demonstration überführt werden. Hier aber handelte es sich um einen spontanen Ausbruch, der ganz elementar gewaltige Dimensionen annahm. Und der Spartakusbund hatte die Führung nicht. Es war auch unwahrscheinlich, daß etwa durch ein gemeinsames Einwirken zusammen mit den revolutionären Obleuten ein glatter Abbruch des Kampfes zu erzielen war … Jeder Versuch in dieser Richtung hätte den Kämpfern die moralische Stütze der revolutionären Partei genommen … In diesem überaus schweren Dilemma entschloß sich die Leitung des Spartakusbundes, den Kampf mit aller Kraft zu fördern und die Kämpfenden zu ermutigen.” (a.a.O., S. 858)

Die KPD schwankte zwischen dem Dilemma Weitertreiben der Besetzungen zum Sturz der Ebert-Regierung durch Aufstand oder Rückzug. Eine andere Perspektive wies er nicht. Der Rückzug war richtig, aber auch “Nieder mit der Regierung Ebert!”. Wie sollte die Regierung gestürzt werden? Durch Neuwahl der Räte, die permanente Tagung ihrer Delegierten, ihre jederzeitige Absetzbarkeit und Ersetzbarkeit, ihre Ausdehnung auf die Betriebe und Volkswirtschaft, Arbeiterkontrolle als wirtschaftlicher Doppelmacht, Bildung einer Arbeitermiliz, die den Räten untersteht und die einfachen Soldaten einschließt, kurz ihre Demokratisierung und Ausdehnung an Mitgliedschaft und Aufgaben. Unter diesen Bedingungen konnten Kommunisten eine Mehrheit für die Ablösung der Sozialverräter gewinnen, nur unter diesen Konditionen. Es konnte sich erweisen, daß die existierenden politischen Arbeiter- und Soldatenräte sich nicht transformieren ließen, sondern als Organe des Aufstandes aus den Wirtschaftsräten neu entstehen mußten. Das konnte nur die Praxis zeigen. Aber nur eine solche Perspektive konnte das Pendel in die Gegenrichtung anstoßen, in eine vorzeitige Provokation der Konterrevolution zu stolpern vermeiden und dem Abbruch eines Aufstandsversuchs einen fortschrittlichen Ausweg weisen.

Der Boykott der Wahlen zur Nationalversammlung war ein ultralinker Fehler. Luxemburg hatte recht, die Wahlen und das Parlament als Tribüne auszunutzen. Die Rätekonferenz hatte mit großer Mehrheit ihre eigene Diktatur abgelehnt. Dagegen mußten Kommunisten stimmen, aber jetzt hatte ein Boykott keine Grundlage. Das war z.B. anders beim Boykott der Bulyginschen Duma in Rußland, als die Arbeiter klar den betrügerischen Ablenkungscharakter dieses Scheinparlaments zurückwiesen. Eine Ausnutzung der parlamentarischen Tribüne war aber nicht der Weisheit letzter Schluß.

Die bürgerlich-demokratischen Illusionen in der Arbeiterschaft mußten durch eine Taktik gegenüber der verfassungsgebenden Versammlung zerstört werden. Die Arbeiter glaubten mehrheitlich den Führern von MSPD und USPD, die behaupteten, ein Nationalparlament verkörpere den Willen der Volksmehrheit viel demokratischer als die Arbeiter- und Soldatenräte, weil diese ja von der ganzen Bevölkerung gewählt seien. Ihre bürgerlich-demokratischen Illusionen enthielten aber einen Widerspruch zur Absicht ihrer Führung. Das politische Programm des 53er Ausschusses im Reichsmarineamt (Zentralrat der Marine) (Müller, S. 192) bringt dies am deutlichsten zum Ausdruck: es macht die Einberufung der Nationalversammlung von der Erfüllung gewisser Forderungen abhängig wie Verstaatlichung, Bildung einer sozialistisch-republikanischen Volkswehr, Volksgerichtsbarkeit, durchgreifenden Steuerreformen usw. Sie wollten – durchaus repräsentativ für die überwältigende Mehrheit der Arbeiterschaft in der Novemberrevolution – eine wahrhaft demokratische und soziale Republik. Durch allgemeine Wahlen meinten sie das erreichen zu können, sie repräsentierten ja die Volksmehrheit. Die Durchsetzung dieses Programms sei dann aber auch als klar ersichtlicher allgemeiner Volkswille besser sichtbar und legitimiert als in der Diktatur der Räte, die nur eine Minderheit des Volks organisierten.

Sie war aber notwendig, um die Militärkaste in ihre Schranken zu weisen! Der Rat der Volksbeauftragten aber wollte nur einen normalen Parlamentarismus; der bürokratisch-militärische Staatsapparat war für ihn unantastbar. Er ließ sich auch durch Wahlen nicht auflösen, sondern mußte gewaltsam zerschlagen werden! Dieses Werk hatte der Aufstand begonnen, aber die Arbeiter- und Soldatenräte hatten es nicht zu Ende geführt, ihre Existenz war auf Dauer mit dem Fortleben der bürgerlichen Exekutive unvereinbar. In diesem Werk der Zerstörung der abgehobenen Zwangsgewalt mußte sich die Gesellschaft in zwei Lager teilen: Revolution und Gegenrevolution. Nur die Räte konnten also die Volksherrschaft durchsetzen und alle anderen unterdrückten Schichten dabei um sich scharen. Die von der Bourgeoisie ungelöste Aufgabe der vollständigen Demokratie konnte nur die Diktatur des Proletariats durchsetzen und auch dadurch ihre Legitimität in den Augen der Volksmassen im Kampf um ihre Klassenherrschaft erringen. Revolutionäre hätten ihr Programm für eine Räteverfassung vom Typus der Pariser Kommune als Forderung an eine Konstituante gestellt.

Damit wäre die Weigerung der Weimarer Nationalversammlung und v.a. der verräterischen Arbeiterführungen in den Augen der Arbeiterwähler klarer geworden, die bürgerlich-demokratischen und reformistischen Illusionen hätten getestet und im Sinn der Arbeitermacht positiv gewendet werden können. Frölich schreibt:

“Die proletarische Revolution wurde in Deutschland schwer gehemmt dadurch, daß hier noch die bürgerliche Revolution zu vollenden war. Das deutsche Proletariat hatte seine Erfahrungen mit der “vollendeten Demokratie” noch nicht gemacht.” (a.a.O., S. 847)

Um dieses Hemmnis zu beseitigen, bedurfte es einer Anwendung der Methode der Revolution in Permanenz. Gefordert werden mußte auch, daß die Räte die Wahlen, die Einteilung in Wahlkreise etc. überwachten, offene Konterrevolutionäre, Kriegsverbrecher usw. vom Stimmrecht ausnahmen, das Stimmrecht für alle Werktätigen auch unter dem Mindestwahlalter durchsetzten etc.

Die Überlegenheit der Rätedemokratie mußte ferner in der Praxis bewiesen werden: die Räte mußten ihre Aufgaben erweitern – auch in Wirtschaft, Verwaltung und Gerichtsbarkeit eingreifen -, aber auch ihre demokratische Aktivität steigern, bisher passive Schichten mobilisieren bzw. bisher ausgeschlossene umfassen. Viele der Frauen, die sich an den Streiks und später an der Novemberrevolution beteiligt hatten, durften nun das bürgerliche Parlament wählen, nicht aber die Räte, mit denen sie sympathisierten. Die Wahlordnung der Räte schloß alle Frauen, die “vorwiegend im Haushalt der eigenen Familie beschäftigt” waren, aus. (Abraham, S. 10)

Aufbau von unten; demokratischer Zentralismus; Beschränkung des Wahlrechts auf die werktätigen Massen; Charakter als Klassenkampforgan der Doppelherrschaft (Arbeitereinheitsfront im Kampf um ökonomische und staatliche Macht); direkte Wahl von Personen; permanente Tagung; Rechenschaftspflicht; jederzeitige Abwählbarkeit; Bezahlung sämtlicher gewählten Beamten zu Arbeiterlohn; Aufhebung der Teilung von gesetzgebender, rechtsprechender und durchführender Gewalt; abwechslungsreiche und allseitige Beteiligung möglichst aller Angehörigen des Proletariats an der Verwaltung und Leitung des Staats; Bewaffnung auf Basis des Milizsystems; allgemeine Arbeitspflicht; vollständige Ergänzung des politischen Rätesystems durch wirtschaftliche Räteorganisationen, die die Planwirtschaft in Gang bringen und durchführen, sind Maßnahmen, die einen Staat vom Räteypus als tätige Demokratie der arbeitenden Mehrheit auszeichnen und schon vor der Machtergreifung in diesen Organen aufscheinen. (vgl. Tschudi, Rätedemokratie; zitiert nach Spartacusbund: 25 Jahre China, S. 16) Die allerdemokratischste bürgerliche Republik kennt dergleichen nicht.

“Die zerschlagene Staatsmaschinerie wurde also von der Kommune scheinbar “nur” durch eine vollständigere Demokratie ersetzt: Beseitigung des stehenden Heeres, vollkommene Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Amtspersonen. In Wirklichkeit bedeutet dieses “nur”, daß im riesigen Ausmaß die einen Institutionen durch Institutionen prinzipiell anderer Art ersetzt wurden. Hier ist gerade einer der Fälle des “Umschlagens von Quantität in Qualität” wahrzunehmen … die Reduzierung der Gehälter aller Amtspersonen im Staat auf das Niveau des “Arbeiterlohnes”. Hier gerade kommt am klarsten der Umschwung zum Ausdruck – von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen …” (Lenin: Staat und Revolution, S. 432 f.)

Mit einer richtigen Taktik und einem richtigen Verständnis demokratischer Forderungen stellen revolutionäre Kommunisten die Forderung nach Arbeitermacht nicht nur nicht in Gegensatz zum revolutionär-demokratischen Programm, sondern krönen es durch die proletarische Demokratie, machen es erst wirklich.

“Selbstverständlich bezwecken demokratische Losungen unter keinen Umständen, das Proletariat näher an die republikanische Bourgeoisie heranzuziehen. Sie schaffen im Gegenteil die Basis für einen siegreichen Kampf gegen die linke Bourgeoisie, da sie es ermöglichen, ihren antidemokratischen Charakter bei jedem Schritt aufzuzeigen.” (Trotzki: Die Revolution in Spanien, S. 70)

Oder ein anderes Zitat, das beweist, daß die proletarische Avantgarde sich nicht scheut, die demokratischen Parolen aufzugreifen, um sie dem kapitalistischen Bürgertum zu entreißen, sie gegen es zu wenden:

“Das bürgerliche Regime dadurch zu demokratisieren, daß in der repräsentativen Körperschaft, den Cortes, die Regierungsfunktionen konzentriert werden, ist ein elementarer Grundsatz der Politik der Arbeiterklasse; die Macht in die Hände eines Obersten Gerichts, eines Präsidenten und eines Kabinetts zu legen, ist ein Verbrechen gegen die Demokratie. Diese kleinen Körperschaften sind für reaktionäre Einflüsse viel anfälliger. Trachten wir danach, den Staat zu demokratisieren, um ihn dann zu unterstützen? Nein! Die Arbeiterklasse schart sich nur um ihre eigenen Organisationen, ihre eigenen Klassenorgane. Die begrenzten Möglichkeiten der Demokratisierung des bürgerlichen Staatsapparats sind nur insoweit von Bedeutung, als sie es uns ermöglichen, Seite an Seite mit ihm die DOPPELHERRSCHAFT der Sowjets aufzubauen!” (Morrow, S. 38)

Die programmatische Schwäche des Spartakusbundes hat geschichtliche Wurzeln. Es gab in der deutschen Sozialdemokratie, wie in der II. Internationale überhaupt, keine Vorstellung darüber, wie “der freie Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Abschaffung des Systems der Lohnarbeit und die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt” politisch erreicht werden sollte. Dabei hatte Marx das Vorbild der Pariser Kommune vor Augen, die “endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte”.

Das Gründungsprogramm der SPD (Gotha, 1875) beschränkte sich auf Forderungen, die ebensogut zu einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie paßten: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung durch das Volk, allgemeine Wehrpflicht, eine Reihe von Grundfreiheiten, allgemeine und unentgeltliche Schulpflicht. Allein die “Rechtsprechung durch das Volk” fiel aus dem Rahmen. “Sozialismus” wurde vage mit der “sozialen Republik” identifiziert. Engels führte in seiner Kritik am Erfurter Programm (1891) aus:

“Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur politischen Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsere besten Leute unter einem Kaiser Minister werden …”

Dies war gegen die Opportunisten in der SPD gerichtet, fiel aber doch weit hinter seine und Marxens Position zur Pariser Kommune zurück. Engels’ Formel von der demokratischen Republik war die Grundlage des politischen Denkens des linken Flügels der Vorkriegssozialdemokratie. Die “demokratische Republik” war ein Überbleibsel aus den Revolutionen von 1848. Gegen ein Bürgertum, dem Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Zensuswahlrecht vollauf genügten, um politische Macht auszuüben, und das sich hartnäckig gegen den Gedanken der Volkssouveränität sperrte, setzten die Arbeiter und Kleinbürger die Forderung nach politischer Demokratie. Sie war für sie synonym mit Volksherrschaft. Die Mittel aber, mit denen die Arbeiterklasse zu der Zeit ihren politischen Kampf ausfocht, waren in erster Linie die der Organisation des Aufstands.

Für Marx und Engels stand fest, daß das Prinzip der Volkssouveränität nur durch eine Revolution durchzusetzen sein würde. Wenn es aber erst einmal zu parlamentarischen Formen der Vertretung (zu einer demokratischen Republik) kommen sollte, dann konnte dies nur ein Übergang sein. Das Parlament würde beiden antagonistischen Klassen ein Forum bieten und die daraus gebildete Regierung würde zwischen den Klasseninteressen zerrissen. Dann stand die Diktatur des Proletariats auf der Tagesordnung. Sie dachten nicht im Traum daran, daß das Bürgertum seine politische Herrschaft in Form einer parlamentarischen Demokratie unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts würde stabilisieren können. Denn sie konnten damals nicht ahnen, daß die Partei der Arbeiterklasse selbst die Rolle übernehmen würde, die Klasse an das politische Herrschaftssystem der Bourgeoisie zu ketten. Die Fähigkeit des Bürgertums zu einem “demokratischen” politischen System und die Integration der SPD in die bürgerliche Gesellschaft hingen in der Tat eng miteinander zusammen.

Auf dem europäischen Kontinent hatte die Bourgeoisie die vom mittelalterlichen Absolutismus übernommene zentralisierte Staatsbürokratie und das stehende Heer übernommen und zu einer nur durch Gewalt zu bezwingenden festen Stütze seiner Macht verfeinert. Gerade im revolutionären Frankreich war dieses Bollwerk gegen die aufstrebende militante Arbeiterbewegung eine conditio sine qua non. In England und den USA war dieser Prozeß erst nach 1871 abgeschlossen. Eine Form von Volkssouveränität gab es hier also auch nur solange, wie die Kapitalisten unangefochten durch eine politische Arbeiterbewegung und ohne Wahlrecht für den “vierten Stand” ihre Herrschaft weitgehend im freien demokratischen Disput durchsetzen konnten. In gewisser Weise bedeutet die Integration der Arbeiterparteien eine weitere Ausdehnung bzw. Ergänzung des staatlichen Zwangsapparats in die Arbeiterbewegung hinein: durch die Transformation ihrer sozialdemokratischen Führung zu einer gesonderten kleinbürgerlichen Kaste, einer Art politischer Polizei des Klassengegners in den eigenen Reihen. Nun stand auch sie der Volkssouveränität im Wege.

Die Abnabelung der Revolutionäre von der SPD bedeutete so nicht, die Prägung durch diese Perspektive der “Machteroberung” auszumerzen. Die revolutionäre Vision, die Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen den Revisionismus und in der Massenstreikdebatte skizzierte, war eine Variation der Verhältnisse von 1848: Massenstreik plus Aufstand. All ihre Energie verwandte sie darauf, das bleierne Korsett, in das der Parteivorstand die Arbeiterklasse zwängte, zu sprengen und die Selbstaktivität der Massen freizulegen. In der Kampagne um die preußische Wahlrechtsreform im Jahr 1910 lautete die Losung der SPD: “Hoch das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht!”

Luxemburg erklärte, warum diese Forderung nur mit Hilfe eines Massenstreiks durchzusetzen ist. Ihre Kritik am Parteivorstand konzentrierte sich auf dessen Weigerung, die ganze potentielle Kampfkraft der arbeitenden Massen in die Waagschale zu werfen. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht war für sie “bloß eine Etappe im sozialistischen Kampf, bloß ein Schritt vorwärts auf unserem historischen Weg zum sozialistischen Endziel”. Das sozialistische Endziel blieb aber auch in ihrer Agitation eine Propagandalosung. Im Verlauf des Krieges spitzte sich die politische Perspektive zu. Die naheliegende politische Zielsetzung war der Sturz der Monarchie, die Verjagung der Junker und Offiziere, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts – das war für viele gleichbedeutend mit dem Kampf um die politische Macht. Spartakus verteilte Flugblätter, die in der Losung mündeten: “Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!”

Es gab keine Vorstellung davon, daß ein Sturz des Junkerregimes zugleich eine Auseinandersetzung mit anderen, “demokratischen” Formen der bürgerlichen Herrschaft auf die Tagesordnung setzte, wollte die Revolution erfolgreich sein und nicht nur einen Austausch von Regierungsformen bewirken. Es gab keine Debatte um eine politische Strategie. Auf die Auseinandersetzung “Rätedemokratie vs. Nationalversammlung” war Spartakus nicht vorbereitet. Eine systematische Beschäftigung mit den Räten, die in der russischen Revolution entstanden – ähnlich Lenins grundlegender Auseinandersetzung mit der Pariser Kommune in Staat und Revolution – als Organisationsform der Herrschaft der Arbeiterklasse hat es in Deutschland 1917/18 nicht gegeben. Erst im Verlauf der Konterrevolution unter sozialdemokratischer Führung wurde klar, daß der Ruf nach einer Nationalversammlung ein Mittel war, die Herrschaft des Bürgertums zu erhalten. Die revolutionären Kräfte versuchten nun, mit dem zu kontern, worauf sie schon immer gesetzt hatten: dem Aufstand. Aber vor dem Aufstand gab es keine Bemühungen, in den Räten die Mehrheit zu erobern und sie zum sichtbaren Ausdruck der Legitimation der neuen Macht zu formen. So bleib er isoliert – und mußte scheitern. Eine die Massen politisch orientierende politische Rolle hat der Spartakusbund in der Novemberrevolution nicht gespielt. (vgl. Klein, S. 9)

Kommunistisches Aktionsprogramm

Eine deutsche kommunistische Partei vom Kaliber der Bolschewisten hätte in der Novemberrevolution um folgende Achsen ein revolutionäres Aktionsprogramm herum entwicken müssen:

  • Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten! Weg mit den kapitalistischen Fachministern! Zerschlagung des stehenden Heeres, der Polizei, dem Beamten- und Justizapparat! Für einen Rätestaat, eine nationale Arbeitermiliz, gewählte Beamte und Richter zu Facharbeiterlohn! Gegen die Zweiteilung zwischen Rat der Volksbeauftragten und Vollzugsrat- für einheitliche Räteexekutive!

Und im Januar:

  • Nieder mit der Regierung Ebert – Noske! Neuwahl der Räte und ihre sofortige Abwahl!
  • Demokratischer Frieden ohne Reparationen und Annexionen! Unabhängigkeit der Kolonien! Für Arbeiterverbrüderung und einen internationalen Plan des wirtschaftlichen Wiederaufbaus! Entwaffnung der Offiziere! Verhaftung der Obersten Heeresleitung! Verurteilung der Kriegsverbrecher und bewaffneten Konterrevolutionäre durch (internationale) Arbeitertribunale! Sofortige Demobilmachung und Rückzug aus den besetzten Gebieten!
  • Für eine einheitliche sozialis-tische deutsche Republik mit Beitrittsrecht Deutsch-Österreichs! Recht auf Föderations- und Autonomiestatus der Länder einschließ-lich Abtrennung (Bayern) und Neuzusammensetzung (Lippe)! Volksabstimmung in den Gebieten mit nichtdeutschen Nationalitäten! Selbstbestimmungsrecht!
  • Sozialisierung der Industrie, des Bergbaus, Handels und Transportwesens, von Banken und Versicherungen unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung! Schließung der Börse! Beschlagnahme der großkapitalistischen und dynastischen Vermögen! Umwandlung des junkerlichen Großgrundbesitzes in Staatsgüter unter Kontrolle der Landarbeiter bzw. Aufteilung an Kleinbauern! Annullierung der Staatsschuld bei den Banken! Entschuldung der Kleineigentümer, insbesondere der Kleinbauern und kleinen Hausbesitzer! Kredite und sonstige Hilfen für Kleingewerbe und -landwirtschaft! Ausschaltung des spekulativen Zwischenhandels! Förderung des Genossenschaftswesen auf freiwilliger Basis und sukzessiver Einbezug in die staatliche Planwirtschaft!
  • Wirtschaftsplan zur Linderung der unmittelbaren Not unter Kontrolle der Arbeiter und Verbraucher, insbesondere der proletarischen Hausfrauen! Konfiskation der Kriegsgewinne! Finanzierung des Wirtschaftsplans und der Reparationen durch progressive Besteuerung der Bosse! Enteignung der Schwarzmarktspekulanten! Verbindungskomitees zwischen Stadt und Land zur Regelung der Lebensmittelversorgung!
  • Gleitende Skala der Löhne und Renten gegen Teuerung und Geldentwertung! Preiskontrollkomitees!
  • Gleitende Skala der Arbeitszeit gegen Arbeitslosigkeit: kürzt die Arbeitswoche, nicht die Beschäftigtenzahl und die Löhne! Allgemeine Arbeitspflicht! Für die Verteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe! Programm öffentlicher nützlicher Arbeiten nach einem Plan unter Arbeiterkontrolle und finanziert aus Unternehmensgewinnen! Verdrängt die Frauen nicht wieder aus der Produktion, Einbeziehung aller Hausfrauen in die gesellschaftliche Produktion! Sozialisierung der Hausarbeit und kostenlose öffentliche Kinderbetreuung auf Wunsch! Verhütungsmittel auf Kassenrezept!
  • Für Fabrikkomitees als Organe der betrieblichen Doppelmacht (Arbeiterkontrolle, -veto, -inspektion, -planung)! Öffnet die Geschäftsbücher und lüftet das Geschäftsgeheimnis!
  • Für einen gesetzliche Mindestlohn in von den Gewerkschaften festgesetzter Höhe! 40-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich! Weg mit allen paritätischen Kommissionen der Gewerkschaften und Arbeiterausschüsse mit den Unternehmern! Kündigt das Arbeitsgemeinschaftsabkommen! Unternehmer raus aus den Sozialversicherungsgremien! Sozialversicherungspflicht für alle; Finanzierung durch Progressivsteuer!
  • Mit der Arbeiterbürokratie, wo möglich, gegen sie, wo nötig! Kampf um die politische Führung der Gewerkschaften! Volles politisches Fraktionsrecht! Für kommunistische Gewerkschaftsparteizellen und eine KPD-Gewerkschaftsfraktion auf einemrevolutionären Gewerkschaftsaktionsprogramm!
  • Bündnis mit Sowjetrußland! Aufkündigung des “Friedens” von Brest-Litowsk! Rückkehr der russischen Botschaft! Für eine revolutionäre Massenpartei KPD! Für eine revolutionär-kommunistische Arbeiterinternationale!



Syrien: Zu den Luftangriffen von USA, Britannien und Frankreich

Stellungnahme des Internationalen Sekretariats der Liga für die Fünfte Internationale, 15. April 2018, Infomail 999, 17. April 2018

US-amerikanische, britische und französische Flugzeuge haben drei Ziele der syrischen Armee angegriffen. Die Regierungen behaupten, dass diese mit dem Chemiewaffenprogramm des Landes zusammenhängen. In einem weiteren seiner berüchtigten Tweets verkündete Donald Trump stolz „Mission erfüllt“. Die Wiederholung von George Bushs triumphaler Ankündigung des „Endsieges“ im Irak 2003 ist nicht nur angesichts der anhaltenden Barbarei des syrischen Bürgerkriegs, der Wahrscheinlichkeit einer weiteren Offensive gegen Idlib und der anhaltenden türkischen Kampagne gegen Rojava zynisch. Sie beinhaltet auch eine gewisse unbeabsichtigte Ironie. Bushs „Auftrag erfüllt“ folgte eine Serie demütigender Rückzüge und Niederlagen für den US-Imperialismus. Es ist klar, dass die USA in Bezug auf die strategische Lage, ihren Niedergang als globale Hegemonialmacht und ihr Ziel, den Wiederaufstieg Russlands als imperialistischer Rivale im Nahen Osten umzukehren, so gut wie nichts erreicht haben.

Ein begrenzter Luftschlag

Die Gefahr eines längeren, konzertierten US-Angriffs auf Syrien, als Trump am 11. April seine Drohungen gegen Assad und dessen UnterstützerInnen aussprach, schockierte Millionen deutlich. In einem Tweet, Trumps Version einer „diplomatischen Note“, die an die provokanten Reden und Interviews Kaiser Wilhelms II. erinnert, drohte er mit einem anhaltenden Angriff auf Assad, das „mit Gas tötende Tier“, die syrische Armee und ihre UnterstützerInnen. Am selben Tag stieß er auch eine Warnung an Russland aus: „Macht euch bereit, denn sie werden kommen, schön und neu und ‚intelligent’“.

Offensichtlich konnten das Weiße Haus, der US-Verteidigungsminister James Norman Mattis und die Armee diesen kriegstreiberischen Tweet schnell neu interpretieren. In Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien einigten sie sich auf einen weiteren begrenzten Luftangriff, ähnlich dem von 2017.

Während der Vorbereitung des Angriffs und während der Bombardierung selbst hatten sie mit dem russischen Militär in Kontakt gestanden, um sicherzustellen, dass die Lage in Syrien trotz der Äußerungen des Präsidenten nicht aus dem Ruder läuft. Wie viel Schaden an der Infrastruktur der syrischen Armee angerichtet wurde, wie viele Cruise Missiles (von Computern gelenkte Fernraketen) vom zur Verfügung gestellten russischen Verteidigungssystem abgeschossen wurden, sind nicht die entscheidenden Fragen. Klar ist, dass der Angriff das Kräftegleichgewicht in Syrien selbst nicht verändert hat und auch nicht dazu bestimmt war.

Das hindert natürlich nicht daran, dass sich beide Seiten als „siegreich“ präsentieren. Die USA, Großbritannien und Frankreich, aber auch ihre anderen imperialistischen Verbündeten wie Deutschland oder die NATO rechtfertigen und feiern die „angemessene Reaktion“. Auch die Türkei und Israel haben den Angriff bereits begrüßt.

Auf der anderen Seite hingegen bezeichneten Russland, Syrien und der Iran ihn nicht nur als Verletzung des „Völkerrechts“, sondern behaupten auch, dass der Angriff militärisch gescheitert und die syrische Luftverteidigung sehr effektiv sei.

Während letztere Behauptungen mit ziemlicher Sicherheit Übertreibungen sind, treffen die syrische Regierung und ihre Verbündeten einen Punkt: Die westliche Aggression war symbolisch. Die Errungenschaften, die Assad und vor allem der Iran, Russland und die Türkei in Syrien erzielt haben, können nicht durch begrenzte Luftangriffe, nicht einmal eine Reihe davon rückgängig gemacht werden.

Vorerst hat keine Seite ein Interesse daran, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Es war rational, dass die russische Seite keine Vergeltungsmaßnahmen ergreifen würde und die USA und ihre Verbündeten eine Verletzung des „russischen“ kontrollierten Luftraums vermeiden würden, ganz zu schweigen von russischen Truppen oder Stützpunkten. Das russische Regime seinerseits hat sich politisch auf eine Mischung aus Entschlossenheit und Mäßigung gegenüber Trumps Drohungen beschränkt und versucht, sich als Stimme der Vernunft in einer unvernünftigen, von den USA dominierten Welt zu präsentieren.

Diese Haltung drückt genau das Verhältnis der Kräfte vor Ort aus. Das syrische Regime, Russland und der Iran sind, zusammen mit der Türkei, dabei, zu gewinnen und das Land nach ihren Interessen neu zu ordnen. Die syrische Revolution ist besiegt, die kurdische Bewegung ist auf dem Rückzug und wird von ihren „Verbündeten“ verraten. Die siegreichen Kräfte wollen ihre Gewinne nicht gefährden, sondern Syrien „stabilisieren“, um die Früchte ihres Erfolges zu ernten.

Sich abzeichnende Widersprüche

Es wäre jedoch fatal, die Gefahren zu unterschätzen, die in dieser Konfrontation zum Ausdruck gekommen sind. Derzeit sind die USA nicht in der Lage, die Kräfteverhältnisse in Syrien umzukehren oder auch nur den wachsenden Einfluss des Iran im Irak zu stoppen. Der russische Sieg hat wieder einmal den relativen Niedergang des US-Imperialismus offenbart. Dieser, immer noch die stärkste globale Einzelmacht, ist nicht mehr der unangefochtene Hegemon und zur Zeit nicht mehr in der Lage, dem Nahen Osten seine Ordnung aufzuzwingen.

Die gegenwärtige Auseinandersetzung muss in diesem Kontext eines Kampfes um die Neuaufteilung des Nahen Ostens und tatsächlich der Welt gesehen werden. Der syrische Bürgerkrieg hat nicht nur dem Schlächter Assad erlaubt, seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, er hat den russischen Imperialismus und auch den Iran als halbkolonialen, aber regional ambitionierten Akteur nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak erheblich gestärkt. Die Türkei, ein NATO-Verbündeter der USA und der europäischen Mächte, arbeitet auch mit Russland und dem Iran zusammen, mit anderen Worten, sie manövriert zwischen den beiden Seiten.

Wenn die Türkei sich nun auf die Seite der USA und der westlichen Mächte schlüge und die USA ihre vorübergehenden kurdischen Verbündeten im „Austausch“ aufgäben, könnte dies das Kräftegleichgewicht vor Ort verändern und zu einer direkten Konfrontation zwischen den imperialistischen Mächten und ihren StellvertreterInnen im Land führen. Aber ein solches Szenario beinhaltet viele „Wenns“ und Erdogan wird für leere und völlig wirkungslose „Friedensinitiativen“ der UNO oder Deutschlands und Frankreichs nicht den „Astana-Prozess“ aufkündigen.

Sowohl die USA als auch die europäischen Mächte, insbesondere Frankreich und Großbritannien, die seit langem „historische“ Interessen in der Region als deren ehemalige Kolonialreiche verfolgen, wollen die russischen Errungenschaften umkehren. Zu diesem Zweck haben sie Saudi-Arabien in seinem kriminellen Krieg im Jemen freie Hand gelassen und die Augen vor den israelischen Massakern in Gaza verschlossen. Nichtsdestotrotz sind die französischen und britischen Beiträge zu dem Angriff vor allem dabei von Bedeutung, den USA eine gewisse Legitimität zu verleihen. Ihre Rolle wird letztlich durch Entscheidungen und politische Ziele in Washington bestimmt.

So werden das syrische Regime und seine UnterstützerInnen ihre barbarische Kampagne fortsetzen, um die Überreste der „Opposition“ auszurotten, deren Führung und bewaffnete Einheiten weitgehend zu islamistischen Strömungen oder türkischen Marionetten verkommen sind. Während Assad und seine Verbündeten wiederholt chemische Waffen eingesetzt haben, haben sie weitaus mehr „konventionelle“ Bomben, Raketen, Flugzeuge oder Artillerie eingesetzt, die Millionen Menschen ihr Zuhause genommen und sie zu Flüchtlingen gemacht haben, was zu Hunderttausenden von Todesopfern geführt hat. Ob das syrische Regime den chemischen Angriff am 7. April lanciert hat, kann man nicht mit Sicherheit beweisen. Es hat aber in der Vergangenheit eindeutig gezeigt, dass es keine moralischen oder sonstigen Schranken für sein Handelns kennt. Für Assad hätte ein solcher Angriff nicht nur den Fall von Duma selbst beschleunigt, sondern auch eine erschreckend klare Botschaft an die Flüchtlinge und Oppositionskräfte in Idlib ausgesandt: gebt auf oder ihr werdet Opfer ähnlicher Attacken sein!

Der Westen nahm die Behauptungen über den Einsatz chemischer Waffen als Vorwand für einen begrenzten Schlag, aber ihre „humanitären“ Anliegen sind nichts weiter als ein Farcenspiel, um die öffentliche Meinung zu täuschen. Sie rechtfertigen damit einen groben Verstoß gegen das „Völkerrecht“, das Macron, Merkel und May nach wie vor hochzuhalten vorgeben, solange er nicht von ihren israelischen oder saudischen Verbündeten oder gar durch die Durchsetzung der rassistischen und mörderischen Politik der EU gegen Flüchtlinge aus Syrien und durch ihre eigenen militärischen Interventionen gebrochen wird.

Längerfristig wollen die USA und ihre imperialistischen, aber auch ihre saudischen und israelischen Verbündeten die von Russland und dem Iran erzielten Gewinne umkehren. Diese Staaten sind das eigentliche Ziel der aktuellen Kampagne. All diese Faktoren deuten auf die Gefahr direkter Zusammenstöße zwischen den Mächten selbst und damit auf eines offene Krieges hin. Die derzeitigen Militärschläge sind zwar begrenzt und sollen nicht über darüber hinausgehen, aber solche Abenteuer bergen immer das Potenzial zur Eskalation, nicht zuletzt deshalb, weil sie davon unterstellen, dass beide Seiten nach den gleichen Regeln spielen würden.

Die historische Periode, in der wir leben, ist jedoch eine Periode, in der die internationale Ordnung, das heißt das etablierte Kräfteverhältnis zwischen den Weltmächten, bereits in Frage gestellt und untergraben wurde. Die Ohnmacht der UNO, die Ersetzung der „richtigen“ diplomatischen Kanäle durch Tweets mag als „Wahnsinn“ erscheinen, aber es ist ein „Wahnsinn“, der eine wirkliche Veränderung in der Welt widerspiegelt.

Der ständige Niedergang der US-Suprematie über die Welt und der Aufstieg Chinas als imperialistische Macht haben zu einer Spaltung innerhalb der herrschenden Klasse der USA geführt. Vor Trump versuchten die USA, die Welt über ein multilaterales System, über Institutionen wie die WTO, den IWF, die Weltbank und die NATO zu dominieren und wollten dies sogar in Verträgen wie TTIP und TTP festigen. Die globale Krise, der Aufstieg Chinas, die Reetablierung Russlands als Weltmacht und die „Kosten“ der Führung des westlichen Bündnisses haben jedoch dazu geführt, dass sich eine Fraktion des US-Kapitals für einen unilateralen Weg entschieden hat. Für sie sind „gute Vereinbarungen“ keine Abkommen am Runden Tisch mit anderen, sondern „Deals“ gegenüber schwächeren Staaten.

Im Moment hat der Niedergang der USA sie zur Beschränkung auf eine symbolische Intervention gezwungen, aber angesichts der gesamten Ausgestaltung eines neuen Kalten Krieges müssen die Errungenschaften Russlands im Nahen Osten angegangen werden. Die Verluste der USA in dieser Schlüsselregion der Welt sind für Washington viel bedeutender als der Kampf um die Ostukraine oder die Krim.

Diese Situation nährt auch das Abenteurertum. Dieses mag auch eine persönliche Eigenschaft Trumps sein, aber, was noch wichtiger ist, es fließt aus den inneren Widersprüchen der aktuellen Periode. Die „alten“, etablierten Beziehungen zwischen den Nationen werden mehr und mehr untergraben, neue oder verlorene geopolitische Grundlagen zurückzuerobern, erfordert „härtere“ Mittel, letztlich von allen Seiten. Der US-Präsident ist nicht der einzige „Hitzkopf“ und die USA sind nicht die einzige Macht, in der die inneren Widersprüche auf (außenpolitische) Abenteuer hinweisen. Der russische Imperialismus, aber auch die türkische, israelische und saudische Politik bringen solche Merkmale zum Ausdruck.

Die Gefahr eines „begrenzten Krieges“, der aus dem Ruder laufen könnte, die Ablösung der Diplomatie durch Tweets oder „starke Sprache“ sind ein Ergebnis der aktuellen Periode. Sie werden nicht durch Appelle an das „Völkerrecht“, die Stärkung der UNO oder die Rückkehr zur „Berufsdiplomatie“, wie es die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright gefordert hat, verschwinden. Das mag zwar „vernünftig“ klingen, aber es steht eigentlich mehr im Widerspruch zum aktuellen Stand der kapitalistischen Entwicklung als Trumps „Wahnsinn“. Die Forderung nach einer Rückkehr zu einer internationalen politischen und institutionellen Ordnung, die auf einem relativ stabilen Gleichgewicht der Kräfte und Beziehungen beruht, ist letztlich utopisch. Die Entwicklung der Weltwirtschaft selbst hat diese Ordnung untergraben und wird dies zwangsläufig auch weiterhin tun.

Die Linke

Nicht nur die Liberalen oder Konservativen, die auf die „gute alte Zeit“ zurückblicken, bleiben hinter dieser Entwicklung zurück, sondern auch große Teile der Linken und der ArbeiterInnenbewegung.

Einige verharmlosen die Gefahr eines Krieges oder, wie die rechte Sozialdemokratie und viele GewerkschaftsführerInnen, befürworten sogar Interventionen oder eine „härtere“ Politik gegenüber Russland oder China. Die deutsche Sozialdemokratie unterstützte den Angriff der USA, ebenso wie der rechte Flügel der britischen Labour-Partei sich auf die Seite „seiner“ Tory-Regierung stellen wird. Ein anderer Teil der Linken, oft mit stalinistischem Hintergrund, betrachtet die gegnerischen imperialistischen Mächte, Russland und China, als ein geringeres Übel oder sogar als potenzielle Verbündete.

Für die ArbeiterInnenbewegungen in den USA, in Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder anderen westlichen Staaten ist der Hauptfeind natürlich ihre „eigene“ herrschende Klasse. Sie müssen gegen jede militärische oder diplomatische Intervention mobilisieren. Sie müssen Nein sagen zu allen Luftangriffen in Syrien, zur Entsendung von Truppen oder zu wirtschaftlichen oder diplomatischen Sanktionen. Sie müssen den sofortigen Rückzug aller Truppen und MilitärberaterInnen aus der gesamten Region fordern! Sie müssen gegen jede Unterstützung für die israelischen und saudischen Militärmaschinen kämpfen! Sie müssen den sofortigen Rückzug der türkischen Truppen und die Verteidigung des kurdischen Volkes fordern!

Aber das Gleiche gilt für Russland, China und ihre Verbündeten. Wir fordern den Rückzug der russischen Truppen und Verbündeten aus Syrien. Es stimmt zwar, dass die westlichen Mächte und insbesondere die USA China eindämmen wollen und einen neuen Kalten Krieg gegen Russland eröffnet haben, aber das ändert nichts daran, dass beide imperialistische Mächte selbst sind. Auch sie kämpfen für ebenso reaktionäre Ziele und sind der „Hauptfeind“ der russischen und chinesischen ArbeiterInnenklasse.

Wie das Beispiel Syrien zeigt, ist jede Form der imperialistischen Intervention, insbesondere in einer so wichtigen geopolitischen Region, nicht nur reaktionär an sich, sondern droht, „aus dem Ruder zu laufen“. Auch wenn die aktuellen Bedrohungen mit einem begrenzten, symbolischen Angriff endeten, sind der Aufbau von Spannungen zwischen den Mächten, die Bildung von rivalisierenden Allianzen und Blöcken und nicht zuletzt die Gewöhnung der Menschen an die Existenz einer „Kriegsdrohung“ alle sehr real. Die ganze Idee einer „Rückkehr“ zur Diplomatie und der Wiederherstellung des „Friedens“, die beispielsweise von Frankreich und Deutschland verbreitet wird, steht im Missklang zu den gegenwärtigen Realitäten. Auf jeden Fall sind diplomatische Manöver nur eine weitere Form des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt.

Dies muss der Ausgangspunkt für die Schaffung einer neuen, globalen Antikriegsbewegung sein, die antiimperialistisch und internationalistisch sein muss.




Geschichte – Können Frauen kämpfen?

Avenita Holzer, Frauenzeitung Nr. 5, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION (Deutschland), ArbeiterInnenstandpunkt/REVOLUTION (Österreich) März 2017

Aber natürlich! Arbeitsrechte wurden erkämpft, Wahlrechte ebenfalls. Trotzdem zweifeln heuteimmer noch einige Menschen daran, dass Frauen fähig sind ihre Kämpfe selbst zu führen. Das entspricht in keinem Fall der Wahrheit. Sowie bei Kämpfen für Frauenrechte genug solidarische Einbindung von Männern passieren muss, sind Frauen bei Arbeitskämpfen, als  (meist doppelt) Ausgebeutete, zumeist an vorderster Front dabei.

Frauen abzusprechen in Kämpfen aktiv sein zu können, sie ständig in die Opferrolle zu drängen und sie damit vom Subjekt zum Objekt zu machen, ist etwas, dass in den verschiedensten Formen vorkommt. Ob nun bei Rechten, die Frauen am liebsten vor dem Herd in der Küche anketten wollen, manchen bürgerlichen Feminist*innen wie Alice Schwarzer, die gerade muslimischen oder osteuropäischen Frauen absprechen wollen, eigenständig zu kämpfen, oder sogar bei machen Linken. Dabei beweisen die neuen Ereignisse Tag für Tag, welche Rolle Frauen wirklich in Bewegungen spielen: ob nun beim Arabischen Frühling, im Kampf gegen den Daesch oder dem Widerstand gegen Trump. Am Beispiel der Februarrevolution in Russland, die dieses Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum feiert, wollen wir dies nochmal aufschlüsseln.

Wenn von der russischen Revolution gesprochen wird, fallen einem der Sturm aufs Winterpalais, die Verhaftung der provisorischen Regierung und die Aprilthesen ein – falls man sich überhaupt gut damit auskennt. Aber dass der eigentliche Prozess dieser russischen Revolution viel länger war, ja eigentlich den Anfang mit der Revolution 1905 und dem Petersburger Blutsonntag nahm, wird oft nur nebenbei erwähnt. Erfolgreich waren diese Aufstände zwar nicht, aber trotzdem haben sie für die damaligen Revolutionär*innen viele Lehren enthalten, auch in Bezug auf das Potenzial von Frauen. Deshalb muss auch auf die Ereignisse im Februar 1917 ein besonderes Augenmerk gelegt werden, wenn die Oktoberrevolution verstanden werden soll.

Das Jahr 1917 zeichnete sich vermutlich am meisten durch den Krieg aus. Seit 1914 herrschte der 1. Weltkrieg und das wirtschaftlich schwache Russland war quasi am Ende. Die Menschen waren unzufrieden mit ihrer Situation, Nahrungsmittel waren knapp und Streiks begannen, trotz der vorhergegangenen Burgfriedenspolitik wieder aufzuflammen. Auch wurde in der Duma (quasi ein Parlament, das als Zugeständnis nach den Protesten 1905 diente, aber de facto keine Entscheidungsgewalt hatte) ein radikalerer Kurs eingeschlagen und die Menschen konnten mit ihren derzeitigen Lebensgrundlagen nicht mehr viel anfangen.

Die tatsächliche Revolution, die aus eben diesen Missständen entflammte, begann in Petrograd, mit den Industriearbeiter*innen der Stadt. Am 23. Februar nach dem in Russland geltenden julianischen Kalender (in Mittel- und Westeuropa der 8. März nach dem dort gültigen gregorianischen Datum) – dem internationalen Frauenkampftag –begann ein Streik, der für das [bis dahin] zaristische System der Todesstoß sein sollte. An diesem Tag fandenim Arbeiter*innen- und Industriebezirk Wyborg einige Treffen in Textilfabriken statt, die sich speziell an Frauen richteten und ihre Ausbeutung im Verhältnis zum Krieg thematisierten. Auf diesen Treffen kochte der Zorn über, Arbeiter*innen stimmten für Streik und setzten Worte gleich in Taten um. Sie gingen von Fabrik zu Fabrik, um die Arbeiter*innen auf die Straßen zu bekommen. Gegen Mittag waren es schon 50.000 Streikende aus 21 Betrieben. Am Ende des Tages waren 20-30 % der Arbeiter*innen im Streik. Damit aber war die Sache nicht erledigt, der Kampfgeist nicht aufgebraucht. Die Revolte ebbte nicht ab, die Armee erwies sich als ohnmächtig, insbesondere deshalb, weil die Masse die Soldaten aufforderte sich ihnen anzuschließen. Insbesondere auf das Drängen der Soldatenfrauen befolgten auch einfache Soldaten zu einer nicht unbeträchtlichen Zahl diesen Aufruf.

Somit zeigt sich: die Rolle der Frauen in der Februarrevolution ist besonders herauszuheben. Obwohl alle sozialistischen Parteien nicht zum Streik aufgerufen hatten, ergriffen die Frauen die Initiative, holten andere Arbeiter mit ins Boot und schafften es auch, Teile der Soldaten für sich zu gewinnen. Die Frauen von Petrograd hinterließen einen solchen Eindruck, dass sie nicht einmal von dieser Geschichtsschreibung totgeschwiegen werden konnten. Denn besonders in der bürgerlichen Gesellschaft scheint Geschichte oftmals so, als ob nur weiße Männer eine relevante Rolle gespielt haben. „Geschichtsschreibung ist männlich“ ist ein Satz, der einem immer wieder an den Kopf geworfen wird und bis zu einem gewissen Grad auch berechtigt ist. Denn Jahrtausende von Unterdrückung sind nichts, was nicht auch auf die Geschichte einen maßgeblichen Einfluss hat.

Abgesehen von diesem Kapitel der Geschichte, welches allein schon ausreicht, um das selbstbestimmte und kämpferische Handeln von Frauen belegen zu können, finden sich viele weitere Versuche und erfolgreiche Revolten in den gesellschaftlichen Klassenkämpfen. Ein Beispiel dafür wären die Suffragetten-Bewegung in England oder die Bestrebungen Clara Zetkins in Deutschland, die sich um das Wahlrecht für Frauen bemühten. Anzumerken ist hierbei, dass Zetkin diese Kämpfe nie isoliert von der Arbeiter*innenklasse, sondern mit ihr führen wollte, während die Suffragetten-Bewegung vorwiegend von bürgerlichen Frauen dominiert wurde.

Auch heute sieht man bei Protesten, wie in Polen und den USA gegen frauenfeindliche Politik die Kräfte mobilisiert werden. Doch um dauerhaft die Gefahr der Rechtspopulist*innen, die Frauenrechte einschränken wollen, aufzuhalten, braucht es mehr als kurzzeitige Proteste. Sie sind wichtig, dochohne Perspektive setzen sie nur ein Statement und verebben dann wieder,ohne dauerhaft gesellschaftliche Veränderung bezweckt zu haben. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte nur Schritt für Schritt zu Verbesserungen kommen oder Sexismus in dieser Gesellschaft auflösen. Deshalb müssen, wie auch in der Vergangenheit, die Kämpfe für die Verbesserung der Situation der Frau mit dem für einen wirtschaftlichen und politischen Umbruch verbunden werden, wie uns das Beispiel der Februarrevolution gezeigt hat. Denn alleine sind wir wesentlich weniger stark als gemeinsam!




Die Bedeutung der russischen Revolution – Lehren für das 21. Jahrhundert

Roman Birke, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

In jedem Oktober, insbesondere am 90. Jahrestag, gehört es zum guten Jargon jeder in weitestem Sinne revolutionär-marxistischen Organisation die Ereignisse der russischen Oktoberrevolution zu diskutieren und die Lehren daraus zu ziehen. Doch für uns geht es keineswegs alleine darum, eine Tradition der theoretischen Aufarbeitung aufrecht zu erhalten.

Denn auch wenn das theoretische Verständnis der russischen Ereignisse von entscheidender Bedeutung ist, ist dies nutzlos, würde man nicht die Schlussfolgerungen für heute, für die Revolution des 21. Jahrhunderts, ziehen. Veränderung wird nicht alleine durch die Erarbeitung theoretischer Erkenntnisse, sondern nur durch das Übersetzen der theoretischen Formeln in die revolutionäre Praxis geschaffen. Dieses Verständnis ist die Grundlage für jede ernsthafte revolutionäre Organisation, die nicht nur Sonntagsreden über den Sozialismus schwingt, sondern für ihr Programm in den neu entstandenen Massenbewegungen aus dem Blickwinkel der praktischen Aktivität kämpft.

Gesellschaftlicher Hintergrund

Diesen Artikel schreiben wir unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen. In vielen Ländern, darunter auch Deutschland und Österreich, entwickeln sich Diskussionen um die Frage, welche Art von politischer Partei wir brauchen. Das Suchen nach einer Alternative zur verrotteten Sozialdemokratie wird deutlicher, aber auch in Teilen der neu entstandenen Massenbewegungen erleben wir eine bestimmte Linksentwicklung, durch die solche Fragen aufgeworfen werden. Dies ist der Grund warum es auch vermehrt Debatten über die Grundfragen der Revolution gibt.

Denn auch wenn die Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft hochaktuell ist, so drückt sich dies doch nicht immer im Bewusstsein der Arbeiterklasse aus. Auch wenn es offensichtlich ist, dass der Kapitalismus die brennenden Probleme unserer Zeit nicht lösen kann und für immer größerer Menschenmassen außer Verelendung, Hunger, Krieg, Überausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nichts zu bieten hat, so hinkt das Bewusstsein breiter Teile der ArbeiterInnenklasse doch oftmals hinter dieser Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinterher.

Die objektive Reife der Lage spiegelt sich nicht eins zu eins im Bewusstsein der Arbeiterklasse wider. Einerseits findet die Entwicklung des Bewusstseins meist verspätet zur Entwicklung der ökonomischen Faktoren statt, andererseits gibt es eine Reihe von ideologischen Einflussfaktoren der Bourgeoisie, welche diese Entwicklung zurückhalten oder ihr offen entgegenwirken.

Doch gerade in den letzten Jahren erleben wir eine Situation, in der die Frage nach Veränderung, die Frage nach einer Alternative zum Wahnsinn der kapitalistischen Ausbeutung wieder aktueller wird und breitere Teile der Arbeiterklasse erfasst. Diese Entwicklung des Bewusstseins bei den fortschrittlichsten Teilen der ArbeiterInnenklasse ist nicht nur ein Resultat immer offener Krisenhaftigkeit und drohender Katastrophen, sondern auch ein Resultat vermehrter Klassenkämpfe.

Möchte man die Klassenkämpfe dieser Zeit (1999 bis heute) periodisieren, einen Überblick über die Entwicklung der Kämpfe geben und deren Auf- und Abschwünge kennzeichnen, so können wir diese Entwicklung in mehrere Zyklen einteilen.

Das Jahr 1999 eröffnet durch die Entstehung der antikapitalistischen Bewegung in Seattle einen Zyklus des Aufschwungs des Klassenkampfes. In diesen Zyklus fällt auch der Beginn der zweiten Intifada im September 2000, die Massenproteste gegen die Machtergreifung der rechts-konservativen Regierung in Österreich, die revolutionäre Situation in Argentinien, die Kämpfe gegen die Pensionsreform in verschiedenen EU-Ländern, den riesigen Demonstrationen gegen die G8 in Genua und der Mobilisierung 100.000er gegen die Regierung Berlusconi.

Der 11. September 2001 und der darauffolgende „Krieg gegen den Terror“ mit dem imperialistischen Überfall auf Afghanistan markieren eine Zäsur. Die US-amerikanischen Imperialisten nutzten die Gunst der Stunde zu einer massiven Offensive, die am Beginn mit einer Desorientierung der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten, mit einer Paralyse der Gegenkräfte aufgrund der fehlenden ideologischen und politischen Vorbereitung angesicht des „Terrorismus“ ihren Anfang nahm.

Doch die Bewegung war nicht tod. Gegen den drohenden Irak-Krieg formierte sich die Kräfte des antikapitalistischen Widerstandes erneut. Diese Mobiliserierung gipfelte in der Antikriegsbewegung gegen den Angriff auf den Irak, die ihren Höhepunkt im Februar und März 2003 fand, wo bei Demonstrationen weltweit über 20 Millionen Menschen auf der Straße waren.

Doch die Niederlage der Antikriegsbewegung, die Tatsache, dass sie trotz Millionenprotesten den Krieg nicht verhindern konnte, führte zu einem Abflauen der Klassenkampfbewegung der Unterdrückten – nicht so sehr in dem Sinne, dass es weniger Kämpfe gab, sondern v.a. in dem Sinne, dass sie unter ungünstigerem Kräfteverhältnis stattfanden.

In diese Entwicklung markiert das Jahr 2005 eine Trendwende. Mit der Niederlage des Referendums in der EU, der Entwicklung der venzualanischen Revolution und dem Entstehen einer kontinentalen, anti-imperialistischen Mobilisierung in Lateinamerika, v.a. aber mit der sich deutlich abzeichnenden Niederlage der US-Besatzung im Irak ist die Offensive des Imperialismus an ihre Schranken gestoßen – eine Schranke, die sowohl die imperialistischen Bourgeoisie wie die Arbeiterklasse und die Unterdrückten zu einer Neuformierung ihre Kräfte zwingt.

Doch die Niederlagen oder Rückschläge der herrschenden Klasse führten entgegen der Vorstellungen reformistischer oder kleinbürgerlicher Versöhnler nicht zu einer Milderung der Gegensätze, sondern zu einer Verschärfung der Angriffe des Kapitals. Genau diese Entwicklung ist es, die dazu führt, dass die Arbeiterbewegung die Frage ihre Strategie und Taktik neu diskutieren, überdenken und Organisationen schaffen muss, die dem Angriff der Herrschenden standhalten und ihrerseits zur revolutionären Offensive übergehen können.

Die Aktualität der Revolution im 21. Jahrhundert setzt daher auch eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Revolution auf die Tagesordnung.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Russische Revolution 1917 ist nicht zufällig Referenzpunkt der Geschichte der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts. Sie hat die verschiedenen politischen Strömungen, von den revolutionären KommunistInnen bis zu den Reformisten, Sozialdemokraten und Stalinisten, Anarchisten wie Syndikalisten geprägt.

Die Oktoberrevolution war der erste und bislang mächtigste Kulminationspunkt der Revolution in der imperialistischen Epoche, dessen Ergebnis eine siegreiche proletarische Revolution war.

Doch schon in vergangenen Klassenkämpfen wie der Revolution 1905 waren in der russischen und internationalen sozialistischen Bewegung verschiedene, grundlegende Konzeptionen der Revolution zutage getreten.

Die von den Menschewisten mehrheitlich vertretene Konzeption ging davon aus, dass im rückständigen Russland nicht nur die kapitalistische Entwicklung erst am Beginn stehe und daher nur ein bürgerliche Revolution möglich wäre. Eine solche Revolution, so der Menschewik weiter, müsse folgerichtig von der bürgerlichen Klasse geführt und die Herrschaft der konstitutionellen Bourgeoisie zur Folge haben. Aufgabe des Proletariats war es als Unterstützer und Antreiber und Verteidiger der bürgerlichen Klasse zu agieren. Die Klassenherrschaft der Bourgeoisie wurde als eherne Notwendigkeit, als unvermeiliches Resultat der Revolution betrachtet.

Dieser Linie blieb der Menschewismus in der Revolution und im Bürgerkrieg, blieben seine Ableger in den anderen Ländern, blieb die Sozialdemokratie bis heute treu. Selbst wenn das Proletariat und andere unterdrückte Klassen die „günstigen Bedingungen“ vorfinden würden, müsste eine Machtergreifung als „verfrüht“ abgelehnt werden, da sich die Klasse entweder nicht halten oder die Revolution im „Terror“ entarten müsse.

Wo diese Konzeption im 20. Jahrhundert angewandt wurde, waren ihre Resultate verheerend und führten zu blutigen Katastrophen – sei es beim Austromarxismus oder der Volksfront in Chile.

Die Stalinisten übernehmen diese menschewistische Konzeption und, wenn überhaupt, so unterschieden sich die blutigen Resultate dieser anti-revolutionen Theorie des Menschewismus nur durch größere Brutalität gegen linke Abweichler und zynischere Lügengebäude, die um Katastrophen wie die Niederlage der Chinesischen oder Spanischen Revolution konstruiert wurden.

Die zweite Linie neben dem Menschewismus war jene des Bolschewismus unter Lenin. Wie die Menschewiki und der „Gründungsvater“ der russischen Sozialdemokratie, Plechanow, ging auch er davon aus, dass die russische Revolution nur eine bürgerlich-demokratische sein könne. Aber er erkannte, dass die russische Bourgeoisie schon zu reaktionär war, und daher eine Revolution gegen den Zarismus eine Dynamik entfalten könnte, die auch gleich sie selbst hinwegfegt, dass sie als die führende Kraft der bürgerlichen Revolution nicht mehr in Frage komme.

Lenin „löste“ dieses Problem durch die Formel der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern.“ Die Revolution müsse eine Regierung aus Arbeiterklasse – vertreten durch die Sozialdemokratie – und einer Partei der kleinbürgerlichen, bäuerlichen Demokratie hervorbringen, die die zentralen Aufgaben der bürgerlichen Revolution (Sturz des Zarismus, Errichtung de demokratischen Republik, Landfrage/Agrarrevolution) erfülle, also bürgerliche Verhältnisse durchsetzt.

Lenins Formel hat sich als untauglich erwiesen angesichts der Revolution 1917. Ein Teil der Bolschewiki interpretierte sie menschewistisch – so wie der Stalinismus später diese Formel als ideologische Krücke zum Wiederaufwärmen des Menschewismus verwenden sollte.

Lenin hingegen bricht in den Aprilthesen mit der Formel und schließt sich der dritten Konzeption der russischen Revolution an, wie sie von Trotzki schon 1905 vertreten wurde: Der Konzeption der permanenten Revolution.

Theorie der permanenten Revolution

Die Theorie der permanenten Revolution legte dar, dass ausgehend von der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung des russischen Kapitalismus die Bourgeoisie vollkommen unfähig ist als revolutionäre Führung zu agieren. Diese Situation ermögliche es, ja erfordere es, dass die russische Arbeiterklasse die Macht ergreift, um die Aufgaben der demokratischen/bürgerlichen Revolution zu lösen und eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Insbesondere das Verhalten der provisorischen Regierung, die eine Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten war, verdeutlichte diese These. Diese provisorische Regierung hatte unter Beweis gestellt, dass eine bürgerliche Regierung vollkommen unfähig ist, nur die elementarsten demokratischen Fortschritte zu erreichen.

Der verhasste Krieg wurde fortgeführt, dem verhassten Gutsbesitzer gehörten in feudaler Manier weiterhin die Felder und Hunger war immer noch eines der prägendsten Elemente der damaligen russischen Gesellschaft.

Dem Proletariat und den armen Bauernmassen ging es jedoch um die Beendigung des Krieges, die Versorgung mit Nahrung und der gerechten Verteilung des Bodens. Der Sturz des Zarismus als unmittelbarste Aufgabe hat diese antagonistischen Kräfte, die mit vollkommen unterschiedlichen Vorstellungen in diese Revolution gegangen sind, kurzzeitig zusammengebracht. Doch bald nach der Installation der provisorischen Regierung am 2. März 1917 wurden diese unterschiedlichen Motivationen offensichtlich.

Anstatt die Versorgung von Nahrungsmitteln auf demokratischer geplanter Grundlage zu organisieren beharrte die kapitalistische Regierung auf die „Selbstregulation“ der freien Marktwirtschaft. Statt den Krieg zu beenden, ließen die Kapitalisten die Soldaten weiterhin an der Front. Anstatt das Land unter den armen Bauern aufzuteilen, war es nach wie vor Eigentum des reichen Gutsbesitzers.

Diese gegensätzlichen Klasseninteressen fanden auch ihren Ausdruck in der Situation der Doppelmacht. Neben der provisorischen Regierung und dem zaristischen Staatsapparat existiert mit dem Petrograder Sowjet von Anfang an ein Doppelmachtorgan.

Dieses Ungleichgewicht der Kräfteverhältnisse müsste früher oder später entweder für die Bourgeoisie oder für das Proletariat entschieden werden. Darin liegt auch die tiefere Ursache für den Übergangscharakter der Zeit zwischen Februar und Oktober und der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.

Die Erfüllung selbst der demokratischen Aufgaben fällt also unbedingt dem Proletariat zu. Lenin schrieb dazu in seinen Briefen aus der Ferne:

„Das Proletariat kann und darf eine Regierung des Krieges, eine Regierung der Restauration nicht unterstützen. Was der Kampf gegen die Reaktion, was die Abwehr aller möglichen und wahrscheinlichen Versuche der Romanows (Adelsgeschlecht der russischen Zarenfamilie, dA) und ihrer Freunde zur Wiederherstellung der Monarchie und zur Aufstellung einer konterrevolutionären Armee erfordert, das ist keineswegs die Unterstützung der Gutschkow (war Großindustrieller und Kriegsminister der provisorischen Regierung, dA) und Co., sondern die Organisierung einer proletarischen Miliz, ihr Ausbau, ihre Festigung und die Bewaffnung des Volkes unter der Führung der Arbeiter. Ohne diese wichtige, grundlegende, radikale Maßnahme kann weder von einem ernsthaften Widerstand gegen die Wiedererrichtung der Monarchie und gegen die Versuche, die versprochenen Freiheiten aufzuheben oder einzuschränken, die Rede sein noch davon, entschlossen den Weg zu beschreiten, der zu Brot, Frieden und Freiheit führt (1).“

Hier zeigt sich wie in vielen anderen Schriften Lenins sein Übergang zu Trotzkis Konzeption der permenanten Revolution, die im Laufe der 20er Jahre in der Auseinandersetzung um den Charakter der chinesischen Revolution verallgemeinert wird. Anders als die mechanistische Auffassung der Menschewiki geht diese Konzeption von einer Analyse des russischen Kapitalismus als Teil einer kapitalistischen Weltmarktes, eines kapitalistischen Weltsystems aus. Daher steht die Machtergreifung der Arbeiterklasse in Russland auch im engen, inneren Zusammenhang mit der sozialistischen Revolution in Europa, mit der Weltrevolution.

In der Imperialismustheorie, in der Analyse des imperialistischen Weltkriegs und in der strategischen Orientierung, den imperialistischen Kieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen umzuwandeln, bereitet sich der Bruch Lenins mit der Formel der demokratischen Diktatur vor.

Für die russischen RevolutionärInnen Ende des Ersten Weltkriegs ist es eine politische Selbstverständlichkeit, dass die Herrschaft der Arbeiterklasse zwar die sozialistische Umgestaltung im Land beginnen, sie sich jedoch nur als Teil der globalen Revolution halten und durch den Übergang zum Sozialismus im Weltmaßstab vollenden kann. An die spätere Legitimationstheorie vom „Sozialismus in einem Land“ – nicht zufällig selbst aus dem politischen Schutt des rechten Flügels der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts entlehnt – hatte damals noch niemand gedacht.

Der Bruch Lenins mit den Halbheiten und Schwächen der „demokratischen Diktatur“ steht – ebenso wie andererseits Trotzkis Bruch mit seiner zentristischen, anti-revolutionären und links-menschewistischen Parteikonzeption vor dem Ersten Weltkrieg – als ein Beispiel für einen grundlegenden Epochenbruch in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die durch die russische Revolution, ihre strategische, programmatische und theoretische Konzeption vorangebrieben wird. Es erfolgt ein notwendiger und grundlegender Bruch mit der Zweiten Internationale – nicht nur mit ihrem historischen Verrat, sondern auch und vor allem mit den halbherzigen, oft mechanistischen durch „orthodoxe“ Phrasen verborgene Konzeptionen, in der sich immer mehr der reformistische Inhalt durchgesetzt hatte.

Die Notwendigkeit des revolutionäre Übergangs, der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und ihre Ersetzung durch einen Rätestaat bildet also eine der grundlegenden Lehren der Oktoberrevolution.

Die Sowjets

Wie allen großen Revolutionen der letzten 150 Jahre entwickelten die ArbeiterInnen und die unterdrückten Klassen Organe der revolutionären Gegenmacht des Kampfes, Organe der Doppellmacht – Räte.

Trotzki schrieb in seiner Autobiographie „Mein Leben“ über die Entstehung der Sowjets 1905:

„Der Sowjet hatte riesige Massen auf die Beine gebracht. Die gesamte Arbeiterschaft stand hinter ihm. Auf dem Lande herrschten Unruhen, ebenso bei den Truppen (2).“

Werden die Massen ins politische Leben gerissen, so steigen auch der Drang zu Selbstbestimmung und Selbstorganisation und die Notwendigkeit diese Aufgaben nicht nur in einem Betrieb oder in einem Stadtteil, sondern in größeren Gebieten zu verwirklichen. Sowjets oder ähnliche Organe bieten die Möglichkeit die Massen auf einer demokratischen und kontrollierbaren Grundlage zu organisieren und ihnen einen schlagkräftigen Ausdruck zu verleihen.

Im Gegensatz zum Parlamentarismus werden im Sowjetsystem angefangen von kleinsten Einheiten (Betrieben, Stadtteilen, Dörfern, Armeeinheiten) VertreterInnen gewählt, die die Entscheidungen der Basis auf eine nächst höhere Ebene tragen. Diese VertreterInnen sind ihrer Basis gegenüber verantwortlich, d.h. rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Die Entstehung von Sowjets in revolutionären Situationen, also in Situationen der größten Angespanntheit, des größten Drucks und steigender Notwendigkeit zum Handeln, zeigt auch die Überlegenheit eines demokratisch organisierten, hierarchischen Systems gegenüber der kleinbürgerlichen Vorstellung einer Basisdemokratie auf der Grundlage des Konsensprinzips (d.h. kaum Beschlüsse, Zustimmung von a llen bevor etwas umgesetzt wird, etc.).

Sowjets oder Sowjet-ähnliche Organe sind nicht nur wichtig, um die politisch erwachten Massen in den Kampf und in die Entscheidungen miteinzubeziehen, sondern spielen auch eine wichtige Rolle im Erlernen der Selbstorganisation. Die Räte sind nicht nur Kampforgane, sondern auch die zukünftigen Machtorgane der Diktatur des Proletariats, der Herrschaft der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie.

Und schließlich sind Staatsorgane, die anders als der bürgerliche Staat in sich die Möglichkeit bieten, zu Organen der Selbstverwaltung der Gesellschaft zu werden. Sprich: nur der Sowjetstaat kann, hat er seine Aufgabe erfüllt, die herrschende Klasse niederzuhalten und die Grundlagen für eine sozialistische Gesellschaft zu legen (und das schließt natürlich auch den Sieg der Revolution im Weltmaßstab ein), auch als Staat „absterben“, zu einem Organ der bewussten Selbstverwaltung der Produktion und des Verkehrs in der Gesellschaft werden.

Dies ist ein programmatischer und methodischer Bruchpunkt mit der Sozialdemokratie. Während sie den bestehenden bürgerlichen Staat erhalten und reformieren will, möchte die revolutionäre Partei diesen Staat mit Hilfe von Machtorganen wie Sowjets zerschlagen.

Trotz dieses grundsätzlich revolutionären Charakters des Sowjetsystems ist es falsch, die Räte der revolutionären Partei entgegenzustellen oder anzunehmen, dass sie ohne revolutionäre Führung die Revolution machen könnten.

Mit den Räten hat die Klasse ein Instrument geschaffen, die bürgerliche Herrschaft zu stürzen und zu ersetzen – aber die Klasse entwickelt deswegen noch lange keinen strategischen Plan, diese Aufgaben zu erfüllen. Auch in der revolutionären Situation (und auch nach der Revolution) wird die Klasse nicht „spontan,“ „aus der Praxis“ selbst revolutionär.

Der Rat ersetzt den Kampf der Parteien – und d.h. proletarischer und bürgerlicher Strömungen in der Klasse nicht – sondern konzentriert ihn vielmehr im Kampf um die Macht.

In Wirklichkeit ist es daher meist der Fall, dass Sowjets zu Beginn durch eine reformistische Führung geprägt sind, deren Aufgabe gerade darin besteht die revolutionäre Aktion der Räte, den revolutionären spontanen Impuls der Klasse zu kanalisieren – was auch mit einschließt, die Räte selbst an der Machtergreifung zu hindern, deren Zerschlagung oder Integration vorzubereiten.

So hatten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre und nicht die Bolschewiki nach der Februarrevolution die Mehrheit im Sowjet. Dies ist auch kein Wunder, entspringt ein sozialistisches Bewusstsein nicht aus dem Kampf der Massen selbst, sondern muss vielmehr von außen in die kämpfenden Massen hineingetragen werden. So konnten die Bolschewiki erst kurz vor der Revolution die Mehrheit im allrussischen Sowjet erobern. Auch können Sowjets oder ähnliche Organe nicht die Aufgabe einer Partei erfüllen. Die Diskrepanz zwischen der objektiven Reife der Lage und dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse zu überwinden, den Aufstand zu planen und anzuführen – diese Aufgaben fallen der revolutionären Partei, d.h. den fortschrittlichsten und entschlossensten Teilen der Arbeiterklasse zu.

Die Notwendigkeit der revolutionären Partei

Die russische Revolution von 1917 brachte die Bedeutung einer revolutionären Partei eindeutig zum Ausdruck. Ohne die Existenz der Bolschewiki hätte die Oktoberrevolution, d.h. die Weiterführung der bürgerlichen Februarrevolution zu einer sozialistischen Revolution nicht siegreich sein können. Doch die Notwendigkeit eines Dirigenten beweist man in erster Linie nicht durch die Betonung seiner Wichtigkeit, sondern durch das falsche Spiel des Orchesters während seiner Abwesenheit. Aus diesem Grund wollen wir den Boden der russischen Ereignisse kurz verlassen und uns der deutschen Revolution im November 1918 zuwenden.

In dieser revolutionären Situation fehlte der Dirigent – die revolutionäre Partei. Trotz den objektiv günstigen Voraussetzungen gelang es dem Proletariat nicht die Staatsmacht zu erobern. Angefangen von meuternden Matrosen, Arbeiterdemonstrationen, einer Ausweitung der Proteste gegen die Monarchie auf ganz Deutschland bis zur Solidarisierung der Soldaten mit den rebellierenden Massen waren alle Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution gegeben. Doch eine Kraft, die diese spontanen Proteste der Massen wirklich vorwärts treiben konnte, existierte nicht.

Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurde erst am letzten Tag des Parteitags dem 1. Jänner 1919 gegründet, was fatale Folgen für die deutsche Revolution und auch für das russische Proletariat hatte.

Es ist auch kein Zufall, dass Leo Trotzki die Lehren des Oktobers im Jahr 1924 geschrieben hat – ein Jahr nach der desaströsen Niederlage des deutschen Proletariats in ihrem Oktober, die durch die Inkonsequenz der Führung der KPD verschuldet war.

Daraus können wir schließen, dass auch die Existenz einer revolutionären Partei alleine nicht ausreicht. In Wirklichkeit kommt es vielmehr darauf an, wie konsequent eine revolutionäre Partei ihr erarbeitetes theoretisches Arsenal auch in einer revolutionären Situation zur Anwendung bringen kann und ihr übergeordnetes Ziel – die Diktatur des Proletariats – nicht aus den Augen verliert.

Denn selbst die Bolschewiki, die vor 1917 durch die Erfahrungen der Emigration, der Revolution 1905, neuerlicher Emigration, Illegalität und dem imperialistischen Weltkrieg gestählt wurden, haben nach der Februarrevolution bis zur Aprilkonferenz eine falsche Position zur Frage der Weiterführung der Revolution gehabt.

In Wirklichkeit vertraten die Bolschewiki in einer kurzen Phase zwischen Februar und April eine Position, die sehr nahe an der kleinbürgerlichen Position der Vaterlandsverteidigung war. So schrieb die Prawda unter der damaligen redaktionellen Leitung von Kamenew und Stalin am 15. März 1917:

„Wenn eine Armee der anderen gegenübersteht, wäre die unvernünftigste Politik die, der einen Armee vorzuschlagen, die Waffen niederzulegen und nach Haus zu gehen. Eine solche Politik wäre nicht eine Politik des Friedens, sondern eine Politik der Knechtschaft, die ein freies Volk mit Entrüstung ablehnen würde. Ein freies Volk würde auf dem Posten ausharren, würde auf jede Kugel mit einer Kugel, auf jedes Geschoß mit einem Geschoß antworten. Das ist außer Frage. Wir dürfen keinerlei Desorganisation der militärischen Kräfte der Revolution zulassen (3).“

Nach jahrelanger zaristischer Knechtschaft schien die Revolution im Februar und damit der Sturz der Zarenherrschaft ein ungeheuerlicher demokratischer Fortschritt zu sein. Doch trotz ihrer demokratischen Errungenschaften war dies lediglich eine Revolution, die das Zarenregime abgelöst und die, schon in den Jahren zuvor erstarkte russische Bourgeoisie an die Herrschaft gebracht hat.

Die Vaterlandsverteidigung war deshalb nicht die Verteidigung der Demokratie an sich oder der Revolution an sich, sondern die Verteidigung der neu gewonnen politischen Herrschaft der kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie. Lenin, der sich zu dieser Zeit noch im Exil in der Schweiz befand, wetterte in seinen Briefen aus der Ferne gegen diese Position und stellte ihr eine konsequent proletarische Position der Klasseninteressen gegenüber. So war es der Partei durch den Einfluss Lenins möglich, ihre falsche Position auf der April-Konferenz noch zu korrigieren. Die Konferenz verabschiedete eine Resolution über die Stellung zur provisorischen Regierung, in der sie die provisorische Regierung wie folgt charakterisiert:

„1. daß die provisorische Regierung ihrem Klassencharakter nach ein Organ der Herrschaft der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie ist; 2. daß diese Regierung und die durch sie vertretenen Klassen ökonomisch und politisch untrennbar mit dem russischen und dem englisch-französischen Imperialismus verbunden sind; 3. daß diese Regierung selbst das von ihr verkündete Programm nur unvollständig und nur unter dem Druck des revolutionären Proletariats und teilweise des Kleinbürgertums verwirklicht (4)“.

Nur durch die Korrektur dieses Fehlers konnten die Bolschewiki die wahrlich historische Rolle spielen, von dessen Resultat die internationale Arbeiterbewegung auch 90 Jahre danach profitiert.

Die Dynamik der Revolution – Angriff oder Rückzug?

Die Bedeutung der revolutionären Partei zeigt sich nicht nur im Vorwärtsdrang der Revolution, sondern auch darin, in bestimmten Situationen den Rückzug zu organisieren.

Versteht man unter einer Revolution den Prozess, der ausgehend von einer Gesellschaft, in der einige wenige Kapitalisten die politische, ökonomische, militärische, etc. Macht in Händen halten, in einer Gesellschaft gipfelt, in der die Mehrheit der Gesellschaft – die Arbeiterklasse – die Macht in Händen hält, so ist es klar, dass dies ein Prozess der vollständigen Zerstörung und umfassenden Erneuerung ist. Zu glauben, dass dieses Umdrehen der Gesellschaft von ihrem Kopf auf die Füße einen geordneten, linearen Verlauf hätte, ist genauso illusorisch als würde man annehmen, dass bei jedem Schneegestöber die Flocken an der selben Stelle landen würden. In Wirklichkeit kann eine Revolution keinen linearen Verlauf haben, da die Klassengegensätze in einer revolutionären Situation am deutlichsten zum Ausdruck kommen und sich die Klassenherrschaft soweit verschiebt, dass am Ende die herrschende Klasse politisch entmachtet  ist und die Arbeiterklasse die politische Macht in der Gesellschaft inne hat.

Diese außergewöhnliche Situation ist es, die breite Schichten der Arbeiterklasse in den Bann der Revolution zieht, Teile der Kleinbourgeoisie auf die Seite der Revolution ziehen kann und andere wiederum auf die Seite der Reaktion stößt. Diese permanente Verschiebung der Kräfteverhältnisse der Klassen macht eine lineare Entwicklung einer revolutionären Situation geradezu unmöglich. Auch dies konnten wir in der Periode zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution 1917 in Russland beobachten. Die Flexibilität einer Partei, d.h. eine richtige Einschätzung, in welcher Situation man angreifen oder sich zurückziehen soll, ist eine unbedingte Voraussetzung möchte man das Proletariat in dieser Schlacht der Klassen mit den geringsten Verlusten trotzdem zum langfristigen Sieg führen.

Lenin und die Bolschewiki haben diese Flexibilität besessen. Sowohl in langfristig historischer Betrachtung der Entwicklung der Bolschewiki als auch zwischen Februar und Oktober 1917 hat die Partei keine schematischen Fehler gemacht, die von großer Bedeutung wären (auch wenn einige Bolschewiki durchaus eine Neigung hatten, alte Formeln zu wiederholen ohne sie in ihren historischen Kontext zu stellen, wie Lenin auch öfters aufgezeigt hat).

Die Bolschewiki konnten als Partei des russischen Proletariats die Massen hinter sich führen, weil ihre ganze Entwicklung sie sowohl auf der Ebene der ideologischen Auseinandersetzung als auch auf der Ebene der praktischen Erfahrung gestärkt hat und sie gelernt haben sowohl anzugreifen als auch sich zurückzuziehen. So charakterisiert Lenin in seinem Buch „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ die einzelnen Perioden in der Entwicklung der Partei. Über die Periode 1907-1910 schreibt er:

„Revolutionäre Parteien müssen stets zulernen. Sie haben gelernt, anzugreifen. Jetzt gilt es zu begreifen, daß diese Wissenschaft ergänzt werden muß durch die Wissenschaft, wie man sich richtig zurückzieht. Es gilt zu begreifen – und die revolutionäre Klasse lernt aus eigener bitterer Erfahrung begreifen -, daß man nicht siegen kann, wenn man nicht gelernt hat, richtig anzugreifen und sich richtig zurückzuziehen. Von allen geschlagenen oppositionellen und revolutionären Parteien haben sich die Bolschewiki in größter Ordnung zurückgezogen, mit geringsten Verlusten für ihre „Armee“, bei größter Erhaltung ihres Kerns, unter geringsten Spaltungen (ihrer Tiefe und Unheilbarkeit nach), geringster Demoralisation und größter Fähigkeit, die Arbeit möglichst umfassend, richtig und energisch wiederaufzunehmen (5).“

Der Kampf für eine neue Partei und Internationale

Lenin und den Bolschewiki war klar, dass eine nationale Beschränkung der Revolution ihr letztendlich den Todesstoß versetzen würde. Schon in seinen Aprilthesen argumentierte Lenin für den Aufbau einer neuen – der dritten – Internationale. Das Ausbleiben der Ausweitung der Revolution auf andere Länder war schlussendlich der Grund, warum die russische Revolution degenerierte und zu einem degenerierten Arbeiterstaat, d.h. einem Staat der zwar noch eine geplante Wirtschaft besitzt, jedoch von einer kleinen Kaste an Bürokraten kontrolliert wird, verkam.

Wir müssen für heute die Schlussfolgerung ziehen, dass alle Kämpfe unbedingt unter dem Banner des Internationalismus geführt werden müssen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung und neoliberaler Angriffe auf einer internationalen Ebene ist es notwendig Kämpfe in verschiedenen Ländern zu koordinieren und ihnen somit eine größere Schlagkraft zu verleihen. Doch die Organisation, welche diese Aufgabe erfüllen könnte, existiert heute nicht. Um die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu vereinen, gilt es deshalb eine solche Organisation aufzubauen. Deshalb kämpfen wir nicht nur in einzelnen Ländern für die Schaffung von revolutionären Parteien, sondern koordinieren diese Kämpfe auf einer internationalen Ebene mit einem Ziel: Der Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revoultion, der Fünften Internationale, die national und international für die Niederwerfung des Kapitalismus kämpft.

Die Notwendigkeit des Marxismus als revolutionäre Methode

Die Lehren der russischen Revolution können offensichlich nicht nutzbar gemacht werden ohne ein theoretisches Studium ihrer Triebkräfte, der revolutionären Strategie und Taktik. Das ist letztlich jedoch unmöglich ohne die marxistische Methode.

Der Marxismus ist hierbei nicht eine Theorie von vielen, sondern die einzig wirklich revolutionäre Theorie, welche die objektiven Interessen des Proletariats ausdrückt. Alle bürgerlichen Ideologen, die versuchen den Marxismus seines revolutionären Gehalts zu berauben, bekommen am Ende dieses Prozesses einen zutiefst verstümmelten Marxismus, der in Wirklichkeit kein Marxismus mehr ist.

Denn die Begründer des Marxismus – Karl Marx und Friedrich Engels – blieben als Revolutionäre nicht dabei die Welt zu erklären, sondern wollten sie aktiv verändern. Dies ist in allen Bereichen des Marxismus offensichtlich.

In der materialistischen Geschichtsauffassung blieben sie nicht dabei zu erklären, dass die Entwicklung der Produktivkräfte den Gang der Geschichte bestimmt, sondern zogen auch die Schlussfolgerung, dass diese Entwicklung unbedingt die Fesseln des Kapitalismus sprengen müsse. In der Philosophie blieben sie nicht dabei die Welt zu erklären, sondern begriffen die aktive Selbstveränderung der Welt durch das Proletariat als immanenten Bestandteil der Philosophie. Deshalb ist und bleibt der Marxismus die einzig revolutionäre Methode.

Denn schon Lenin erkannte:

„die Frage [kann] nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine ‚dritte‘ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie (6).“

Anders als die bürgerliche Sozialwissenschaft lehnt der Marxismus die starre, schematische Trennung von Methode und Gegenstand ab. Die Dialektik, der historische Materialismus müssen sich am konkreten Gegenstand bewehren. So unerlässlich daher Kenntnis und Studium der Methode, so wenig ersetzt es die konkrete Analyse der konkreten Situation, die Kenntnis und Analyse des Gegenstandes selbst. Der Leninismus zeigte im Gegensatz zu seinen stalinistischen „Nachfolgern“ gerade darin seine Stärke, dass er in der Lage war, sowohl an den Grundsätzen des Marxismus festzuhalten als auch mit „tradierten Formeln“ zu brechen.

„Lenin gibt eine erbarmungslose Lektion denjenigen ‚alten Bolschewisten‘, welche mehr als einmal, sagt er, ‚in der Geschichte unserer Partei die traurige Rolle gespielt haben, mechanisch sinnlose und erlernte Phrasen zu wiederholen, statt die Eigenartigkeit der neuen, lebendigen Wirklichkeit zu studieren.‘ ‚Nicht den alten Formeln, sondern der neuen Wirklichkeit muß man sich anpassen.'(7)“

Gegen diese Gefahr helfen weder Praktizismus noch Pragmatismus, sondern nur das Studium des Marxismus, der Geschichte und Kämpfe der revolutionären Arbeiterbewegung – eine zentrale Aufgabe jedes Revolutionärs, jeder Revolutionärin.

Fussnoten

(1) W.I. Lenin: Briefe aus der Ferne (Brief 2), in: LW, Bd. 23, S. 330, a.a.O

(2) Leo Trotzki: Mein Leben, S. 164 Dietz Verlag, Berlin, 1990

(3) Zitiert aus: Leo Trotzki: Die Lehren des Oktobers

(4) Resolution über die Stellung zur provisorischen Regierung, in: LW, Bd. 24, S. 140, a.a.O.

(5) W.I. Lenin: Der „linke Radikalismus,“ die Kinderkrankheit des Kommunismus, LW, Bd. 31, S. 12, a.a.O.

(6) W.I. Lenin: Was tun?, in: Lenin: Gesammelte Werke (nachstehend LW), Bd. 5, S. 395f., Dietz Verlag Berlin, 1973

(7) Leo Trotzki: Die Lehren des Oktober




Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen, und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, …“ (1)

Die bürgerlichen Revolutionen bedurften dieser Selbsttäuschung, dieser „Betäubung“ über den Inhalt der Revolution, ihren eigentlichen Zweck, gerade weil sich die Revolution des Bürgertums als Befreiungsakt aller Menschen, aller BürgerInnen proklamierte. Nur so konnte sie die Volksmassen gegen die alte Ordnung mobilisieren, nur so konnten die entschiedenen Teile des Bürgertums die Hindernisse für eine neue Gesellschaft zerstören. Sie verfolgten damit ihren eigenen bornierten Zweck: die Etablierung einer neuen herrschenden Minderheit über die Gesellschaft.

Daher wendet sich jede bürgerliche Revolution nicht nur an einem bestimmten Punkt gegen ihre radikalsten VerfechterInnen. Ein Mangel an Bewusstheit, die ideologische Verschleierung des grundlegenden Charakters der bürgerlichen Revolution, also ihres Klassencharakters, ist für sie ein Wesensmerkmal, dessen Nutzen für die Bourgeoisie und ihre ParteigängerInnen ebenso leicht verständlich ist wie die Problematik, die sich daraus für die Massen ergibt, die die Revolution vorangetrieben haben, die selbst die großen Parolen der bürgerlichen Umwälzung – egalité, liberté, fraternité (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) – ernster genommen haben als das zur Herrschaft kommende Bürgertum.

Hinzu kommt, dass  die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse schon im untergehenden Feudalismus – insbesondere im Absolutismus – mehr und mehr die feudale Produktionsweise zersetzten, an den Rand drängten, noch unter der alten Ordnung ein ökonomisches Übergewicht erlangten. Die bürgerliche Revolution setzt nur die Hindernisse für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise frei, die politische und soziale Machtergreifung durch die Bourgeoisie vollzieht gewissermaßen den ökonomischen Prozess nach, etabliert die dieser Entwicklung angemessenen politischen Formen. Daher kann auch die monarchische Konterrevolution diese Prozesse nicht mehr umkehren, der Bonapartismus eines Louis Napoleon, sein Kaiserreich, ist eine bürgerliche, keine feudale Herrschaftsform.

Anders die proletarische Revolution. Die ArbeiterInnenklasse kann keine eigene Produktionsweise im Rahmen des Kapitalismus herausbilden. Sie treibt nur den Widerspruch zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und deren privater Aneignung mehr und mehr auf die Spitze. Um eine neue Produktionsweise zu errichten, muss die ArbeiterInnenklasse zuerst die Staatsmacht erobern, um so die Gesellschaft auf neuer Grundlage überhaupt reorganisieren zu können.

Daher spielt die Bewusstheit in der proletarischen Revolution nicht nur eine größere, sondern vor allem eine qualitativ andere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (2)

Um diese Aufgabe zu bewältigen, um den „Inhalt über die Phrase“ zu stellen, braucht die ArbeiterInnenklasse auch eine Organisation, eine politische Partei, die diesen Inhalt theoretisch und praktisch verkörpert, weiterentwickelt, an  die neue Situation anpasst.

Ohne eine solche Partei, ohne eine Organisation, die in der Lage war, aus den vergangenen Klassenkämpfen, aus dem Arsenal eines wissenschaftlichen Verständnisses des Kapitalismus sowie der aktuellen weltgeschichtlichen Epoche zu lernen und die politischen Konsequenzen zu ziehen, wäre auch die Russische Revolution 1917 auf halbem Wege stecken geblieben. Sie hätte nicht zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse geführt und wäre auch nicht zum Fanal für eine ganze Periode bis 1923 geworden, die die proletarische Weltrevolution als geschichtliche Aufgabe gestellt hat. Sie wäre nicht zum Fanal für eine ganze Epoche geworden, die uns vor die Alternative „Sozialismus oder „Barbarei“ gestellt hat, von einer Epoche, die sich auch heute  krisenhaft im Kampf um die Neuaufteilung der Welt wieder geltend macht.

Wenn wir von der Aktualität der Russischen Revolution sprechen, so nicht im trivialen Sinne einer einfachen Wiederholung, die ohnedies niemandem vorschwebt, sondern vielmehr im Sinne des politischen und programmatischen Erbes des Bolschewismus.

Wenn Marx davon spricht, dass „die Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“ laste, so trifft das nicht nur die bürgerlichen Revolutionen, sondern auch die bürgerliche Epoche selbst. Auch auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse lastet dieser Alp und selbst auf jenen, die sich der Überwindung dieser Gesellschaft verschrieben haben.

Die Bolschewiki (und ihr opportunistisches und letztlich konterrevolutionäres Gegenstück, die Menschewiki) entwickelten sich selbst aus einer zur „Tradition“ gewordenen Interpretation des Marxismus, aus einer „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale, die am Beginn des 19. Jahrhunderts und selbst am Beginn der Russischen Revolution 1917 ihr politisches Verständnis und Handeln prägte.

In diesem Artikel werden wir uns daher mit der Entwicklung des Bolschewismus selbst, seinem Verständnis der Triebkräfte der Russischen Revolution sowie dem Bruch mit der Zweiten Internationale beschäftigen, die auch die Notwendigkeit einer „Erneuerung des Marxismus“ selbst am Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichen.

Wir wollen sodann die Entwicklung des Bolschewismus in der Oktoberrevolution, seine programmatische Umbewaffnung und Erneuerung, seine inneren Konflikte um die strategische und taktische Ausrichtung betrachten. Dabei geht es uns nicht um eine weitere „Geschichte der Russischen Revolution“, sondern darum, die Entwicklung des Programms nachzuvollziehen, dessen bleibende Errungenschaften zu beachten.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Revolution von 1905 markiert einen zentralen Referenzpunkt in der Geschichte nicht nur der russischen sozialistischen Bewegung. Die Frage der Machtergreifung des Proletariats trat erstmals seit Jahrzehnten als praktische Aufgabe zutage. Schon vor der Revolution hatten sich Bolschewismus und Menschewismus als organisierte Strömungen getrennt, aber die politischen Differenzen standen noch am Beginn ihrer Entwicklung.

Lenin charakterisierte in dieser Periode gelegentlich den Menschewismus als „Opportunismus in organisatorischen Fragen“. Diese Formulierung verdeutlicht, dass sich alle Fraktionen noch immer als Bestandteil einer sozialdemokratischen Bewegung betrachteten. Eine Wiedervereinigung wurde keineswegs kategorisch ausgeschlossen, sondern vielmehr immer wieder angestrebt. Beiden Strömungen waren damals die politisch-taktischen und programmatischen Implikationen ihrer organisatorischen Differenzen noch nicht in all ihren Konsequenzen bewusst, ja, diese hatten sich selbst noch nicht voll entfaltet. Der Kampf der Iskra-Gruppe und das offene Hervortreten des Bolschewismus 1903 nahmen zwar, wenn auch nicht bewusst, den Bruch mit der Parteiform der Zweiten Internationale vorweg. Das betrifft nicht nur die politischen Implikationen des Charakters der Partei, die Lenin vorschwebten, sondern auch ein grundlegend anderes Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Programm, Strategie, Taktik, organisatorischen Konsequenzen.

Heute erscheint Lenins These, dass „Klassenbewusstsein von außen“ in die Klasse getragen werden müsse, nicht nur den ReformistInnen, sondern auch den ZentristInnen aller Couleur als Affront, als Form des Substitutionalismus. Interessanterweise machen sich die Kritiken an Lenin 1903 kaum an dieser Formulierung fest, gerade weil es sich dabei um eine These handelte, die Teil der marxistischen Orthodoxie war.

Auch wenn die Formulierung von Kautsky stammte, so gab ihr Lenin einen anderen Sinn, weil er sie in den Kontext einer anderen, zuerst „nur“ für Russland angelegten Parteikonzeption stellte – nämlich in den Kontext einer disziplinierten Kampfpartei, einer Partei von Kadern, für die die revolutionäre Aktivität den Mittelpunkt ihres Lebens bildete.

Die Kautsky’sche Vorstellung vom „Hineintragen“ hingegen war in eine schon etablierte Arbeitsteilung innerhalb der deutschen und internationalen Sozialdemokratie eingepasst. Die Partei hatte schon lange eine Struktur entwickelt, in der die Theoretiker theoretisierten, die Gewerkschafter ihre routinemäßigen Kämpfe um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft führten, die PolitikerInnen, PropagandistInnen wie AgitatorInnen vor allem Wahlkämpfe organisierten. Der Fortschritt der Partei drückte sich durch Wachstum der Organisation und Stimmenanteile bei Wahlen plus Schulung aus.

Diese Partei wurde vom Kaiserreich stigmatisiert und beharrte auf ihrer marxistischen „Orthodoxie“, andererseits verrichtete sie aber jahrein, jahraus innerhalb eines halb-bonapartistischen Systems ihre gradualistische Oppositions- und Sammlungsarbeit. Jahrzehnte der evolutionären Entwicklung nach Aufhebung der Sozialistengesetze hatten die deutsche Sozialdemokratie geprägt. Ihre innere Struktur entsprach einer Partei, für die ihr Endziel, die sozialistische Revolution, und auch die Unabhängigkeit von allen Parteien des Bürgertums einerseits identitätsstiftend waren, andererseits aber zunehmend eine formale Hülle der Tagespraxis, für die die soziale Revolution keine unmittelbare Bedeutung hatte.

Programmatisch war diese Kombination von Organisationsarbeit, gewerkschaftlichen und politischen „Positionskämpfen“ kodifiziert in der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm.

Im Erfurter Programm, dem „Modell“ marxistischer Programme in der Zweiten Internationale, war diese exemplarisch ausgeführt. Mit dieser Vorstellung entwickelte sich auch die von einer langen Periode hin zur sozialistischen Revolution.

Diese gradualistische Methode reflektierte selbst die Entwicklung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern dieser Zeit, das Wachstum der Industrie und die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie sowie den Übergang zu einer imperialistischen Weltordnung, die aber erst mit dem Ersten Weltkrieg alle politischen Implikationen dieser Entwicklung offenlegen sollte. Um die Jahrhundertwende kündigten sich im Ministerialismus der französischen Partei und im Revisionismusstreit die Unhaltbarkeit dieser Kombination von „marxistischer Orthodoxie“ und aufklärerischer, parlamentarischer und gewerkschaftlicher, im Kern reformistischer, „Tagespolitik“ an.

Dass diese Form der legalen Parteiarbeit und Arbeitsteilung  für Russland nicht möglich war, begünstigte sicher die Entwicklung des Bolschewismus, ließ ihn aber andererseits auch als Sonderentwicklung vor dem Hintergrund der politischen Rückständigkeit Russlands erscheinen, so dass der politische Kampf in der russischen Sozialdemokratie in seiner internationalen, beispielhaften Bedeutung unterschätzt wurde.

Haltung zum liberalen Bürgertum

Für die Entwicklung der politischen Parteien fast noch wichtiger war die zur „Orthodoxie“ verkehrte Vorstellung, dass die sozialistische Revolution einen Reifegrad der Produktivkräfte im nationalen Rahmen voraussetze, die sie deshalb nur in den westlichen Ländern auf die „Tagesordnung“ setze: Länder wie Russland wären überhaupt noch nicht „reif“ für eine sozialistische Umwälzung. Zuerst stünde eine bürgerliche Revolution an, die Beseitigung des Zarismus und Feudalismus. Diese Umwälzung müsse nicht nur die Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus beseitigen, sondern folgerichtig zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie führen. Die Aufgabe des Proletariats habe darin zu bestehen, sich einerseits aktiv an der Revolution gegen die Selbstherrschaft zu beteiligen, andererseits die Interessen des Proletariats zu wahren, indem sich die Partei von der Regierung fernhält und die Position der „entschiedenen Opposition“ einnimmt.

Der Menschewismus reklamierte, anders als die Ökonomisten und erst recht als die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie, für sich, auf dem Boden des „orthodoxen Marxismus“ der Zweiten Internationale zu argumentieren, und warf seinerseits anderen Strömungen vor, in den Blanquismus und Voluntarismus zu verfallen und die „Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“ zu missachten.

Mit dem russisch-japanischen Krieg 1904 und der ersten russischen Revolution 1905 traten jedoch die Differenzen zwischen Menschewismus und Bolschewismus deutlicher hervor, auch wenn beide vom bürgerlichen Charakter der Revolution ausgingen.

Beide Fraktionen der russischen Sozialdemokratie waren 1904 gegen den Krieg gegen Japan, wie auch ein großer Teil des Bürgertums dieses Abenteuer ablehnte. In der Haltung zum Krieg traten allerdings schon erste wichtige Differenzen zum Vorschein. Der Menschewismus wollte eine pazifistische Opposition zum Krieg, der Bolschewismus trat für die Niederlage des Zarismus ein, weil das die Unzufriedenheit im Land fördern und die Revolution vorantreiben würde. Sinowjew stellt das in seiner Geschichte der KPDSU (B) folgendermaßen dar:

„Die Menschewiki betonten hauptsächlich seinen dynastischen Charakter und erklärten ihn ausschließlich aus dem Bestreben des Hauses Romanow, den Thron dadurch zu festigen, daß sie die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Ereignissen auf die äußeren abzulenken versuchten. Bis zu einem gewissen Grad war das natürlich richtig. (…) Aber durch das dynastische Moment wurde die Sache nicht erschöpft. Neben dem dynastischen Moment haben in diesem Krieg zweifellos auch rein imperialistische, annexionistische Bestrebungen, der Wunsch, neue Märkte zu erobern usw., eine bedeutende Rolle gespielt. Viele Parteikomitees, die in Rußland tätig waren, betonten gerade diesen Charakter des russisch-japanischen Krieges, aber die Menschewiki bekämpften diesen Gesichtspunkt (…) Und wenn man sich jetzt in die Evolution des Menschewismus hineinversetzt, so muß man sagen, daß schon in dieser Analyse der Ursachen des russisch-japanischen Krieges ein Anzeichen für ihr künftiges politisches Denken enthalten war.“ (3)

Die Unterschiede zwischen Bolschewismus und Menschewismus wurden 1904 vor allem hinsichtlich der Haltung zur liberalen Bourgeoisie deutlich.

Ende 1904 wuchs nicht nur die politische Empörung und Gärung im Land, die Liberalen forderten eine Einschränkung der Herrschaft des Zaren. Auf Banketten und lokalen „Semstwo“-Versammlungen (Volksversammlungen) wurden relativ radikale Reden geschwungen, Petitionen verabschiedet und Forderungen erhoben bis hin zu der nach einer Verfassunggebenden Versammlung. Auf den Vorschlag menschewistischer FührerInnen hin rief die Partei dazu auf, auch außerhalb der liberalen Bankette für breite demokratische Freiheiten und eine Verfassunggebende Versammlung zu demonstrieren. Dagegen hatten die Bolschewiki keine Einwände, wohl aber gegen die Position der Menschewiki, den Liberalen politische Zugeständnisse zu machen, um sie dabei „nicht zu verschrecken“. So heißt es in einem Brief menschewistischer Führer an die Parteiorganisationen vom November 1904:

„Im Rahmen des Kampfes gegen die Selbstherrschaft aber sollte besonders in der jetzigen Phase unsere Haltung gegenüber der liberalen Bourgeoisie darin bestehen, sie generell zu ermutigen und sie zur Unterstützung des von der sozialdemokratischen Bewegung geführten Proletariats zu bewegen.“ (4)

Um zu verhindern, dass große ArbeiterInnendemonstrationen die liberalen und halb-liberalen BürgerInnen einschüchtern, müssten Vorsichtsmaßnahmen durch die Parteiführung getroffen werden: „Um ein solches Fiasko zu vermeiden, muß die Vollzugskommission die liberalen Abgeordneten rechtzeitig über die bevorstehende Kundgebung und ihre wahren Ziele verständigen. Außerdem muss sie versuchen, eine Art Abkommen mit den Vertretern des linken Flügels der bürgerlichen Opposition zu treffen und sich, wenn nicht ihre aktive Unterstützung, so doch wenigstens ihre Sympathie für die politische Aktion zu sichern.“ (5)

Diese servile Haltung gegenüber dem liberalen Bürgertum unterzieht Lenin einer scharfen Kritik. Er kritisiert an den Menschewiki, dass sie der politischen Feigheit der bürgerlichen Kräfte in die Hände spielten, die letztlich nur auf einen Kompromiss mit dem Zaren und der Bürokratie hinarbeiten, um so eine revolutionäre Zuspitzung zu verhindern. Die Bolschewiki lehnten eine Zusammenarbeit und Bündnisse mit liberalen, bürgerlich-demokratischen Kräften gegen den Zarismus keineswegs ab. Aber sie lehnten es ab, das demokratische Programm selbst für ein solches Bündnis abzuschwächen, den Bedürfnissen einer bürgerlichen „Opposition“ anzupassen, die keinen konsequenten Kampf gegen den Zarismus führen wollte. Kurz gesagt, die Menschewiki ließen die ArbeiterInnen über den Charakter des russischen Bürgertums im Unklaren, das historisch schon nicht mehr fähig und willens für einen konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution war. Dies, so Lenin, sei umso fataler, als sich die politische Lage zu einer Konfrontation mit dem Zarismus, zu einer allgemeinen politischen Krise zuspitzte. Der Fokus durfte daher keinesfalls auf ein Bündnis mit Liberalen gelegt werden, die nicht verschreckt werden sollten, sondern auf die Entfachung einer Massenbewegung gegen den Zarismus.

„Die mit gütiger Erlaubnis der Polizei eröffnete Semstwokampagne, die sanften Reden Swjatopolk-Mirskis und der offiziösen Regierungsblätter, die starken Töne der liberalen Presse, die Belebung der sogenannten gebildeten Gesellschaft – all dies stellt die Arbeiterpartei vor die ernstesten Aufgaben. Diese Aufgaben werden jedoch in dem Brief der ‚Iskra‘-Redaktion völlig verkehrt formuliert. Gerade im gegenwärtigen Augenblick muß im zentralen Brennpunkt der politischen Tätigkeit des Proletariats die Organisation einer nachdrücklichen Einwirkung auf die Regierung und nicht auf die liberale Opposition stehen. Gerade jetzt sind Abkommen zwischen den Arbeitern und den Semstwoleuten über eine friedliche Kundgebung – Abkommen, die sich unvermeidlich in bloße possenhafte Effekthascherei verwandeln würden – weniger denn je angebracht, ist der Zusammenschluß der fortgeschrittenen Elemente des revolutionären Proletariats zur Vorbereitung des Entscheidungskampfes um die Freiheit mehr denn je vonnöten. Gerade jetzt, wo unsere konstitutionelle Bewegung die unausrottbaren Sünden jedes bürgerlichen und insbesondere des russischen Liberalismus – das Überwuchern der Phrase, den Mißbrauch des Wortes, das mit der Tat nicht übereinstimmt, das rein philiströse Vertrauen zur Regierung und zu jedem Helden der Fuchspolitik – kraß zu offenbaren beginnt, gerade jetzt sind die Redensarten über die Unerwünschtheit einer Einschüchterung der Herren Semstwoleute, über den Hebel für die Reaktion usw. usf. besonders taktlos. Gerade jetzt ist es am allerwichtigsten, im revolutionären Proletariat die unerschütterliche Überzeugung zu festigen, dass auch die gegenwärtige ‚Befreiungsbewegung in der Gesellschaft‘ sich ebenso wie die früheren unvermeidlich und unweigerlich als Seifenblase erweisen wird, wenn nicht die Macht der Arbeitermassen eingreift, die fähig und bereit sind zum Aufstand.“ (6)

1905

Die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus sollten sich in der Revolution 1905 phasenweise noch deutlicher darstellen. Die erste Russische Revolution zeichnete sich schon 1904 ab, aber wie viele Erhebungen der Massen entzündete sie sich an einem „zufälligen“, alltäglichen Ereignis, dem berühmten Funken, der alles in Brand setzte.

Dieser Funke ging nicht von den SozialdemokratInnen aus, sondern von einer dubiosen Organisation, die auf Initiative des Polizeichefs Subatow zurückging, der die Etablierung prozaristischer Gewerkschaften vorantrieb und der Versammlung der russischen Fabrik- und MühlenarbeiterInnen St. Petersburgs, geführt von dem orthodoxen Priester Vater Georgi Gapon. In der ersten Woche des Jahres 1905 erschütterte ein Streik St. Petersburg. Im Dezember war vier ArbeiterInnen (alle Mitglieder der Organisation Gapons) des Putilow-Waffen- und Schiffsbaubetriebes, einer der wichtigsten Fabriken St. Petersburgs, gekündigt worden. In Gapons Abwesenheit erhoben sich 600 ArbeiterInnen eines Treffens und stimmten für Streik. Er breitete sich schnell aus. Am 4. Januar kam Unterstützung durch andere ArbeiterInnen. Am nächsten Tag folgten die Stieglitz-Fabrik und die Newski-Werft. Am 7. Januar hatten 382 Fabriken und Büros ihre Arbeit niedergelegt – 100.000 ArbeiterInnen, zwei Drittel des St. Petersburger Proletariats, standen im Streik.

Die Revolution brach schließlich mit dem „blutigen Sonntag“ am 9. Januar aus. Eine riesige Demonstration zog durch die Straßen von St. Petersburg. Als die Spitze des Marsches den Palasteingang erreichte, feuerten die Soldaten in die Menge, Hunderte (nach manchen Schätzungen gar 1000) Menschen starben. Als nahezu zeitgleich zwei von Gapons Leibwächtern starben, prägte der Priester den berühmten Ausspruch: „Es gibt keinen Gott mehr! Es gibt keinen Zaren!“.

In der Folge entwickelte sich eine gewaltige Welle des Klassenkampfes, die Revolution weitete sich aus, ergriff die Massen in Stadt und Land. Das Jahr 1905 verzeichnete erfolgreiche Generalstreiks, Bauernaufstände und Landbesetzungen, Studentenrebellionen, nationale Befreiungskämpfe, Meutereien in Armee und Marine, die Entstehung hunderter neuer Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, die Etablierung von demokratischen Arbeiterkomitees und das Zusammentreten von Arbeiterräten („Sowjets“). Die SDAPR wurde von einer Propagandagruppe zu einer wirklichen Partei des Proletariats.

Der Zar war gezwungen, Zugeständnisse zu machen, und versprach die Einführung von Grundrechten und die Einberufung einer Duma (eines Parlaments). In Wirklichkeit waren das nur Mittel, um Zeit zu gewinnen und die Niederschlagung der Revolution vorzubereiten, die im Dezember mit dem Moskauer Aufstand ihren Höhepunkt erreichte, in dem die Bolschewiki die Führung innehatten. Dieser wurde von der Armee blutig zerschlagen, was zur Konsolidierung der Konterrevolution im Jahr 1906 führte. Zu den Ursachen der Niederlage gehörte sicherlich, dass die internationale Lage weniger zugespitzt war, aber auch, dass die Unzufriedenheit der Bauern geringer und die Zersetzung der Armee weniger fortgeschritten waren als 1917. So konnte die Regierung das Heer wieder einsatzfähig machen und gegen die Revolution nutzen und das Dorf leichter niederhalten, um so schließlich die ArbeiterInnen in den Städten zu besiegen.

Die dramatischen Ereignisse von 1905 waren vor allem aber das historische Vorspiel zur siegreichen sozialistischen Revolution von 1917.

Konzeption der Menschewiki

1905 wurden auch die strategischen, grundlegenden Konzeptionen einer russischen Revolution deutlich. Die Menschewiki gingen dabei vom vorherrschenden Verständnis der Zweiten Internationale aus.

„In den kapitalistisch entwickelten Ländern des Westens hat die Sozialdemokratie mit einer vollausgebildeten, mit einer reifen bürgerlichen Gesellschaft zu tun, in der das Proletariat und die Bourgeoisie einander unmittelbar Auge in Auge einander gegenüberstehen als unversöhnliche feindliche Kräfte; hier ist die Bourgeoisie konservativ und kämpft für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung; das Proletariat ist revolutionär und bestrebt, die Ordnung zu stürzen. In diesen Ländern werden die revolutionären und proletarischen Elemente von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer sozialistischen Revolution vorwärts gedrängt. (…)

Die geschichtliche Situation der Partei Rußlands dagegen wird gekennzeichnet durch gerade entgegengesetzte Tendenzen; diese Situation stellte unserer Partei als hauptsächliche unmittelbare Aufgabe, das Proletariat zu organisieren, nicht um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, sondern umgekehrt: um mit der Wurzel jene politisch-soziale Ordnung zu zerstören, die der vollen Herrschaft der Bourgeoisie im Wege steht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands sind noch nicht weitergelangt als bis zur Reife für eine bürgerliche Revolution, …“ (7)

Daher wäre ein unmittelbarer Kampf um die politische Macht für das Proletariat, den Menschewiki zufolge, aufgrund der Unreife des Klassengegensatzes  zwischen Kapital und Arbeit ausgeschlossen:

„Bei uns ist ein derartiger Kampf vorläufig ausgeschlossen durch den gesamten Konplex der historischen Bedingungen, die den Inhalt und die unmittelbaren Aufgaben unserer revolutionären Bewegung bestimmten, die nach einem Ausdruck von Marx die Bourgeoisie und das Proletariat durch das ‚gemeinsame Interessen‘ aneinanderschmieden, durch das gemeinsame Bedürfnis, sich vom gemeinsamen Feind zu befreien.“ (8)

Für die Revolution 1905 ergab sich daher zwingend die Schlussfolgerung, dass die politische Macht in der Revolution an die Bourgeoisie übergehen müsse und die ArbeiterInnenklasse nur als „extreme revolutionäre Opposition“ agieren dürfe.

„Unter solchen Bedingungen muß die Sozialdemokratie danach streben, während des ganzen Verlaufs der Revolution für die Aufrechterhaltung einer Situation zu sorgen, die einem Fortschreiten der Revolution am zweckdienlichsten ist. Es muß eine Situation geschaffen werden, in der ihr die Hände im Kampf gegen die inkonsequente und eigennützige Politik der bürgerlichen Parteien nicht gebunden sind und in der sie gleichzeitig vor einem Überlaufen in das Lager der bürgerlichen Demokratie bewahrt bleibt.

Deshalb sollte es nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein, die Macht in einer Provisorischen Regierung zu erobern oder sie mit anderen zu teilen, sondern sie muß eine Partei der extremen revolutionären Opposition bleiben.“ (9)

Zwei Taktiken

Lenin polemisierte scharf gegen diese abwartende Haltung. In „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ greift er die mechanische Übertragung der Kritik am Bernsteinianismus und am Eintritt in eine parlamentarische Regierung auf die Regierungsfrage in einer Revolution an.

„Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grundsatz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oder Opportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürgerrecht als rechtmäßige und notwendige Zurückweisung des ‚parlamentarischen Kretinismus‘, des Millerandismus, des Bernsteinianertums und des italienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neuiskristen haben diesen guten Grundsatz auswendig gelernt und wenden ihn eifrig dort an, wo er … völlig unangebracht ist. Kategorien des parlamentarischen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhältnisse geschrieben sind, unter denen es gar kein Parlament gibt. Der Begriff der ‚Opposition‘, der Widerspiegelung und Ausdruck einer politischen Situation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganz sinnlos auf eine Situation übertragen, da der Aufstand begonnen hat und alle Anhänger der Revolution über die Leitung des Aufstandes nachdenken und sprechen.“ (10)

Wie die menschewistischen Autoren gehen auch Lenin und die Bolschewiki 1905 davon aus, dass in Russland eine demokratische, bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Aber Lenin grenzt sich scharf von der im Grunde a-historischen Charakterisierung der russischen Bourgeoisie bei Martow, Axelrod und anderen ab. Diese folgen im Grunde dem einfachen Schema, dass eine bürgerliche Revolution von der Bourgeoisie geführt werden und diese zur politischen Macht bringen müsse.

Ob die Bourgeoisie dazu noch in der Lage ist, ob sie ihre revolutionäre Rolle nicht schon ausgespielt hat, ob es nicht „tiefere“ Ursachen für deren Feigheit gibt, als dass sie von größeren ArbeiterInnendemonstrationen „verschreckt“ werden könnte – diese Fragen stellt sich der Menschewismus erst gar nicht.

Dabei hatten schon Marx und Engels nach der Niederlage der Revolution von 1848 herausgearbeitet, dass das Bürgertum mehr Angst vor den plebejischen Klassen und einer sich herausbildenden ArbeiterInnenklasse hatte als vor der Niederlage gegen die monarchische Konterrevolution. Sie hatte ihre weltgeschichtlich fortschrittliche Rolle ausgespielt, zumal und gerade weil die kapitalistische Produktionsweise schon so fest etabliert war, dass auch Änderungen der Regierungsform dieser nichts anhaben konnten. Der Staatsstreich und das Regime eines Louis Bonaparte perfektionierten den bürgerlichen Staatsapparat, auch wenn  sich Bonaparte zum Kaiser krönen ließ. In Deutschland vollzogen sich die Reichseinigung und die Expansion der Großindustrie unter der Kanzlerschaft Bismarcks – eine Form des Bonapartismus, der eine enge Zusammenarbeit von Großkapital und Großagrariern zugrunde lag.

All dies zeigt, dass – erst recht mit der imperialistischen Epoche – das Bürgertum aufgehört hatte, eine revolutionäre Klasse zu sein.

An diese historischen Erfahrungen knüpft Lenin an. Er tut dies nicht bloß in Form einer generellen Verallgemeinerung der internationalen Entwicklung des Bürgertums und seines Verhältnisses zur Aristokratie, er untersucht insbesondere, wie und warum die russische Entwicklung diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck bringt.

Die Agrarfrage ist eine, wenn nicht die  Schlüsselfrage der demokratischen Revolution. Wer den Zaren stürzen will, muss die feudalen und halb-feudalen Verhältnisse am Land beseitigen und die Macht der Großgrundbesitzer brechen. Von diesem Ziel hat sich das Bürgertum längst verabschiedet. Jene Teile des russischen Kapitals, die Eigentum ausländischen Finanzkapitals sind und die maßgeblich zum fieberhaften Ausbau großindustrieller Zentren beigetragen hatten, waren ohnedies immer eng mit der zaristischen Herrschaft und der Staatbürokratie verbunden, die ihnen die Rahmenbedingungen für ihren Erfolg lieferten.

Was die russische Bourgeoisie betraf, so fürchtete diese eine revolutionäre, demokratische Umgestaltung am Land. Sie wollte auf keinen Fall eine politische Konfrontation mit dem adeligen Großgrundbesitz, sondern den Kampf vermeiden und seine Konsequenzen abschwächen, selbst wenn  sich die Bourgeoisie wie in der aufsteigenden Phase der Revolution von 1905 verbal-revolutionär gab.

Gerade deshalb, so Lenin, dürfe die ArbeiterInnenklasse, dürfe die Sozialdemokratie der „Angst“, den Feigheiten der Bourgeoisie keine Zugeständnisse machen, denn deren „Abschwenken“, ihr „Verschrecktwerden“ von der bürgerlichen Revolution sei vielmehr unvermeidlich.

„Die Bourgeoisie wird in ihrer Masse unweigerlich zur Konterrevolution, zur Selbstherrschaft übergehen und sich gegen die Revolution, gegen das Volk kehren, sobald ihre engen eigennützigen Interessen befriedigt sein werden. (…) Es bleibt das ‚Volk‘, das heißt das Proletariat und die Bauernschaft: Allein das Proletariat ist fähig, konsequent bis zu Ende zu gehen, denn es geht weit über die demokratische Umwälzung hinaus. Deshalb eben kämpft das Proletariat in den vordersten Reihen für die Republik und weist mit Verachtung die törichten und seiner unwürdigen Ratschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Bourgeoisie möglicherweise abschwenkt. Die Bauernschaft umfaßt eine Masse halbproletarischer Elemente neben kleinbürgerlichen Elementen. Dieser Umstand macht auch die Bauernschaft unbeständig, so daß das Proletariat genötigt ist, sich zu einer streng klassenmäßigen Partei zusammenzuschließen. Aber die Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der Unbeständigkeit der Bourgeoisie grundverschieden, denn die Bauernschaft ist gegenwärtig nicht so sehr an dem unbedingten Schutz des Privateigentums als vielmehr an der Enteignung des Gutsbesitzerlandes, einer der Hauptformen des Privateigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne aufzuhören, kleinbürgerlich zu sein, ist die Bauernschaft fähig, zum völligen und radikalsten Anhänger der demokratischen Revolution zu werden, (…) Die Bauernschaft wird unter der erwähnten Bedingung unweigerlich zur Stütze der Revolution und der Republik werden, denn einzig die zum vollen Sieg gelangte Revolution wird der Bauernschaft auf dem Gebiet der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: alles das, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich für sie notwendig ist, (nicht um den Kapitalismus zu vernichten, wie sich das die ‚Sozialrevolutionäre‘ einbilden, sondern) um aus dem Schlamm der halben Leibeigenschaft, aus dem Dunkel der Geducktheit und der Knechtschaft emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbessern, wie das im Rahmen der Warenwirtschaft überhaupt zu erreichen ist.“ (11)

Da die Bourgeoisie die demokratische Revolution nicht zum Sieg führen kann und die ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft ein gemeinsames Interesse haben, die Revolution konsequent zu Ende zu führen, folgt daraus, dass sie ein Bündnis eingehen müssen. Dieses soll durch den Aufstand zu einer Provisorischen, revolutionären Regierung, zur „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ führen.

Die Haltung der Menschewiki, sich in der demokratischen Revolution auf die Rolle der „extremen Opposition“ zu beschränken, führt unweigerlich dazu, die Lösung der Machtfrage der Bourgeoisie zu überlassen. Nachdem diese jedoch die Revolution nicht zu Ende führen will oder kann, früher oder später „abschwenkt“, bedeutet dies auch, die Revolution selbst zu verraten, sie der zaristischen, gutsbesitzerlichen Konterrevolution oder, was letztlich ebenfalls darauf hinausläuft, einem Kompromiss zwischen Zarismus und Bourgeoisie auszuliefern.

Die Polemik Lenins gegen die mechanische Vorstellung einer russischen Revolution durch die Menschewiki offenbart viele grundlegende Stärken des Bolschewismus. Er weist überzeugend nach, dass die Politik der „extremen Opposition“ darauf hinausläuft, dass die ArbeiterInnenklasse eigentlich eine Nachtrabpolitik betreiben muss. Wer in der Revolution keine Machtperspektive hat, kann den Sieg nur anderen überlassen. Statt zu überlegen, wie die ArbeiterInnenklasse, geführt von der Sozialdemokratie, zur hegemonialen Kraft werden kann, schlägt sich der Menschewismus mit der Frage herum, ob die ArbeiterInnenklasse überhaupt ohne Bourgeoisie siegen dürfe.

Im Versuch Lenins, eine eigenständige, aktive Politik in der „demokratischen Revolution“ zu verfolgen, knüpft er an die Kritik am Ökonomismus an, weist nach, dass die Menschewiki gewissermaßen dessen Stellung eingenommen hätten. Anders als später der Stalinismus ist Lenins Konzeption von der Zielsetzung geprägt, eine eigenständige, revolutionäre ArbeiterInnenpolitik zu formulieren.

Aber seine strategische Konzeption bleibt an einem wesentlichen Punkt im Schematismus der Zweiten Internationale befangen. Da die Revolution eine demokratische sei und Russland ein Bauernland, könne die Revolution nicht unmittelbar zu einer sozialistischen übergehen.

„Nur das Proletariat ist fähig, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen. Schließlich steht außer Zweifel, daß auch bei uns in Russland der Erfolg des Bauernkampfes, d. h. der Übergang des gesamten Grund und Bodens an die Bauernschaft, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeuten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein wird, keineswegs aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die ‚Sozialisierung‘, von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, reden. Der Erfolg des Bauernaufstandes, der Sieg der demokratischen Revolution wird erst den Weg ebnen zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik.“ (12)

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Konzeption selbst von einem tiefen inneren Widerspruch geprägt ist. Die Revolution von 1905 wurde jedoch geschlagen, bevor die Unzulänglichkeiten dieser Formel wie auch der Konzeption des Menschewismus mit allen Konsequenzen praktisch sichtbar wurden.

Es ist aber kein Wunder, dass 1917, nach der Februarrevolution, viele bolschewistische Kader weiter von dieser Konzeption geprägt waren und diese umzusetzen versuchten.

Permanente Revolution

1905 wurde aber auch eine dritte Konzeption der russischen Revolution entwickelt, die Theorie der Permanenten Revolution. Diese wurde von Leo Trotzki, damals in enger Zusammenarbeit mit Parvus, entwickelt. (13)

Trotzkis „Permanente Revolution“ knüpfte an frühe Überlegungen von Marx, wie sie auch im Kommunistischen Manifest zu finden sind. Dies enthält  schon erste Vorstellungen eines Übergangsprogramms, das die schematische Vorstellung in Frage stellt, dass zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Umwälzung eine lange, eigenständige Entwicklungsperiode liegen müsse, wie sie aus Lenins Schriften 1905 durchaus zum Vorschein kommt und wie sie später in der „Etappentheorie“ des Stalinismus, im Grunde eine Neuauflage der menschewistischen Vorstellungen der bürgerlichen Revolution, formuliert wurde.

Marx entwickelt zudem schon in den Briefen an Sassulitsch (14) Grundlagen der Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwickelung. Diese Schriften waren jedoch 1905 nicht öffentlich zugänglich und Trotzki nicht bekannt.

Trotzki stieß zur Entwicklung der Theorie der Permanenten Revolution, indem er die „Eigenheiten“ der Entwicklung in Russland im Zusammenhang mit einer russischen Revolution zu Ende zu denken versuchte und diese von vornherein in den internationalen Kontext stellte.

Wie auch Lenin ging er davon aus, dass die Bourgeoisie zur Führung der demokratischen Revolution schon nicht mehr bereit gewesen sei, dass sie ihr revolutionäres Potential erschöpft habe, bevor der Zarismus abgetreten war. Trotzki sieht die verspätete, ungleiche Entwicklung des Kapitalismus in Russland als eine der zentralen Ursachen für eine besonders unrevolutionäre Bourgeoisie:

„Der russische Absolutismus entwickelte sich unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.

Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom ,Volk‘ isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.“ (15)

Lenin und der Bolschewismus bleiben jedoch, anders als Trotzki, einer schematischen Vorstellung der demokratischen Revolution verhaftet, indem sie jede Möglichkeit kategorisch bestritten, dass die ArbeiterInnenklasse die Eigentumsverhältnisse umwandeln könne. Das würde nur zu einem voluntaristischen „Überdehnen“ der Revolution führen. Es ist daher kein Wunder, dass  das Programm der „demokratischen Diktatur“ zwar auch wichtige Forderungen der Lohnabhängigen enthielt wie den Acht-Stunden-Tag, jedoch nicht über ein radikales bürgerlich-demokratisches Programm hinausging.

1906 stellte Trotzki seine Konzeption in „Ergebnisse und Perspektiven“ systematisch dar. Er wendet sich dabei offen gegen den vorherrschenden Schematismus bezüglich des Charakters der russischen Revolution:

„Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft … Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. 1871 nahm es bewußt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten –  aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten ‚ökonomischen‘ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die Russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“ (16)

Diese Möglichkeit, so Trotzki, wird durch die Entwicklung des Kapitalismus in Russland selbst begünstigt. Einerseits kommt die Bourgeoisie spät und bleibt, auch wegen ihre Abhängigkeit von Investitionen aus anderen Ländern, politisch und gesellschaftlich schwach. Das Proletariat ist hingegen hochkonzentriert und, trotz seiner im Vergleich zur Landbevölkerung geringen Größe, eine sehr kompakte soziale Klasse. Die politischen Implikationen sind folgende:

„Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Rußland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann.“ (17)

Und weiter:

„In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende ‚Episode‘ sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?“ (18)

Für Trotzki hat die Revolution 1905 auf diese Frage eine Antwort geliefert:

Die ArbeiterInnenklasse kann, ja muss unter deren spezifischen Bedingungen, zur führenden Kraft der Revolution werden. Um diese demokratische Revolution konsequent zu Ende zu führen, darf sie sich jedoch nicht auf deren demokratische Aufgaben beschränken, sondern muss auch die eigenen Klasseninteressen des Proletariats verfolgen, selbst zur führenden Kraft im Bündnis mit der Bauernschaft werden. Anstelle der „demokratischen Diktatur“ Lenins tritt jedoch die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats ist.

Auch wenn das Proletariat numerisch die kleinere Klasse als die Bauernschaft darstellt, so ändert das nichts daran, dass letztere als kleinbürgerliche Klasse gezeigt hat, dass sie zwar zur revolutionären Aktion, nicht jedoch zu einer selbstständigen Politik in der Lage ist, die ein Land neu organisieren kann.

Daher unterscheidet sich Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“ auch programmatisch vom Menschewismus und Bolschewismus des Jahres 1905.

„Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat -, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. Selbst eine nur vorübergehende politische Herrschaft des Proletariats wird den Widerstand des Kapitals, das immer der Unterstützung durch die Staatsgewalt bedarf, schwächen und dem ökonomischen Kampf des Proletariats grandiose Dimensionen verleihen. Die Arbeiter können gar nicht anders, als von der revolutionären Macht die Unterstützung der Streikenden zu verlangen, und die Regierung, die sich auf die Arbeiter stützt, kann diese Hilfe nicht versagen. Das aber heißt, den Einfluß der Reservearmee der Arbeit lähmen, und ist gleichbedeutend mit der Herrschaft der Arbeiter nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich und bedeutet die Verwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in eine Fiktion. Diese unvermeidlichen sozial-ökonomischen Folgen der Diktatur des Proletariats werden sehr schnell eintreten, noch lange bevor die Demokratisierung der politischen Ordnung beendet ist. Die Schranke zwischen dem ‚minimalen‘ und dem ‚maximalen‘ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt.“ (19)

Das Überleben und die Entwicklung eines solchen Regimes ist zugleich mit einer entschlossenen Lösung der Agrarfrage verbunden und dieser Aspekt ist in den Rahmen der internationalen Revolution einzubetten:

„Sollte sich das russische Proletariat an der Macht befinden, wenn auch nur infolge eines zeitweiligen Aufschwungs unserer bürgerlichen Revolution, so wird es der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ (20)

Zweifellos hat die Theorie der Permanenten Revolution mehr als jede andere Konzeption die Ursachen, Grundlagen und die strategische Ausrichtung der Oktoberrevolution von 1917 vorausgesehen und bestimmt. Trotzki selbst weist im Vorwort zu dieser Schrift 1919 darauf hin, dass sich seine Position in denen des Bolschewismus von 1917 nach der Annahme der Aprilthesen wiederfinde, dass die Geschichte die Theorie der Permanenten Revolution bestätigt habe.

Er verweist auch zu Recht darauf , dass Bolschewismus und Menschewismus 1905 von einem engen schematischen Verständnis der „bürgerlichen Revolution“ ausgingen, was natürlich auch programmatische Auswirkungen gehabt habe: Beide gingen über ein demokratisches Programm nicht hinaus.

Rolle der Räte

Diese Konzeption einer russischen Revolution erklärt aber auch, warum für Menschewismus und Bolschewismus die Rolle der Arbeiterräte 1905 politisch unterentwickelt blieb. Teile der Bolschewiki standen am Beginn der Revolution – im Gegensatz zu Lenin und Bogdanow – den Sowjets überhaupt  skeptisch, sogar ablehnend gegenüber.

Aber auch in Lenins Auffassung von der Rolle der Arbeiterräte spiegelten sich noch Ende 1905 die Schwächen der „demokratischen Diktatur“ wider. Einerseits bestimmt er in „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ die Aufgabe des Exekutivkomitees der Sowjets, sich zu einer „Provisorischen revolutionären Regierung“ zu proklamieren. Aber er hält ihn zugleich auch für eine zu enge Organisation, die um VertreterInnen der Soldaten, Bauern, der revolutionären Intelligenz und aller revolutionären Demokraten ergänzt werden müsse.

„Wir fürchten eine solche Breite und Buntscheckigkeit der Zusammensetzung nicht, sondern wünschen sie, denn ohne Vereinigung des Proletariats und der Bauernschaft, ohne Kampfgemeinschaft der Sozialdemokraten und der revolutionären Demokraten ist ein voller Erfolg der großen russischen Revolution unmöglich. Das wird ein zeitweiliges Bündnis zur Lösung der klar umrissenen nächsten praktischen Aufgaben sein; die noch wichtigeren, grundlegenden Interessen des sozialistischen Proletariats, seine Endziele, aber werden von der selbstständigen und prinzipienfesten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands unbeirrt wahrgenommen werden.“ (21)

Lenin hebt zwar die große Bedeutung der Räte hervor. Er betrachtet sie aber nicht als  Formen für eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung oder Kernformen der proletarischen Selbstorganisation. Diesen Gedanken lehnt er vielmehr in „Sozialismus und Anarchismus“ (22) explizit ab. Den Aufstand, der zur Diktatur der Arbeiter und Bauern führen sollte, stellte er sich vor allem als Aufstand vor, der von der Partei initiiert und geführt wird. Die Räte spielten für ihn nur eine Rolle als zusätzliche Aktionsorgane für die demokratische Umwälzung, nicht als Formen der Organisation einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung.

Das ist kein Wunder. Auf dem Boden einer demokratischen Revolution, die den Kapitalismus nicht abschaffen soll/kann, gibt es auch keine längerfristige Existenzberechtigung für ArbeiterInnenräte, allenfalls einen gesellschaftlich untergeordneten Platz.

Wie Marx in der Analyse der Pariser Commune zu Recht schreibt, ist die Commune eine Form der ArbeiterInnenregierung, eines proletarischen Halbstaates, auf dessen Basis die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur vor sich gehen kann. Trotzki greift 1905/6 dies auf, indem er darauf hinweist, dass die Räte die zukünftige Form sind, auf die sich eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung stützen muss. Daher verbindet er die Aufstandsfrage auch viel enger als die Bolschewiki mit der Frage des Generalstreiks – und umgekehrt diese Frage viel enger mit der Machtfrage als beispielsweise Rosa Luxemburg.

Wie Trotzki selbst anerkennt, erwies sich seine geniale Konzeption an einem entscheidenden Punkt als falsch. Er unterschätzte damals die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus, wie überhaupt die Differenzen innerhalb der sozialistischen Bewegung. Er ging vielmehr davon aus, dass der Druck der revolutionären Ereignisse die Sozialdemokratie dazu zwingen würde, den Weg für den Kampf um eine ArbeiterInnenregierung zu beschreiten.

Die Theorie der Permanenten Revolution – so richtig und bahnbrechend sie war – war noch nicht frei von einem Objektivismus. Folglich verkannte er den grundlegenden Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus.

Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass diesem Verkennen auch  eine gewisse Konvergenz der Politik von Menschewiki und Bolschewiki im Laufe des Jahres 1905 zugrunde lag. Trotzki wurde Redakteur der menschewistischen Zeitung „Nachalo“ und prägte mehr und mehr deren Blattlinie, sehr zum Leidwesen von Martow und anderen prominenten Menschewiken (23). Das spiegelte eine Radikalisierung der ArbeiterInnenavantgarde wider, die  in der gesamten Sozialdemokratie stattfand. So ging z. B. die Gründung des Petersburger Sowjets im Oktober 1905 sogar auf menschewistische Initiative zurück.

Und schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass gegen Ende des Jahres der Druck auf eine Vereinigung der Sozialdemokratie immer größer wurde und die Bolschewiki offensiv für diese eintraten (24).

1917 korrigiert Trotzki selbst diesen schweren zentristischen Fehler und bewertete auch die Politik von Menschewiki und Bolschewiki in der ersten russischen Revolution neu:

„Die Menschewiki waren so fanatisch darauf aus, eine führende bürgerliche Demokratie zu finden, damit der ‚gesetzmäßige‘ bürgerliche Charakter der russischen Revolution sichergestellt sei, daß sie es während der Revolution, als keine führende bürgerliche Demokratie in Erscheinung trat, selbst mehr oder minder erfolgreich übernahmen, deren Pflichten zu erfüllen. (…)

Umgekehrt war der Bolschewismus nicht im geringsten angesteckt vom Glauben an die Macht und die Kraft einer revolutionären bürgerlichen Demokratie in Rußland. Er erkannte von Anfang an die entscheidende Bedeutung der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution, aber sein Programm beschränkte er in der ersten Zeit auf die Interessen der Millionen bäuerlicher Massen, ohne – und gegen die – die Revolution vom Proletariat nicht zu Ende geführt werden konnte. Daher die (einstweilige) Anerkennung des bürgerlich-demokratischen Charakters der Revolution.“ (25)

Wie die Auseinandersetzungen 1917 zeigten, war es für die Bolschewistische Partei, wenn auch erst nach inneren Kämpfen, möglich, sich von diesem Schema zu befreien. Dieser Übergang zum Kurs auf die sozialistische Revolution wäre unmöglich gewesen, wenn die inneren Widersprüche der Konzeption nicht über sie hinaus gedrängt hätten und die Partei nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Politik anhand von Analyse und Erfahrung zu korrigieren.

Schließlich versuchten die Bolschewiki schon 1905 die Revolution auf der Basis einer unzulänglichen Theorie  voranzutreiben, die ArbeiterInnenklasse zur führenden Kraft der Massen zu machen und dabei eine eigenständige Klassenpolitik zu vertreten. Darin lag ihr grundlegend revolutionärer Impuls.

Das darf aber nicht über die tiefe Verwurzelung der Konzeption der „demokratischen Revolution“ in der Theorie der Zweiten Internationale und die inneren Widersprüche der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ hinwegtäuschen, die sich nicht einfach „organisch“ überwinden ließen, sondern einen inneren Bruch in der Entwicklung der Bolschewismus erforderten. Dieser war jedoch nicht nur ein Resultat der russischen Entwicklung. Der Ausbruch der Ersten Weltkrieges und der Verrat der Sozialdemokratie stellten vielmehr grundsätzlich die Frage nach der Neubestimmung revolutionärer ArbeiterInnenpolitik, der sich der Bolschewismus konsequenter und folgerichtiger als jede andere Kraft stellte.

Wandel des Bolschewismus im Krieg

Seit 1903, seit der ersten Spaltung der russischen Sozialdemokratie, stand der Bolschewismus am linken Flügel der Sozialistischen Internationale. Das wurde auch im Auftreten auf Kongressen deutlich, insbesondere am Stuttgarter Kongress 1907, der im Gefolge der russischen Revolution auch einen Höhepunkt des Agierens des linken Flügels in der Zweiten Internationale darstellte.

Lenin und die Bolschewiki betrachteten außerdem die opportunistischen Tendenzen in den europäischen sozialistischen Parteien oder gar den Labour-Parteien in Britannien und Australien keineswegs unkritisch. Wie die Mehrheit der russischen Sozialdemokratie – also auch die Mehrheit der Menschewiki und erst recht Rosa Luxemburgs Sozialdemokratie Polens und Litauens – standen sie am linken Flügel der Sozialistischen Internationale.

Lenin und die Bolschewiki sahen sich dabei jedoch eher als die Vertreter des „orthodoxen“, von Kautsky maßgeblich ideologisch geprägten Teils der Zweiten Internationale in Russland denn als eigene Strömung. Für Lenin (und auch für Trotzki) war Kautsky eine bedeutende politische Autorität, eine Art „Lehrmeister“ in theoretischen und ideologischen Fragen. Er galt als theoretischer und programmatischer Inspirator einer ganzen Generation von MarxistInnen. Das Erfurter Programm, dessen Grundsatzabschnitt er verfasst hatte, galt als Modell sozialistischer Programme. Kautsky genoss innerhalb der Internationale eine enorme Autorität, die nach 1905 kurzfristig noch zunahm,  er selbst rückte nach links.

Seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ stellte einen Referenzpunkt für alle Linken in der Zweiten Internationale dar, nicht zuletzt, weil sie den Beginn einer revolutionären Periode begründete, die die Machtfrage aufwerfen würde. Die Rechten in der Sozialdemokratie betrachteten die Broschüre als Kampfansage, weil sie mit gutem Grund als eine Absage an die Vorstellung einer weiteren friedlichen, graduellen Entwicklung des Kapitalismus betrachtet wurde, die den Boden für eine Fortführung der im Kern längst reformistischen Gewerkschafts- und Wahlpolitik abgab.

All das erklärt, warum die Schwächen des Kautskyianismus auch den Linken in der Sozialdemokratie, einschließlich Lenins und Trotzkis, vor dem Ersten Weltkrieg wenig bewusst wurden. Rosa Luxemburg erkannte zweifellos schon Jahre vor Lenin viele der Übel in der deutschen Sozialdemokratie und durchschaute auch Kautskys Tendenzen zum Versöhnlertum, zur Rechtfertigung der alles andere als revolutionären Alltagspraxis der Partei und der Gewerkschaften mithilfe marxistischer Phrasen.

Vor dem Ersten Weltkrieg trat der Gegensatz der revolutionären Linken und des „marxistischen Zentrums“ um Kautsky in der deutschen Sozialdemokratie offen zu Tage. Einen Höhepunkt bildete die Generalstreikdebatte zwischen Luxemburg und Kautsky 1910 in der Kontroverse um die Generalstreikstaktik, um Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie (26). In dieser Kontroverse ergriff Lenin jedoch nicht die Seite Luxemburgs, sondern Kautskys (27).

Lenins grundlegend falsche Einschätzung wurde zweifellos dadurch mitverursacht, dass er die Debatte vor allem durch die Brille des Fraktionskampfes in Russland betrachtet und orthodox klingende Formulierungen Kautskys für bare Münze nahm.

Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass die Kautsky`sche Lesart des Marxismus und überhaupt das Sein der Zweiten Internationale  Lenins Verständnis des Marxismus selbst geprägt hatten. Das Insistieren darauf, dass eine Russische Revolution demokratischen Charakter haben müsse, verdeutlicht, dass auch die Theorie des Bolschewismus von dieser „Orthodoxie“ durchdrungen war. Andererseits verweist das Bestehen darauf, dass die Sozialdemokratie eine Antwort auf die Machtfrage einer russischen Revolution, unabhängig von der Bourgeoisie, geben müsse, auf die Tendenz, über die Formel der „demokratischen Diktatur“ hinauszugehen.

Ähnliche Widersprüchlichkeiten einer unvollständigen Ablösung von dem mechanischen Materialismus und der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale finden sich bei Trotzki und Luxemburg. Luxemburg bekämpft zwar viel früher als Lenin nicht nur die Rechten, sondern auch das „marxistische Zentrum“ – aber sie versäumt es umgekehrt im Gegensatz zu den Bolschewiki, dem Kampf eine politisch-programmatische und organisatorische Form zu geben und eine eigene Fraktion aufzubauen.

Trotzki entwarf mit der „Theorie der Permanenten Revolution“ eine geniale Einschätzung und Vorwegnahme der Dynamik der Revolutionen der 20. Jahrhunderts – andererseits spielte er vor dem Ersten Weltkrieg eine beschämende Rolle bei der Bildung prinzipienloser Blöcke gegen den Bolschewismus.

Der Bolschewismus nimmt gegenüber allen anderen Flügeln der Linken in der Zweiten Internationale insofern eine Sonderstellung ein, als er sich seit 1903 de facto als eigene fraktionelle Strömung auf Basis politisch-programmatischer Grundsätze formierte (28).

Dieser Formierung liegen – bei all ihren organisatorischen Wendungen, taktischen Änderungen – zwei Elemente zugrunde, die ihrerseits eine unerlässliche Voraussetzung dafür boten, dass die Bolschewiki eine proletarische Revolution zum Sieg führen konnten:

  • erstens das Bestehen auf einer programmatisch bestimmten Klarheit der politischen Konzeption;
  • zweitens das Konzept einer darauf aufbauenden Kampfpartei, einer Partei von politisch bewussten, aktiven Mitgliedern.

Imperialismus

Schon vor 1914 bereitete sich der Bruch des Bolschewismus mit der verknöcherten Konzeption der Zweiten Internationale vor. Der Verrat der Zweiten Internationale und deren Überlaufen in das Lager der imperialistischen Bourgeoisien erforderten jedoch eine bewusste politische „Umrüstung“ des politischen Arsenals aller revolutionären MarxistInnen. Standen vor 1914 oft die Fragen des Charakters einer künftigen russischen Revolution, der revolutionären Taktik im Kampf gegen die Selbstherrschaft im Zentrum der bolschewistischen Diskussion und der Schriften Lenins, wurde nun erforderlich, alle Fragen vom Standpunkt der internationalen Revolution zu betrachten. Der Bolschewismus musste sich deshalb als internationale Strömung konstituieren.

Schon vor 1914 hatten verschiedene sozialistische TheoretikerInnen einen Wandel des Kapitalismus konstatiert. Der erste marxistische Theoretiker, der versuchte, diese neuen, Epoche machenden Veränderungen auf den Begriff zu bringen, war Rudolf Hilferding im „Finanzkapital“ (29). Auch Rosa Luxemburg versuchte schon vor dem Ersten Weltkrieg in „Die Akkumulation des Kapitals“ (30) die veränderte Lage auf den Punkt zu bringen und entwickelte eine eigene Krisen- und Imperialismustheorie.

Der Erste Weltkrieg und das Versagen der ArbeiterInnenbewegung zwangen in jedem Fall auch den Bolschewismus, der Frage nachzugehen, welche Faktoren zum Ausbruch des Krieges geführt hatten, welchen Charakter dieser hatte und welche Implikationen dies für die Zukunft des Kommunismus und eine Neubestimmung des revolutionären Marxismus hat. Schon in den ersten Arbeiten zum Krieg, wird der Erste Weltkrieg als imperialistischer Krieg bestimmt, als Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.

„Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Der Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Inneren der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges.“ (31)

In den weiteren Schriften und insbesondere in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ versucht Lenin knapp, seine Sicht des Imperialismus als eine neue Epoche, eine Entwicklungsphase des Kapitalismus als Weltsystem herzuleiten. Aus der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals entsteht an einer bestimmten Entwicklungsstufe eine neue Form des Kapitalismus, das Finanzkapital. Dieses wird bei Lenin nicht im landläufigen Sinne als „Finanz“ bestimmt, sondern als Verschmelzung von Industrie- und Banken- oder zinstragendem Kapital unter der Dominanz des letzteren. Imperialismus bedeutet aber auch eine bestimmte globale „Ordnung“, eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus nicht nur auf ökonomischer Ebene, sondern als Gesellschaftsform.

Die Welt ist unter Großmächte, die ihrerseits vom jeweiligen nationalen Finanzkapital ökonomisch dominiert werden, aufgeteilt. Eine Veränderung der Kräfteverhältnisse, eine Neuaufteilung kann daher nur erfolgen durch die ökonomische Konkurrenz und politische, letztlich auch durch militärische Konfrontation.

Im September 1914 traten die Bolschewiki mit einer umfassenden Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Einschätzung und im Zusammenhang mit den Kongressen der Zweiten Internationale vor dem Krieg entwickeln Lenin und die Bolschewiki die Position, dass der imperialistische Krieg zu einem Bürgerkrieg gegen die kapitalistische Herrschaft zu entwickeln sei und dass der Kampf gegen den Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setze:

„Die Bourgeoisie aller Nationen betrügt die Massen, indem sie den imperialistischen Raubzug mit der alten Ideologie des ,nationalen Krieges‘ verbrämt. Das Proletariat entlarvt diesen Betrug und verkündet die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (32)

Lenin verbindet diese politische Stoßrichtung mit einer Analyse des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche: „Der Krieg ist kein Zufall, keine,Sünde‘, wie die christlichen Pfaffen glauben (die nicht schlechter als die Opportunisten Patriotismus, Humanität und Frieden predigen), er ist vielmehr eine unvermeidliche Etappe des Kapitalismus, eine ebenso gesetzmäßige Form des kapitalistischen Lebens wie der Frieden. Der Krieg unserer Tage ist ein Volkskrieg. Aus dieser Wahrheit folgt indes nicht, dass man mit dem ,Volks’strom des Chauvinismus schwimmen soll, sondern daß die Klassengegensätze, von denen die Völker zerfleischt werden, auch zur Kriegszeit, auch im Krieg und dem Krieg angepaßt, fortbestehen und in Erscheinung treten werden. Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum von unbewaffnetem Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, ein Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne erbitterten Bürgerkrieg oder eine Reihe solcher Kriege. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit.“ (33)

Hier formuliert Lenin knapp die politische Ausrichtung der Bolschewiki als Aufgabe aller RevolutionärInnen. Sie besteht in der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg gegen die eigenen herrschende Klasse, in dessen Umwandlung zu einer internationalen sozialistischen Revolution.

Das ist der Sinn und Gehalt des „revolutionären Defaitismus“. Es geht nicht „nur“ darum, den Krieg zu beenden, sondern Lenin sieht die einzige realistische Chance, die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu wahren, darin die globale Machtfrage, die der Krieg selbst als Kampf um die Neuaufteilung der Welt aufwirft, zu beantworten.

Pazifistische Programme, Programme, die den Kampf gegen Imperialismus und Krieg nicht mit dem für den Sozialismus verbinden, sind letztlich Programme, die zur Nachtrabpolitik hinter einen Flügel der imperialistischen Bourgeoisie und damit auch zum Versöhnlertum mit den Sozialchauvinisten führen.

Der revolutionäre Defaitismus als internationale Politik des Proletariats im Weltkrieg bedeutet auch, dass die „Vaterlandsverteidigung“ eine reaktionäre Parole geworden ist, selbst in Ländern, die für sich betrachtet Opfer der Politik der Großmächte wurden (Serbien, Belgien). Ihre „nationalen Rechte“ sind in dem Gesamtkontext des Krieges von untergeordnetem Rang, und sie zu vertreten, würde ein Absinken in den Sozialchauvinismus bedeuten, weil die „Verteidigung“ Belgiens selbst nur  eine Rechtfertigung der imperialistischen Ziele der Entente war.

Minimal- und Maximalprogramm

Lenins Verbindung der Kriegsfrage mit dem Kampf um die sozialistische Revolution darf aber nicht als ein Fallenlassen der Forderungen des Minimalprogramms missverstanden werden. Vielmehr zeichnet sich bei ihm und der bolschewistischen Politik im Krieg eine Überwindung der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm ab:

„Für die Bourgeoisie ist die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen zu einem Betrug geworden. Für uns wird sie eine Wahrheit sein, durch die wir den Anschluss und die Beschleunigung der Gewinnung aller Nationen für die Revolution bewerkstelligen werden. Ohne effektiv demokratisch organisierte Verhältnisse zwischen den Nationen, ohne die Freiheit zur Abtrennung ist der Bürgerkrieg der ArbeiterInnen und der arbeitenden Klassen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich.“ (34)

Lenin verteidigt gegen Luxemburg und ultra-linke Teile der Bolschewiki, dass z. B. der Kampf um das nationale Selbstbestimmungsrecht weiter Bestandteil des revolutionären Programms bleibt, ja in gewisser Weise sogar wichtiger wird als zuvor.

„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner‘ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern“ (35)

Der irische Aufstand 1916, Rebellionen und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialvölker sind für Lenin Bestandteil des Klassenkampfes. Die ArbeiterInnenklasse hat ein Interesse, sie zu fördern, zu unterstützen, um so die imperialistischen Bourgeoisien zu schwächen. Die Unterstützung von Kämpfen unterdrückter Nationen ist ein integraler Bestandteil des „revolutionären Defaitismus“, ein Moment der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie.

Das trifft, wie Lenin immer wieder betont, auch auf andere demokratische Fragen zu, nicht nur jene der kolonialen Unterdrückung. In der gesamten imperialistischen Epoche gibt es eine grundlegende Tendenz zur Einschränkung demokratischer Rechte und zunehmender Überwachung und Kontrolle.

Eine besonders wichtige Stellung nimmt dabei die Landfrage ein. Lenins große Stärke bestand zweifellos schon 1905 darin, die Bedeutung der Bauernrevolution gegen die Gutsbesitzer für die Russische Revolution erkannt zu haben. Sie wird auch eine entscheidende Rolle für die Revolution 1917 und später für die Wendung der Kommunistischen Internationale in der Kolonialfrage spielen – allerdings eingebettet in ein Programm der sozialen Umwälzung.

Lenins programmatische Wende geht aber auch einher mit einer veränderten Charakterisierung des Opportunismus. Der Sozialchauvinismus ist nicht nur eine falsche, konterrevolutionäre Politik, er hat eine soziale Grundlage in der Veränderung des Gesamtsystems des Kapitalismus. In der imperialistischen Epoche schafft dieses Weltsystem, die Etablierung einer internationalen Arbeitsteilung, auch die Möglichkeit, dass Teile der ArbeiterInnenklasse der Kernländer des Kapitalismus relativ privilegiert, d.h. „bestochen“ werden können. Diese Schichten der Klasse bildeten sich zuerst in Britannien im 19. Jahrhundert heraus, werden jedoch im 20. Jahrhundert zu einem Phänomen in allen imperialistischen Staaten.

Damit bietet Lenin eine Erklärung für die Verankerung und Verwurzelung reformistischer Parteien in der ArbeiterInnenklasse, von Parteien, die selbst eng mit dem Herrschaftsapparat der Bourgeoisie verbunden sind, deren Apparat und Führungen als politische Agenten der Bourgeoisie in der ArbeiterInnenklasse wirken.

Diese Parteien, also jene der Zweiten Internationale, sind mit der Burgfriedenspolitik, der Politik der Vaterlandsverteidigung, der sich nicht nur die deutsche Sozialdemokratie verpflichtet hat, sondern in Russland auch die große Mehrheit der Menschewiki und die Sozialrevolutionäre,  kleinbürgerliche „sozialistische“ Parteien geworden.

Zugleich bestimmt Lenin den Imperialismus als eine Epoche des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. So fasst er im 10. Kapitel seiner Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ dessen historische Stellung folgendermaßen zusammen:

„Wir haben gesehen, daß der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren Gesellschaftsformation.“ (36)

Aktualität der Revolution

Der Kapitalismus selbst ist reaktionär geworden – und damit ist auch die Basis für eine ganze Epoche des Übergangs gelegt worden. „Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß nahezu der ganze Erdball unter diese ,Kapitalgewaltigen‘ aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ,Groß’mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“ (37)

Damit und in diesem Sinn  – (eine über die ganze Geschichtsperiode hinweg vorherrschende Tendenz zur Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus) – ist die imperialistische Epoche eine von Kriegen und Revolutionen. Für Lenin und sein Denken tritt die „Aktualität der Revolution“ ins Zentrum:

„Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx‘ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, ‚welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird‘, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen.“ (38)

Aus allem ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit, mit der vom Opportunismus und Nationalismus zerstörten Zweiten Internationale zu brechen und eine neue, die Dritte Internationale, aufzubauen. „Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisien alle Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (39)

Die Politik der Bolschewiki geht nach 1914 daher nicht nur vom internationalen Charakter der Revolution aus. Sie verbindet diesen bewusst mit der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale, die ihrerseits in mehrfacher Hinsicht von der Zweiten Internationale vor dem Weltkrieg unterschieden sein soll. Sie muss nämlich nicht nur einen Bruch mit den offenen Sozialchauvinisten vollziehen, sondern auch mit den zentristischen VersöhnlerInnen à la Kautsky, die eine Einheit mit der Sozialdemokratie weiter verfolgten und damit die Illusion einer möglichen „Gesundung“ der Zweiten Internationale schürten.

Lenin stellt sich dabei eine neue, kommunistische Internationale nicht als einfache Verlängerung des Bolschewismus, sondern als politische Vereinigung aller InternationalistInnen vor, die mit dem Sozialchauvinismus und dem Versöhnlertum brechen wollen. In der ersten Phase des Krieges, in der die revolutionären KriegsgegnerInnen auf eine verschwindende Minderheit der Klasse ins Stadium von Propagandagesellschaften zurückgeworfen sind, betont Lenin die Notwendigkeit, die zukünftige Revolution vorzubereiten – und das heißt vor allem auch Klärung der Positionen der bewussten kommunistischen Kräfte und der Avantgarde.

Das zeigt sich nicht nur in den verschiedenen Resolutionen der Bolschewistischen Partei, ihrem Wirken bei Anti-Kriegskonferenzen und Tagungen, sondern vor allem darin, dass Lenin es für notwendig hielt, illegale Propaganda zu verbreiten, die die ArbeiterInnenklasse nicht nur allgemein über den Charakter des Kriegs aufklärt, sondern auch konkret bestimmt, welche Aktionen, welche Taktiken, welche Haltung zu einzelnen Fragen notwendig sind.

In Zimmerwald vertrat die bolschewistische Delegation die Losung der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg und wollte dies auch zur Basis der Sammlung der Kräfte für eine neue Internationale machen. Für die Zentristen wie den USPD-Delegierten Ledebour und die meisten TeilnehmerInnen war das unannehmbar. Über einen Aufstand würde man erst reden, wenn er stattfindet. Dem widerspricht Lenin entschieden:

„Die notwendigen Kampfmittel müssen den Massen bekannt gemacht werden, damit sie erklärt und diskutiert werden können.. Wenn wir an der Schwelle zu einer revolutionären Epoche sind, in der die Massen in revolutionäre Kämpfe übergehen, dann müssen wir auch klar sein in Bezug auf die notwendigen Kampfmittel. Vom Standpunkt der Revisionisten ist dies natürlich überflüssig, weil sie nicht glauben, dass wir in einer revolutionären Epoche leben. Wir, die wir das glauben, müssen anders handeln. Man kann keine Revolution machen, ohne die revolutionäre Taktik zu erklären. Es war genau eine der schlechtesten Eigenschaften der II. Internationale, dass sie beständig solche Erklärungen vermieden hat… In Deutschland müsst ihr jetzt mehr machen als legale Arbeit, wenn ihr wirkliche Aktion wollt. Ihr müsst legale und illegale Arbeit kombinieren. Die alten Methoden sind nicht mehr adäquat für die neue Situation“ (40)

Hier zeigt sich konkret, worin Lenin den Unterschied zur „alten Internationale“ sieht. Die revolutionäre Partei muss ein Zentrum strategischer Diskussion und ihrer taktischen und organisatorischen Konkretisierung sein. Sie muss diese Debatten mit der Klasse führen, deren Aufmerksamkeit (und das heißt zuerst der klassenbewussten ArbeiterInnen) auf diese Fragen lenken, selbst wenn sie ihnen noch fern erscheinen mögen.

Die „Aktualität der Revolution“, deren Vorbereitung kann sich nicht mit allgemeinen oder abstrakten Revolutionsprognosen begnügen oder der „Erkenntnis“, dass der Imperialismus reaktionär sei. Diese Bestimmungen müssen vielmehr mit der konkreten Entwicklung vermittelt werden. Daher lehnt er auch jeden doktrinären Schematismus ab, der sich beispielsweise bei Luxemburg und den „imperialistischen Ökonomisten“ in der nationalen Frage zeigt.

Das revolutionäre Programm muss von einem allgemeinen zu einem Aktionsprogramm konkretisiert werden, das – wie später die Aprilthesen in der Russischen Revolution – die Hauptaufgaben der Revolution zusammenfasst und diese in die Machtfrage münden lässt.

Der zweite wichtige Aspekt in Lenins Kampf um eine neue Internationale findet sich schon im Krieg und erst recht bei Gründung der Dritten Internationale darin, dass er sich nämlich durchaus eine revolutionäre Internationale (und Parteien) vorstellte, die verschiedene Strömungen des Kommunismus, des revolutionären Internationalismus inkludieren sollte. Das zeigt sich recht deutlich darin, dass er trotz der sehr heftigen Polemiken gegen Pjatakow und die „imperialistischen Ökonomisten“ keine Spaltung von dieser Minderheit des Bolschewismus wollte. Luxemburg und den Spartakusbund wollte er – trotz ihrer Kritik – für die Dritte Internationale gewinnen, ebenso wie er die Gewinnung Trotzkis und der Zwischengruppe befürwortete, trotz der massiven Differenzen in der Vorkriegsperiode.

Die Vorstellung, dass Lenin ein „chemisch“ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des „Leninismus“ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Dem widerspricht überhaupt nicht, dass Lenin hart um politische Klarheit gekämpft hat und vor Spaltungen nicht zurückschreckte. Darin liegt jedoch nichts spezifisch „Leninistisches“, sondern ein allgemeines Merkmal jedes ernsthaften Revolutionärs. In Grundfragen der Revolution – seien es Fragen ihres Charakters, des Programms, der Taktik – können revolutionäre MarxistInnen nicht auf „Pluralismus“ und Unklarheit setzen. Jede solche Halbheit – mag sie auch eine imaginäre Parteieinheit retten – muss sich in einer Krisensituation bitter rächen.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das  unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden. Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.

Der Bolschewismus hat sich seit 1903 eine solche Flexibilität und gleichzeitig eine Prinzipienfestigkeit und vergleichsweise große Disziplin und Einheitlichkeit erarbeitet, auf deren Basis er nicht nur die Parteikader im engeren Sinne, sondern über mehr als ein Jahrzehnt mal offener, mal in der Illegalität eine Verbindung zur Avantgarde der Klasse herzustellen vermochte.

Sicherlich finden sich auch bei anderen Strömungen der internationalistischen Linken Aspekte dieser Entwicklung. So hatten Luxemburg und Liebknecht eine politische Bedeutung für die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse in Deutschland, die sicher weit über die Größe des Spartakusbundes und auch der KPD hinausging – aber sie kamen, verglichen mit den Bolschewiki, zu spät bei der Formierung eines Kaders, einer Faktion, einer Vorstufe zu einer eigenständigen Partei. Das „Sektierertum“ der Bolschewiki, dessen sie von ihren GegnerInnen in der russischen und internationalen Sozialdemokratie vor dem Krieg beschuldigt worden waren, sollte sich in der Russischen Revolution als unersätzliches politisches Kapital erweisen.

Diese wäre jedoch selbst nicht zur Geltung gekommen, wäre nicht schon während des Kriegs eine theoretische, programmatische und taktische Neuausrichtung des Bolschewismus erfolgt.

Die Imperialismustheorie, der  „Revolutionäre Defaitismus“ und die Ausrichtung, den Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen zu verwandeln, verweisen auf diese grundlegende Umrüstung des Kommunismus. Sie stellte nicht nur die Orthodoxie der Zweiten Internationale, sondern implizit auch die ursprüngliche bolschewistische Konzeption einer russischen Revolution in Frage. Hinzu kommt, dass die Erneuerung des Bolschewismus, die Lenin im Exil vornahm, keineswegs in ihrer Gänze in die Reihen der Partei drang und in ihren Implikationen verstanden wurde.

Die Revolution selbst offenbarte diese inneren Widersprüche – und sie erzwang zugleich eine Vertiefung der Neubestimmung der bolschewistischen Politik und Programmatik, deren „Umrüstung“, um die Partei auf die Machtergreifung im Oktober vorzubereiten und zu dieser zu befähigen.

Die Februarrevolution

Der Ausbruch der Februarrevolution überraschte alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung. Russland wurde als „schwächstes Glied“ in der Kette der kriegführenden, imperialistischen Nationen erschüttert. Wie keine andere europäische Großmacht war es vom Krieg gebeutelt worden. Das Zarenreich erwies sich gerade gegenüber dem deutschen Imperialismus als militärisch schwach. Was seine Armeen zeitweilig gegen die österreichisch-ungarischen errungen, verloren sie, sobald die deutschen Truppen in die Kampfhandlungen eintraten.

Die Niederlagen gingen mit einem enormen Blutzoll einher. Fünf Millionen EinwohnerInnen verloren während des Krieges ihr Leben, weitere Millionen wurden verwundet, zermürbt. An der Front und in der Armee breiteten sich Desillusionierung, Kriegsmüdigkeit, Hunger aus. Allein 1916 desertierten rund 1,5 Millionen Soldaten.

Die desolaten Verhältnisse an der Front gingen mit einem Niedergang im Inneren einher. Die kleinbäuerlichen Betriebe konnten nicht mehr oder kaum noch bewirtschaftet werden. Während die Söhne an der Front starben oder verwundet wurden, hungerten die Familien und verloren ihre Existenzgrundlage.

Das wiederum führte, kombiniert mit Ausrichtung auf die, wenn auch schlechte, Versorgung der Armee und Spekulanten, zu einer drastischen Steigerung der Lebensmittelpreise und zur Inflation. 1916 betrug sie 400 Prozent. Das Land konnte nicht produzieren und die ArbeiterInnen in den Städten nicht kaufen. Die Zahl an Streiks und Demonstrationen stieg wie die Unzufriedenheit, während sich die Lage der Bevölkerung weiter verschlechterte, weil selbst die Erfolge  von einzelnen Kämpfen durch die Inflation, Versorgungsengpässe, Niedergang der Infrastruktur und allgemeine Zerrüttung rasch zunichte gemacht wurden.

Der imperialistische Krieg trieb zugleich die politischen Widersprüche auf die Spitze. Der Zarismus hatte den Krieg geführt und wurde nun zum Fokus des Volkszorns, zum Symbol der Unfähigkeit, Dekadenz und Volksfeindlichkeit.

Zugleich offenbarte sich mehr und mehr, dass der russische Imperialismus den Krieg nur mit Krediten der Führungsmächte der Entente, mithilfe französischen und britischen Geldes weiterführen konnte.

Obwohl ein Agrarland, war die Industrie Russlands hochkonzentriert. In den städtischen Zentren, v. a. in St. Petersburg, gab es Großbetriebe mit tausenden, wenn nicht zehntausenden ArbeiterInnen vor. Diese bildeten eine mächtige soziale Kraft, die in der Februarrevolution wie schon 1905 ihre eigene Stärke zur Geltung brachte.

Schon gegen Ende 1916 kam es besonders in der Maschinenbau- und metallurgischen Industrie zu Versammlungen, politisch motivierten Streiks und schließlich zur Organisation in ersten räteähnlichen Strukturen. Am 18. Februar legten die ArbeiterInnen des wichtigsten Rüstungswerks in Petrograd die Arbeit nieder. Die Direktion verhängte eine Aussperrung über 30.000 Belegschaftsmitglieder. Die Antwort waren Solidaritätsstreiks in weiteren Betrieben und Demonstrationen. Die sozialistischen Organisationen zauderten unter den Bedingungen des Kriegsrechts jedoch, zu einem Massenstreik aufzurufen, weil sie ein Eingreifen von in der Nähe stationierten Soldateneinheiten befürchteten.

Dennoch traten am 23. Februar auch andere Bereiche wie die Textilfabriken im Wyborg-Bezirk spontan in den Ausstand. Während des Krieges war der Anteil weiblicher Arbeitskräfte v. a. im Textilsektor stetig gestiegen und betrug allein in Petrograd 129.000. Mit der Zeit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein. Die hervorstechendste Eigenschaft war die Unerschrockenheit, mit der die Arbeiterinnen die Quartiere der Soldaten aufsuchten und sie zur Schießbefehlsverweigerung aufforderten und so die Verbindung von ArbeiterInnen und Soldaten überhaupt erst möglich machten (41). Die Frauen führten auch eine Demonstration mit der Losung „Gebt uns Brot!“ an, der sich viele BewohnerInnen der Arbeiterviertel anschlossen.

In den folgenden Tagen schwoll die Streikbewegung an. Zwar war die Regierung bestrebt, Ordnung zu schaffen, doch die Repressionskräfte schritten zunehmend weniger ein und verbrüderten sich sogar mit den Protestierenden. Schon am 27. Februar hatten sich die meisten Soldaten auf die Seite der Aufständischen geschlagen. Dies griff tags darauf auf andere Zentren wie Moskau über. Die ArbeiterInnen entwaffneten mit Hilfe von übergelaufenen Soldateneinheiten die zarentreue Polizei, stürmten die Waffenarsenale und formierten sich ihrerseits in ArbeiterInnenmilizen, die auch zaristische Würdenträger verhafteten. Die RevolutionärInnen besetzten zentrale Schaltstellen wie Bahnhöfe und Telegrafenämter. In den Betrieben fanden Wahlen zu ArbeiterInnenräten statt, was der Auftakt zu einer Bewegung von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, die den Petrograder Sowjet als Vertretung anerkannten, war.

Die Revolution siegte im Februar rasch, der Zar wurde zur Abdankung gezwungen. Der Sieg wurde im Wesentlichen in St. Petersburg errungen, das Land zog mit. Insgesamt wurden 1443 Tote ermittelt, was von der Bourgeoisie als „unblutig“ bezeichnet wurde. Das ist sicher übertrieben, aber es trifft zu, dass – verglichen mit dem Völkergemetzel des Krieges – die Februarrevolution relativ friedlich verlief.

Die politischen Parteien waren von der Umwälzung überrascht worden. Das trifft nicht nur auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch auf die Bolschewiki zu.

„Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer: die ehemaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. Schljapnikow, der längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher Verbindung gestanden hatte, war der politisch reifere und aktivere der drei, die das Büro des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow, einer der Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: ‚Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren … Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.‘

Die Schwäche der unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen Vernichtungsfeldzuges, der der Regierung dank der zu Beginn des Krieges herrschenden patriotischen Stimmung ganz besondere Erfolge gebracht hatte. Jede Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen der Bolschewiki hatten sich zu Beginn des Jahres 1917 von Niedergeschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh der revolutionären Empörung Platz machte.“ (42)

Elementarereignis?

In der „Geschichte der russischen Revolution“ verweist Trotzki aber nicht nur auf die Schwäche der RevolutionärInnen und erst recht der anderen „linken“ Parteien. Er entkräftet auch die These, dass die Februarrevolution „rein“ spontan gewesen sei und überhaupt keine Führung hervorgebracht habe. Vielmehr stelle sich die Frage, wer die Menschen gewesen seien, die bei einem immerhin fünf Tage dauernden Kampf die Initiative ergriffen?

„Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit anderen Worten, es war nicht Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905, der an dem Semjonowski-Garderegiment zerschellte; es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den anderen zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen der Garnison fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda erfaßt oder mindestens berührt worden waren.“ (43)

Hier zeigt sich das vorwärtstreibende Streben der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, die ihrerseits durch die vorbereitende Arbeit von RevolutionärInnen politisch geprägt war, auch wenn sie über eine ganze Periode isoliert, demoralisiert oder zeitweilig gar dem Taumel des Patriotismus erlegen war.

Zugleich zeigte sich aber auch die Unreife der Revolution. Die ArbeiterInnen bildeten mit dem Petrograder Sowjet ein eigenes Machtorgan, den Sowjet, und einen Monat später wurde auch ein landesweites Exekutivkomitee einer gesamtrussischen Sowjetkonferenz gewählt (44). Aber in den Räten hatten die Sozialpatrioten die Mehrheit. Diese war schon in Petersburg sehr groß, landesweit waren die Kräfteverhältnisse noch günstiger für die Menschewiki und vor allem die Sozialrevolutionäre.

Auch wenn die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution nicht voraussahen und angeführt hatten, so entsprach ihre Politik der vorherrschenden Stimmung der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft. Die Sozialrevolutionäre waren die mit Abstand  stärkste politische Organisation unter der Bevölkerung, weil sie das Land dominierten. Aber sie waren unfähig, eine eigenständige Politik zu entwickeln. Ihre Vertreter hängten sich entweder direkt der Bourgeoisie  an oder vermittelt über die Menschewiki.

„Die erdrückende Mehrheit des Volkes, und durch die Soldaten auch die physische Gewalt, hatten die Sozialrevolutionäre. Rechts von ihnen stand die bürgerliche und links die sozialistische Minderheit. Dennoch übernahmen die Volkstümler die Macht nicht. Sondern sie waren genauso wie die russischen Sozialdemokraten von der Überzeugung erfüllt, daß die Russische Revolution, die den Zaren stürzte, eine bürgerliche sein müsse. Sie waren deshalb bereit, dem liberalen Bürgertum die Macht zu überlassen. Sie selbst wollten in der Rolle einer loyalen Opposition die Regierung kontrollieren und im Sinne der Demokratie vorwärtsdrängen.“ (45)

Die Russische Revolution hatte zwar eine Situation der Doppelmacht geschaffen – letztlich eine zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aber diese konnte nur verzerrt zum Ausdruck kommen aufgrund der Unreife der revolutionären Klasse und der damit verbundenen Dominanz von Menschewiki und Sozialrevolutionären in der Bewegung.

Diese sorgten dafür, dass sich der Petersburger Sowjet „freiwillig“ einer Provisorischen Regierung unter dem Fürsten Lwow unterordnete. Ein diesbezügliches Abkommen schloss das Exekutivkomitee des Petersburger Sowjets am 1. März, das auch in einen Aufruf zur Unterstützung der Provisorischen Regierung mündete. Die „Sowjetparteien“ selbst entsandten keine Parteivertreter in die Regierung, nur der Sozialrevolutionär Kerenski nahm als „Privatperson“ daran teil.

Die Menschewiki verteidigten die Unterstützung der Provisorischen Regierung, da diese nicht nur „provisorisch“, sondern „revolutionär“ sei. Am 7. März veröffentlichte das menschewistische Zentralorgan „Rabotschaja Gaseta“ eine Stellungnahme zur Haltung gegenüber der „Provisorischen Regierung“, die in einem Appell an ebendiese gipfelte:

„Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten von Euch unverzüglich Befehle zur Festigung der Revolution und zur Demokratisierung Rußlands. Von Euch hängt unsere Unterstützung ab. Je rascher und entschlossener Ihr handeln werdet, umso rascher und gründlicher wird eine Konstituierende Versammlung vorbereitet werden können, deren Beschlüsse das weitere Schicksal Rußlands bestimmen werden. Auf zur Tat, auf zur Zerstörung des alten und zur Unterstützung des neuen Russlands! Wir fordern von Euch die unverzügliche Verwirklichung Eures Programms.“ (46)

Das Programm der Provisorischen Regierung war in Wirklichkeit das Programm der imperialistischen Bourgeoisie, die sich aufgrund der Doppelmacht und ihrer fehlenden Kontrolle über die Soldaten gezwungen sah, phrasenhafte Zugeständnisse wie das Versprechen bürgerlicher Freiheiten und einer Konstituierenden Versammlung zu machen, um im Gegenzug den Krieg fortzusetzen zu können und auf die Zersetzung der Revolution zu hoffen.

Die Politik der „extremen Opposition“ von 1905 war über den Weg der Vaterlandsverteidigung bei der Politik der Unterstützung einer bürgerlichen, imperialistischen Regierung angelangt.

Bolschewiki im Februar

Wie aber reagierte die Bolschewistische Partei? Vor der Rückkehr aus dem Exil versuchte Lenin die Partei aus der Schweiz zu dirigieren, wie sich in den „Briefen aus der Ferne“ (47) zeigt.

Aber er scheiterte mit diesem Vorhaben, wie das von seiner Linie  abweichende, ja der Konzeption Lenins gar entgegengesetzte Agieren verschiedener Strömungen in der Partei zeigt. Zugleich werden in den Texten aus dieser Zeit, wie den „Briefen aus der Ferne“, schon die grundlegenden Züge der Strategie Lenins deutlich. Die Aufgabe die ArbeiterInnenklasse und Volksmassen bestünde darin, von der ersten Etappe der Revolution, der bürgerlich-demokratischen, zur sozialistischen überzugehen. Es heißt dort:

„Über die taktischen Aufgaben unseres Verhaltens gegenüber dieser Regierung in der nächsten Zeit werden wir in einem anderen Artikel sprechen. Dort werden wir zeigen, worin die Eigenart des gegenwärtigen Zeitpunkts, des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution, besteht, warum die Losung, die ,Aufgabe des Tages‘, in diesem Zeitpunkt sein muß: Arbeiter! Ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldentum, an Volksheldentum vollbracht. Ihr müßt Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.“ (48)

In seinem zweiten Brief lehnt er die Unterstützung der Provisorischen Regierung kategorisch ab und erhebt zugleich die Forderungen nach der Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse und der Bildung einer proletarischen Miliz. Er bezieht sich positiv auf die geplante Einrichtung eines „Ausschusses zur Überwachung der Provisorischen Regierung durch die Proletarier und Soldaten“ als Weg zur Hebung des Bewusstseins und der Organisierung der Klasse.

In den Briefen 3-5 werden diese programmatischen Aufgaben präzisiert. Nicht Unterstützung, sondern Vorbereitung des Sturzes der Provisorischen Regierung sei die Aufgabe. Dazu muss das Proletariat gemeinsam mit der Bauernschaft die Macht übernehmen, die Zerschlagung des Staatsapparates zu Ende bringen und seine Macht auf einen proletarischen Halbstaat, auf den Rätestaat stützen. Die Staatsmacht muss dazu in die Hände der Sowjets übergehen. In den „Briefen aus der Ferne“, vor allem im 5. Brief, werden zentrale Aspekte der Aprilthesen von Lenin vorweggenommen.

Lenin konzipiert die Russische Revolution als Teil der sozialistischen Weltrevolution. Auch wenn sie noch keinen Sozialismus schaffen wird, so soll sie doch den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft in Angriff nehmen. Er nähert sich damit Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution an. Abgesehen von terminologischen Unterschieden konvergieren die Vorstellungen der beiden – was auch die Grundlage für den Eintritt Trotzkis in die Bolschewistische Partei legt. Schon vor dem formalen Vollzug dieser Vereinigung im August 1917 arbeitet Trotzki eng mit Lenin zusammen.

Die Bolschewiki in Russland hingegen waren in verschiedene Strömungen hinsichtlich ihrer Haltung zur Provisorischen Regierung gespalten, die allesamt die Doppelherrschaft mit der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ in Einklang zu bringen versuchten.

Das Distriktskomitee von Wyborg vertrat ein Programm von Forderungen, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung ausdrückte,  und zugleich glaubte es, dass die Revolution strikt demokratisch wäre. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung gemäß der Linie der bolschewistischen Losungen von 1905 zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.

Es ist kein Zufall, dass das Wyborger Komitee eine linke Position einnahm. Es war eng mit der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, den FührerInnen und AktivistInnen der Februartage verbunden, die durch ihre Aktionen schon über die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution hinausdrängten. Wie real dieser Druck und das Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung, aber auch gegenüber dem menschewistisch-sozialrevolutionären Exekutivkomitee des Sowjet waren, zeigen Stellungnahmen von ArbeiterInnenversammlungen in Fabriken vom März 1917. So erklärt eine „Resolution der Arbeiter der Fabrik ‚Dinamo’“ nach dem 5. März, dass sie sich dem Rat der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten nicht unterwerfe, weil er die Revolution nicht vorantreibe und keine konsequente Politik zur Beendigung des Krieges und Verbrüderung mit den deutschen Soldaten betreibe (49). Versammlungen proletarischer Frauen erhoben grundlegende Forderungen wie volle Gleichstellung, den 8-Stunden-Tag, Frauen- und Mutterschutz und riefen zur Organisierung der Frauen auf (50). Andere berichten davon, dass betriebliche Räte und ArbeiterInnenkontrolle errichtet worden seien, die bis zur „Entfernung“ der Fabrikleitung und zur Übernahme durch die Fabrikkomitees ging. Solche Forderungen und Aktionen gingen über eine rein demokratische Umwälzung hinaus, und das Wyborger Komitee versuchte, die Machtfrage mit der Doktrin von 1905 zu lösen.

Das Petrograder Komitee wurde hauptsächlich von früheren politisch Verbannten, die durch die Februarrevolution befreit worden waren, gebildet. Sie nahmen einen konservativeren Standpunkt ein. Am 3. März entschlossen sie sich, „der Macht der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen.“ (51)

Diese Position implizierte keine unmittelbare Herausforderung gegenüber der vorherrschenden menschewistischen Linie im Exekutivrat des Sowjets. Sie ließ vielmehr offen, ob die Provisorische Regierung nicht doch den tatsächlichen Interessen der Massen diene, und ähnelte der Position einer „kritischen Unterstützung“ der bürgerlichen Regierung durch die Menschewiki.

Das russische Büro des exilierten Zentralkomitees (Schljapnikow, Molotow und Zalutsky) schwankte. Zuerst forderten sie, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von oben herab von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte, also eine Koalition aus Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki. Ihre programmatische Agenda beschränkte sich darauf, die drei Schwerpunkte des sozialdemokratischen Minimalprogramms, den Achtstundentag, die demokratische Republik, die Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft, sowie die Vorbereitung einer konstituierenden Versammlung durchzusetzen.

Auch hier finden wir die Perspektive einer rein demokratischen Etappe, über die die Revolution nicht hinausgehen könne. Diese Perspektive führte sie anfänglich dazu, Flugblätter des „linkeren“ Wyborg-Distrikts, die zur Bildung einer auf den Sowjets basierenden Regierung von unten her aufriefen, in Acht und Bann zu legen.

Die Perspektive eines Paktes mit den anderen Sowjet-Parteien stieß jedoch auf das Problem, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Regierung nicht mit den Bolschewiki teilen wollten. Diese Erkenntnis trieb das russische Büro bald nach links. Vom 22. März an bezeichnete es die Sowjets als Embryos einer neuen Staatsmacht. Andererseits betonte es weiter, dass die Revolution nicht auf den Fall der Kapitalherrschaft abziele, sondern auf den der Selbstherrschaft des Zaren und des Feudalismus. Hinter diesen Schwankungen vollzog diese Strömung generell eine Linksentwicklung und entwickelte sich schon vor Lenins Rückkehr in seine Richtung, auch wenn sie nicht in der Lage war, die Fesseln der traditionellen Konzeption zu lösen. (52)

Den rechtesten Standpunkt innerhalb des Bolschewismus nahm die Redaktion der Prawda ein. Herausgegeben wurde sie damals von Stalin, Muranow und Kamenew. Die „Prawda“ erklärte so am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ (53)

Diese Position verfolgte Stalin konsequent weiter, indem er argumentierte, dass, „die Provisorische Regierung in der Tat die Rolle des Verteidigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes angenommen hat. Gegenwärtig ist es nicht in unserem Interesse, Ereignisse herbei zu zwingen, die den Ausschluss von bürgerlichen Schichten, die unvermeidlich eines Tages sich von uns trennen werden, beschleunigen.“ (54)

Am 15. März benutzte Kamenew die „Prawda“, um eine bedingte Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen, da nun die Autokratie gestürzt worden war. So verwundert es wenig, dass Mitte März die Arbeiterbasis im Wyborger Distrikt für Anträge stimmte, die „Prawda“-Führung aus der Partei auszuschließen.

Die Prawda-Redaktion repräsentierte zwar nicht die Mehrheit der Bolschewiki, aber nutzte bzw. missbrauchte ihre redaktionellen Rechte, um ihre Linie zur vorherrschenden zu machen. Dabei kam ihr zugute, dass sie, im Gegensatz zu den drei anderen Strömungen, eine in sich folgerichtige, schlüssige Linie verfocht. Das Wyborger Komitee, das Petersburger Komitee und das exilierte Zentralkomitee waren in den inneren Widersprüchen der Politik von 1905 gefangen. Einerseits drängten sie in Richtung einer unabhängigen ArbeiterInnenpolitik, andererseits waren sie an die Vorstellung gebunden, dass die Revolution nur eine demokratische sein könne.

Vor Lenins Ankunft drängte daher die Prawda-Richtung die Partei nach rechts. Ende März äußerte sich Stalin auf einer Parteikonferenz wie folgt zur Frage der Provisorischen Regierung und ihres Verhältnisses zu den Räten:

„Die Macht ist auf zwei Organe aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt widerstrebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes, die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem wir den Prozeß der Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in der Folge unvermeidlich von uns trennen müssen.“ (55)

Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, Provisorische Regierung und Räte teilten sich die Arbeit, der Klassenkampf wurde zu einer Frage des „Drucks“ auf eine Regierung, deren Ablösung nicht weiter forciert werden sollte.

Aufgrund kritischer Stimmen schwächten Stalin und Kamenew zwar ihre Formulierungen etwas ab, um sie am nächsten Tag jedoch in der Substanz  beizubehalten:

„So weit die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution festigt, so weit müssen wir sie unterstützen; aber so weit sie konterrevolutionär ist, ist die Unterstützung der Provisorischen Regierung unzulässig. Viele GenossInnen, die aus den Provinzen ankamen, haben die Frage aufgeworfen, ob wir unmittelbar die Frage der Machtergreifung stellen sollten. Aber die Zeit ist nicht reif, die Frage jetzt zu stellen.“ (56)

Auf derselben Konferenz wurde die Frage einer Vereinigung mit den Menschewiki aufgeworfen und die Tagung wurde mehrmals für gemeinsame Sitzungen mit den Sozialpatrioten unterbrochen. Auch wenn es widersprechende Stimmen gab, so zeigte sich, dass in vielen Städten schon Verhandlungen über die Vereinigung geführt wurden. Delegierte, die auf der Notwendigkeit einer programmatischen Klärung und Übereinstimmung als Voraussetzung für eine Fusion beharrten, wurden von jenen überstimmt, die die alten Differenzen als nicht mehr so wichtig betrachteten, zumal Menschewiki und Bolschewiki, formell betrachtet, noch immer dasselbe Parteiprogramm hatten. Die Konferenz optierte mehrheitlich für Vereinigungsdiskussionen. (57)

Jene Delegierten, die auf der programmatischen Abgrenzung beharrten, folgten zweifellos einem richtigen Impuls. Aber sie selbst hatten mit dem Dilemma zu ringen, dass sie einerseits programmatische Klarheit forderten, andererseits aber keine klare Alternative zum „traditionellen“ Bolschewismus zu formulieren imstande waren.

Dieses Dilemma konnte im Rahmen der Konzeption von 1905 nicht gelöst werden – deren innere Widersprüche konnten nur durch einen politischen Bruch mit ihren Beschränkungen überwunden werden.

Eine solche programmatische Umrüstung und Neuausrichtung erfolgte im April 1917 mit Lenins Rückkehr. In These 9 der berühmt gewordenen Aprilthesen weist er selbst auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Programms hin.

„Änderung des Parteiprogramms, in der Hauptsache in folgenden Punkten:

1. Imperialismus und imperialistischer Krieg;

2. Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ‚Kommunestaates‘;

3. Berichtigung des veralteten Minimalprogramms;“ (58)

Die Aprilthesen

Die Aprilthesen verfasste Lenin am 4./5. April bei seiner Rückkehr nach Russland, nachdem er auf ersten Versammlungen seine grundlegende Linie dargelegt hatte. Nicht nur Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch die Mehrzahl der Bolschewiki waren schockiert. Das Petersburger Komitee lehnte nach einer ersten Diskussion die Aprilthesen mit 2 gegen 13 Stimmen ab, auch Komitees aus Moskau und Kiew wiesen sie zurück. Die Prawda veröffentlichte die Thesen am 7. April nur mit einer redaktionellen Distanzierung,, in der Kamenew schreibt:

„Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, …so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung der Revolution in eine sozialistische berechnet ist…“ (59)

Kamenew, der konsequenteste und theoretisch versierteste Wortführer des rechten Flügels der Partei, drängte im Namen der Prawda-Redaktion selbst auf eine Überwindung der Widersprüchlichkeiten der „demokratischen Diktatur“. Er ging somit nach rechts, was ihn letztlich ins Lager des Menschewismus geführt hätte.

Lenin bekämpfte diese Richtung im April 1917 scharf  und konnte auch die Mehrheitsverhältnisse in der Partei zu seinen Gunsten ändern. Sie wurde politisch „umgerüstet“. Worin bestand nun diese Neuausrichtung?

Die Aprilthesen („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“) (60) gehen von der internationalen Lage aus. Der Krieg ist auch auf Seiten des von der Provisorischen Regierung geführten Russlands noch immer ein imperialistischer Krieg. Der revolutionäre Defätismus, den der rechte Flügel der Partei ad acta legen wollte, behält auch unter der neuen Regierung seine Gültigkeit, weil es eine Regierung der Kapitalisten ist, die einen imperialistischen Raubkrieg führt.

„Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat seine Zustimmung nur unter folgenden Bedingungen geben: a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.“ (61)

Damit erfolgte nicht nur eine klare politische Ablehnung der Regierung. Zugleich wurde auch deutlich, dass jede Vereinigung mit den Sozialpatrioten nur Verrat am internationalen Proletariat sein könne, weil dies den Wechsel ins Lager der Vaterlandsverteidiger bedeuten würde.

Statt die Provisorische Regierung „kritisch zu unterstützen“, gehe es darum, ihren Sturz vorzubereiten, von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution überzugehen. Dass sie sich noch halten könne, liege vor allem an der „mangelnden Organisiertheit des Proletariats“ und „Vertrauensseligkeit der Massen“. Es gehe daher nicht um die unmittelbare Machtergreifung, sondern auf deren Vorbereitung durch Aufklärung der Massen, Unterstützung von deren Initiativen, Enthüllung des wahren Charakters des Krieges, der Regierung und des Versöhnlertums. Solange die Bolschewiki nicht die Führung der ArbeiterInnen und ländlichen Massen errungen hätten, müssten sie ihre Politik darauf ausrichten,  diese von der Notwendigkeit der Machtergreifung zu überzeugen.

Lenin macht deutlich, dass eine solche Regierung nicht unmittelbar den Sozialismus einführen würde oder könnte, sondern dass sie durch die „Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates“ unterliege und durch „sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat“ den Übergang zu einer solchen Gesellschaftsordnung einleiten würde.

Diese Forderungen, die die Voraussetzung für den Sozialismus in Verbindung mit der internationalen Revolution schaffen können, müssten mit dem Kampf für die wirkliche Beendigung des Kriegs durch die Revolution, die ohne Sturz des Kapitalismus unmöglich sei, der Verbrüderung mit den deutschen Soldaten und der Agrarrevolution als Kernfrage der „demokratischen Revolution“ verbunden werden.

Übergangsmethode

Lenin entwirft hier ein Programm von Übergangsforderungen. Die wichtigsten, grundlegenden Fragen der ArbeiterInnenklasse wie aller Unterdrückten dürfen dem Kampf für die soziale Revolution, dem Kampf gegen das Kapital nicht entgegengestellt werden, sondern müssen vielmehr zu einem Aktionsprogramm gebündelt werden, das die brennendsten Fragen der Massen – „Land, Brot, Frieden“ – mit der Lösung der Machtfrage verbinde.

Dieser Bruch mit der Programmmethode der Zweiten Internationale entspricht Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution und verweist auf die Entwicklung der Übergangsmethode auf den ersten vier Kongressen der Komintern und durch die frühe Vierte Internationale. Lenins eigenes Denken hatte sich schon vor 1917 in diese Richtung entwickelt, wie z. B. eine Polemik gegen Radek (Parabellum) aus dem Jahr 1915 verdeutlicht:

„Bei Gen. P. kommt es so heraus, daß er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht, indem es mit jedem Schritt seiner Bewegung die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus, einer der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, entgegenzustellen. Wir müssen umgekehrt den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolutionären Programm und mit der revolutionären Taktik in bezug auf alle demokratischen Forderungen verbinden: die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte für Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und zudem nicht vollständig, nur verstümmelt zu verwirklichen. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie stützen, indem wir die Unvollständigkeit derselben unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als eine notwendige Basis für die Abschaffung des Massenelends sowie für die volle und allseitige Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen. Einige dieser Maßnahmen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie begonnen werden, andere im Gange dieser Niederwerfung, wieder andere nach derselben. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um alle Fragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. Eben im Namen dieses Endzieles müssen wir einer jeden unserer demokratischen Forderungen eine konsequent revolutionäre Formulierung geben. Es ist denkbar, daß die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, bevor sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, daß das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär entschiedensten Demokratismus.“ (62)

Diese Methode findet sich in den Aprilthesen eindeutig wieder. Sie stand in einem grundlegenden Gegensatz zur Position der rechten Bolschewiki wie Kamenew, gegen die Lenin heftig polemisierte. In „Briefe über die Taktik“ geht er auf dessen Position ein und weist ihm ein Festhalten an überlebten Formeln nach.

Überlebte Formeln

Kamenews Insistieren darauf, dass die „demokratische Revolution“ noch nicht abgeschlossen sei, verdeutliche, dass er die Frage nach dem Charakter der Revolution schon „falsch gestellt“ hätte, weil er unterstellt, dass es überhaupt eine klar abgetrennte und abgeschlossene „demokratische Etappe“ geben könne. Eine lupenreine Trennung der beiden Etappen wird vorausgesetzt, statt die Wirklichkeit danach zu untersuchen, ob diese Vorstellung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt.

„Die Wirklichkeit zeigt uns sowohl den Übergang zur Macht an die Bourgeoisie (‚abgeschlossene‘ bürgerlich-demokratische Resolution von gewöhnlichem Typus) als auch die Existenz – neben der eigentlichen Regierung – einer Nebenregierung, die die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ verkörpert. Diese letztere ‚Auch-Regierung‘ hat selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat sich selber an die bürgerliche Regierung gekettet.

Erfaßt die altbolschewistische Formel des Gen. Kamenew ‚die bürgerliche Revolution ist nicht abgeschlossen‘ diese Wirklichkeit?

Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie mit neuem Leben zu erwecken.“ (63)

Noch deutlicher wird Lenin mit einem weiteren Argument. Er stellt in Frage, ob es „eine besondere, von der bürgerlichen Regierung losgelöste ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ geben kann.“

Wenn überhaupt, dann sei sie nur auf Basis der „sofortige[n], entschiedene[n], unwiderrufliche[n] Loslösung der proletarischen, kommunistischen Elemente der Bewegung von den kleinbürgerlichen Elementen“ (64) möglich.

Diese Trennung wird zur unbedingten Notwendigkeit, weil das Kleinbürgertum nicht „zufällig“ für den Sozialchauvinismus anfällig ist, sondern aufgrund seiner Klassenlage. Daher muss die ArbeiterInnenklasse eine führende Rolle einnehmen – was  auch eine Trennung von und eben nicht Verschmelzung mit den kleinbürgerlichen Parteien erfordert.

Gerade in der Frage der „Vaterlandsverteidigung“ hätten sich die Interessen von Proletariat und Kleinbürgertum getrennt, daher sei der „alte Sinn“ der „demokratische(n) Diktatur“, die eine zeitweilige Interessengleichheit unterstellt, obsolet geworden. Jetzt gehe es um die Zukunft, den Kampf gegen das Privateigentum, den Kampf der LohnarbeiterInnen gegen das Kapital.

Auch in den Aprilthesen findet sich die „demokratische Diktatur“ nicht mehr, weil sie bestenfalls eine zwiespältige Formel geworden ist. Stattdessen heißt es: „5. Keine parlamentarische Republik -von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts -, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben.

Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft.“ (65)

Die Februarrevolution hatte zwar begonnen, den zaristischen Staatsapparat zu zerbrechen, doch dieses Werk musste durch eine zweite Revolution zu Ende gebracht werden. Ähnlich wie Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“ knüpft er dabei an Marx‘ Schriften zur Revolution von 1848 und die Schriften zur Commune an.

Die „Briefe aus der Ferne“, die Kommentare und Erklärungen zu den Aprilthesen betonen immer wieder die Notwendigkeit, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen Rätestaat zu ersetzen. Noch vor seiner Rückkehr aus dem Exil verfasste Lenin einen großen Teil der Schrift, die später unter dem Titel „Staat und Revolution“ (66) veröffentlicht werden wird.

Hier zeigt sich eine weitere Seite der Abwendung Lenins von den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. In seinem Denken spielen die Räte in der Revolution 1917 eine qualitativ andere Rolle als 1905. Das ist kein Zufall, denn in einer Revolution, die eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung an die Macht bringt, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats darstellt, müssen die Räte eine zentrale Rolle spielen – nicht nur für den Sturz des bestehenden Systems, sondern auch für die Etablierung eines proletarischen Halbstaates.

Die enorme Bedeutung von „Staat und Revolution“ besteht für Lenin sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. 1917 steht die Entwicklung vor der Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Daher sei die Aufklärung der Massen darüber eine unmittelbare Aufgabe. Theoretisch geht es um den Bruch mit den Entstellungen der marxistischen Auffassung vom Staat durch die Theoretiker der Zweiten Internationale. „Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.“ (67)

Diese Wiederherstellung des Marxismus ist mit den Aprilthesen und der gesamten Strategie der Bolschewiki eng verbunden. Methodisch stehen sie hinsichtlich der Analyse der Russischen Revolution, ihrer Triebkräfte, ihrer Zielsetzung auf demselben Boden wie Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“.

Es ist kein Zufall, dass sich Trotzki und seine kleine Organisation, die Meschrajonzy, den Bolschewiki anschlossen und Trotzki gemeinsam mit Lenin einer der Strategen und zentralen Führer der Russischen Revolution wurde. Erst im Zuge des Fraktionskampfes mit der Troika und später mit dem Stalinismus wurde diese Übereinstimmung der Ideen, Konzepte und Politik in Frage gestellt werden. Die Behauptung, dass es grundlegende Differenzen zwischen Trotzki und den Aprilthesen gegeben habe, dass Lenin eine andere Strategie verfolgt habe, ist, historisch betrachtet, eine Fälschung und Entstellung. Sie entstammt nicht wissenschaftlichen Forschungen, sondern den Bedürfnissen der Troika im Kampf um die Nachfolge Lenins und dem Bemühen um Ausschaltung Trotzkis, der Suche der Bürokratie nach einer Legitimation ihrer Herrschaft und der Rechtfertigung der eigentlich menschewistischen Etappentheorie des Stalinismus. Es ist kein Wunder, dass diese (Mach-)Werke über Scholastik nicht hinauskommen und gerade den Bruch Lenins mit den Schwächen der „altbolschewistischen Tradition“ relativieren.

Eine Lektüre der wichtigsten Schriften Lenins und Trotzkis im Jahr 1917 offenbart die Gemeinsamkeit der strategischen Ausrichtung, der Einschätzung des Charakters der Revolution, der Hauptaufgaben der ArbeiterInnenklasse und der revolutionären Partei. Mehr noch als jedes Textstudium beweist das der Verlauf der Revolution selbst.

Alle Macht den Räten und Taktik gegenüber der Koalitionsregierung

Mit den Aprilthesen hatte Lenin programmatisch den „gordischen Knoten“ des „alten“ Bolschewismus zerschlagen. Im April 1917 gelang es ihm, einen größeren Teil der Führung von seiner Position zu überzeugen. Die Fusionsabsichten mit den Menschewiki waren vom Tisch. Die Petrograder Stadtkonferenz stimmte den von ihm verfassten Thesen zu. Der gesamtrussische Parteitag der Bolschewiki Ende April nahm in etlichen Punkten Lenins Position an. Aber der Widerstand der Parteirechten war beträchtlich und die Strömung um Kamenew stellte während der gesamten Russischen Revolution eine bedeutende Gruppierung dar, die immer wieder mit Positionen rechts von der Mehrheit aufwartete. Auch die Beschlüsse der Konferenz spiegelten teilweise ihre Stellung wider. So standen 5 von 9 gewählten Mitgliedern des Zentralkomitees dem rechten Flügel nahe.

Dennoch ist es bemerkenswert, wie rasch Lenin aus der Position der Minderheit die „Umbewaffnung“ der Partei durchsetzen konnte. Der entscheidende Grund war sicherlich, dass seine politische Konzeption in der realen Entwicklung und in den Stimmungen der Avantgarde der Klasse einen Nährboden fand, dass sie ihrem Streben nach einer Lösung der von der Revolution gestellten Fragen einen in sich schlüssigen, folgerichtigen Ausdruck verlieh. Die praktischen Erfahrungen und die Logik ihres eigenen Handelns, nicht zuletzt die Errichtung der Räte, die Einführung von Formen der ArbeiterInnenkontrolle, die Doppelmacht und ihre inneren Widersprüche warfen Fragen auf, die die Aprilthesen verknüpfen und als Gesamtheit beantworten konnten. Sie waren eine Anleitung zum Handeln. Zum anderen zeigten sie auch jenen Bolschewiki, die sich schon politisch-konzeptionell nach links entwickelt hatten, jedoch noch nicht die Konzeption der „demokratischen Etappe“ zu überwinden vermochten, einen Ausweg, indem sie ihnen vor Augen führten, dass das alte Schema des Bolschewismus selbst gesprengt werden musste.

Der Gedanke konnte nur zur materiellen Wirklichkeit werden, Fuß fassen, weil auch die Wirklichkeit in diese Richtung drängte.

Dazu tat schließlich auch die reale Entwicklung das Ihre. Die Provisorische Regierung erwies sich als unfähig und unwillig, auch nur eines der Probleme des Landes zu lösen. Der imperialistische Krieg wurde fortgesetzt und neue Offensiven wurden vorbereitet. Die wirtschaftliche Desorganisation des Landes nahm weiter zu. Die soziale Frage in der Stadt und die Agrarfrage blieben ungelöst und wurden wie die demokratische Umwälzung auf die lange Bank geschoben. Die Kapitalistenklasse und die bürgerliche Regierung waren politisch bei den Massen diskreditiert.

Es gab im Grund schon Ende April/Anfang Mai 1917 nur drei Möglichkeiten, die Lage zu klären: Erstens: Die Bourgeoisie beendet mit diktatorischen Mitteln die Doppelmacht. Dazu war sie jedoch (noch) zu schwach und unentschlossen. Zweitens: Die Räte übernehmen allein die Macht. Dazu waren jedoch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht gewillt, obwohl sie von Seiten der Bourgeoisie daran nicht gehindert werden konnten. Die dritte Möglichkeit bestand in einer Fortsetzung der Kollaboration von Bourgeoisie, Generalität und kleinbürgerlichen „Sozialisten“ in einer anderen Form. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die als Parteien offiziell außerhalb der Regierung standen, entschlossen sich zum Eintritt – natürlich, „um die Revolution zu retten“.

„Trotz aller politischen Gefahren, die mit dem Eintritt der Sozialisten in die bürgerliche Regierung verbunden sind, hätte unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Weigerung der revolutionären Sozialdemokratie, auf Grundlage eine festen demokratischen Plattform in bezug auf die Außen- und Innenpolitik aktiv an der Provisorischen Regierung teilzunehmen, die Revolution zu Scheitern verurteilt und wäre den Interessen der Arbeiterklasse und der gesamten revolutionären Demokratie zuwidergelaufen. Der Eintritt der Sozialisten in die Regierung auf Grundlage einer Plattform, die sich auf eine aktive Politik mit dem Ziel eines frühestmöglichen allgemeinen Friedensschlusses auf demokratischer Basis richtet, soll ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Krieges gemäß der internationalen Demokratie sein.“ (68)

Die Koalitionsregierung zwischen bürgerlichen Parteien und den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie war geboren. Der Krieg wurde fortgesetzt, die Bauern und ArbeiterInnen weiter vertröstet. Die beginnenden und zunehmenden Landnahmen, also Enteignungen des Großgrundbesitzes, sollten unterbunden und nicht legalisiert werden, die Tendenzen zur ArbeiterInnenkontrolle sollten gestoppt und die Armee wieder kampffähig werden. So sollte die Konterrevolution zum „Wohl der Revolution“ wirken.

Die Bolschewiki kritisieren die Koalition von Beginn an scharf und ohne Rücksichtnahme auf ihre „sozialistischen Minister“. Sie tun dies allerdings aus der Position einer wachsenden Minderheit der ArbeiterInnenklasse und in den Räten. Lenin selbst hatte in den Aprilthesen darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Partei nicht darin bestehen könne, unmittelbar selbst die Macht zu ergreifen. Vielmehr müssten als nächster Schritt die ArbeiterInnenklasse und die Bauernschaft über die Notwendigkeit der Machtergreifung aufgeklärt, darauf vorbereitet werden.

Die von der Regierung geplante erneute Offensive an der Front bildete dabei im Mai und Juni 1917 ein, wenn nicht das Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Mit dem Regierungseintritt hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf den ersten Blick ihre Macht gefestigt, andererseits aber auch ihre Stellung gegenüber den Massen weiter gefährdet, weil sie den Machtinstitutionen beider Seiten, der Doppelmacht, angehörten. Das lähmte einerseits die Sowjets und führte zur Verschlechterung der allgemeinen Lage – es führte den Massen aber auch vor Augen, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution nicht weiterbrachten.

Genau hier setzten die Bolschewiki an. Sie entlarvten alle bürgerlichen, arbeiterfeindlichen, bauernfeindlichen und imperialistischen Maßnahmen der Regierungssozialisten.

Sie beließen es aber nicht dabei, sondern versuchten, die inneren Widersprüche der Politik von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Spitze zu treiben. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ diente dazu, die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen mit der Frage der Macht zu verknüpfen. Sie war aber auch direkt an die Mehrheit in den Räten, an Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gerichtet, die Doppelmacht zugunsten der Sowjets zu beenden. Eine solche Mehrheit der „kleinbürgerlichen Demokratie“ hätte die Räte keineswegs schon zu einer sozialistischen Politik gebracht, aber sie hätte bedeutet, dass sich diese Parteien auf  radikalisierte (und sich weiter radikalisierende) Massen aus ArbeiterInnen, Soldaten, Bauern und Bäuerinnen hätten stützen müssen.

Die Bolschewiki hatten dabei keineswegs nur eine theoretische Kritik vor Augen. Sie wollten den Rätekongress im Juni 1917 selbst massiv unter Druck setzen.

„Während des ersten Allrussischen Kongresses der Sowjets schlug der erste erschreckende Donner ein, der die künftigen Geschehnisse ahnen ließ. Für den 10. Juni hatte die Partei eine bewaffnete Demonstration in Petrograd beschlossen. Diese sollte unmittelbar auf den Allrussischen Kongress einwirken: ‚Ergreift die Macht‘, wollten die Petrograder Arbeiter den aus dem ganzen Land versammelten Sozialisten-Revolutionären und Menschewiki zurufen: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, verwerft die Koalition und ergreift die Macht´. Uns war klar, dass ein Bruch der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie sie gezwungen hätte, eine Stütze in den entschlossensten vorderen Reihen des Proletariats zu suchen; sie hätten sich somit auf Kosten der letzteren eine führende Stellung gesichert. Aber gerade davor schraken die klein-bürgerlichen Führer zurück.“ (69)

Die Losungen „Alle Macht den Räten!“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“, „Raus mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ wurden nicht nur von den Bolschewiki popularisiert, sondern erwuchsen auch aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse, vor allem der ArbeiterInnenvorhut in Petersburg und anderen städtischen Zentren. Hinzu kam, dass sich auch größere Teile der Matrosen und der Garnison deutlich nach links entwickelten.

Wie Trotzki im Übergangsprogramm darlegt, war die Losung letztlich eine frühe Form der Anwendung der Losung der ArbeiterInnenregierung:

„Von April bis September 1917 forderten die Bolschewiki, die Sozial-Revolutionäre und die Menschewiki sollten mit der liberalen Bourgeoisie brechen und die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und den Sozial-Revolutionären, als den kleinbürgerlichen Vertretern der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Unterstützung gegen die Bourgeoisie; sie lehnten es jedoch kategorisch ab, sowohl in die Regierung der Menschewiki und Sozial-Revolutionäre einzutreten, als auch die politische Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wenn die Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre wirklich mit den (liberalen) Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen hätten, dann hätte die von ihnen geschaffene ‚Arbeiter- und Bauernregierung‘ nur die Errichtung der Diktatur des Proletariats beschleunigen und erleichtern können. Aber gerade aus diesem Grund stemmten sich ja die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit aller Gewalt gegen die Errichtung ihrer eigenen Regierung. Die Erfahrung Rußlands hat gezeigt, und die Erfahrung Spaniens und Frankreichs bestätigt es von neuem, daß selbst unter günstigsten Bedingungen die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) unfähig sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung, d. h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung, zu schaffen.

Trotzdem hatte die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Forderung der Bolschewiki: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure eigenen Hände! ‚ einen unschätzbaren erzieherischen Wert für die Massen. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so tragische Weise offenbar wurde, verurteilte sie endgültig in der Meinung des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.“ (70)

Die Forderung an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, war eine Form der Einheitsfronttaktik, die die Bolschewiki systematisch immer wieder in der Russischen Revolution – nicht nur im Kampf gegen Kornilow – anwandten. Die Losung „Weg mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ bezog diese formal auf die Provisorische Regierung. Die Parole „Alle Macht den Räten“ war, solange diese eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Dominanz hatten, auch eine Parole der Einheitsfront.

Die Bolschewiki vermieden dabei im Großen und Ganzen zwei grundlegende Fehler: Opportunismus und Linksradikalismus, auch wenn sie davon keineswegs frei waren, aber sie vermochten, diese im Zaum zu halten. Zweifellos hatte der rechte Flügel mit Kamenew und anderen beredte Vertreter einer opportunistischen Entstellung der Einheitsfrontpolitik. Dieser Flügel strebte eine Regierung aller Sowjetparteien, also eine Koalition der Bolschewiki mit den Sozialchauvinisten an (und trat dafür kurzzeitig auch noch nach dem Oktoberaufstand ein). Die linksradikale Neigung, aufgrund der Dynamik der Avantgarde vorschnell auf die Machtergreifung zuzustreben, sollte sich in den kommenden Wochen jedoch auch bemerkbar machen.

Die Julitage

Die Koalition aus Bürgerlichen, Sozialrevolutionären und Menschewiki war bald von denselben Problemen gebeutelt wie ihre Vorgängerin. Auch sie konnte keine grundlegende Frage lösen, setzte aber den Krieg fort, um endlich das Schicksal an der Front wenden. Die Bolschewiki planten für den Sowjetkongress eine bewaffnete Demonstration, welche eine Einstellung der Planung für eine Offensive gegen Österreich-Ungarn und die Bildung einer Räte-Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki (nicht der Bolschewiki) forderte. Diese wurde verboten und die Partei sah sich gezwungen, die Demonstration abzublasen. Um dem Unmut der ArbeiterInnen und Soldaten in Petersburg entgegenzukommen, setzte die Sowjetführung selbst für den 18. Juni eine „Einheitsdemonstration“ an. Diese wurde entgegen der Absicht ihrer Initiatoren zu einem Zeichen der Kräfteverschiebung in der Hauptstadt.

„Am vorgesehenen Tag mussten die gemäßigt-sozialistischen Sowjetführer mit ansehen, wie die Arbeiter und Soldaten aus nahezu sämtlichen Petrograder Fabriken und Militärregimentern, mehr als 400.000 an der Zahl, in langen Reihen an ihnen vorbeimarschierten und dabei purpurrote Transparente in die Luft hielten: ‚Nieder mit den zehn Minister -Kapitalisten!“, „Nieder mit der Politik der Offensive!“ und „Alle Macht den Sowjets!“ Im Meer der bolschewistischen Banner und Plakate, darin stimmen alle Zeitzeugen überein, waren die offiziellen Parolen des Kongresses nur vereinzelt zu sehen.“ (71)

Dies entsprach auch einem rasanten Wachstum der Bolschewistischen Partei. So hatte sie in Petersburg, dem Zentrum der Revolution, im Februar gerade 2000 Mitglieder, Ende April 16.000 und Ende Juni 32.000. Ihre Mehrzahl war proletarisch, darüber hinaus gewann sie größeren Einfluss unter den Matrosen und begann, sich bei den Soldaten zu verankern.

Diese unerfahrenen, radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse, einschließlich vieler neu gewonnener Parteimitglieder, drängten aufgrund ihrer Erfolge darauf, die Massenmobilisierung zur Machteroberung, zum Aufstand zuzuspitzen. Die Sache wurde durch eine weitere Regierungskrise verschärft.

Am 3. und 4. Juli demonstrierten bewaffnete Matrosen, ArbeiterInnen und Soldaten. Hinter ihnen stand ein großer Teil der Avantgarde der Revolution in Petrograd und auch der Baltischen Flotte. Die vorwärts drängenden Massen wollten die Räte zur Macht zwingen, endlich ihre brennenden Fragen lösen. Zweifellos mag es auch Provokateure, Abenteurer usw. gegeben haben, die eine frühzeitige Machtprobe – und deren Niederlage – wollten. Allein, das könnte diese Entwicklung nicht erklären.

Die Triebkräfte, die zur Revolution geführt hatten, führten auch dazu, dass ihre entschiedensten Trägerin, eine radikalisierte, aber politisch wenig erfahrene Avantgarde, nicht länger warten wollte. Vertröstet war sie in den letzten Monaten von der Regierung und den Sowjetführungen schon genug geworden.

Die Führung der Bolschewistischen Partei um Lenin wollte eine solche Machtprobe nicht, sondern hatte ihre Parteikader im Juni vor einer vorzeitigen Zuspitzung gewarnt, weil die Kräfteverhältnisse im Land weitaus ungünstiger waren als in Petrograd. Die Bauernschaft war noch von den Sozialrevolutionären dominiert, die Armee auch. Hinzu kam, dass eine bolschewistisch geführte Machtergreifung im Land als Putsch gegen die Räte wahrgenommen worden wäre.

Der Vorwurf an die Bolschewiki, dass sie einen Umsturz geplant hätten, ist, wie die Hetze gegen die Partei und ihre Führung, eine Konstruktion, die faktisch nicht standhält.

Der Druck der Avantgarde machte sich jedoch auch unter den Bolschewiki, z. B. unter den Führern der Wyborger Parteisektion und der Militärsektion bemerkbar, die zum entschiedenen Handeln drängten bzw. durch ihre eigene Basis gedrängt wurden. Das führte auch dazu, dass diese durchaus eigenmächtig agierten und die Partei mit zum verfrühten Aufstand „schieben“ wollten.

Schließlich entschieden die Bolschewiki nach der Manifestation vom 3. Juli, dass sie die Demonstrationen am 4. Juli in geordnete Bahnen lenken und so einen organisierten Rückzug durchführen wollten. Dies war jedoch nur bedingt möglich, weil die Aktionen schon über eine reine Demonstration hinausgegangen waren und es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Gegen Ende des 4. Juli gewannen die loyal zur Regierung und Sowjetführung stehenden Armeeeinheiten die Oberhand.

Die Linie der Bolschewiki, einer Machtprobe, so gut es noch ging, auszuweichen, war zweifellos korrekt. Die Partei hätte, selbst wenn der Sieg in Petersburg errungen worden wäre, die Stadt nicht halten können. Die „Vorbereitungsarbeit“, die Gewinnung der Armee und des Dorfes, war noch nicht abgeschlossen.

Bei aller Militanz gab es aber auch eine innere Widersprüchlichkeit in der Massenbewegung selbst, auf die die radikale Avantgarde keine Antwort hatte, die ihr z. T. in den Julitagen erst vor Augen geführt wurde. Die Demonstrationen und die bewaffneten Kontingente waren eine Fortsetzung der Aktionen der Zeit vor Juni und liefen unter denselben Zielsetzungen (raus mit den Kapitalisten-Ministern, brecht mit der Bourgeoisie, alle Macht den Sowjets). Sie richteten sich an jene Sowjetführer und „Sozialisten“- Minister, die selbst nicht die Macht ergreifen wollten. Auf dieses Problem – selbst ein Resultat der Doppelmacht unter kleinbürgerlich-demokratischer Sowjetführung – hatten die DemonstrantInnen und auch die Avantgarde keine Antwort. Dass sich diese FührerInnen nicht zur Machtergreifung führen ließen, paralysierte und zersplitterte eine Bewegung, die zwar massenhaft und bewaffnet war, aber auch mit einem undurchführbaren Ziel in die Konfrontation ging. Neben der Lage im Land war es auch diese innere Unklarheit, die zeigt, dass ein Kampf um die Macht verfrüht gewesen wäre.

„Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch der Demonstration aufzurufen. Jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf, fast keinen Widerstand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen. Sie fühlten nun, daß es sich mit der Frage der Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie gedacht.“ (72)

In diesem Sinn hatten die Julitage auch einen „erzieherischen“ Wert. Aber sie hätten zu einem weit schwereren Rückschlag werden können, wenn sich die Lage der Regierung nach dem Zusammenbruch der Offensive nicht selbst bald wieder verschlechtert hätte. Für den Juli und großen Teil des August musste die Bolschewistische Partei ihre Strukturen, ihre Presse wieder neu aufbauen, ihr Innenleben war sehr geschwächt.

Unmittelbar nach der Niederlage der Juli-Aktionen entfachten Reaktion und Regierung Verleumdungs- und Hetzkampagnen gegen die Bolschewiki. Ihnen wurde die Verantwortung für die Julitage und die Planung eines Aufstandes in die Schuhe geschoben. Vor allem aber wurde ab dem 5. Juli eine konzentrierte Hetze gegen Lenin und weitere Parteiführer eröffnet. Die rechte Presse veröffentliche fabrizierte Dokumente und andere angebliche „Beweise“, dass jene gekaufte Agenten des deutschen Kaiserreichs wären. Lenin, Sinowjew und andere Parteiführer mussten in den Untergrund, hunderte Kader wurden festgesetzt, die Gefängnisse füllten sich mit RevolutionärInnen.

Die konterrevolutionäre Agitation, die Niederlage schüchterten die ArbeiterInnen und Soldaten ein. Die Bolschewiki verloren an Anhang und Rückhalt, wie umgekehrt die Zuversicht der Reaktion stieg.

Der Schlag gegen die Bolschewiki ermutigte die offene Konterrevolution. Der Schlag gegen die konsequenten RevolutionärInnen sollte und musste, vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet, auch gegen die Räte geführt werden. Verhaftungen von radikalen ArbeiterInnen und Entwaffnungen der Milizen, Einschränkung der Soldatenrechte und Abschaffung des Kommissarswesens, Wiedereinführung der Todesstrafe, Niederschlagung der Bauernrevolten und, als Krönung all dessen, die nächste militärische Offensive bildeten das Programm der Koalitionsregierung, das von der Sowjetmehrheit freudig oder protestierend akzeptiert wurde.

Für die Konterrevolution ging es darum, das Kräfteverhältnis nicht nur zu verschieben, sondern die Doppelmacht selbst zu beseitigen. Für die Kapitalistenklasse, die Kadettenpartei, den Generalstab war klar geworden, dass eine „demokratische“ Entwicklung untragbar geworden war. Ordnung musste geschaffen werden, und dies erforderte eine harte Hand, die Konzentration der Macht.

Die innere Logik der Koalitionsregierung – einer Form dessen, was später als „Volksfront“ bezeichnet wurde – drängte nicht nur zur Verschiebung der Macht nach rechts, sie drängte zur Einführung eines bonapartistischen, diktatorischen Regimes. Im Juli und August nahm das politisch die Form zunehmender Repression an. Die Ernennung Kornilows zum Oberkommandierenden der Armee, permanente Regierungskrisen und ein Wettlauf darum, wer der Bonaparte Russlands werden sollte, kamen hinzu.

Die Armee und die Bourgeoisie hatten dazu Kornilow ausersehen – Kerenski und seine engeren Berater waren in diese Machenschaften verstrickt, umgekehrt wollte der Regierungschef aber selbst die Position des „Retters des Vaterlandes“ einnehmen.

Die Alternative „Diktatur des Proletariats oder Diktatur des Kapitals“ spitzte sich im Sommer 1917 zu, wobei der erste Schlag von der Konterrevolution kam. Der Putsch Kornilows zeigt deutlich, dass unter den konkreten Bedingungen Russlands eine demokratische Stabilisierung von oben vollkommen ausgeschlossen war. Hätte die Niederlage Kornilows nicht zum Oktober geführt, hätten die Bolschewiki nicht den Weg des Aufstandes beschritten und durchgeführt, so hätte die Entwicklung nur zur offenen staatsterroristischen Diktatur führen können.

Der Sommer 1917 war ein günstiger Moment für die Konterrevolution, insofern die Bolschewiki geschwächt, die ArbeiterInnenklasse und die Soldaten im Zentrum der Revolution desorientiert, die herrschenden Kreise moralisch gestärkt waren.

Die Misserfolge der Regierung, vor allem die desaströse „Offensive“, unterminierten jedoch wieder rasch deren eigene Position. Die ArbeiterInnen und Soldaten leisteten, wenn auch anfänglich hinhaltenden, Widerstand gegen reaktionäre Maßnahmen wie die Entwaffnung. Das Handeln der Regierung und die Katastrophe an der Front erschütterten die letzten Reste der „Vertrauensseligkeit“ der Massen. Die Lügen über den Bolschewismus griffen immer weniger, nicht nur, weil die Bolschewiki versuchten, so gut sie konnten, gegenzuhalten, sondern weil die Lügen von jenen kamen, die täglich und immer offensichtlicher die Massen belogen und betrogen.

Hinzu kam als weiteres wesentliches Moment die Agrarrevolution, die Welle „wilder“ Enteignungen. Die Regierungskoalition, vor allem die Spitze der Sozialrevolutionäre, widersetzte sich diesen, obwohl sie die „Bauernpartei“ war. Sie unterminierte selbst ihre Basis und spaltete sich. Nur die Bolschewiki unterstützten ohne Wenn und Aber die Revolution um Land, was ihre eigene Verankerung ausweitete, vor allem aber die linken Sozialrevolutionäre auf die Seite der proletarischen Revolution zog.

Diese Prozesse verdeutlichen, dass sich die Machtfrage nach dem Juli zuspitzte und innerhalb weniger Monate zugunsten von Kapital oder ArbeiterInnenklasse gelöst werden musste.

Zugleich zeigen die Monate vom Juli bis Oktober auch, dass die Entscheidungsfragen der Revolution der „Politik der Mitte“, der Politik der Zusammenarbeit von reformistischen und kleinbürgerlichen Kräften mit dem Kapital selbst, den Boden entzogen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki hatten über Monate die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, kontrollierten die Räte und über die Soldatenräte auch die bewaffneten Kräfte. Ihre scheinbare Machtfülle entpuppte sich jedoch als Ohnmacht, weil sie die Macht nicht ergreifen, sondern einer anderen Klasse überlassen wollten.

All das sind die Gründe, warum sich die Bolschewistische Partei von den Schlägen der Julitage relativ rasch wieder erholen konnte.

Ende Juli hielt die Partei einen „Vereinigungsparteitag“ ab, an dem  Trotzki und die Meschrajonzy den Bolschewiki beitraten. Formal war es eine Vereinigung der beiden Organisationen, die  nur mit Trotzkis Gruppierung vollzogen werden konnte, jedoch  eigentlich auch an andere internationalistische Kräfte, als deklarierte GegnerInnen der Vaterlandsverteidigung, gerichtet war, insbesondere auch an Martows „Menschewiki-Internationalisten“.

Im August begann ein Wiederaufstieg der Bolschewiki auch zahlenmäßig.  Bis zum Oktober sollte die Partei auf rund 400.000 Mitglieder anwachsen. Ihr Einfluss in den Räten stieg, bei den Wahlen zu den Stadtparlamenten (z. B. in Petersburg) wuchsen ihre Stimmenzahl und Anteile erheblich. Menschewiki und Sozialrevolutionäre beklagten Übertritte. Die Bolschewiki gewannen schon vor der Niederlage des Kornilow-Putsches und trotz der Illegalität und Gefangennahme zentraler Führer der Partei an Einfluss und politischer Stärke.

Räte und Doppelmacht

In der Bolschewistischen Partei erhob sich die Frage, welche Bedeutung die Niederlage für den weiteren Verlauf der Revolution habe. Lenin kommt hier zu entschiedenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Doppelmacht und damit auch der Räte, indem er die Situation vor den Julitagen mit der von ihnen geschaffenen neuen Lage vergleicht.

„Damals, in dieser vergangenen Periode der Revolution, bestand im Staate die sogenannte ‚Doppelherrschaft‘, die materiell wie formal den unbestimmten Übergangszustand der Staatsmacht zum Ausdruck brachte. (…)

Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Auf Grund eines freiwilligen gegenseitigen Übereinkommens teilten sich die Provisorische Regierung und die Sowjets die Staatsmacht.“ (73)

Nun sei die Doppelmacht beendet. „Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.“ (74)

Die Räte seien praktisch zu ihren Erfüllungsgehilfen geworden. Eine „friedliche Entwicklung“ der Revolution sei nicht mehr möglich. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ würde zum Hohn werden, stattdessen müsse der nächste Anlauf der Revolution neue Organe schaffen: „Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie.“ (75)

Bevor wir zur Frage der Sowjets übergehen, müssen wir noch kurz die Frage streifen, in welchem Sinne Lenin davon spricht, dass vor dem Juli (und dann wieder für eine kurze Phase nach dem Kornilow-Putsch) eine „friedliche Entwicklung der Revolution möglich wäre.“ Die erste Voraussetzung war, dass die Februarrevolution schon einen weiten Weg gegangen war, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerbrechen (wenn auch nicht vollständig), die Armee zu paralysieren, Soldatenräte zu schaffen, zu beginnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und Organe zu bilden, die ihrer Form nach solche der Diktatur des Proletariats waren:

„Die Sowjets waren, ihrer Klassenzusammensetzung nach, Organe der Bewegung der Arbeiter und Bauern, waren die fertige Form ihrer Diktatur. Hätten sie die ganze Fülle der Macht innegehabt, so wäre der Hauptmangel der kleinbürgerlichen Schichten, ihr Hauptfehler, die Vertrauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, in der Praxis überwunden worden, wäre der Kritik der  aus ihren eigenen Maßnahmen gewonnenen Erfahrungen unterzogen worden. Der Wechsel der an der Macht stehenden Klassen und Parteien hätte innerhalb der Sowjets, auf dem Boden ihrer Alleinherrschaft und Allgewalt, friedlich vor sich gehen können; die Verbindung aller Parteien der Sowjets mit den Massen hätte fest und unerschütterlich bleiben können. Man darf keinen Augenblick außer acht lassen, daß nur diese enge, frei in die Breite und Tiefe wachsende Verbindung der Parteien der Sowjets mit den Massen dazu hätte verhelfen können, die Illusionen des kleinbürgerlichen Paktierens mit der Bourgeoisie friedlich zu überwinden. Der Übergang der Macht an die Sowjets hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht verändert und hätte es auch nicht ändern können, er hätte an dem kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft nichts geändert. Doch mit dem Übergang wäre rechtzeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch zum Zusammenschluß mit ihnen.“ (76)

Lenin hat also keinesfalls eine versöhnlerische Perspektive im Auge, wenn er von einer „friedlichen Entwicklung“ spricht. Die Losung „Alle Macht den Räten“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“ hat den Charakter einer Übergangsforderung. Lenin forderte von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, selbst die Macht zu übernehmen und eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung zu bilden. Diese wäre noch immer eine bürgerliche Regierung, weil sie auf dem Boden kapitalistischer Eigentumsverhältnisse stehen würde. Insofern wäre ihr Bruch mit der Bourgeoisie notwendig immer halbherzig, an einem entscheidenden Punkt nicht vollzogen. Durch systematische Aufklärung und Anwendung der Einheitsfrontpolitik könnten jedoch die Massen lernen, dass sie ihre eigene Vertrauensseligkeit überwinden und auch mit den Halbheiten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre brechen müssten – und sie hätten in den Räten und mit der Bewaffnung der ArbeiterInnen und Bauern schon einen Tatbestand geschaffen, der die eigentliche Machtergreifung auch ermöglichen könne.

Allein durch den Bruch mit den Kapitalisten-Ministern, die Erklärung der Räte als alleinige Macht wäre letztlich auch die Doppelmacht noch nicht überwunden, solange die Räte eine menschewistisch – sozialrevolutionäre Mehrheit hätten und eine dementsprechende Politik verfolgten. Sie würde jedoch nicht mehr die Form zweier entgegengesetzter Institutionen annehmen, sondern als Kampf der Programme verschiedener Klassen und Parteien im Rahmen der Sowjetdemokratie, der Räteform ausgefochten werden. Ein solcher Kampf könnte natürlich auch kein Dauerzustand sein, sondern müsste gerade in einer revolutionären Krise rasch zugunsten der einen oder anderen Klasse gelöst werden – sprich entweder, indem die Doppelmacht wirklich zugunsten des Proletariats und der Bauernschaft überwunden wird, oder indem es zu deren Degeneration und Inkorporation in das bürgerliche System kommt, die Macht also wieder der Bourgeoisie „voll“ überantwortet wird.

Auch wenn sich Lenin in der Einschätzung im Juli geirrt hatte, so zeigen seine Analysen, dass ihm, ähnlich wie Marx, ein Fetisch der Sowjetform fernlag. Dass auch Räte von der Konterrevolution befriedet und inkorporiert werden können, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Betriebsräte in Deutschland.

Vereinigungskonferenz

Die Thesen Lenins bildeten einen zentralen Diskussionsgegenstand der „Vereinigungskonferenz“ Ende Juli. Er selbst konnte ebenso wenig wie Trotzki und etliche andere ParteiführerInnen teilnehmen. Das Bild, das sich auf der Parteikonferenz präsentiert, zeigt in jedem Fall einen Reifungsprozess der Bolschewiki. (77)

Bubnow, Sokolnikow, Stalin, Swerdlow und andere vertreten Lenins Position, wenn auch mit Akzentuierungen. Die Stärke ihrer Position besteht sicher darin, dass sie den Kurs auf die Machtergreifung  betonen. Ihnen wird entgegengehalten, dass sie das Kind mit dem Bad ausschütten würden. Etliche RednerInnen verweisen darauf, dass die Räte selbst noch nicht vollständig ins Lager der Konterrevolution übergegangen seien, dass sich eine Kräfteverschiebung abzuzeichnen beginne. Die Absetzung von den Räten als zentralem Arbeitsfeld würde die Gefahr mit sich bringen, sich von den Soldaten und Bauern zu isolieren (weniger von ArbeiterInnen, weil es dort z. B. in Form der Fabrikkomitees potentiell andere Formen für eine alternative Macht geben könnte). Einige Redner wie Jurenew, ein Mitarbeiter Trotzkis, stellen auch die Frage in den Raum, warum die Losung „Alle Macht den Räten“ an das friedliche Stadium der Revolution gebunden sein müsse.

Der Kongress überarbeitete die von Stalin im Auftrag Lenins eingebrachten Thesen gründlich. Die Losung „Alle Macht den Räten!“ wird bis Ende August, also bis zum Kampf gegen den Kornilow-Putsch praktisch fallengelassen und in der Resolution durch die Parole „Vollständige Abschaffung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie“ ersetzt. Gleichzeitig solle die Partei die führende Rolle im Kampf gegen die Konterrevolution einnehmen und dazu weiter in den Räten als zentralem Arbeitsfeld tätig sein und auch die Einheitsfronttaktik gegenüber anderen Sowjetparteien anwenden.

Es war sicher korrekt, die Agitation für „Alle Macht den Sowjets!“ in der bislang gebräuchlichen Weise zurückzuziehen, sobald die Parteien der Mehrheit darin ihre totale Komplizenschaft mit den Konterrevolutionären bloßgelegt hatten.

Der drohende Kornilow-Putsch zeigte aber auch, dass Lenin mit der Einschätzung falsch lag, dass die Räte nicht erneuert oder wiederbelebt werden könnten. Im Gegenteil, der Kampf erfüllte sie mit neuer Energie – und veränderte sie auch:

„Die Sowjet-Organisationen zeigten überall, an der Front wie im Hinterland, ihre Lebensfähigkeit und ihre Macht gerade im Kampf gegen den Kornilow’schen Aufstand. Bis zu einer Schlacht ist es fast nirgends gekommen. Die revolutionäre Masse fegte den Putsch des Generals auseinander. Wie die Vermittler im Juli in der Petrograder Garnison keine Soldaten auftreiben konnten, so fand auch jetzt Kornilow auf der ganzen Front keine Soldaten gegen die Revolution.“ (78)

Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch ist das berühmt gewordene Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik. In „An das Zentralkomitee der SDAPR“ (79) skizziert Lenin sehr anschaulich, wie die Bolschewiki gegen Kornilow kämpfen sollten.

Dabei richtet er sich gegen eine rechte Abweichung von der Einheitsfronttaktik, wie sie von Teilen der Bolschewiki wie Wolodarski vertreten wurde. Diese schlugen einen Block mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zur Unterstützung der Provisorischen Regierung vor. Die von Kamenew stark beeinflusste Sowjetfraktion steuerte in diese opportunistische Richtung. Zweifellos zeigt sich daran das Bestreben des rechten Parteiflügels, eine Einheitsfront gegen die Konterrevolution als Schritt zur Bildung einer Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu betrachten.

Der linke Flügel der Partei andererseits wies durchaus ultralinke Tendenzen auf, selbst bis hin zur Ablehnung jeder Form der praktischen Zusammenarbeit mit den Sowjetorganen, die von deren Mehrheit zu Verteidigungszwecken eingerichtet worden waren. Diese Haltung stieß aber angesichts der realen Entwicklung rasch an ihre Grenzen und war relativ leicht zu überwinden. Die rechte Abweichung stellte die größere politische Gefahr dar.

Lenin kritisiert sie scharf, weil es eine Aufweichung in der Frage der Landesverteidigung, einen Übergang zum Sozialpatriotismus mit sich bringen würde und damit eine Absage an den Internationalismus. Er führt die notwendige Taktik dabei folgendermaßen aus:

„Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik‘ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen.

Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche.“ (80)

Und weiter:

„Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, aber jetzt ist das die Hauptsache geworden; darin besteht die Änderung.“ (81)

Lenin verdeutlicht hier, wie die Einheitsfrontpolitik in eine Strategie zur Machtergreifung eingebettet ist. Der Opportunismus des rechten Flügels der Bolschewiki in der Frage hängt umgekehrt eng mit deren Opportunismus in der Regierungsfrage zusammen.

Lenin führt im selben Brief auch noch aus, wie er sich den aktuellen Kampf gegen Kerenski vorstellt.

„Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt verstärkte Agitation für gewisse ‚Teilforderungen‘ an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf.“ (82)

Im Gegensatz zu vielen „radikalen Linken“, denen bis heute die Einheitsfronttaktik ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist, betrachtet Lenin die Forderungen an Kerenski, an die menschewistisch-sozialrevolutionäre Regierung und Sowjetführung als Mittel zum Kampf gegen diese. Setzen sie die Forderungen um, wird das die Dynamik der Bewegung steigern. Widersetzen sie sich, verschleppen sie diese usw., entlarvt das die Schwäche, den Unwillen und den konterrevolutionären Charakter Kerenskis. Lenin hält eine solche Taktik für notwendig, für eine „Hauptsache“, um so den schon vor sich gehenden Ablösungsprozess der Massen von den kleinbürgerlichen Kräften zu beschleunigen. Die Revolution wie jede revolutionäre Politik braucht – gerade weil sie auch ein Wettlauf gegen die Zeit ist – eine aktive, vorwärtstreibende Politik und kein passives Warten, bis sich die falsche Führung ohnedies diskreditiert hat.

Die Forderungen an die Führung müssen schließlich mit solchen an die Basis, an die Massen kombiniert werden.

„Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, daß sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die ‚Retsch‘ und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die ‚linken‘ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.“ (83)

Auf dem Weg zur Macht

Diese Politik, wie sie in der Taktik der Partei und ihrer Propaganda zum Ausdruck kommt, hat den Weg zur Machtergreifung beschleunigt, ja in gewisser Weise überhaupt erst möglich gemacht.

Die Niederlage Kornilows schafft in Lenins Augen noch einmal eine Situation, in der eine „friedliche Machtübernahme“ möglich werden könnte. In „Über Kompromisse“ (84) bietet er den Menschewiki und Sozialrevolutionären an, auf einen gewaltsamen Sturz zu verzichten, wenn sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ verwirklichen, indem sie „eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki“ (85) bilden. Diese Bedingung präzisiert Lenin noch dahingehend, dass die Regierung nicht nur einzig und allein den Sowjets verantwortlich sein, sondern auch die ganze örtliche Macht auf die Sowjets übergehen müsse.

Im Gegenzug würden die Bolschewiki auf die Eroberung der Macht mit „revolutionären Mitteln“ verzichten, wenn ihnen volle Propaganda und Agitationsfreiheit zugesichert würde. Sie würden für ihre Politik und für die Machtübernahme innerhalb der Sowjetdemokratie kämpfen. Die Möglichkeit für die Verwirklichung eines solchen Kompromisses schätzt Lenin schon beim Verfassen des Schreibens sehr gering ein und hält sie schon wenige Tage später für unmöglich, sie zeigt aber seine taktische Flexibilität, die Form des Kampfes um die Macht sich rasch verändernden Bedingungen anzupassen.

Die Schrift selbst stieß den linksradikalen Flügel der Partei durchaus vor den Kopf. Die radikalen UnterstützerInnen Lenins fürchteten eine Rechtsentwicklung. Umgekehrt versuchte der rechte Flügel „Über Kompromisse“ für seine Zwecke zu missbrauchen. Ihm schwebte nämlich eine strategische, langfristige Allianz aller Sowjetparteien vor. Für Kamenew war letztlich Russland noch nicht reif für eine sozialistische Umwälzung. Dieser menschewistische Standpunkt wiederum bildete eine organische Basis für den Opportunismus. Lenin, Trotzki und andere Parteiführer hingegen sahen selbst in „Über Kompromisse“ eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Räteregierung nur als ein Übergangsstadium zur Diktatur des Proletariats, zu einer Sowjetregierung unter bolschewistischer Führung, an.

Die Bedingungen für den „Kompromiss“ wurden durch die Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki selbst zunichte gemacht. Deren Spitzen dachten nicht daran, eine Kursänderung vorzunehmen. Nach dem Kornilow-Putsch sollte die Regierung umgebildet werden, Kerenski weiter an ihrer Spitze bleiben, das Bürgertum sollte weiter vertreten sein, wenn auch ohne Kadetten, die durch ihre Kollaboration mit dem Putschversuch zu diskreditiert schienen. Die „kleinbürgerliche Demokratie“ versuchte,  die Koalition mit der Bourgeoisie um jeden Preis fortzusetzen – notfalls auch nur mit dem „Schatten der Bourgeoisie“.

Zugleich vollzogen sich entscheidende Veränderungen, die die Machtübernahme unter Führung der Bolschewiki und die Notwendigkeit des Aufstandes auf die Tagesordnung setzten.

Dazu gehörte erstens eine immer größere Linksentwicklung in den Räten. Anfang September ging die Mehrheit in Petersburg an die Bolschewiki über, im Laufe des Monats vollzog sich diese Entwicklung in vielen anderen Städten. Nicht nur die ArbeiterInnenklasse drängte auf Entscheidung und radikalisierte sich. Auch die Stimmung in der Garnison in Petersburg wie an der Front ging mehr und mehr nach links.

Die Partei der Sozialrevolutionäre spaltete sich, der linke Flügel näherte sich den Bolschewiki an. Das spiegelte auch die Stimmung in der Armee, vor allem aber in der Bauernschaft und die sich ausweitende Agrarrevolution wider.

Die Bolschewiki hatten die Russische Revolution immer als Bündnis zweier Klassen, von ArbeiterInnen und Bauern konzipiert. Anders als 1905 jedoch betonten sie – ähnlich wie Trotzki in der Theorie der Permanenten Revolution – die Notwendigkeit, sich der unterschiedlichen Klasseninteressen von ArbeiterInnenschaft und Bauern bewusst zu sein, weil in der proletarischen Revolution diese – selbst im Falle eines Bündnisses – von Beginn an auch zur Geltung kommen müssten. Das geht auch damit einher, dass es eine stärkere Betonung auf die Organisierung des Landproletariats, der halb-proletarischen Schichten, wie der Klassendifferenzierung in der Bauernschaft gab. (86) Für das Landproletariat und die halb-proletarischen Schichten sollen eigene Organisationsformen, Verbände geschaffen werden, um auf dem Land eine hegemoniale Stellung und ein enges Bündnis mit der Masse der Kleinbauern zu erwirken.

Die Unterstützung der Landrevolution im Sommer 1917 war ein entscheidendes Mittel, die Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen – zumal sich die Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen die Enteignung des Gutsbesitzes von unten stellten.

Einen weiteren wichtigen Aspekt bildet auch die nationale Frage, die in etlichen Teilen Russlands eng mit der Landfrage verbunden war. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – einschließlich ihres Rechtes auf Lostrennung – verteidigte.

Schließlich hat sich die Lage auch dadurch geändert, dass die Zerrüttung durch den Krieg, die instabilen Verhältnisse usw. die Gefahr einer allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Katastrophe (Blutzoll an der Front, Hunger, Stillstand der Betriebe, weiterer Zerfall des gesellschaftlichen Austausches) hervorbrachten.

Ende September 1917 bringt Lenin dieses Problem deutlich auf den Punkt in „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (87), das ein Aktionsprogramm zur Abwendung des Niedergangs präsentiert. Lenin setzt sich darin mit allen Grundfragen der Revolution auseinander und propagiert eine Reihe von Übergangsforderungen, die allesamt die Machtübernahme, die Beendigung der Doppelmacht erfordern. Nur so könne die Katastrophe abgewendet werden

„Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Treiben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt werden und die Arbeit der demokratischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski und seiner Regierungsmehrheit vereitelt wird, wieder in Gang gebracht werden.

Die Bolschewiki – das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit – handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern entgegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, …“ (88)

Aufstand

In einer Situation des Zerfalls des Landes, der Bauernrevolution, nationaler Unruhen, des weiteren Verlustes des Einflusses von Sozialrevolutionären und Menschewiki, der Diskreditierung der Bourgeoisie vsuchte die Konterrevolution verzweifelt nach einer neuen Basis für ihre Macht. Dies wurde zusätzlich dringlicher, als die Mehrheit in den Räten immer häufiger nach links, zu den Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären überging.

Beratungen wie die „Demokratische Staatskonferenz“, die aus VertreterInnen aller Klassen, von Räten, Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Wirtschaftsvertretern, Militärs, bürgerlichen Wissenschaftern usw. bestand und Ende September tagte, sollten den Rahmen für eine „Verständigung“ und eine neue Koalition bilden. Die Anhänger einer Koalitionsregierung, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hofften, so eine neue Grundlage für eine Regierung der Klassenzusammenarbeit zu finden, während die Kapitalistenklasse und die Stäbe des russischen Imperialismus auf einen Diktator als letzte Rettung hofften und sogar erwogen, Petrograd dem deutschen Imperialismus zu überlassen, um die Revolution zu vernichten. Diese Mischung aus Reaktion und Verzweiflung äußerte sich in einer instabilen Regierung und drängte zu einem weiteren Versuch, eine bonapartistische Herrschaftsform zu etablieren.

Die Entwicklung stellte auch die Bolschewiki vor die Frage, wie auf die geänderte Lage zu reagieren sei. Von Beginn bis Mitte September hatte Lenin die Möglichkeit einer „friedlichen Entwicklung“ der Revolution, eines Kompromisses mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki als Schritt zu einer Machtergreifung ins Auge gefasst, bald jedoch verworfen. Der rechte Parteiflügel orientierte sich hingegen auf eine solche Entwicklung, auf eine Allianz der „Sowjetparteien“.

Dessen Stärke verdeutlicht die Abstimmung über die Frage des Austritts aus der Staatskonferenz und des Boykotts des „Vorparlaments“, das der sog. Staatskonferenz folgen sollte.

Kamenew und seine Anhänger waren für einen Verbleib, um die Koalitionspolitik zu denunzieren und ein Bündnis mit den schwankenden Elementen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu bilden und so den Grundstein für einen „sozialistischen Block“ am Sowjetkongress zu schaffen.

Der linke Flügel um Trotzki trat für einen demonstrativen Auszug aus der Staatskonferenz ein und für den Boykott des Vorparlaments, um damit den Bruch mit den Versöhnlergruppen zu unterstreichen und mit der Agitation für die Machtübernahme der Sowjets durch alle revolutionären Gruppierungen zu verbinden.

Beide Strömungen waren für die Einberufung eines Sowjetkongresses – allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Zielen. Das Zentralkomitee stimmte zwar mit 9:8 Stimmen für den Boykott des Vorparlaments, entschied aber auch, die endgültige Beschlussfassung einer gemeinsamen Sitzung der Führung und der Delegierten zur Demokratischen Konferenz zu überlassen. Dort unterlagen die Linken mit 50:77 Stimmen. Der Verlauf des „Vorparlaments“ hatte zwar eine korrigierende Wirkung und führte zu einem öffentlichkeitswirksamen Auszug, dem das gesamte Zentralkomitee außer Kamenew zustimmte (89), aber trotzdem zeigten sich hier tiefe, strategische Differenzen.

Auf der anderen Seite hatte Lenin schon zuvor entschieden auf eine Neuorientierung der Partei, auf den Kurs in Richtung Aufstand gedrängt. Er betonte dabei zu Recht, dass die Frage des Aufstandes praktisch gestellt sei. „Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.“ (90)

Er betont die Dringlichkeit der Aufgabe, weil eine Preisgabe Petrograds drohe, der Sowjetkongress selbst verschoben oder sabotiert werden könne. Die Bolschewiki, so Lenin, hätten die Pflicht, die Macht durch einen Aufstand in Petrograd und Moskau zu errichten und dürften dabei auch nicht auf den Sowjetkongress oder eine formelle Mehrheit warten.

Lenins entschiedener Kurs auf einen raschen Aufstand verschreckte nicht nur die Partei-Rechte, auch viele Aufstandsbefürworter waren im Gegensatz zu ihm der Meinung, dass er die politische Vorbereitung des Aufstandes unterschätze, und traten dafür ein, diesen unter Ausnutzung der Sowjetorgane durchzuführen.

Lenin umgekehrt befürchtete, angesichts der Stärke und Hinhaltepolitik des rechten Flügels, dass der Aufstand verschleppt würde. Er trat daher sehr entschieden für die Anhänger des Boykotts des Vorparlaments ein. So notiert er am 23. September:

„Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!

Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. (…)

Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung.

Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen außerordentlichen Parteitag herbeiführen. Man muß sofort die Frage des Boykotts zur Plattform für die Wahlen zum Parteitag und für sämtliche Wahlen innerhalb der Partei machen.“ (91)

Aus diesen Zeilen wird deutlich, dass er den Fehler in der Boykottfrage im Kontext der grundsätzlichen Ausrichtung betrachtete, als Zeichen für die Ablehnung des Kurses der Machtergreifung durch den rechten Flügel und die „,parlamentarischen‘ Spitzen der Partei“.

Sein Drängen auf den Aufstand trägt ohne Zweifel maßgeblich dazu bei, dass die Partei den Kurs auf den Oktober einschlägt. Lenin wendet sich dabei auch an „untere“ Parteifunktionäre, kämpferische Regionalkomitees, um das „lasche“ Zentralkomitee unter Druck zu setzen. An bestimmten Punkten droht er sogar mit einem Austritt aus der Parteiführung, um nicht an deren innere Loyalität gebunden zu sein, und sich direkt an die Parteibasis wenden zu können.

Bei der historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober tragen die Aufstandsbefürworter einen politischen Sieg davon. Die Revolution Lenins wird mit 10 zu 2 (Kamenew, Sinowjew) Stimmen angenommen.

„Das Zentralkomitee stellt fest, dass sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarischen Partei – daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) – daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.“ (92)

In ihrer schriftlichen Begründung (93) zeigen Kamenew und Sinowjew, wie tief ihre Differenzen sind, wie weit sie sich von den Aprilthesen und dem Kurs auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht entfernt haben. Nachdem sie darlegen, dass sie einen Aufstand für abenteuerlich halten, weil er zum Ruin der Partei und der Revolution führen würde, erklären sie, dass ihre zentrale Zielsetzung die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sei, die von der Bourgeoisie immer weniger blockiert werden könne. Die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie würden von links unter Druck kommen und gezwungen sein, eine Allianz mit dem Proletariat gegen die Kadetten einzugehen. Das bilde nicht nur die Basis für eine Allianz mit diesen Parteien, sondern auch für die Kombination der Konstituierenden Versammlung mit den Sowjets.

„Die verfassunggebende Versammlung kann natürlich nicht aus sich heraus das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändern. Aber sie wird verhindern, dass dieses Verhältnis weiter verschleiert wird. Es gibt kein Loswerden der Sowjets, die im Leben Wurzeln geschlagen haben. Die Räte üben schon jetzt vielerorts praktisch die Macht aus.

Die Konstituierende Versammlung kann sich in ihrer revolutionären Arbeit auch nur auf Sowjets stützen. Konstituierende Versammlung plus Sowjets – das ist die Kombination von staatlichen Institutionen, auf die wir uns zubewegen. Auf dieser Grundlage erhält unsere Partei eine riesige Chance auf einen wirklichen Sieg.“ (94)

Diese Stellungnahme der Partei-Rechten offenbart, dass sie noch immer der „demokratischen Revolution“ von 1905 verhaftet waren. Die Doppelmacht solle nicht zugunsten des Proletariats und der Masse der unteren Schichten der Bauernschaft gelöst, sondern in neuer Form weitergelebt werden, als „Mischung“ zwischen bürgerlichen und proletarischen Organen. Dieses Echo der historisch überholten Position des „alten“ Bolschewismus ist zugleich ein Vorbote des Rechtszentrismus der USPD, des hoffnungslosen Versuchs, Formen des bürgerlichen und proletarischen Staates zu ergänzen. Lenin denunziert die „Verfassungsillusionen“ Kamenews und Sinowjews entschieden. Ihre Perspektiven hätten nicht der Revolution, sondern der Konterrevolution zugearbeitet.

Der rechte Flügel der Partei hatte nicht vor, sich dem Beschluss für den Aufstand zu fügen und er war sicher auch einflussreicher, als das Stimmverhältnis am 10. Oktober nahelegt. Teile hofften, dass der Entscheidung keine praktischen und organisatorischen Maßnahmen folgen würden. Je konkreter jedoch die Aufstandsvorbereitungen und die praktischen Schritte wurden, desto illoyaler wurde die rechte Minderheit, die auch vor dem „offenen Streikbruch“, also der öffentlichen Distanzierung vom Kurs der Bolschewiki in der parteifeindlichen Presse nicht zurückschreckte. Lenin forderte daher den Ausschluss von Sinowjew und Kamenew – einen Schritt, den die Parteiführung jedoch ablehnte, weil sie eine Spaltung und damit noch größeren Schaden befürchtete.

Differenzen unter den AufstandbefürworterInnen

Unter den AufstandsbefürworterInnen gab es zwar keine Differenzen über das Ziel, wohl jedoch über den Weg zur Machteroberung. Lenin vertrat von Beginn an, dass die Bolschewiki selbst den Aufstand initiieren und dann die Macht auf die Räte übertragen müssten. Er lehnte es strikt ab, auf einen Rätekongress zu warten.

„Der Sowjetkongreß ist auf den 20. Oktober verschoben worden. Das entspricht angesichts des Tempos, in dem Rußland lebt, benahe einem Aufschub auf den Sankt-Nimmerleinstag.“ (95)

In einem Brief an Smilga, einen der linkesten Bolschewiki dieser Tage, betont er die Notwendigkeit des sofortigen Handelns.

„Meines Erachtens muß man zur richtigen Orientierung der Geister sofort folgende Losung in Umlauf setzen: Die Macht muß sofort in die Hände des Petrograder Sowjets übergehen, der sie dem Sowjetkongreß übergeben wird. Denn wozu soll man noch drei Wochen des Krieges und der ‚kornilowschen Vorbereitungen‘ Kerenskis hinnehmen“. (96)

Noch nachdrücklicher:

„Man muß ‚aussprechen was ist‘, die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muß niedergekämpft werden. (…)

Den Sowjetkongreß ‚abwarten‘ ist Idiotie, denn der Kongreß wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!“ (97)

„Zögern wäre ein Verbrechen. Den Sowjetkongreß abwarten wäre kindische Formalitätsspielerei, schändliche Formalitätsspielerei, wäre Verrat an der Revolution.“ (98)

im Zentralkomitee noch eine dritte Gruppierung in der Aufstandsfrage. Während die Rechten durch die Logik ihrer Argumentation gezwungen waren, von der Losung „Alle Macht den Räten“ abzurücken und Lenin in Anlehnung an die Julitage die Überrumpelung durch den Feind befürchtete (99), setzte die dritte Strömung um Trotzki, darauf, die bestehenden Sowjetinstitutionen für den Aufstand zu nutzen, diesen als „defensive“ Aktion durchzuführen.

„Eine andere Haltung, die taktisch vorsichtige Bolschewiki einnahmen – vor allem diejenigen, die in den Sowjets oder in anderen typischen Einrichtungen an der Basis aktiv und daher besonders gut mit der vorherrschenden Stimmung der Massen vertraut waren – sah folgendermaßen aus: (1) Die Sowjets (wegen ihres Ansehens bei Arbeitern und Soldaten) und nicht die Organe der Partei sollten beim Sturz der Provisorischen Regierung zum Einsatz kommen. (2) Um die breitest mögliche Unterstützung zu erhalten, sollte jeder Angriff auf die Regierung als Verteidigungsaktion im Auftrag der Sowjets dargestellt werden. (3) Aus diesem Grund sollte eine solche Aktion solange aufgeschoben werden, bis sich ein passender Vorwand für den Aufbruch zum Kampf bot. (4) Um potenziellen Widerstand zu unterlaufen und die Erfolgschancen zu erhöhen, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, die Macht der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege zu untergraben. (5) Der formelle Sturz der Regierung sollte durch die Entscheidungen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses legitimiert werden.“ (100)

Eine für die Revolution wichtige und auch beispielhafte Form der Ausnutzung der Sowjetorgane war das „militärische Revolutionskomitee“, eine ursprünglich von den Menschewiki vorgeschlagene Institution, die von den Bolschewiki unter Einbeziehung der linken Sozialrevolutionäre zur Aufstandsvorbereitung verwendet wurde:

„Indem es die Kommission zur Ausarbeitung der Verordnung für das ‚Komitee der Verteidigung‘ ins Leben rief, hatte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets für das Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit der Nordfront und dem Stab des Petrograder Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem Distriktsowjet von Finnland zur Klärung der militärischen Situation und der notwendigen Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes der Garnison von Petrograd und Umgebung, wie auch der Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Disziplin in den Soldaten- und Arbeitermassen. Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten sich fast sämtlich an der Grenze zwischen Verteidigung der Hauptstadt und bewaffnetem Aufstande. Aber diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das Element der Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen worden, sondern ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des Vorabends des Aufstandes.“ (101)

Während  die Anschläge der Regierung auf die Petersburger Garnison und deren drohende Verlegung in Lenins  Augen  die Notwendigkeit eines Losschlagens ergaben, sahen die Anhänger Trotzkis gerade darin eine Möglichkeit, die Sowjetorgane zu nutzen.

„Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im Sowjet die Verordnung über das Militärische Revolutionskomitee. Aber jenen Standpunkt, der sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte Krylenko, der soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko den Sowjetkongreß des Norddistrikts geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß ‚das Wasser genügend siedend ist‘; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen, ‚wäre der größte Fehler‘. Er geht jedoch mit Lenin auseinander ,in der Frage, wer beginnt und wie beginnen‘. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur Zeit noch unzweckmäßig. ‚Doch die Frage des Abtransports der Truppen bildet gerade jenes Moment, wo der Kampf einsetzen wird … Die Tatsache, daß wir angegriffen sind, ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden … Sich darum sorgen, wer beginnen soll, ist überflüssig, denn der Beginn ist bereits da.‘ Krylenko legte dar und verteidigte die Politik, die das Fundament des Militärischen Revolutionskomitees und der Garnisonberatung bildete. Der Aufstand entwickelte sich in der Folge just auf diesem Wege.“ (102)

Lenins Konzeption hatte zweifellos einen Vorzug – die Schnelligkeit. Aber sie hatte auch einen offenkundigen politischen Nachteil. Eine Aufstandsbewegung, die nicht aus den Sowjetorganen erwächst, verfügt über eine weitaus geringere gesellschaftliche Basis.

Lenins langes und letztlich vergebliches Insistieren auf einen von der Partei ausgelösten oder ausgerufenen Aufstand hatte neben berechtigten Befürchtungen und geringer Nähe zur Basis eine weitere Ursache. Im Gegensatz zu Trotzki erkannte er nicht die Möglichkeiten, die sich aus den Institutionen der Doppelmacht für den Aufstand ergaben, die ihn erleichterten und schwer angreifbar machten. Lenin beschreibt die Räte in seinen Artikeln vor dem Aufstand oft als „machtlos“, „schwächlich“, als Organe der Selbstorganisation, auf die erst durch den Aufstand die Macht übertragen werden könne. Für ihn müssen die Räte vor die Tatsache der erfolgreichen Machtübernahme gestellt werden, der erfolgreiche Aufstand könne zwar Räteorgane zu Hilfe nehmen, der Aufstand sei aber ein militärisch-politischer Ansturm von außen.

Zweifellos ist die von Lenin immer wieder dargelegte Schwäche oder Ohnmacht der Räte, gerade unter nicht-revolutionärer Führung, ein reales Moment. Aber er blendet zugleich aus, dass die Sowjets im Bewusstsein der Massen auch schon legitime Machtorgane sind, solange es eine Doppelmachtsituation gibt. Daran knüpft die erfolgreiche Aufstandstaktik im Oktober an.

„Den Februaraufstand nennt man elementar. An anderer Stelle haben wir in diese Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls richtig, daß im Februar niemand die Wege der Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand hat in Fabriken und Kasernen über die Frage der Revolution abgestimmt; niemand von oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte, zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.

Ganz anders verhielt sich die Sache im Oktober. Während der 8 Monate hatten die Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse, sondern lernten auch deren Zusammenhänge begreifen; nach jeder Tat erwogen sie kritisch deren Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks, Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden, konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in der Frage des Aufstandes etwa verzichten?“ (103)

Das Militärische Revolutionskomitee zum Organ des Aufstandes zu machen, die Sozialrevolutionäre einzubeziehen war ein genialer Akt, dessen Stärke aus einem richtigen Verständnis der Möglichkeiten der Sowjets erwächst.

Dass der Aufstand dabei relativ unblutig vonstatten ging, dass er relativ „ruhig“ erschien, ist im Übrigen auch ein Resultat der Tatsache, dass die Revolution den Staatsapparat schon weitgehend zerbrochen hatte. Die Soldaten waren über die Sowjets ins Lager des Oktober übergetreten, der Aufstand war – wie jeder Aufstand – erfolgreich, weil er eine breite gesellschaftliche Basis hatte. Ansonsten hätte sich die Sowjetmacht nicht halten und erst recht nicht die Eigentumsverhältnisse im Land umwälzen können.

Die Bedeutung der Räte, Milizen, der Roten Garden für die Revolution ist eng mit dem Oktober verbunden. In der Tat liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres Erfolges wie auch für die revolutionären Politik unserer Zeit gerade darin, das Verhältnis von Klasse, Partei und Räten richtig zu verstehen.

„Wäre es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen der Partei aufzurufen? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Doch vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden: die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die andere, zahlreichste, die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.

Diese Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau, sondern im großen Maße auch nach der sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier. Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen, ging die Mehrheit der Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon oder obwohl darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten der Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile der Armee einschließlich der Kosaken; die Bauern, die sich von der Führung der sozialrevolutionären Partei befreit hatten und sich an deren linken Flügel klammerten.

Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der Bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt. Es ist dahinter nichts Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein richtig angewandter Hebel verleiht der menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige Hand ist der Hebel nur eine tote Stange.“ (104)

Mit dem Sieg des Aufstandes geht die Macht an die von den Bolschewiki geführten Räte über, die Doppelmacht wird beendet. Der Rat der Volkskommissare wird gebildet, erste Dekrete der Sowjetmacht werden erlassen.

Die Oktoberrevolution hat nicht nur eine Bresche in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschlagen, ihre Entstehung, ihr Verlauf, ihr späterer Niedergang, vor allem aber die Strategie und Taktik der Bolschewistischen Partei sind bis heute ein Bezugspunkt für alle, die für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse, für die sozialistische Weltrevolution kämpfen.

Klasse, Partei, Räte

Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. In ihnen konzentrieren sich politische, wirtschaftliche und ideologische Klassenkämpfe und Widersprüche einer Gesellschaft, die über ganze Perioden die Verlaufsformen ihrer inneren Auseinandersetzung, Entwicklung und Nicht-Entwicklung prägen.

Diese geschichtlichen Perioden stellen die Verhältnisse in Frage, die der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, den Angehörigen der herrschenden wie beherrschten Klassen als „Gewissheiten“ erscheinen. Die inneren Widersprüche, die sich in den „Tiefen“ der Gesellschaft über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entwickelt haben, die jedoch an deren Oberfläche als „reguliert“ erschienen, treten dann offen hervor. Revolutionen sprengen diesen inneren Zusammenhang, treten eruptiv als gesellschaftliche „Explosionen“, als Sprünge in Erscheinung. Obwohl, ja weil sie aus den gesellschaftlichen Gegensätzen erwachsen, die für lange Zeit auch die Basis jener politischen, staatlichen, sozialen Formen bildeten, in deren Rahmen das politische, wirtschaftliche und soziale Leben reproduziert wurde, „überraschen“ Krisen und erst recht deren revolutionäre Zuspitzung alle Klassen und ihre Parteien.

Revolutionen scheinen die Verhältnisse „auf den Kopf“ zu stellen. Sie erscheinen nicht nur den direkten Parteigängern der alten Ordnung als „Wahnsinn“, sondern auch den AnhängerInnen einer „vernünftigen“, schrittweisen, graduellen „Reform“ der Gesellschaft. Dieser Schein wird zusätzlich dadurch genährt, dass sie  die in Bewegung geratenen Massen wie auch die entschlossensten GegnerInnen der bestehenden Ordnung „überraschen“.

Dabei treten die unterdrückten Klassen als Subjekte, als Akteure hervor. Diejenigen, die gestern noch bloßes Ausbeutungsmaterial oder Kanonenfutter waren, die allenfalls über gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf ihre Interessen vertreten mussten oder konnten, werfen sich in den Kampf um eine Neuordnung der Gesellschaft, werfen die Machtfrage auf. Sie scheinen in eine andere Welt katapultiert zu werden. Sie machen wirklich Geschichte, wenn auch nicht aus freien, selbst gewählten Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Die zur revolutionären Aktion Gestoßenen agieren zwar ohne klares Bewusstsein der Verhältnisse, die sie treiben, kombinieren daher unvermeidlich Vergangenes mit Zukünftigem, Fortschrittliches mit Reaktionärem. Wie die Gesellschaft selbst ist ihr Bewusstsein im Fluss, weil ihr Handeln über das Bestehende hinausdrängt, ja schon hinausgegangen ist.

Das trifft letztlich auch auf diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse zu, die politisch-ideologisch und theoretisch die Revolution vorweggenommen, gewissermaßen durchdacht haben, die sich schon als Avantgarde formierten oder dabei waren/sind, diesen Schritt zu unternehmen.

Auch sie können von der Revolution „überrascht“ werden. Selbst Lenin fürchtete gelegentlich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dass seine Generation eine tiefe, längerfristige konterrevolutionäre Entwicklung durchleben müsse, dass die russische und internationale Revolution in weite Ferne gerückt wäre und ihm „nur“ die Vorbereitung der Zukunft verbliebe.

Dabei hat er mehr als andere die Triebkräfte analysiert und verstanden, die zum Ausbruch der Russischen Revolution geführt haben. Die ganze strategische Ausrichtung der bolschewistischen Politik, die Politik des „revolutionären Defaitismus“ zielte auf die Umwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie. Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung – einschließlich der meisten linken oder pazifistischen KriegsgegnerInnen – charakterisierte der Bolschewismus die imperialistische Epoche als eine von Krieg und Revolutionen.

Die episodischen Unsicherheiten Lenins bezüglich des Tempos der Entwicklung und erst recht die Tatsache, dass die Bolschewiki wie alle anderen Parteien von der Februarrevolution überrascht wurden, scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass Revolutionen letztlich nicht „vorhersehbar“ sind.

In Wirklichkeit sprechen solche Fakten nicht gegen das marxistische Verständnis von Revolution und Konterrevolution. Vielmehr vermag der Marxismus selbst die Notwendigkeit des Auftretens solcher „Zufälle“ zu erklären, zu verstehen.

Blinde Gesetzmäßigkeiten

Die Grundstruktur des Kapitalismus selbst führt nämlich dazu, dass Revolutionen auf der Oberfläche der Gesellschaft als etwas „Zufälliges“, „Irrationales“ erscheinen müssen. In der kapitalistischen Gesellschaft können sich ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und ihre Dynamik nur „blind“, hinter dem Rücken unabhängiger Privatpersonen vollziehen. In einer Gesellschaftsformation, die auf allgemeiner Warenproduktion basiert, machen sich diese den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend, die immer nur im Nachhinein zeigen, welches Handeln erfolgreich, welches Produkt nützlich, welche Unternehmung profitabel war. Alle politischen, staatlichen Strukturen, Unterdrückungsverhältnisse, vorhergehende Produktionsweisen usw. sind letztlich von der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt, mögen sie auch noch so „autonom“ erschienen.

Auch wenn sich die bürgerliche Gesellschaft im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung oft als sehr anpassungsfähig und „elastisch“ erwiesen hat, so kann sich staatliches und politisches Handeln nie vom prägenden anarchischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise frei machen. Akute gesellschaftliche Krisen sind daher nicht nur „bloß“ ökonomische Krisen. Das liegt erstens daran, dass auch den ökonomischen Widersprüchen immer ein Klassenwiderspruch zugrunde liegt, dass sich in einer allgemeinen ökonomischen Krise daher notwendigerweise die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Klassen erhebt. Zweitens liegt der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwar ein Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im Bereich der gesellschaftlichen Produktion zugrunde, aber dieses stellt eben nur die Basis für die Gesamtheit des politischen, ideologischen Überbaus der Gesellschaft dar, kann durchaus andere Produktionsweisen noch beinhalten. Drittens ist die kapitalistische Gesellschaftsformation immer schon ein internationales System, die Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems ist daher immer auch eines zwischen nationalen Kapitalien und Staaten, die bei einer Zuspitzung der Krisentendenzen notwendig um die Neuaufteilung der Welt kämpfen müssen.

Schließlich hat die Tatsache der Trennung von Ökonomie und Politik, wie sie auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft notwendig erscheint, zur Folge, dass sich „grundlegende“ Krisen, zentrale Konflikte vermittelt oder an scheinbaren „Nebenfragen“ entzünden. So entzünden sich viele Revolutionen an Fragen der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Würde, was dazu verführen mag, ihnen ihren „grundlegenden“ Charakter abzusprechen. In Wirklichkeit zeigt der Verlauf vieler dieser Umstürze, dass dahinter immer auch „handfeste“ ökonomische Fragen stehen. Zweitens stellen letztlich auch die Fragen der Gleichheit, demokratischer Rechte, von Krieg und Frieden, der sozialen Unterdrückung auch Fragen des Klassenkampfes dar, die in bestimmten Situationen sogar zu den Kernfragen der Revolution werden können.

So entflammte die verzweifelte Selbstverbrennung eines deklassierten jungen Menschen die arabischen Revolutionen.

Auch die russischen Revolutionen 1905 oder 1917 brachen gewissermaßen „zufällig“ aus. Oberflächliche Gemüter ziehen daraus gern den Schluss, dass diese geschichtlichen Erdbeben durch klügeres Handeln, frühzeitigere Reformen vermieden hätten werden können. Wäre 1905 nicht in die Demonstrationen geschossen worden, hätte der Zar die Petitionen der ArbeiterInnen zur Kenntnis genommen, wäre der Zar 1917 oder noch früher abgetreten, hätte es demokratische Reformen gegeben, wäre die Zivilgesellschaft entwickelter gewesen – die russischen Revolutionen wären uns erspart geblieben.

Solche hoffnungsvollen Erwägungen beschränken sich natürlich nicht auf ein Land. Ein ganz ähnliches Räsonieren liegt der Vorstellung zugrunde, dass  der Faschismus in Deutschland hätte verhindert werden können, wenn alle auf die Weimarer Verfassung geschworen hätten… All das läuft letztlich darauf hinaus, dass große geschichtliche Umwälzungen – Revolutionen wie Konterrevolutionen – durch „vorausblickendes“, rationales politisches Verhalten von Regierung und Bevölkerungsmehrheit hätten vermieden werden können.

Sicherlich lag etwas „Zufälliges“ darin, dass bestimmte Ereignisse zum offenen Ausbruch von Revolutionen führten. Das bedeutet aber nur, dass politisches Handeln den Ausbruch und die Verlaufsform bestimmter Krisen verändern kann, nicht jedoch die grundlegenden Widersprüche, die zu ihrem offenen politischen Ausbruch drängen. Das würde nämlich erfordern, dass  in einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der großen Mehrheit beruht, in einer globalen Krisensituation, die den Spielraum für Kompromisse eng begrenzt, alle Klassen im Interesse einer „höheren“, über der Gesellschaft stehenden vernünftigen Ordnung auf die Verfolgung ihrer jeweiligen eigenen Interessen verzichten müssten. Sie müssten den Klassenkampf einstellen, wenn er  seine akuteste Form annimmt.

In revolutionären Krisen bedeutet es, die Revolution selbst auf einen Kompromiss zwischen den Klassen beschränken zu wollen, im Falle Russlands auf die Etablierung der bürgerlichen Demokratie, auf eine langfristige demokratische Etappe. Das Programm der kleinbürgerlichen Demokratie ist ein Programm, das nur in Verzicht auf die Machtergreifung enden und auf  Verrat und Unterordnung der unterdrückten Klassen, von Proletariat und Bauernschaft unter jenes der imperialistischen Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes hinauslaufen kann.

Es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse, mag sie auch in aufstrebenden Phasen einer Revolution gezwungen sein, auf die Kräfte der klein-bürgerlichen Demokratie (oder des sozialdemokratischen oder stalinistischen Reformismus) zu setzen, früher oder später entschiedene Maßnahmen gegen die revolutionären Kräfte fordern muss und durchzusetzen versucht. So wie die Revolution kann auch sie nicht auf halbem Wege stehenbleiben, kann sich auch die herrschende Klasse nicht mit halben Lösungen zufrieden geben. Sie will nicht nur, sie braucht eine ganze Konterrevolution.

Weil die Revolution alle Elemente der Gesellschaft, ihre ökonomische Basis wie ihren politischen Überbau in den Grundfesten erschüttert und in ihrer Zuspitzung Formen der Doppelmacht hervorbringt, die nur zugunsten einer der beiden Hauptklassen gelöst werden kann, führt sie unvermeidlich dazu, dass sich auch jene Institutionen, die dem gemeinen, „demokratischen“ Verstand als Mittel des Ausgleichs, der „friedlichen“ Beilegung des Konflikts erscheinen, rasch abnutzen, verbrauchen, als ungeeignet erweisen. Das trifft auf alle Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts zu, auch, und gerade auf jene, die als demokratische Revolutionen beginnen.

Auf den Kopf gestellt

Die bürgerliche – und dazu gehört auch die sozialdemokratische – Geschichtsschreibung stellt diese Zusammenhänge in der Regel auf den Kopf. Selbst wenn sie tiefe ökonomische Ursachen, soziale Verwerfungen für revolutionäre Ausbrüche anerkennt, so erblickt sie im Radikalismus der konsequent revolutionären Kräfte wie der entschlossenen Reaktion keinen gesetzmäßigen Ausdruck des Klassenkampfes, sondern den Hort der „Unvernunft“, eine irrationale Überspitzung, die durch institutionelle Arrangements, Demokratie, Zivilgesellschaft usw. eigentlich zu verhindern wäre. Allen gesellschaftlichen Zuspitzungen, der Revolution wie der Konterrevolution, wird ein grundlegend irrationaler Charakter zugesprochen. Revolutionen erscheinen nicht als Motoren, sondern als Betriebsunfälle der Geschichte, hervorgerufen letztlich durch subjektive „Fehlentwicklungen“.

Die unterdrückten Klassen geraten in ihren Augen in vor-revolutionären oder revolutionären Situationen in eine Phase des politischen „Fieberwahns“, der „Unvernunft“ und „überzogener Erwartungen“. Sie erscheinen nicht als Klassensubjekte, die damit beginnen, die Last des Vergangenen abzustreifen, sondern als von den Radikalen „verführte“, „irregeleitete“, „radikalisierte und manipulierte“ Masse. Wo die Massen der Unterdrückten zu Subjekten werden und beginnen, den Alp des herrschenden Bewusstseins abzustreifen, spricht ihnen die bürgerliche Geschichtsschreibung ihre Bewusstheit ab. Der Unterdrückte gilt ihr nur als systemkonformer „Mitbürger“ als „vernünftig“. Wenn die ArbeiterInnen oder die bäuerlichen Massen, nationale und rassistisch Unterdrückte, Frauen, Jugendliche usw. ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, selbst den Rahmen bürgerlicher Herrschaft, ob nun in offen diktatorischer oder fürsorglicher, bürgerlich-demokratischer Herrschaft, sprengen, wenn sie in der revolutionären Aktion ihren Hass auf die bestehende Gesellschaft zum Ausdruck bringen, dann schlägt ihnen unvermeidlich der Klassenhass nicht nur der Herrschenden entgegen und zwar  nicht nur durch die äußerste Reaktion zu, sondern auch durch die Sozialdemokratie.

Die Oktoberrevolution erscheint in den primitiveren Varianten der bürgerlichen Kritik als „Putsch“ des Bolschewismus, in den etwas umsichtigeren als Resultat einer geschickten „Machtpolitik“, kluger Taktiererei der RevolutionärInnen. Das Programm und dessen taktische und organisatorische Konkretisierung erscheinen nicht als Antwort auf die brennenden gesellschaftlichen Probleme, die die Revolution erst hervorbrachten und auf die die Partei eine zusammenfassende Antwort gibt, sondern als geschicktes Mittel der Manipulation. Diese Auffassung geht bis weit in die „radikale“ Linke unserer Tage hinein, was neben den Entstellungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Geschichtsschreibung auch der stalinistischen Legendenbildung um die Partei Lenins zu verdanken ist.

In beiden werden Lenins Partei und ihr Programm zu einer sich immer gleich bleibenden Einheit. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse, zu deren Avantgarde, zu den anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft erscheint als ein undialektisches, in dem die „Partei“ immer schon recht hatte und einfach nur einheitlich und geschlossen das Richtige macht. Im Stalinismus tritt letztlich die Partei an Stelle der ArbeiterInnenklasse als Subjekt der Revolution.

Bewusstsein, Spontanität und Programm

Ein marxistisches Verständnis der Rolle der Partei muss von einem korrekten Verständnis des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse ausgehen. Aus sich heraus kann die ArbeiterInnenklasse nicht „spontan“ revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln. In nicht-revolutionären Perioden wird sie als ausgebeutete Klasse „spontan“ nur gewerkschaftliches und darauf aufbauendes reformistisches Bewusstsein entwickeln. Revolutionäres Klassenbewusstsein muss von außen in die Klasse getragen werden, auf Basis einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus und der Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrungen im Klassenkampf. Die unmittelbaren Erfahrungen des rein ökonomischen Kampfes oder des Kampfes um politische Reformen führen nicht nur nicht zu revolutionärem Bewusstsein, sie stehen dessen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad sogar entgegen, da sie, gerade wenn sie erfolgreich sind, eine graduelle Verbesserung der Klassenlage als möglich erscheinen lassen.

In revolutionären Perioden und Krisen wird dieser rein ökonomische und auch politisch-reformerische Horizont in Frage gestellt. Je nach Vorgeschichte der Klasse und internationaler Konstellation kann in diesen Phasen auch rasch über den Reformismus oder Ökonomismus hinausgehendes Bewusstsein entstehen. Die Klasse insgesamt, und vor allem ihre Avantgarde wird vor Fragen – nicht zuletzt die Machtfrage – gestellt,  die praktisch nach einer sozialistischen Antwort verlangen. Die in Bewegung geratenen Massen setzen Taten, die über den bestehenden Rahmen hinausgehen, selbst wenn sie das nicht „vorhatten“. Das heißt auch, dass sich in bestimmten Phasen auch ideologisch zentristische Stimmungen oder gar ultralinke, ultrarevolutionäre Einstellungen in der Klasse oder deren Avantgarde ausbreiten. In solchen gesellschaftlichen Ausnahmezuständen kann sich durchaus mehr als tradeunionistisches Bewusstsein entwickeln. Damit sich diese Tendenzen zu einer bewussten, politisch klaren revolutionären Kraft entwickeln können, braucht es jedoch die Fusion von wissenschaftlichem Sozialismus und ArbeiterInnenvorhut – die Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei.

Die spontanen revolutionären Tendenzen der Klasse, die Tatsache, dass die Tat zum revolutionären Programm drängt, macht das Programm nicht obsolet, wie Spontaneisten denken, sondern begründet erst dessen Unverzichtbarkeit, dessen Notwendigkeit und die Möglichkeit, dass das Programm wirklich zum Wegweiser für die Aktion, für die Lösung der Machtfrage, der entscheidenden Frage aller Revolutionen, wird.

Die revolutionäre Partei ist Ausdruck dieser geschichtlichen und internationalen Erfahrung. Ihre Politik muss auf einer wissenschaftlichen, nicht ideologischen Grundlage basieren.

Das Programm der Partei  muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes,  eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handel an.

Für den Bolschewismus und insbesondere für Lenin war letztlich das politische Programm der entscheidende Bezugspunkt, nicht die organisatorische, statuarische Form der Partei. So wichtig der „demokratische Zentralismus“ für die Parteikonzeption auch ist, er bleibt gerade aufgrund seines großen Formwandels im Laufe der Entwicklung unverständlich, wenn er nicht im Kontext sich verändernder Situationen, einer sich wandelnden Partei und deren programmatischen Erfordernissen betrachtet wird.

Die revolutionäre Partei – die Verschmelzung von Wissenschaft und Avantgarde der ArbeiterInnenklasse – kann selbst nur zur Führerin der Klasse und unterdrückten nicht-proletarischen Massen werden, wenn sie es vermag, deren Bedürfnisse zu verallgemeinern und mit der Einsicht in den allgemeinen Werdegang der proletarischen Revolution zu verbinden. Nur so kann die Partei ihre Rolle erfüllen und zur Führerin der ArbeiterInnenklasse werden.

Das Verhältnis von Klasse und Partei, von FührerInnen  und Geführten, von Bewussteren und weniger Bewussten darf dabei jedoch nicht als LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis betrachtet werden, so das Wissen, jedenfalls der Vorstellung des Lehrenden nach, auf einer Seite monopolisiert ist.

Die ArbeiterInnenklasse selbst kann zwar im Kapitalismus nicht spontan revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln, in ihren Lebensverhältnissen und Klassenkämpfen wird sie jedoch immer wieder auch auf die inneren Widersprüche der Gesellschaft gestoßen, hin in eine sozialistische Richtung. Sie drängt zur Revolution, zum Sozialismus. Der Kommunismus ist der bewusste Ausdruck der proletarischen Bewegung, also auch, wenn seine wissenschaftliche Ausformung von außen in die Klasse getragen werden muss: Er ist nichts Äußerliches, da er die Stellung der ArbeiterInnenklasse und ihren Befreiungskampf einfach nur bewusst macht, zum Ausdruck bringt.

Dabei übernimmt die ArbeiterInnenklasse selbst keinen passiven Part. So hat Marx aufgrund der Erfahrungen der Revolutionen von 1848 und vor allem des Bonapartismus in Frankreich herausgearbeitet, dass die ArbeiterInnenklasse den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss. Die Form, wie dies geschehen kann, hat nicht Marx im Studierzimmer entworfen, sondern haben die Kommunarden 1871 in Paris aufgezeigt. Das zeigt besonders deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse ein tätiges, spontan zu ihrer eigenen Befreiung drängendes revolutionäres Subjekt ist.

Zugleich zeigt aber Marx` Analyse der Kommune auch die Grenzen dieses Drängens. Die Charakterisierung der Kommune als die „geschichtliche Form zur Befreiung der Klasse“ und als ArbeiterInnenregierung erfolgte keineswegs „automatisch“ aus den Kämpfen der Kommunarden – und erst recht nicht, welche Maßnahmen notwendig waren, um die von der Kommune geschaffenen Möglichkeiten auch zu realisieren. Im Gegenteil. Die Einschätzung und die Lehren aus den Klassenkämpfen in Frankreich offenbarten eine tiefe Spaltung der ArbeiterInnenbewegung in einen revolutionären, marxistischen Flügel, den kleinbürgerlichen Anarchismus (Bakunisten) und die Vorläufer des Reformismus (britische Gewerkschafter).

Die theoretische Verallgemeinerung und die programmatischen Schlussfolgerungen aus der Kommune konnten nur auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus gezogen werden – nicht bloß aus der unmittelbaren Erfahrung des Kampfes. Sie mussten selbst den BarrikadenkämpferInnen „von außen“ vermittelt werden. Schließlich zeigt dieses Beispiel aber auch, dass eine Neubestimmung des Programms der revolutionären ArbeiterInnenbewegung selbst erfolgte. Im Kommunistischen Manifest hieß es noch, dass die nächste Aufgabe der ArbeiterInnenklasse die „Eroberung der Demokratie“ sei und sie so zur Herrschaft gelangen würde.

Mit der Kommune war diese Formel ungenügend geworden. Das Festhalten  an der alten Formel in großen Teilen der Zweiten Internationale und das „Vergessen“ der Lehren der Kommune hatten natürlich materielle Ursachen in einer relativ stabilen, „friedlichen“ Entwicklung des Kapitalismus nach der Niederlage des Jahres 1871. Zugleich aber begünstigte diese  Verflachung des Marxismus den Übergang der Zweiten Internationale in das Lager der Konterrevolution.

Wie wir auch am Beispiel des Bolschewismus gesehen haben, bedarf ein revolutionäres Programm, bedürfen revolutionäre Erkenntnisse nicht nur ihrer Anwendung und Überprüfung in der Praxis. Die revolutionäre Partei selbst tritt mit einem Fundus an Programmatik und Erkenntnis in neue geschichtliche Kämpfe, die – selbst auf ihrem höchsten Entwicklungsstand – immer nur die Verallgemeinerung vergangener Erfahrung sein können.

Klassenkampf und Entwicklung des Programms

Jede revolutionäre Krise erfordert aber nicht die mechanische Anwendung des Programms, sondern seine Anwendung muss immer auch mit der aktuellen Situation verbunden, in die Sprache der Taktik übersetzt sein. Dieselben Losungen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Revolution im Mittelpunkt stehen, können auf einer anderen nicht mehr angemessen bzw. falsch sein. Das trifft nicht nur auf die inneren Veränderungen in einer revolutionären Situation und auf Fragen der Taktik zu, sondern bezieht sich auch auf die strategische Grundausrichtung der revolutionären Partei.

Ohne Bolschewistische Partei hätte es sicherlich nie die Oktoberrevolution, die Errichtung der Diktatur des Proletariats gegeben. Umgekehrt aber wäre diese Partei nie dazu in der Lage gewesen, Kurs auf den Oktober zu nehmen, hätte sie nicht selbst im Frühjahr 1917 ihre strategische Ausrichtung geändert, was letztlich in die Aprilthesen Lenins mündete. Diese „Umbewaffnung“ der Partei, wie es Trotzki ausdrückte, war von entscheidender Bedeutung dafür, dass sie überhaupt Kurs auf den Oktober nehmen konnte.

Um diese Umbewaffnung zu verstehen – und damit auch Kontinuität wie Bruch innerhalb des Bolschewismus – ist es unerlässlich, auch dessen „Vorgeschichte“ zu betrachten. Die russische Sozialdemokratie konnte in der Revolution 1905 ihre politischen Konzeptionen erstmals erproben. Auch wenn die Revolution 1905  niedergeschlagen wurde, so war sie für die weitere Entwicklung des Bolschewismus von unschätzbarem Wert. Alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung stellten ihre Programme, ihre Politik vor.

Einen zweiten Wendepunkt für die programmatische Formierung des Bolschewismus markieren der Ausbruch des imperialistischen Krieges und der Verrat der Sozialdemokratie. Hier entwickelten sich die Bolschewiki – auf den Status einer relativ kleinen Propagandaorganisation zurückgeworfen – zu einer internationalen Strömung, die nicht nur politisch-organisatorisch mit den Parteien der Zweiten Internationale, den Vaterlandsverteidigern, bricht, sondern auch eine politisch-programmatische Erneuerung des Marxismus beginnt.

Diese wird im Jahr 1917 mit der Machtergreifung und dann mit Gründung der Kommunistischen Internationale weiter vertieft. Sowohl die entwickelte Programmatik des Bolschewismus und der ersten vier Kongresse der KomIntern als auch die Formierung dieser Dritten Internationale zur Kampfpartei der Weltrevolution stellen einen bis heute unerreichten Höhepunkt der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung dar, den auch die Vierte Internationale, bis zu ihrer Degeneration Ende der 40er Jahre, aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Propagandaorganisation, nicht zu erreichen vermochte.

Jede neue, revolutionäre Internationale muss daher das Erbe des Bolschewismus bis zu seiner Degeneration und Pervertierung zu einem zentralen Anknüpfungspunkt ihrer eigenen Politik machen.

 

Endnoten

(1) Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MEW 8, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1973, S. 115

(2 ) Ebenda, S. 117

(3) Grigori Sinowjew: Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) (1923), Erlangen [Politladen], S. 97

(4) In: Junius Verlag [Hrsg.]: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, Hamburg, 1981, S. 26

(5) Ebenda, S. 28

(6) Lenin, W. I.: „Die Sewstwokampagne und der Plan der „Iskra“, in: LW 7, Berlin/Ost [Dietz], 7. Auflage, 1976, S. 522)

(7) Axelrod, Pawel Borissowitsch: „Rede auf dem Vereinigungsparteitag 1906, April/Mai 1906“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 32

(8) ders.: ebenda, S. 35

(9) Martow, Julius: „Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 30

(10) Lenin, W. I.: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: LW 9, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1957, S. 65

(11) Ebenda, S. 87 f.

(12) Ebenda, S. 126 f.

(13) Siehe: Trotzki, Leo: „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“ [1939], in: ders., „Stalin – Eine Biographie“, Band II, Anhang, Reinbek [Rowohlt], Juni 1971

(14) Marx, Karl: „Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch“, in: MEW 19, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1974, S. 384- 406

(15) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven – Die Permanente Revolution“, Frankfurt a. M. [EVA], 1971, Seite 51 f.

(16) Ebenda, S. 64 f.

(17) Ebenda, S. 68

(18) Ebenda, S. 70

(19) Ebenda, S. 106

(20) Ebenda, S. 120

(21) Lenin, W. I.: „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“, in: LW 10, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 8)

(23) ders.: „Sozialismus und Anarchismus“, in: LW 10, a. a. O., S. 57 ff.

(23) Siehe: Le Blanc, Paul: „Lenin and the Revolutionary Party“, Amherst/New York [Humanity Books], 1993, S. 107

(24) Siehe z. B. Lenin, W. I.: „Über die Reorganisation der Partei“, in: LW 10, a. a. O., S. 13 ff.

(25) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, Vorwort [1919], in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven…“, a. a. O., S. 122

(26) Siehe: Laszer, Max: „Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910“, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin, 2010, S. 193 ff.

(27) Frölich, Paul: „Rosa Luxemburg – Gedanke und Tat“, Berlin [Dietz], 1990, S. 164 ff.

(28) Vgl.: Workers Power: „Party and Programme“: http://www.workerspower.co.uk/1977/10/party-programme-pt-1/; http://www.workerspower.co.uk/1978/10/party-and-programme-lenin-and-luxemburg-against-opportunism-and-centrism-part-3/; Le Blanc, „Lenin and the Revolutionary Party“, a. a. O.

(29) Hilferding, Rudolf: „Das Finanzkapital“ [1910], Dietz-Verlag, Berlin/Ost 1953

(30) Luxemburg, Rosa: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, in: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1985, S. 5 ff.

(31) Lenin, W. I.: „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“, in: LW 21, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1970, S. 1

(32) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, in: LW 21, a. a. O., S. 26

(33) Ebenda, S. 27

(34) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 369; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(35) Lenin, W. I.: „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 22, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 149.

(36) Lenin, W. I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: LW 22, a. a. O., S. 304

(37) Lenin, W. I.: „Sozialismus und Krieg“, in: LW 21, a. a. O., S. 301 f.

(38) Lukács, Georg: „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, Neuwied und Berlin, 3. Auflage, 1969, S. 9.

(39) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, a. a. O., S. 28

(40) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 304; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(41) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 1; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007: http://www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm

(42) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, Berlin/West [S. Fischer], 1960, S. 132

(43) Ebenda, S. 137

(44) Siehe ebenda, S. 187

(45) Rosenberg, Arthur: „Geschichte des Bolschewismus“, Frankfurt a. M. [EVA], 1966, S. 123

(46) „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 49

(47) Lenin, W. I.: „Briefe aus der Ferne“, in: LW 23, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 309-357

(48) Ebenda, S. 321

(49) Lorenz, Richard [Hrsg.]: „Die russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten“, München [Nymphenburger Verlagsbuchhandlung], 1981, S. 51

(50) Ebenda, S. 52

(51) Zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 256, eigene Übersetzung

(52) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“,Essen [Mehring Verlag], 2012, S. 536

(53) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 2; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007, S. 15

(54) Ebenda, S. 15

(55) Zitiert nach: Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, a. a. O., S. 243

(56) Protokoll der Konferenz, zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 258 f.

(57) Ebenda, S. 259 f.

(58) Lenin, W. I.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, in: LW 24, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 6)

(59) Zitiert nach: Lenin, W. I.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 32 f.

(60) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 1-8

(61) Ebenda, S. 3 f.

(62) ders.: „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 21, a. a. O., S. 415 f.

(63) ders.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 33

(64) Ebenda

(65) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 5)

(66) ders: „Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution“, in: LW 25, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 393 – 507

(67) Ebenda, S. 397

(68) Iswestja, 63, 11.5.1917, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 51

(69) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, Frankfurt a. M. [ISP], 1983, S. 22

(70) ders.: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm)“, Essen [Verlag Ergebnisse und Perspektiven], o. J., S. 26; (Fehler stillschweigend korrigiert; d. Red.)

(71) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Einleitung zur englischen Ausgabe, Essen [Mehring Verlag], 2012, S. LVII

(72) Trotzki, „Geschichte der russischen Revolution“,

 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b2-kap02.htm

(73) Lenin, W. I.: „Zu den Losungen“, in: LW 25, a. a. O., S. 181

(74) ders.: „Die politische Lage“, ebenda, S. 174

(75) ders.: „Zu den Losungen“, a. a. O., S. 188

(76) Ebenda, S. 182 f.

(77) Für eine ausführliche Darstellung der Diskussion siehe Rabinowitch, a. a. O., Kapitel 5, S. 121 ff.

(78) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, a. a. O., S. 37

(79) Lenin, W. I.: „An das Zentralkomitee der SDAPR“, in: LW 25, a. a. O., S. 292 ff.

(80) Ebenda, S. 294 f.

(81) Ebenda, S. 295

(82) Ebenda

(83) Ebenda

(84) ders.: „Über Kompromisse“, in: LW 25, a. a. O., S. 313 ff.

(85) Ebenda, S. 314

(86) ders.: „Resolution zur Agrarfrage“, April 1917, in: LW 24, a. a. O., S. 283

(87) ders.: „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“, in: LW 25, a. a. O., S. 327-377

(88) Ebenda, S. 363

(89) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution: minutes of the Central Committee of the Russian Social-Democratic Labour Party (Bolsheviks) August 1917-February 1918“, London [Pluto Press], 1974, S. 78

(90) Lenin, „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen“, in: LW 26, Berlin/Ost [Dietz], 2. Auflage, 1970, S. 1

(91) ders. „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, ebenda, S. 40 f.

(92) ders. „Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B), 10. (23.) Oktober 1917“, in: LW 26, a. a. O., S. 178

(93) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution“, S. 89 -95

(94) Ebenda, S. 90

(95) Lenin, W. I.: „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, in: LW 26, a. a. O., S. 41

(96) ders.: „Brief an Vorsitzenden des Gebietskomitees der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands I.T. Smilga“, ebenda, S. 54

(97) ders.: „Die Krise ist herangereift“, in: LW 26, a. a. O.,  S. 65 f.

(98) ders.: „Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau“, in: LW 26, a. a. O., S. 125

(99) Siehe dazu Trotzki, Über Lenin, EVA, Frankfurt/Main 1964, S. 71 ff.

(100) Rabinowitch, Alexander: Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, a. a. O., S. 329 f.

(101) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, a. a. O., S. 571 f.

(102) Ebenda, S. 618 f.

(103) Ebenda, S. 708

(104) Ebenda, S. 709




Die Revolution der Bolschewiki 1917

Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 1

Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Der Untertitel des ersten Bandes  „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ findet eine einfache Erklärung: Es geht Rabinowitch  nicht um eine umfassende Darstellung des Revolutionsjahres 1917 von der Februarrevolution bis zur Oktoberrevolution. Er fokussiert sein Werk  ganz auf die Rolle der Bolschewiki und auf den Zeitraum vom sogenannten „Juli-Aufstand“ bis zur Oktoberrevolution (Zum zeitlich anschließenden 2. Band „Das erste Jahr“ siehe die weitere Besprechung), wobei  sich Rabinowitch so weit wie möglich auf die Ereignisse in Petrograd (Petersburg) beschränkt. Man mag diese Beschränkung bedauern, aber sie ermöglicht Rabinowitch (R.) eine sehr detaillierte und atmosphärisch dichte Darstellung, die durch zahlreiche Quellen gestützt wird. Nicht zuletzt zeigen seine Bücher, dass wissenschaftliche Darstellungen durchaus spannend erzählt werden können.

R. schreibt: „Mein Hauptziel bestand darin, die Entwicklung der Revolution ‚von unten‘ so vollständig und genau wie möglich zu rekonstruieren und dabei die Ansichten, das Handeln und die Lage der bolschewistischen Parteiorganisationen…auf allen Ebenen zu beleuchten. Dabei habe ich mich bemüht, den entscheidenden Zusammenhang zwischen diesen beiden zentralen Aspekten der Revolution und dem Erfolg der Bolschewiki herauszuarbeiten.“ (S. xxxviii)

R. hatte ursprünglich vor, ein anderes Werk zu schreiben, nämlich eine Biografie des Menschewistenführers Zereteli, aber er stellte  bald fest, „dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen.“ (S. xx) Erst Anfang der neunziger Jahre  öffneten sich für R. die sowjetischen/russischen Archive, die ihm durchaus neue, bisher unbekannte Einzelheiten enthüllten, jedoch nach seinen eigenen Worten seine grundlegenden Ergebnisse „nicht wesentlich verändern würden.“ (S. xxix)

Der Erkenntnisgewinn, den das Werk „Die Revolution der Bolschewiki 1917“  bringt,  besteht nicht zuletzt darin, dass die Russische Revolution nur verstanden werden kann, „wenn man eine breite Schicht von Führern auf mittlerer Ebene und von Institutionen mittlerer Bedeutung und vor allem auch die Bestrebungen und politischen Stimmungen der einfachen Leute in die Analyse einbezieht…“ (S. xxi). Durch die Berücksichtigung  dieser „mittleren Ebene“ der Bolschewiki ergeben sich neue Sichtweisen auf die bolschewistische Partei, – das Bild wird bunter, vielfältiger.

Noch ein paar Worte zum Autor selbst. Er ist ein (emeritierter) amerikanischer Professor, der in einer russischen Emigrantenfamilie aufgewachsen ist. Sein Vater ging 1921 nach Westeuropa und von dort aus am Ende des 2. Weltkrieges in die USA. Im Hause Rabinowitch verkehrten  prominente Exilrussen, u. a. der Literat Nabokow und auch, man beachte, Kerenski. Es wurde dort natürlich viel über Russland diskutiert und bei allen Differenzen, über eines war man sich einig: „Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden.“ (S. xix)

Es ist doch angenehm, einmal feststellen zu können, dass es auch seriöse bürgerliche Wissenschaftler gibt,  die in der Lage sind, ihre eigenen ideologischen Vorurteile offen zu revidieren, was  diese Buchbesprechung zeigen soll.

Putsch oder Revolution

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt R.: „Vor dem Erscheinen dieses Buches war der gescheiterte Aufstand  vom Juli 1917 (die ‚Julitage‘) von sowjetischen Historikern als spontane Massendemonstration gegen die unpopuläre Politik der Provisorischen Regierung gewertet worden, die im Zaum zu halten die Bolschewiki sich ehrlich bemühten. Für westliche Historiker stellte sie einen ersten Versuch Lenins dar, die Macht zu erobern (‚Generalprobe für den Roten Oktober‘).“ (S. xx f.) Das Buch erschien in den USA bereits 1976. Dass die Auffassung vom Juli-Aufstand als „gescheitertem Putsch“ hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit weit verbreitet war, spricht Bände über die deutsche Wissenschaftslandschaft sowie über die vorherrschende Medien- und Verlagspolitik. Was nicht ins eigene ideologische Weltbild passt, wird ignoriert. So ist es auch kein Wunder, dass erst einem kleinen linken Verlag, dem Mehring Verlag, das Verdienst zukommt, dass dieses bedeutsame Buch 2012 (d. h. 36 Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung) auf Deutsch erschien.

Ebenso wenig wie der Juli-Aufstand war die Oktoberrevolution ein Militärputsch einiger russischer Fanatiker ohne Massenanhang. Für die Putschthese werden häufig drei Aspekte angeführt. Erstens, dass sich der Sturz der bürgerlichen provisorischen Regierung  relativ unspektakulär vollzogen habe. Der „Sturm aufs Winterpalais“, wo sich die provisorische Regierung mit bewaffneten Anhängern verschanzt hatte, erscheint in der Tat wenig bedeutsam. Auch R. schreibt: „Im Gegensatz zu den meisten Berichten in der Sowjetunion wurde das Winterpalais nicht gestürmt. Antonow (der bolschewistische Führer der Aktion, M. E.) selbst erzählte später, dass ‚der Angriff auf den Palast…vollkommen desorganisiert war’…dass nicht mehr viele Kadetten übrig waren…Als wir eintraten, leisteten die Kadetten keinen Widerstand.“ (S. 439).

Zweitens wird angeführt, es hätten nur kleinere militärische Geplänkel stattgefunden, die Massen  hätten abseits gestanden.

Und drittens, das eigentliche Aufstandszentrum bzw. Putschzentrum, das Militärische Revolutionskomitee (des Petrograder Sowjets) sei als Organ als eine „reine Frontorganisation zu sehen, die vom bolschewistischen Zentralkomitee oder der Militärorganisation kontrolliert wurde.“ (S. 349)

Der erste Einwand ist an Dummheit kaum zu überbieten. Mit der gleichen Logik müsste man der Französischen Revolution den revolutionären Charakter absprechen, denn auch der „Sturm auf die Bastille“ hat so nie stattgefunden. In der Bastille saßen am 14. Juli 1789 ganze sieben Gefangene, und nach einer kurzen Auseinandersetzung übergab die kleine Besatzung die Festung schließlich an die „Aufständischen“. Die Bedeutung  besteht in beiden Fällen, dem „Sturm auf die Bastille“ und dem „Sturm auf das Winterpalais“, jedoch nicht darin, dass heroische Kämpfe der Massen stattgefunden hätten, sondern in der revolutionären Symbolik der Machtübernahme. Der „Sturm auf das Winterpalais“ bildete den vorläufigen Schlusspunkt nach monatelangen Massenkämpfen, und schließlich bedeutete er die Festnahme der provisorischen Regierung, die verhaftet werden musste, um einer Sowjetregierung Platz zu machen.

Zum zweiten Einwand, am Umsturz seien keine Massen beteiligt gewesen, es habe keine Massenkämpfe gegeben: Dazu ist zu sagen, dass in Petrograd die provisorische Regierung inzwischen gesellschaftlich so isoliert war, die unterdrückten Massen derart geschlossen hinter den Räten/Sowjets standen, dass die Machtübernahme auch ohne heroische Straßenkämpfe o. ä. weitgehend schmerzlos möglich war. R. zitiert hier einen Führer der  Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS),  der erklärte, dass „es denen von uns, die in den unteren Klassen Petrograds arbeiteten, klar war, dass Kerenski in der Petrograder Garnison kein Dutzend Leute finden würde, die ihn als Vertreter der Koalitionsregierung verteidigen würden.“ (S. 377)

Und zum dritten Einwand, das Militärische Revolutionskomitee (RMK) sei eine reine Frontorganisation der Bolschewiki gewesen, bemerkt R: „Doch eine solche Einschätzung ist ungenau. Bolschewiki spielten innerhalb des Komitees die führende Rolle. Sie waren aber nicht seine einzigen aktiven Teilnehmer, und sogar die bolschewistischen Teilnehmer stimmten in ihrer Auffassung der Aufgaben des Komitees nicht alle überein.“ (S. 349)

Insgesamt bleibt festzuhalten: Hätte es sich bei der Oktoberrevolution wirklich nur um einen Putsch gehandelt,  bei dem sich eine kleine Minderheit an die Macht geputscht hätte, dann wären die folgenden tiefgehenden gesellschaftlichen Umwälzungen nicht zustande gekommen und auch der folgende Bürgerkrieg wäre verloren gegangen.

Kadavergehorsam oder selbstbewusstes Handeln

Ein sich hartnäckig haltender Mythos über die bolschewistische Partei lautet in etwa: Die bolschewistische Partei sei hierarchisch aufgebaut, stark zentralisiert gewesen, über ein institutionalisiertes Befehlssystem sei die Partei von einer Parteiführung straff geführt worden und die unteren Kader hätten die befohlene Linie lediglich nach außen zu vertreten. An der Spitze der Partei habe  ein autoritärer, nicht antastbarer Lenin gestanden.

Mit der Realität hat dieser Mythos kaum etwas gemeinsam. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie, in der August Bebel als eine Art Ersatzkaiser fungierte, musste Lenin häufig um seine Positionen kämpfen. Es gab, so stellt R. fest, „innerhalb der Petrograder bolschewistischen Organisation auf allen Ebenen durchgängig freie und lebhafte Diskussionen über Grundfragen von Theorie und Taktik. Führer, die nicht mit der Mehrheit übereinstimmten, durften offen für ihre Ansichten eintreten, und nicht selten ging Lenin aus diesen Auseinandersetzungen als Verlierer hervor.“ (S. 456 f.) Die bolschewistischen Kader verstanden sich in aller Regel nicht als bloße Befehlsempfänger.

Am Punkt „Parteidemokratie und Parteistrukturen“ zeigt sich bei R. allerdings zweierlei:  einerseits, wie unbefangen und vorurteilsfrei seine Untersuchungen zur Revolution 1917 in Petrograd sind, aber andererseits auch Rabinowitchs begrenzte Kenntnis der bolschewistischen Parteigeschichte. Er hebt zwar an der bolschewistischen Partei 1917 hervor, sie sei charakterisiert durch „relativ demokratische, tolerante und dezentralisierte innere Struktur und Arbeitsweise… wie auch ihre grundsätzliche Offenheit und ihren Massencharakter“ (S. 456) , dann aber schreibt er, dass dies „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht.“ (S. 456)

Aber die gesamte Geschichte der bolschewistischen Partei, selbst in den finstersten Phasen der Reaktion und Illegalität, war geprägt von offenen und kontroversen Diskussionen. Selbstverständlich muss eine kleine Kaderorganisation in der Illegalität anders strukturiert sein als eine Massenorganisation im revolutionären Aufschwung. Demokratische Strukturen ließen sich unter den Bedingungen der Illegalität natürlich nur z. T. aufrechterhalten, aber von einem neuen Parteimodell zu reden, das „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht“ ist zumindest eine arge Verkürzung.

Aber zurück zum Mythos. Man könnte umgekehrt sagen, hätte der Mythos über die bolschewistischen Parteistrukturen der Realität entsprochen, hätte die bolschewistische Partei niemals die Petrograder Arbeiterklasse  in den Oktoberumsturz führen können. Schon ein paar Zahlen verdeutlichen dies. Die bolschewistische Partei Petrograds hatte in der Stadt bei Ausbruch der Februarrevolution 1917 2 000 Mitglieder, Anfang April 16 000, Ende Juli 32 000 und Ende Oktober 50 000 Mitglieder (weit überwiegend FabrikarbeiterInnen). D. h., gerade einmal 4 % der Parteimitglieder Petrograds im Oktober waren erfahrene, in der Illegalität geschulte und geprägte Kader. Die Zahlen zeigen, dass die Partei eng verbunden mit, ja ein Bestandteil der Petrograder Arbeiteravantgarde war. Die Vorstellung, dass eine solche Partei durch bloße Befehlsstrukturen geführt werden könnte, ist naiv.

Rabinowitch weist „in detektivischer Kleinarbeit“ (so der französische Historiker Marc Ferro) nach, dass die bolschewistische Partei 1917 in strategischen Fragen uneins war und durch relativ selbständige Parteizellen innere Spannungen und Spaltungen aufwies. (S. xxiii)

Zentrale Forderungen im revolutionären Prozess wurden also von bzw. in der Arbeiteravantgarde eigenständig formuliert (häufig in Fabrikkomitees und in den Arbeiterräten) und fanden so, vermittelt über die bolschewistische Arbeiterbasis, ihren Weg in die Partei. Die Programmatik und Taktik der bolschewistischen Partei sind nur zu verstehen, wenn man sie in Wechselwirkung mit der Arbeiteravantgarde Petrograds sieht.

Revolutionäres Programm und Klassenkampf

Zugleich muss jedoch unbedingt betont werden, dass es ohne die bolschewistische Partei und ohne ihre programmatisch-strategische Umrüstung in Lenins Aprilthesen (Ausrichtung auf die sozialistische Revolution) keine siegreiche Oktoberrevolution  gegeben hätte. R sagt zu Recht, dass er „einen Sieg der Bolschewiki ohne Lenin für undenkbar“ (S. xIiii) hält.

Und mehr noch. Es war, auch darauf weist R. hin, „fast ausschließlich auf Lenins Eingreifen zurückzuführen, dass die Vereinigungsgespräche zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki alsbald scheiterten.“ (S. xIviii) und zwar bekämpfte er diese Linie u. a. deshalb, weil diese „vereinigte Partei“ die russischen Kriegsanstrengungen hätte unterstützen müssen, d. h., die Politik des revolutionären Defätismus, die  Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg und eine internationale sozialistische Revolution hätte aufgegeben werden müssen.

Aber es war nicht nur Lenins Härte gegen die politisch überholte und kompromisslerische Linie der bolschewistischen Parteiführung, die die innerparteiliche Durchsetzung der Aprilthesen ermöglichte. Die Partei war zwar im Petrograder Sowjet noch eine kleine Minderheit, aber sie hatte inzwischen in Petrograd 16 000 Mitglieder. Diese Mitglieder waren, wie gesagt, ein Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds und trugen die „Stimmungen der Massen“, zumindest der fortgeschrittensten Teile, in die Partei. Lenins Aprilthesen sind gewissermaßen auch Ausdruck dieses Verhältnisses zwischen Arbeiteravantgarde und Partei, und zwar inhaltlich („Forderungen“) als auch strategisch (Ausrichtung auf eine sozialistische Revolution durch eine revolutionäre Regierung der Arbeiterräte). Dies war auch der Grund, warum Lenin erfolgreich mit der Mobilisierung der Parteibasis gegen große Teile der Parteiführung drohen konnte, um die Partei umzurüsten. D. h., es zeigte sich, dass zumindest zeitweise ein Teil der Arbeiteravantgarde weiter war als die Partei, genauer: die Parteiführung (wie schon in der Revolution 1905).

Es wird hier nicht nur die Wichtigkeit eines revolutionären Programms (Aprilthesen) und einer revolutionären Führung deutlich,  es zeigt auch, dass die Entstehung eines solchen Programms kein bloßer theoretischer Akt ist, dessen Ergebnisse dann der Klasse zu vermitteln sind, sondern dass die Entwicklung eines solchen Programms nur in Wechselwirkung mit den Klassenkämpfen und mit der Verankerung der RevolutionärInnen in diesen Kämpfen verstanden werden kann.

Wir müssen uns heute vor Augen halten, dass wir weit davon entfernt sind, ein revolutionäres Programm zu haben. Wir sind heute weitgehend darauf zurückgeworfen, revolutionäre Prinzipien (inhaltlich und taktisch) zu propagieren/verteidigen und uns mit unseren begrenzten Kräften an Kämpfen zu beteiligen und dies dann programmatisch zu verarbeiten.

Arbeiteravantgarde und Partei

Alle angesprochenen Probleme zeigen sich besonders in den „Juli-Tagen“. Deshalb lautet nicht zufällig die Überschrift des 1. Kapitels (nach Vorwort bzw. Einleitung zur deutschen und englischen Ausgabe) „Der Juli-Aufstand“. Wie unter einem Brennglas fokussiert,  kann man hier besonders den Aspekt des Verhältnisses  Arbeiteravantgarde Partei betrachten. Ende Juli hatte die bolschewistische Partei noch nicht die Mehrheit der Petrograder  ArbeiterInnenklasse hinter sich, aber die Partei war schon eine bedeutende Kraft in Petrograd. Sie hatte in der Stadt 32 000 Mitglieder, hinzu kamen 2000 Soldaten der bolschewistischen Militärorganisation, die wiederum einen „parteilosen“ Club von 4000 Soldaten führte.

Abgesehen von den z. T. chaotischen und schnell wechselnden Umständen war das Zentralkomitee der Bolschewiki nur bedingt in der Lage, diese Partei zu lenken und zu führen. R. schreibt dazu im Vorwort der deutschen Ausgabe, dass „die Julitage zwar ein authentischer Ausdruck des Volkszorns über die mageren Ergebnisse der Februarrevolution waren, dass aber zugleich radikale Teile des bolschewistischen Petersburger Komitees (das meint die Petersburger Partei, M. E.) und der Militärischen Organisation der Partei auf den Druck ihrer militanten Anhängerschaft in den Fabriken und Garnisonen Petrograds hin den Aufstand aktiv vorantrieben – entgegen dem ausdrücklichen Willen Lenins und des Zentralkomitees der Partei. Das Zentralkomitee, so stellte sich heraus, hatte bewaffneten Aktionen gegen die Regierung eine eindeutige Absage erteilt.“ (S. xxii) Die einfachen Parteimitglieder, zur überwältigenden Mehrheit der Partei erst nach der Februarrevolution beigetreten, waren keine marxistisch geschulten Kader, sie wollten revolutionäre Aktionen, so dass der Druck auf die Partei erheblich war, und diesem Druck konnte auch die zentrale Parteiführung nur mit Mühe widerstehen.

Ein Schlaglicht: Als Lenin am 4. Juli gedrängt wurde, auf einem Balkon zu einer bewaffneten Demonstration zu reden, lehnte Lenin zunächst „in der Hoffnung ab, dass seine Weigerung seine Ablehnung der Demonstration ausdrücken würde. Aber auf Drängen der Kronstädter Bolschewiki-Führer hin stimmte er schließlich zu. Als er auf den Balkon im zweiten Stock hinaustrat, um sich an die Matrosen zu wenden, knurrte er einige Funktionäre der Militärorganisation an: ‚Man sollte euch dafür verdreschen‘ .“ (S. 13 f.)

Z. T. mussten Führungskader der Petrograder Partei ihren militanten Mitgliedern auch entgegenkommen, um ihre Hinwendung zu den Anarchisten zu verhindern.

Weil die Arbeiterbasis Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds war und eben alles andere als ein bloßer Befehlsempfänger des ZK, gab es nicht nur Auseinandersetzungen in der Parteiführung (z. B. mit dem rechten Flügel um  Kamenjew, aber auch z. B. zwischen Lenin und den praktischen Aufstandsführern vom Oktober), sondern die bolschewistische Basis in Petrograd wurde in den Juli-Tagen förmlich zerrissen zwischen der Parteilinie des ZK und der vorpreschenden Arbeiteravantgarde Petrograds. Nur das hohe Ansehen einzelner Parteiführer (insbes. Lenins) und die Tatsache, dass es links der Bolschewiki keine bedeutende organisatorische Kraft gab, verhinderten den (halben) Aufstand und vermutlich auch eine Spaltung der Partei.

Wie sich bald herausstellte, war die taktische Linie des ZK richtig. Sie verhinderte einen  vorzeitigen Aufstand und damit eine vom übrigen Land isolierte „Petrograder Kommune“. Nichtsdestotrotz waren die Ergebnisse dieses mühsam verhinderten Aufstandes ein Rückschlag. R. schreibt: „Die ungeduldigen Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen, die sich bisher um die Bolschewiki geschart hatten, gingen aus den Juli-Ereignissen geschwächt und zumindest vorübergehend demoralisiert hervor“ (S. 23) Auch die Partei wurde in die Defensive gedrängt, unterlag Repressionen, verlor vorübergehend an Einfluss und hatte „zumindest bei einigen bolschewistischen Organisatoren in den Fabriken den Glauben in ihre eigene höhere Parteiführung untergraben“. (S. 92) Allerdings gab es keine Massenaustritte.

Insgesamt zeigen die Juli-Ereignisse, dass der Einfluss der Arbeiteravantgarde auf die revolutionäre Partei ambivalent ist und durchaus nicht immer und automatisch positiv zu werten ist. Und diese Ereignisse zeigen auch exemplarisch, dass die  Partei gezwungen sein kann, aus übergeordneten taktischen Erwägungen, sich sogar der Arbeiteravantgarde entgegenzustellen. Dazu ist es auch bei kleinen Organisationen nötig,  Kader herauszubilden, die zur Standhaftigkeit, zur Fähigkeit, auch gegen den Strom (in der organisierten Linken und/oder der ArbeiterInnenbewegung) zu schwimmen,  in der Lage sind.

ArbeiterInnenklasse, Taktik und Partei

Die Oktoberrevolution zeigt aber auch, dass auf dem Gebiet der Taktik, genauer gesagt der Taktik der revolutionären Machtergreifung, die revolutionäre Partei durch nichts zu ersetzen ist. Die zentrale Bedeutung der Taktik zeigte sich in jeder Phase zwischen der Februar- und Oktoberrevolution. Die verschiedenen Wendungen und Auseinandersetzungen in der bolschewistischen Partei werden von Rabinowitch akribisch nachgezeichnet.

In revolutionären Situationen (nicht nur dann, aber da entscheidend) sind revolutionäres Bewusstsein der ArbeiterInnenmassen und Programm notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für den Sieg des revolutionären Aufstandes. Dieser setzt  voraus, den richtigen Zeitpunkt, den der tiefsten Schwäche der Bourgeoisie, zu erkennen (hier geht es u. U. um Tage, ja selbst Stunden). Der Schlag muss weiter am richtigen Ort gegen das entscheidende Machtzentrum des Klassenfeindes geführt werden. Nicht zuletzt ist eine richtige Einschätzung der Gesamtlage des Landes mit all ihren Ungleichzeitigkeiten vonnöten, um Spaltungen im Lager der Herrschenden zu erkennen und auszunutzen und zu verhindern, dass sich Spaltungen im eigenen Lager zur Katastrophe auswachsen. Beispielsweise gibt es fast immer Gegensätze zwischen den großstädtischen Zentren der Revolution und dem übrigen Land  (siehe die Julitage in Petrograd).

All  dies können z. B. Räte prinzipiell nicht leisten, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil revolutionäres  Bewusstsein allein noch kein Handlungskonzept umfasst (was für einen Aufstand lebensnotwendig ist), sondern weil sie ja auf der einen Seite gerade die Heterogenität der Unterdrückten widerspiegeln, was wiederum auf der anderen Seite aber ihre Stärke ist.

Revolutionäre Politik bedeutet in einem solchen Moment, aufgrund politischer Erfahrungen und organisatorischer Strukturen die Mehrheit in den Räten in den Aufstand zu führen. All dies ist ohne revolutionäre Partei unmöglich.

Um die Partei darauf vorzubereiten, hatte Lenin im April 1917 gekämpft und  der bolschewistischen Partei ab April 1917 eine neue Ausrichtung gegeben. In der 4. These der Aprilthesen steht unmissverständlich, dass „die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form  der Revolutionsregierung sind“,  und die generelle taktische Ausrichtung wird gleich mitgeliefert: „Solange wir in der Minderheit sind, ist unsere Arbeit die Kritik und Aufdeckung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den unerlässlichen  Übergang der gesamten Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte propagieren, damit die Massen ihre Fehler durch Erfahrung überwinden.“

Alles scheint klar zu sein. Trotzdem musste die Partei z. T. abrupte taktische  Wendungen vornehmen. Von Rabinowitch wird aufgezeigt, wie die bolschewistische Partei vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und schwerer innerparteilicher Konflikte diese Wendungen vollzog. Häufig war Lenin die treibende Kraft, aber er setzte sich nicht immer durch. Die taktischen Wendungen waren dabei z. T. so scharf, dass  z. B. sogar die Losung „Alle Macht den Räten“ vorübergehend fallengelassen wurde.

Auffällig ist bei diesen taktischen Wendungen vor allem zweierlei: 1. Der Druck der  Massen war z. T. so stark, dass Parteibeschlüsse nicht durchzuhalten waren. Es „sahen viele Massenorganisationen in Petrograd, ungeachtet der Parteibeschlüsse, in einer revolutionären Sowjetregierung die Lösung ihrer dringendsten  Probleme. Zur Zeit der Kornilow-Affäre (der Versuch eines reaktionären Putsches, M. E.) Ende August wurde das Ziel einer ausschließlich sozialistischen Regierung von fast allen Petrograder Arbeiter und Soldaten geteilt; so waren auch die Bolschewiki gezwungen, formell ihren alten Schlachtruf ‚Alle Macht den Sowjets!‘ wiederzubeleben.“ (S. 130 f.)

2. Lenin, der sich lange Zeit versteckt halten musste, kam durch seine Isolierung in Teilen zu Fehleinschätzungen der „Massenstimmung“. Er forderte z. B. (ab Mitte September) einen „sofortigen bewaffneten Aufstand vorzubereiten“ (S. 263) Die Organe des Aufstands sollten die Fabrikkomitees sein. Rabinowitch schreibt dazu: „Zum Teil wegen ihres ständigen Kontakts mit Arbeitern  und Soldaten verfügten Führer wie Trotzki, Bubnow, Sokolnikow und Swerdlow über eine, wie es scheint, realistische Einschätzung darüber, wo die Grenzen des Einflusses der Partei und ihrer Autorität bei den Massen lagen…Folglich begannen sie jetzt, die Eroberung der Macht und die Bildung einer neuen Regierung mit der baldigen Einberufung eines nationalen Sowjetkongresses in Zusammenhang zu bringen – und zwar, um sich die Legitimität der Sowjets in den Augen der Massen zunutze zu machen.“ (S. 275 f.) Dieser Konflikt zwischen Lenin und den eigentlichen Organisatoren des Oktoberumsturzes blieb bis kurz vor dem Umsturz bestehen.

Taktisches Manövrieren hat immer zwei Hauptgefahren: a) dem Druck von Massenbewegungen bzw. Massenstimmungen nachzugeben. Um sich nicht zu isolieren, werden Zugeständnisse gemacht, die  der revolutionären Orientierung mittel- und langfristig schaden. b) Ein „gegen den Strom Schwimmen“ birgt immer die Gefahr, prinzipienfest, aber taktisch unflexibel zu sein und dadurch die Isolierung  von den Massen noch zu verstärken. Diese Gratwanderung ist nicht zu vermeiden.

Sicherlich kann Rabinowitchs Werk die Lektüre von Trotzkis dreibändiger „Geschichte der Russischen Revolution“ nicht ersetzen. Trotzkis Werk ist nicht nur umfangreicher, sondern ganz anders politisch gewichtet. Aber, die Schwerpunktsetzung Rabinowitchs  auf die „mittlere Ebene“ der Bolschewiki bereichert die Kenntnisse und das Bild von der Oktoberrevolution ungemein.

 

Bibliografische Angaben

Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd.1, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag, Essen,  2012, ISBN  978-3-88634-097-2




Das erste Jahr

Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 2

Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Im 2. Band von Rabinowitchs Werk (Das erste Jahr) werden die Dramatik und Tragik des Niedergangs der Sowjetdemokratie – vor allem in Petersburg (Petrograd) – thematisiert. Rabinowitch konnte dazu Anfang der neunziger Jahre in staatlichen Archiven, in Archiven der Kommunistischen Partei sowie in Archiven des KGB (!) forschen. 2007 erschien das Werk auf Englisch und 2010 auf Deutsch. Der Band gliedert sich in vier Teile: Teil 1 behandelt den Zeitabschnitt von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918, Teil 2 hauptsächlich die Auseinandersetzung um den Brester Friedensvertrag bis zum März 1918. Im dritten Teil geht es um die innenpolitischen und militärischen Krisen in Petrograd bis zum Frühsommer 1918 und im Teil 4 geht es um die bolschewistische Partei in Petrograd bis zur Ausrufung des „Roten Terrors“ im Herbst 1918.

In einem „Prolog“ fasst Rabinowitch noch einmal wichtige Ereignisse und Ergebnisse bis zur Oktoberrevolution aus seinem 1. Band zusammen.

Die zentrale Fragestellung von Rabinowitch lautet: Wie war der Niedergang der Partei (und Sowjetdemokratie) in Petrograd möglich? Einer bolschewistischen Partei, die ausgesprochen demokratisch organisiert und tief in den Massen verankert war.

Rabinowitch lässt dabei immer wieder seine Sympathie für den „gemäßigten Flügel“ der Bolschewiki und seine Abneigung gegen den „ultralinken Kurs“ Lenins und Trotzkis (wie schon im 1. Band) durchblicken.

Worauf Rabinowitch überhaupt nicht eingeht, sind programmatische Leerstellen. Z. B. wurde das Verhältnis zwischen Partei und Sowjet nie theoretisch-programmatisch verarbeitet. Lenin kommt sicherlich das unschätzbare Verdienst zu, mit seiner Schrift „Staat und Revolution“ die Bedeutung und Prinzipien der Arbeiterdemokratie wieder entdeckt zu haben (durch Rückgriff auf Marx‘ Arbeit zur Pariser Commune), aber selbst in Lenins Schrift fehlen fast völlig Ausführungen zum Verhältnis Partei-Sowjets.

Sicherlich spielten beim Niedergang von Partei- und Sowjetdemokratie in Petrograd auch subjektive Fehler bzw. Fehlverhalten eine Rolle. Ebenfalls bedeutsam waren die schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen, von denen insbesondere die um den Vertrag von Brest-Litowsk so gravierend waren, dass sie die Gefahr einer Parteispaltung hervorriefen. Das alles wird von Rabinowitch beeindruckend detailliert dargelegt. Entscheidend bei allem aber waren nicht die subjektiven Faktoren, sondern die kaum zu begreifenden objektiven Schwierigkeiten. Da sind vor allem zu nennen: 1. Der ökonomische Zusammenbruch; 2. die Aktionen der Konterrevolution; 3. der ungeheure Aderlass an erfahrenen Kadern. Und so lautet auch Rabinowitchs Fazit schließlich: „Es waren die tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen die Bolschewiki in ihrem oft aussichtslosen Kampf ums Überleben konfrontiert waren, die maßgeblich die früheste Entwicklung der Partei und der Sowjetorganene, ihr Verhältnis zueinander und das sowjetische politische System insgesamt prägten.“ (S. 527)

Am Beispiel Petrograds werden von Rabinowitch diese „tatsächlichen Gegebenheiten“ mit ihren politisch-gesellschaftlichen Folgen anschaulich und erschütternd dargelegt.

Der ökonomische Zusammenbruch kam einer Katastrophe gleich. Es mangelte an allem, selbst das Lebensnotwendigste fehlte. Der Brennstoffmangel im Winter 17/18 zermürbte die Massen und führte auch zu umfangreichen Betriebsschließungen. Die Lebensmittelversorgung brach ab dem späten Frühjahr 1918 weitgehend zusammen. Von März bis Juni 1918 sank in Petrograd die zugestandene Tagesration eines Arbeiters von 1082 auf 714 Kalorien. Die Bevölkerungszahl Petrograds sank von 2,3 Millionen Einwohnern Anfang 1917 auf 1,5 Millionen Anfang 1918. Allein zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 1918 flohen 150 000 Menschen vor dem Hunger, Mitte 1918 setzte eine Massenflucht aus Petrograd ein. Die größte Choleraepidemie in der Geschichte der Stadt, die vor allem die ArbeiterInnen traf, brach im Sommer 1918 aus. Weitere Betriebsschließungen waren die Folge. Die Rote Armee und bewaffnete Arbeitereinheiten mussten gewaltsam Getreide bei den Bauern eintreiben, was die Beziehungen zu diesen nicht einfacher machte. Die Zustände in den Kasernen spotteten jeder Beschreibung. Dies und vieles andere mehr legten den Grundstein für die beginnende Unzufriedenheit und Demoralisierung bei Teilen der ArbeiterInnenklasse und Soldaten Petrograds.

Auch die Aktionen der Konterrevolution zeigten durchaus Wirkung. In Petrograd (aber natürlich nicht nur dort) stieß die neue proletarische Macht auf den sofortigen und umfassenden Boykott seitens des alten Verwaltungsapparates. Schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution wird die Hauptstadt Petrograd von außen durch konterrevolutionäre Einheiten bedroht und von innen durch Aufstandsversuche. Am 29. Oktober wird ein konterrevolutionärer Aufstandsversuch niedergeschlagen (200 Tote). Anfang 1918 gibt es eine Verschwörung von mehreren Tausend bewaffneten Offizieren (von den Briten unterstützt). Die andauernde Bedrohung Petrograds durch einen erneuten Vormarsch deutscher Truppen oder weißer Truppen aus Finnland halten die Stadt gewissermaßen ständig in Alarmbereitschaft. Hinzu kamen Mordanschläge auf bolschewistische Führer (z. B. Urizki), schließlich die Ausdehnung des Bürgerkrieges bis zum Pazifik. Rabinowitch schreibt: „Die Tendenz zum Roten Terror in Petrograd und anderen russischen Städten im Spätsommer 1918 entsprang der enormen Verunsicherung, die diese unheilkündenden Entwicklungen hervorriefen.“ (S. 420)

All dies konnte eine Zeitlang überdeckt werden dadurch, dass der Sowjetkongress das Programm der Bolschewiki übernahm, d. h., zunächst „hatten die ersten revolutionären Dekrete der Bolschewiki und ihre offenkundige Härte gegenüber der inneren und äußeren Konterrevolution den revolutionären Geist der unteren Klassen Pedrograds neu belebt“ (S. 56), aber schließlich führte die dauernde Überforderung der Petrograder ArbeiterInnenklasse und Petrograder Parteiorganisation zu einem Ausbluten der Arbeiterdemokratie.

Ständig verließen revolutionäre ArbeiterInnen Petrograd. Meist aus Hunger, aber auch, weil sie überall im Land gebraucht wurden: an der Front, bei der gewaltsamen Beschlagnahme von Getreide usw. Vor allem die Petrograder Parteiorganisation musste Kader für die Verwaltung und Armee stellen. Rabinowitch führt in diesem Zusammenhang hier einige Zahlen über die Mitgliederentwicklung Petrograds an, um die Belastungen der Petrograder Parteiorganisation zu verdeutlichen: Oktober 1917 – 50 000 Mitglieder; Februar 1918 – 36 000; Juni 1918 – 13 000; September 1918 – 6000. Aber es ist nicht allein die zahlenmäßige Entwicklung, sondern auch die Zusammensetzung, die besorgniserregend war. 40 % der Mitglieder im Herbst 1918 waren der Partei erst nach der Oktoberrevolution beigetreten. und waren im besten (!) Fall unerfahren. Rabinowitch weist auch darauf hin, „dass viele der Neumitglieder ausgesprochene Kriminelle waren oder einfach egoistische Individuen, die keine Verantwortung gegenüber der Partei empfanden.“ (S. 531) Unter diesen Voraussetzungen kam die Parteiarbeit unter den verbliebenen, teilweise demoralisierten, Teilen der ArbeiterInnenklasse Petrograds faktisch fast zum Erliegen. Hinzu kam der Verlust des einzigen Bündnispartners, der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS). Die Auseinandersetzungen um den Vertrag von Brest-Litowsk und andere Differenzen führten zur Zerstörung des Bündnisses mit den LS auf nationaler Ebene, aber schließlich auch in Petrograd. Das ist deshalb besonders tragisch, weil, wie Rabinowitch zeigt, die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den LS in Petersburg zunächst durchaus freundschaftlich war. Die Bolschewiki strebten die eigene parteipolitische Isolierung nicht an, im Gegenteil. Nichts verdeutlicht dies vielleicht besser als eine kleine Episode am Rande des Sowjetkongresses. Als auf dem Kongress im Oktober nicht nur die rechten Sozialrevolutionäre und rechten Menschewiki den Saal verließen, sondern auch die Menschewiki-Internationalisten mit ihrem Parteiführer Martow, schildert Rabinowitch: „Ein junger bolschewistischer Arbeiter in einem schwarzen, umgürteten Hemd wandte sich ihm zu und rief mit unverhüllter Trauer in der Stimme: ‚Wir rechneten untereinander schon damit, dass einige uns im Stich lassen würden, aber doch nicht Martow‘.“ (S. 15)

Nicht nur für die bolschewistische Führung, auch für die Petrograder Partei „lag die Antwort auf den anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Verfall und auf die Bedrohung durch äußere und innere Feinde in Diktatur, Zentralisierung, Heranziehung bürgerlicher Spezialisten sowie ehemaliger Offiziere und in der Verlängerung der ‚Atempause‘ des Brester Vertrags um nahezu jeden Preis“. (S. 357 f.) Die große Hoffnung lag für Partei und ArbeiterInnenklasse im Ausbruch der Revolution im übrigen Europa, dafür hieß es „durchhalten“.

Taktische Fehler, Bürokratisierung, teilweise unsensibler Umgang mit den Stimmungen der Massen, Manipulationen am sowjetischen Wahlrecht, die Eigendynamik und unnötigen Härten des „Roten Terrors“ gegen die Konterrevolution werden von Rabinowitch für Petrograd lebendig beschrieben. All dies findet nicht unbedingt seine Rechtfertigung, aber doch seine Erklärung vor dem Hintergrund der „tatsächlichen Gegebenheiten“.

Auch wenn Rabinowitchs Sympathien eher dem „gemäßigten Flügel“ der Bolschewiki gehören, ist er von einseitigen und vereinfachenden Schuldzuweisungen doch weit entfernt, und er betont: „Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen traten die Bolschewiki 1917 nicht für die Diktatur einer einzelnen Partei ein.“ (S. 5)

Bibliografische Angaben

Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 2, Das erste Jahr, Mehring Verlag, Essen 2010, ISBN 978-3-88634-090-3




Lehren des Oktober – Ihre Aktualität und Bedeutung für revolutionäre Politik heute

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

100 Jahre Russische Revolution, 100 Jahre Sturz des Zarismus, 100 Jahre Oktoberrevolution – dieses Jahr steht im Zeichen von 1917.

In dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ haben wir uns mit zentralen Fragen kommunistischer Politik beschäftigt, mit dem Verhältnis von Programm und Partei, der Rolle der Räte, der Entwicklung zum Stalinismus, die Lage der Frauen. Dabei stellen wir nicht allein historische Betrachtungen an, sondern wollen Lehren für revolutionäre Politik heute in den Vordergrund rücken.

1917 gelang es den russischen ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern innerhalb eines Jahres, sich gleich von zwei „großen Übeln“ zu befreien. Der Zarismus fiel in der „Februarrevolution“, die bürgerlich-kapitalistische „Provisorische Regierung“ im Oktober – ein bis heute beispielloser Akt der Befreiung.

Im Folgenden werden wir uns zuerst mit Leo Trotzkis „Die Lehren des Oktober“ beschäftigen. Dieser Text wurde 1923 geschrieben und behandelt zum einen das Scheitern der deutschen KPD im Jahre 1923, die in einer aussichtsreichen Situation ihren „Oktober“ nicht zum Erfolg führen konnte. Zum anderen zieht Trotzki in diesem Text Schlussfolgerungen aus dem russischen Oktober und der damaligen Politik der Bolschewiki. Beides war zugleich Teil der Debatten in dem sich zuspitzenden Fraktionskampf in der KPR(B) um die Zukunft des Erbes der Oktoberrevolution.

Im zweiten Teil betrachten wir die aktuelle Weltlage und stellen zentrale politische und programmatische Lehren des Oktober für die aktuelle revolutionäre Politik dar.

Die Lehren des Oktober und die Kommunistische Internationale 1923/24

Die Veröffentlichung der Schrift „Die Lehren des Oktober“ im Jahre 1923 war Teil des sich nach dem Bürgerkrieg verschärfenden Fraktionskampfes innerhalb der kommunistischen Bewegung und Internationale um die Entwicklung der Sowjetunion im Besonderen und die globale revolutionären Strategie im Allgemeinen. Die Möglichkeit einer revolutionären Entwicklung in Deutschland 1923 befeuerte noch einmal die Erwartung von 1917, dass die russische Revolution nur der Auftakt für einen weltweiten revolutionären Prozess sein werde. Das Scheitern der KPD wie auch die durch die (Nach-)Bürgerkriegslage erzwungenen taktischen Rückschritten gegenüber der Perspektive von „Staat und Revolution“ (z. B. die Einführung der „Neuen ökonomischen Politik“) mussten zwangsläufig zu einer kontroversen Debatte um Strategie und Perspektive führen.

In der Sowjetunion selbst wurde diese Debatte durch die zunehmende Bürokratisierung von Staats-, Sowjet- und Parteiapparaten geprägt, indem die neu entstehende BürokratInnenkaste zunehmend zum Faktor der Abkehr von einer dynamischen Sichtweise auf und Perspektive für die Weltrevolution wurde. Mit dem 12. Parteitag im April 1923, der bereits stark von der Stalin-Fraktion dominiert wurde, geriet die leninistische Position Trotzkis in die Defensive, zumindest in Russland selbst. Im Zuge der Entwicklung in Deutschland um den Oktober 1923 wurde die Debatte um die revolutionäre Strategie auch in der Komintern zugespitzter. Die Diskussionen um die Lehren der russischen Revolution müssen daher in diesem Kontext gesehen werden, nicht einfach als historischer Rückblick. Damit haben sie methodisch gesehen vor allem die Frage im Blick, welche Schlussfolgerungen für die weitere Strategie in einem Umfeld der Stabilisierung der kapitalistischen Herrschaft in den imperialistischen Zentren und der zeitweiligen Isolierung zu ziehen sind.

Hinsichtlich der Rolle des Verhältnisses von objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Revolution, der Rolle der Partei, der Verbindung von Strategie und Taktik im Kampf um die Macht war dies noch einmal eine gründliche und lehrreiche Diskussion der kommunistischen Bewegung, wie sie für die ersten Jahre der Komintern charakteristisch war.

Die Bolschewiki gingen bekanntlich nicht als der monolithische und immer schon voll auf der Linie der „Aprilthesen“ stehende geschlossene Block in die revolutionäre Periode nach dem Februar 1917, wie das einige Geschichtsmythen schon 1923 dargestellt haben wollten. Vielmehr entwickelte sich die Politik der Bolschewiki in einer dynamischen Wechselwirkung zwischen den Massenbewegungen, den verschiedenen Strömungen in der Partei und dem methodischen Kampf um die richtige Linie. Für Trotzki waren folgende Punkte zentral in der „inneren“ Auseinandersetzung der Bolschewiki vor der Oktoberrevolution:

„Im Mittelpunkt der Differenzen steht, wie bereits gesagt, die Frage der Machtergreifung. Dies ist überhaupt das Merkmal, das den Charakter einer revolutionären (und nicht nur einer revolutionären) Partei bestimmt. In engem Zusammenhange mit der Frage der Machteroberung wird in dieser Periode die Frage des Krieges gestellt und gelöst. Wir werden diese beiden Fragen nach den wichtigsten chronologischen Wegzeichen betrachten: der Standpunkt der Partei und der Parteipresse in der ersten Periode nach dem Sturz des Zarismus bis zur Ankunft Lenins; der Kampf um die Thesen Lenins; die Aprilkonferenz; die Folgen der Julitage, das Abenteuer Kornilows, die Demokratische Konferenz und das Vorparlament; die Frage des bewaffneten Aufstandes und der Eroberung der Macht (September-Oktober); die Frage der ,homogenen‘ sozialistischen Regierung.“ (1)

Diesen historischen Bogen spannend, zeigt Trotzki auf, dass eben in allen diesen Situationen innerhalb der Bolschewiki unterschiedliche Ansichten vertreten waren, es eben nicht die „eine“ Linie der „einigen“ Partei gab, sondern im Gegenteil die Fragen der Analyse und Taktik, aber auch der allgemeinen strategischen Ausrichtung Gegenstand scharfer innerer Auseinandersetzungen waren.

Dies zeigt auch das Verständnis einer revolutionären Partei nach leninistischem Muster, nicht nach stalinistischem Zerrbild, welches seither als Leninismus verkauft wird. Lenin war mit seinen „Aprilthesen“ in der Partei ein fraktioneller Kämpfer, jemand, der genau gegenteilig zur damaligen Parteipresse argumentierte. Hier sei dies „nur“ an der Frage der Weiterführung des Krieges angerissen, da in anderen Artikeln dieses Journals die Aprilthesen detailliert behandelt werden.

Bis zur Rückkehr Lenins, den Aprilthesen und der Aprilkonferenz der Bolschewiki trat die Prawda-Redaktion für die „kritische“ Unterstützung der Provisorischen Regierung und damit der Fortsetzung des Krieges ein. Mitte März veröffentlichte die Redaktion unter der Leitung Kamenews und Stalins einen Leitartikel in diesem Sinn.

 „,Wenn eine Armee einer anderen gegenübersteht‘ – lesen wir in einem ihrer Redaktionsartikel – ‚dann würde die unvernünftigste Politik die sein, die einer der Beiden vorschlagen würde, die Waffen zu strecken und nach Hause zu gehen. Eine solche Politik wäre keine Friedenspolitik, sondern eine Politik der Knechtschaft, eine Politik, die ein freies Volk mit Entrüstung von sich weisen würde. Nein, ein freies Volk wird fest auf seinem Posten ausharren, jede Kugel mit einer Kugel, jedes Geschoß mit einem Geschoß beantworten. Das ist unbestreitbar. Wir dürfen eine solche Desorganisierung der militärischen Kräfte der Revolution nicht zulassen.‘ (,Prawda‘, Nr. 9 vom 15. März 1917 in dem Artikel: ,Ohne Geheimdiplomatie‘)“ (2)

Und weiter zur Perspektive einer bolschewistischen Politik gegenüber dem Krieg und der Regierung: „Nicht die Desorganisierung der revolutionären und der sich revolutionierenden Armee und nicht das inhaltslose ‚Nieder mit dem Krieg!‘ ist unsere Losung. Unsere Losung ist Druck (!) auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen, offen vor die ganze Weltdemokratie (!) zu treten, mit dem Versuche (!), alle kriegführenden Länder zu einer sofortigen Aufnahme von Verhandlungen über die Methoden der Beendigung des Weltkrieges aufzufordern. Bis dahin aber bleibt jeder (!) auf seinem Kampfposten.“ (3)

Hier finden wir „Blüten“ einer sozialdemokratischen Politik, die sicherlich niemand mit Kommunismus oder revolutionärer Politik verbinden würde, aber genau dies verbreitetet der rechte Flügel der Bolschewiki im März 1917. Der Klassencharakter des Krieges wird nicht erwähnt, die Friedenshoffnungen werden auf die „Weltdemokratie“ projiziert, es scheint, als wäre aus den Bolschewiki eine Partei geworden, die glaubt, dass „Demokraten“ den Krieg beenden würden, wenn man nur „Druck“ auf sie ausübt.

Hauptgrund war natürlich nicht, dass „die“ Bolschewiki plötzlich nichts mehr vom imperialistischen Krieg wissen wollten, sondern dass sie auf dramatische Veränderungen der Klassenkampflage reagieren mussten. Lenin hatte diese „Ausnahmesituation“ im Juli 1917 beschrieben. Trotzki führt dieses Zitat als exemplarisches Beispiel dafür an, was revolutionäre Politik zu leisten hat:

„Allzu oft ist es vorgekommen – schrieb Lenin im Juli 1917 – daß, wenn die Geschichte eine scharfe Biegung macht, selbst die fortgeschrittenen Parteien eine mehr oder minder lange Zeit dazu brauchen, um sich der neuen Lage anzupassen, und Parolen wiederholen, die gestern noch richtig waren, heute aber jeden Sinn verloren, wie ,plötzlich‘ die scharfe Wendung eingetreten ist. (Ges. Werke, russ. Ausgabe, Bd. XIV/2, S. 12)“ (4)

Das Überprüfen der bisherigen Taktik im Zusammenhang mit der Strategie, der Machtergreifung des Proletariats, bestimmt den „Reifegrad“ einer kommunistischen Partei. Dieser „Reifegrad“ und das Vermögen der Partei, die ArbeiterInnenklasse zum Sieg zu führen, fehlte in Deutschland 1923. Hier zunächst noch eine der Hauptfragen in der Auseinandersetzung um die „Lehren des Oktober“, nämlich: War die Oktoberrevolution die Vollendung der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ oder die Diktatur des Proletariats?

Charakter der Revolution

In den Auseinandersetzungen bekämpfen vor allem Kamenew und Sinowjew die Schrift Trotzkis. In ihren Antworten prägten sie als erste den Begriff „Trotzkismus“ als einer angeblichen Abweichung vom „rechten“ Leninismus. Trotzki hatte in seiner Schrift in Erinnerung, dass diese beiden Führer, welche in Partei, Räten und der Klasse hohes Ansehen genossen, die Machtergreifung am entschiedensten bekämpften. Beide lehnten den Aufstand offen ab und vertraten die Ansicht, eine möglichst „breite“ sozialistische Regierung zu bilden. In Texten wie „Zur gegenwärtigen Lage“ versuchten sie vor der Machtergreifung des Revolutionären Militärkomitees in St. Petersburg, dieses zu boykottieren und warben weiterhin für eine Regierung der SozialistInnen.

Im Gegensatz zu den beiden nahm Trotzki diese Politik als Beispiel für den Kampf, welcher auch innerhalb der Partei stattgefunden hat und in dem die Partei zu bewerten hatte, inwieweit eine demokratische Revolution abgeschlossen ist bzw. überhaupt sein kann, inwiefern die schematische Gegenüberstellung von demokratischer und sozialistischer Umwälzung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt, welche Rolle die Räte einnehmen werden und wie die Partei die Klasse zur Machtergreifung, zur proletarischen Revolution führen kann.

Trotzki hatte in seiner Theorie der „Permanenten Revolution“ schon 1905 die russische Revolution vor dem Hintergrund der internationalen Lage betrachtet. Er war nicht nur zum Schluss gekommen, dass die russische KapitalistInnenklasse nicht mehr bereit und willens war, die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen und umgekehrt die ArbeiterInnenklasse die demokratischen Fragen nur lösen könne, wenn sie selbst die Macht erobert und die sozialistische Umwälzung einleitet.

Am Beispiel einer der Hauptlosungen der Bolschewiki „Land, Brot und Frieden“ können wir das kurz skizzieren. Frieden war mit dem russischen Bürgertum nicht machbar, verfolgte es doch selbst imperialistische Interessen im Kampf um die Neuaufteilung der Welt und war seiner ökonomischen Stellung nach zudem stark vom britischen und französischen Kapital abhängig, wie Lenin in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ nachwies. Land, eine der zentralen Forderungen jeglicher bürgerlichen Revolution gegenüber dem Großgrundbesitz, konnte eben nicht von einem russischen Bürgertum durchgesetzt werden, welches selbst massiv abhängig von der Kooperation mit den feudalen Gutsherren war. Wie ohne diese beiden Forderungen das Brot, also die elementare Grundversorgung der Massen, gewährleistet werden sollte, darauf fand die Provisorische Regierung eben keine Antworten – und konnte auch keine finden.

In dieser Hinsicht stellen die Aprilthesen Lenins eine „Neuausrichtung“ der Analyse der Verhältnisse in Russland dar. Die Februarrevolution hatte gewissermaßen die bürgerlich-demokratische „Etappe“ abgeschlossen wie auch deren Ausweglosigkeit bewiesen. Lenins Politik, sein offener Fraktionskampf für die proletarische Revolution innerhalb der Partei, stützte sich auf seine Imperialismus-Theorie und die implizite Anerkennung der Theorie der Permanenten Revolution.

Nur das Proletariat war in der Lage, diese Forderungen umzusetzen. Nur wenn es die Revolution führt und in einem politischen Bündnis mit der Bauernschaft auftritt, kann die Diktatur des Proletariats die elementaren Aufgaben der bürgerlichen Revolution erfüllen. Das war die Neuausrichtung der Bolschewiki, die Kamenew und Sinowjew 1917 bekämpften. Sie taten dies auch bei der Veröffentlichung der „Lehren des Oktober“ 1924, indem sie behaupteten, die Oktoberrevolution sei die Verwirklichung der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ und Trotzki die Verzerrung des Bolschewismus in einen „Trotzkismus“ unterstellten. In Wirklichkeit wurde von ihnen der Weg zur Fälschung der Geschichte der Revolution beschritten, die im Stalinismus „vollendet“ wurde.

Die Lehren – was heißt heute Revolution?

In der öffentlichen und akademischen Diskussion zur Russischen Revolution werden uns auch dieses Jahr bekannte Gleichnisse erwarten. Für die bürgerliche Geschichtsschreibung konnte die Revolution von 1917 nur im späteren Stalinismus enden. Sie zieht eine Linie vom Sowjetsystem zu den Moskauer Prozessen. Mag sie auch anerkennen, dass Revolutionäre wie Lenin oder Trotzki diese Entwicklung nicht wollten – sie erscheinen in der bürgerlichen Auffassung wie Zauberlehrlinge, die allenfalls selbst zum Opfer der Geister wurden, die sie riefen.

Somit konnte die Politik der Bolschewiki nur zu den späteren „Einheitsparteien“ führen, so musste auf Lenin Stalin folgen. Eine Revolution selbst, der gewaltsame Sturz des Kapitalismus, muss letztlich als das Grundübel herhalten. So dient die Entartung durch den Stalinismus als Maßstab zur Bewertung der russischen Revolution. Diese hätte nichts wirklich verändert und auch nicht verändern können. Vor allem die Demokratie der westlichen Staaten wird dabei zum Gegenstück, zum Erfolgsmodell für alle Klassen verklärt, als eine Gesellschaftsordnung, die Brüche und Veränderungen zulassen würde, die dem „Willen“ der Mehrheit folge. Dass diese Demokratien eine Form der Klassenherrschaft sind, dass der Kapitalismus eben nicht im Parlament abgeschafft werden kann, mag das Wahlvolk zwar erahnen. Umso entschiedener soll es mit der herrschenden demokratischen Ideologie benebelt werden.

Oftmals wird auch die pazifistische Argumentation gepflegt, dass aus „Gewalt“ nichts Gutes entstehen könne, schon gar keine befreite Gesellschaft. Die Finger von der Revolution lassen, lautet diese „Lehre“. Die Infragestellung der bestehenden Gesellschaft – sofern überhaupt nur gedacht – endet dort, wo ihr die reale Gewalt des Staatsapparates die Grenzen setzt.

Nicht ganz so kritisch geht die bürgerliche Geschichtsschreibung mit den eigenen, also den bürgerlichen Revolutionen um. Schließlich wird noch heute in der Schule der Verlauf der französischen Revolution bspw. gelehrt. Doch selbst deren „Exzesse“, die Gewaltherrschaft, das Köpfen des Kaisers dienen vor allem dazu, die bürgerliche Gesellschaft als eine Ordnung schönzureden, die solche Gewalt nicht mehr nötig hätte.

Wie alle anderen Wissenschaften auch ist die Geschichtswissenschaft nicht unabhängig von der jeweiligen Klassenherrschaft, besonders neigt sie dazu, eine „Geschichte der Sieger“ zu sein, dementsprechend auch das eher negative Bild der russischen Revolution. Die Februarrevolution kommt dabei – gerade weil sie nur auf halbem Wege war und die Eigentumsverhältnisse nicht überwand – als die „gute“ Seite davon. Wirklich schrecklich wurde es im Oktober. Hätte die damalige „Provisorische Regierung“ gehalten, hätte Russland seine „Weimarer Republik“ gehabt, wir würden wahrscheinlich noch heute positive Bezüge der Geschichtswissenschaft dazu finden. Diese Provisorische Regierung der bürgerlichen Parteien, der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre hielt aber keine acht Monate, an ihrem Ende stand der Beginn der Diktatur des Proletariats, also einer Gesellschaftsordnung, in der die ausgebeutete Klasse die Herrschaft übernahm.

Der Kampf der Klassen

Russland war in seiner gesellschaftlichen Entwicklung zweifellos rückständig. Aber die Entwicklung kombinierte Formen extremem Hinterherhinkens, feudaler und halb-feudaler Verhältnisse am Land mit der Entwicklung einer für ihre Zeit riesiger und moderner Industrieregionen wie in St. Petersburg. Diese ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung war selbst Resultat der internationalen Ordnung, in der die Länder mit späterer kapitalistischer Entwicklung nicht einfach den Entwicklungsprozess anderer wiederholen, sondern vielmehr höchst moderne mit altertümlichen Formen kombinieren. Diese Gesetzmäßigkeit kann auch heute in den vom Imperialismus beherrschten Ländern immer wieder beobachtet werden.

Sie widerspricht und widersprach zugleich den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. Als „rückständiges Land“ müsste Russland noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auf die sozialistische Umwälzung warten. Zu mehr als einer demokratischen Revolution wäre das Land nicht reif. Die Tatsache, dass die Diktatur des Proletariats dann Realität wurde in Russland, widerlegt auch dieses Konstrukt des Gradualismus und Reformismus der Zweiten Internationalen, das in der sog. „Etappentheorie“ des Stalinismus wieder zu einer „Gesetzmäßigkeit“ ideologisiert wurde. Das Programm der Bolschewiki war auf zwei Hauptrichtungen ausgerichtet. Diese lassen sich mit den Losungen „Alle Macht den Sowjets!“ und „Land, Brot und Frieden“ agitatorisch darstellen. Die Macht den Sowjets zu übertragen bzw. dafür zu kämpfen, dass die Sowjets die Macht übernehmen, hieß den endgültigen Bruch mit der „Provisorischen Regierung“ herbeiführen und damit auch den Bruch mit dem bürgerlich-parlamentarischen System zu vollziehen. Nur durch den Übergang der Macht von einer Klasse zu andern, von der Bourgeoisie zum Proletariat, konnte dies erreicht werden.

Die Forderung nach Frieden, Brot und Land beinhaltet dabei Tagesforderungen, Übergangsforderungen und auch Maximalforderungen. Das Programm stellt die unmittelbaren Bedürfnisse des „Volkes“ nach Brot, nach Land, nach Frieden in den Zusammenhang, wie denn diese längerfristig zu sichern sind.

Die Bolschewiki in ihrer Gesamtheit, ihrer steigenden Verankerung in den Sowjets, in den Garnisonen und Truppenverbänden, ihren lokalen Organisationen, ihrer Parteipresse, ihrer politischen Führungskader waren auf die Zerschlagung der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft ausgerichtet. Ihr Charakter als „Kampfpartei“ ermöglichte es ihnen, den Kampf um die Führung der Klasse, wenn auch nicht ohne Reibungspunkte, so doch systematisch zu führen. Auch diese revolutionäre „Kompaktheit“ hatte sich erst im Jahre 1917 zwischen dem Februar und dem Oktober entwickelt, war Teil eines politischen Kampfes auch innerhalb der Führung der Bolschewiki.

Die Partei entwickelte sich mit der revolutionären Gesellschaft in Russland. Sie fand neue Antworten auf die Verschärfung der Krise der Provisorischen Regierung, entwickelte Taktiken gegenüber den politischen GegnerInnen innerhalb der Klasse und war dadurch in der Lage, sich mit ihrer Avantgarde, dem fortgeschrittenen Teil, zu vereinigen und mit dieser den Kampf um die Macht anzugehen.

Wesentliches Merkmal des Klassenkampfes in Russland 1917 war die besonders zugespitzte Klassenpolarisierung. Die Sowjets, als Organe der Doppelmacht, also embryonale Form der Diktatur des Proletariats, spiegelten diese Entwicklung wider, indem sie sich mehr und mehr vom Kurs der „Versöhnler“, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre abwandten und offen gegen die Provisorische Regierung auftraten. Je offener dies geschah, desto klarer wurde die Schwäche der Bourgeoisie. Die proletarische Klasse zu ermächtigen, ihr Programm zu entwickeln und zu verteidigen, dem Proletariat organisierten Ausdruck in politischer und militärischer Form zu geben, dies erhöhte nicht allein dramatisch das Bewusstsein der Klasse, es zeigte den konkreten Weg zum Sieg, zum Aufstand auf – das war eines der wesentlichen Elemente der Klassenpolitik der Bolschewiki 1917.

Diese Politik war es auch, welche das bürgerliche Lager und dort besonders die Vertreter eines reformistischen, bürgerlich-demokratischen Kurses innerhalb der ArbeiterInnenklasse schwächte. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, welche während der Februarrevolution noch die stärksten Kräfte innerhalb der ausgebeuteten und unterdrückten Massen von Stadt und Land waren, wurden durch ihre eigene Politik geschwächt, durch ihren Versuch, unversöhnliche Klassengegensätze miteinander zu versöhnen. Aber es war die Politik der Bolschewiki, die diese inneren Widersprüche nicht nur offenlegte und vertiefte, sondern zugleich auch eine politische Alternative, den Kurs auf den Oktober wies. So konnten die Massen nicht nur von ihren Illusionen befreit werden. Sie wurden zugleich für eine Lösung gewonnen, die ihnen eine Perspektive bot.

Diese revolutionäre Klassenpolitik wurde durch die Degeneration der Dritten Internationale und tiefe Niederlagen in der ArbeiterInnenklasse marginalisiert. Seit dem politischen Scheitern der Vierten Internationale Ende der 40 der Jahre sind wir mit einer Lage konfrontiert, in der es keine „Weltpartei“ der sozialistischen Revolution gibt, in der die revolutionäre Kontinuität über Jahrzehnte unterbrochen wurde.

In dieser Hinsicht leben wir in einer anderen Zeit als die Bolschewiki am Beginn des Ersten Weltkrieges. Der Verrat der Sozialdemokratie fand vor dem Hintergrund einer politisch vom Marxismus stark beeinflussten und von einer revolutionären Zukunftserwartung geprägten ArbeiterInnenavantgarde statt. Dies war auch ein günstiger, weil schon politisch vorgeprägter Boden für die Dritte Internationale.

Heute leben wir in einer Periode, die von einer Tiefe der Krise der proletarischen Führung geprägt ist, von einer Marginalisierung des revolutionären Kommunismus in der ArbeiterInnenklasse wie auch von einem Jahrzehnte lang anhaltenden Abbruch einer lebendigen Tradition politischer und programmatischer Diskussion in der Avantgarde der Klasse. Der revolutionäre Kommunismus ist auf das Stadium von Propagandagruppen zurückgefallen, die ihrerseits auch programmatisch und theoretisch weit hinter den Aufgaben der Zeit zurückliegen.

Vor uns steht also die Aufgabe, wie die Trennung von der AbeiterInnenvorhut zu überwinden und zugleich der Marxismus auf die Höhe der Zeit zu heben sind. Das kann nur durch eine Kombination theoretischer und programmatischer Klärung mit entschlossener Aufbauarbeit bewerkstelligt werden.

Diese Arbeit findet vor dem Hintergrund einer historischen Krisenperiode des Kapitalismus als globalem System statt. Die Bourgeoisien fechten weltweit den Kampf um „ihre“ Herrschaft, die Neuaufteilung der Welt in den kommenden Jahrzehnten aus. Daher stellt eine revolutionäre Antwort und Politik heute eine entscheidende Notwendigkeit dar.

Imperialismus heute

Seit 2007/2008 tritt uns die Krise des Gesamtsystems entgegen. Ihr zugrunde liegt eine Überakkumulationskrise des Kapitals, die mit den normalen Mitteln der Kapitalvernichtung im industriellen Zyklus nicht gelöst werden kann. In den ersten Jahren nach Ausbruch fürchteten die herrschenden Klassen und die IdeologInnen des freien Marktes, dass vor allem die Linke von der Krise politisch profitieren würde. Nicht nur der Neoliberalismus, auch der Kapitalismus war in den Augen von Millionen und Abermillionen fragwürdig geworden. Aber die ArbeiterInnenbewegung, die Gewerkschaften und reformistischen Massenparteien versagten darin, globalen Widerstand gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf die Massen zu organisieren. Im Gegenteil. Statt gemeinsamen Kampfs wurde vielfach der nationale Schulterschluss gesucht, um durch „Partnerschaft“ mit dem Kapital „das Schlimmste“ zu verhindern.

So konnten die herrschenden Klassen dem ersten Schock der Krise entrinnen. Sie setzten auf die Rettung des Großkapitals, der Banken, Finanzinstitutionen und großen Industriekonzerne – auf Kosten der Massen in den halb-kolonialen wie in den imperialistischen Ländern. Die Mittel, die zur Rettung der Großkapitale vor der Vernichtung „überschüssigen“ Kapitals verwandt wurden, befeuerten die Staatsverschuldung, neue spekulative Blasen und die Schuldenkrise. Die nächste Explosion kommt sicher – und sie wird wahrscheinlich noch heftiger als 2007/2008, da der Spielraum für ein koordiniertes Vorgehen zwischen den imperialistischen Staaten aufgrund der verschärften Konkurrenz immer geringer wird.

In dieser Krise ist ein Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten entbrannt – ein Kampf um die weitere Vorherrschaft, um die Verteilung der Zugriffsrechte der verschiedenen imperialistischen Kapitalfraktionen auf den Weltmarkt und die Produktivkräfte ist ausgebrochen.

Das sind die heutigen Voraussetzungen und diese führen zum Zusammenbruch der alten Gewissheiten. Blöcke verschiedener Staaten fallen auseinander, alte Koalitionen sind nichts mehr wert, neue Koalitionen und besonders neue Fronten bilden sich. So verlässt ein imperialistisches Kernland wie Großbritannien die EU, so schürte der Ukraine-Konflikt wieder eine Blockkonfrontation der NATO gegenüber Russland.

Als inner-imperialistisches Spannungsfeld steht heute vor allem der Pazifik inklusive der „angrenzenden“ Kontinente im Fokus. Speziell die Vormachtstellung in Asien ist dabei umkämpft. Hier sammeln sich verschiedene imperialistische Staaten und Regionalmächte, die die Vormachtstellung der USA angreifen. In China, Japan, Indien, Südkorea, Australien, Indonesien wird ein immer größerer Teil aller Waren produziert, investiert und konsumiert.

Die Neuaufteilung der Welt ist Zeichen der Krise der bisherigen imperialistischen Ordnung. Die Ordnungsmacht USA wird herausgefordert, von alten Verbündeten wie der EU und Japan, aber auch von neuen Mächten wie China und Russland. Diese Ausgangslage führte in der imperialistischen Epoche schon zweimal zum Weltkrieg, zur letzten „Lösung“ für dieses System und dessen Krise. Der Kampf gegen alle imperialistischen Mächtegruppen, gegen Aufrüstung, Interventionen, Besetzung, Krieg ist notwendiges Mittel zur Herausbildung eines neuen proletarischen Internationalismus.

Vor allem Nationalisten, Rassisten, Faschisten sind es, die sich aufgrund des Versagens der traditionellen ArbeiterInnenbewegung, des Linkspopulismus und von Niederlagen (Scheitern der griechischen Revolution, Kapitulation von Syriza, …) im Aufwind befinden.

Die Krise trifft nicht nur die Masse der ArbeiterInnenklasse, der Bauernschaft und städtischen Armut der Halbkolonien. Sie setzt auch die Mittelschichten in Gang, radikalisiert sie aufgrund der Drohung des sozialen Abstiegs. Der Rechtspopulismus vermischt dabei Demagogie gegen das (ausländische) Großkapital mit Nationalismus und Rassismus. Dies gilt nicht allein für die kleinbürgerlichen Unternehmen oder „Mittelständler“, die unter vermehrten Druck geraten, sondern auch für ganze Berufsgruppen bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenklasse, die sich vom Abstieg bedroht sehen. Für die Mittelschichten droht eine Perspektive als überausgebeutete Selbstständige oder das Abrutschen in die ArbeiterInnenklasse, für Teile der traditionellen Kernschichten der IndustriearbeiterInnenschaft Jobverlust und Ruin.

Und so sammeln ein Front National (FN), eine UKIP, die AfD oder auch Trump in den USA die enttäuschten, deklassierten oder vom Abstieg bedrohten Teile der Gesellschaft und geben ihnen ein gemeinsames Feindbild – das Fremde, die MigrantInnen oder die Geflüchteten, wenn dazu noch islamischen Glaubens, dann passt das Feindbild. Gleichzeitig wird die Stärke von Nation und Volk beschworen – der angeblich sichere Hafen in den Krisenzeiten des Kapitalismus. Das „Binnenklima“ dieser imperialistischen Periode ist von Konkurrenz, Angstmache, realer Panik und Hetze gekennzeichnet, ein optimaler Nährboden für nationalistische und in weiterer Folge auch faschistische Krisenlösungen.

Wohin die Widersprüche drängen

Nach dem Ende des sog. „Kalten Krieges“, der Niederlage des Warschauer Pakts im ewigen Wettrüsten, den Versprechungen der Globalisierung und des Neoliberalismus können wir heute feststellen: Das Kapital hat nicht nur keine Versprechungen gehalten, es droht die Menschheit in den Abgrund zu reißen. Der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium bringt keine Fortschritte mehr für die Massen. Alle Fragen, die die Menschheit zukünftig lösen muss, Lebensmittelversorgung, Trinkwassergewinnung, Umweltzerstörung und Klimawandel, genügend Arbeit für Milliarden von Händen und Köpfen – all das kann der Imperialismus, kann die imperialistische Bourgeoisie nicht lösen. Ihren Medien und „Ideologen“ bleibt als letzte „Rechtfertigung“, dass es eben nicht „besser“ gehe, dass auch der Kommunismus nicht funktioniert hätte und daher eine andere Gesellschaftsordnung, eine andere Produktionsweise, andere Produktionsverhältnisse überhaupt nicht möglich wären.

Dabei zeigt auch unvoreingenommene Betrachtung der heutigen gesellschaftlichen Realität, dass eine globale Planwirtschaft funktionieren könnte. In seiner entfremdeten, widersprüchlichen Form zeigt dies sogar der aktuelle Kapitalismus. Die heutigen Großkonzerne, die Monopole, welche die Märkte aufgeteilt haben, arbeiten natürlich mit Planung, mit internationaler Planung. Eine internationale Arbeitsteilung wäre gar nicht möglich, wenn diese Abläufe keiner Planung unterworfen wären. So ist bei jedem Produkt klar, woher die Rohstoffe kamen, wie sie weiterverarbeitet wurden, welche Produktionsprozesse wo stattgefunden haben und welche ZwischenhändlerInnen es bis zum KonsumentInnen brachten. Nur nach welcher Maßgabe funktioniert das heute? Nach den Angebotsstrategien der Konzerne, ihrer Marktmacht, ihrer Macht zu bestimmen, was wo gekauft werden kann. Letztlich orientiert sich alle Produktion, Distribution und Konsumtion danach, ob genügend Gewinn bei den Konzernen und der besitzenden Bourgeoisie hängenbleibt. Dieser Zwang bestimmt die gesellschaftliche Entwicklung – und hemmt ab einer bestimmten Stufe die Entwicklung der Produktivkräfte selbst. In einer solchen Periode leben wir.

Schon mit dem gegebenen Stand der Produktivkräfte wäre es möglich, ausreichend Ernährung, Kommunikation, medizinische Versorgung, Infrastruktur, Verkehrswege, Energie und Bildungszugang für alle sieben Milliarden Menschen zu organisieren. Dem steht die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums entgegen. Nur durch die Enteignung des Privateigentums können die Produktivkräfte nicht für diesen bornierten, profitorientierten Zweck, sondern für die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Gesellschaft eingesetzt werden. Das Ziel einer revolutionären Politik muss die Enteignung der KapitalistInnenklasse und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft sein.

Programmatisches Erbe

Wir stehen heute am Beginn einer weltgeschichtlichen Periode, die in vielem der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, hinterlässt die Politik des Bolschewismus ein theoretisch-programmatisches Erbe das auch heute noch, ja wieder aktuell ist und an das es anzuknüpfen gilt.

1. Der internationale Charakter der Revolution

Der Kapitalismus ist schon immer ein internationales gesellschaftliches System gewesen. Seine inneren Krisen treiben notwendigerweise zu revolutionären Zuspitzungen – und zwar im globalen Maßstab. Kommunistische Politik darf daher den internationalen Klassenkampf nicht als Summe nationaler Kämpfe begreifen, sondern muss umgekehrt von den Gesamtinteressen der Klasse ausgehen. Der Sozialismus in einem Land hat sich im Stalinismus als das erwiesen, was er seinem Begriff nach schon immer war – eine reaktionäre Utopie.

2. Anti-Imperialismus

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt droht der Menschheit mit neuen Handelskriegen, Zuspitzungen bis hin zum großen Krieg. Die ArbeiterInnenklasse darf in diesem reaktionären Ringen keine Gruppe imperialistischer Staaten und Mächte unterstützten, sondern muss sich im Konflikt der Methode des „revolutionären Defaitismus“ bedienen und des Klassenkampfes gegen die „eigene“ Bourgeoisie . Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ hat nichts an Aktualität verloren.

Antiimperialismus bedeutet nicht nur Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, er bedeutet auch die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe unterdrückter Nationen, von Aufständen und Klassenkämpfen gegen die ImperialistInnen und die „nationale“ Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern.

3. Permanente Revolution

Der niedergeschlagene „Arabische Frühling“ war ein weiterer Beweis dafür, dass demokratische Forderungen im Zeitalter des Imperialismus nicht allein durch eine „demokratische Revolution“ errungen werden können. Die Abhängigkeit des Bürgertums in den Halbkolonien von den imperialistischen Bourgeoisien ist heute genauso gegeben wie die Abhängigkeit der russischen Bourgeoisie vom Großgrundbesitz und dem französischen und britischen Finanzkapital. Daher braucht das Proletariat eine unabhängige Klassenpolitik. Nur diese kann die Basis für ein Bündnis mit den ausgebeuteten Schichten von Stadt und Land, speziell den unteren Schichten der Bauernschaft in den Halbkolonien sein. Dies bedeutet auch, dass Proletariat, Bauernschaft und die städtische Armut nicht auf die Illusionen in eine „westliche“ Demokratie setzen dürfen, sondern stets deren Abhängigkeit vom Imperialismus berücksichtigen und für die proletarische Demokratie, die Rätedemokratie kämpfen.

4. Verteidigung demokratischer Rechte

Gerade angesichts der reaktionären Züge unserer Zeit gewinnen die Verteidigung demokratischer Rechte und das Einstehen für demokratische Forderungen eine wichtige Bedeutung. Wir stehen an der Seite derjenigen, welche die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit auf gewerkschaftlicher und Parteiebene gegen staatliche Eingriffe und Repressionen verteidigen. Dabei ist uns aber auch klar, dass dieser Kampf nicht abstrakt für die parlamentarische Demokratie geführt werden kann, sondern auf eine proletarische Demokratie, eine Rätedemokratie abzielen muss.

5. Soziale Unterdrückung

Die kapitalistische Ausbeutung stützt sich zusätzlich auf mannigfaltige Unterdrückung verschiedener Teile der Bevölkerung und insbesondere unter den ProletariarierInnen. Rassismus, Sexismus, Homophobie werden benutzt, um die Spaltung der Klasse zu vertiefen und chauvinistische Vorurteile und rückständiges Bewusstsein zu stärken. Deswegen treten wir für besondere Rechte der unterdrückten Teile der ArbeiterInnenklasse ein, wollen die Selbstorganisierung von Frauen, von MigrantInnen, von Menschen mit LGBTIQA-Orientierung und der Jugend stärken. So können diese ihren Kampf gegen die Unterdrückung als Teil des Proletariats führen, wie wir auch in der Klasse gegen Vorurteile und rückständiges Bewusstsein kämpfen. Der Kampf wie der gegen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte aller MigrantInnen und Flüchtlinge ist integraler Bestandteil des Klassenkampfes.

6. Taktik der Einheitsfront

RevolutionärInnen suchen die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital, die Regierung, den bürgerlichen Staat. Diese Forderung richten sie – wie die Bolschewiki 1917 – an die ArbeiterInnenparteien und Massenorganisationen, deren Basis wie deren Führungen. Der gemeinsame Kampf für klar definierte Ziele darf dabei nie auf Kosten der Freiheit der Propaganda und Kritik der zeitweiligen reformistischen, gewerkschaftlichen oder kleinbürgerlichen BündnispartnerInnen gehen. Ein revolutionäre Anwendung der Einheitsfronttaktik verfolgt nämlich immer zwei Ziele gleichzeitig – größtmögliche Einheit in der Aktion und die Ablösung der ArbeiterInnen und Unterdrückten von reformistischen, zentristischen oder klein-bürgerlichen Führungen.

7. Zerschlagung des bürgerlichen Staats – Kampf um die Rätemacht

Ein entscheidendes Merkmal der erfolgreichen russischen Revolution waren die Sowjets, die Räte, welche den gesammelten Willen des Proletariats, der Bauernschaft und der Soldaten 1917 repräsentierten und daher die wichtigste Stütze der Revolution verkörperten. Diese können nur in revolutionären und vor-revolutionären Situation entstehen. So wichtig die Räte dabei als elementare Form der Selbstorganisation der Klasse sind, so können sie ihr Potential als Kampforgane und Kern einer zukünftigen proletarischen Staatsmacht nur verwirklichen, wenn sie von einer revolutionären Partei geführt werden. Alle Theorien, die die Räte der Partei entgegenstellen, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. Nur durch eine revolutionäre Führung kann die Klasse, gestützt auf Räte, auf Milizen – den bewaffneten Teil der ArbeiterInnenklasse – und in Räten organisierte Soldaten die Macht erobern, eine Doppelmachtsituation aufheben, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen.

8. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Diese bekannte Losung aus dem kommunistischen Manifest hat an Strahlkraft nichts von ihrer Bedeutung verloren, im Gegenteil. Ein revolutionärer Kampf, eine Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kann nur auf internationaler Basis stattfinden – oder eben nicht. Dies war die Erkenntnis von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki bis zu ihrem Tod. Die Entfremdung dessen, ja sogar völlige Verzerrung durch die Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ hat nicht nur die Degeneration und schließlich das Ende dieses ArbeiterInnenstaates eingeläutet, es hatte auch verheerende Folgen für den internationalen Klassenkampf und die politischen Organisationen. Letztlich führte dies zur Abschaffung der Komintern, welche zuvor den nationalen Bedürfnissen der Sowjetbürokratie untergeordnet wurde.

Deswegen ist der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, einer 5. Internationale heute die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Nur ein internationales Programm gegen den Imperialismus, welches die aktuellen Kämpfe weltweit via der Übergangsmethode mit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung verbindet, kann diesen auch herausfordern und stürzen.

9. Für die revolutionäre Partei!

Wir treten ein für das methodische und taktische Rüstzeug der linken Opposition in der Sowjetunion, für die Theorie und Praxis der Bolschewiki-LeninistInnen. Mit ihrer Methode und ihren Analysen haben sie die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus betrieben und real die „Lehren des Oktober“ gezogen. An diesen Fundus knüpfen wir mit unserer Programmatik, unserer Strategie und Taktik an und wollen diese in den Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und Internationale einbringen, da nur auf dieser Grundlage eine lebendige kämpferische Organisation aufgebaut werden kann. Zu den Werkzeugen des Marxismus, des Leninismus wollen wir eine Herangehensweise entwickeln, die im folgenden Zitat gut wiedergegeben ist:

„Und wenn irgendetwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.“ (5)

 

Endnoten

(1) Trotzki, Leo D.: „Die Lehren des Oktober“, in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band II, 1924-1925, Berlin/West [Olle & Wolter], 1975, S. 204

(2) Ebenda, S. 205

(3) Ebenda, S. 205 f.

(4) Ebenda, S. 196

(5) ders.: „Schriften zum Neuen Kurs der Partei“ (Kapitel: Tradition und revolutionäre Politik), in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band I, 1923-1924, Berlin/West [Olle & Wolter], 1976, S. 390




Julitage 1917 – Rückschlag und Treibmittel

Bruno Tesch, Neue Internationale 221, Juli/August 2017

Die erste Woge der Revolution hatte Russland im Februar 1917 überflutet. Im Strudel der Ereignisse war das morsche zaristische Regime untergegangen. Die Regierungsgeschäfte übernahm eine Koalition aus parlamentarischen Parteien. Sie stellte jedoch keinerlei Demokratisierung der Gesellschaft dar, denn das Kabinett kam zu 100 Prozent aus VertreterInnen des Bürgertums und der Adelskaste, die dem alten System verhaftet waren. Im Grunde fand nur ein Austausch in der Befehlshaberschaft statt. Staatstragende Machtapparaturen wie Verwaltung und Armee blieben unangetastet.

Die Revolution ging von der ArbeiterInnenklasse aus. Sie schuf sich ihre eigenen Machtorgane, die Räte, die sich neben der Regierung aufstellten. Die arme Bauernschaft stand ihr als wichtigster Bundesgenosse zur Seite. Dennoch ließen die Sowjets die erzkonservativen Kräfte im Regierungsamt mit dem Versprechen auf freie Wahlen gewähren, auch wenn sie sich die Kontrolle der Entscheidungen vorbehielten.

Binnen kurzem stellte sich heraus, dass die neue provisorische Regierung weder willens noch fähig war, die Forderungen der Bevölkerungsmassen nach besseren Lebensbedingungen, ausreichender Ernährung – die Forderung nach Lebensmittelversorgung war Ausgangspunkt der Revolution gewesen -, nach Landreform und Frieden zu erfüllen. Der Druck vonseiten der Massen führte schließlich im Mai 1917 zu einer Regierungsumbildung, die nun auch die Menschewiki, die einflussreichste Organisation in den ArbeiterInnensowjets, umfasste.

Rückschläge

Diese Umbildung gab zwar den veränderten Kräfteverhältnissen Ausdruck, aber die Doppelmachtsituation löste sich damit nicht auf, sondern spitzte sich eher zu.

Mit ihrer entschlossenen Politik hatten die Bolschewiki, die nun dem Kurs Lenins in seinen berühmten „Aprilthesen“ folgten und die Theorie der unumgänglichen bürgerlichen Etappe in der Revolution ablehnten, insbesondere in der ArbeiterInnenschaft und bei den Matrosen der Flotte viele neue AnhängerInnen gewonnen. Hier formte sich eine neue revolutionäre Vorhut, die unter den Losungen „Alle Macht den Räten! Bruch mit der Bourgeoisie! Hinaus mit den 10 Kapitalisten-Ministern!“ eine Lösung der Doppelmacht zugunsten der ArbeiterInnenklasse und der armen Bauerschaft anstrebte.

Der schnelle Zuwachs dieser Elemente zeigte zum einen eine Radikalisierung innerhalb der Klasse an, verführte andererseits aber auch zu einer Überschätzung der eigenen Kräfte, was aufgrund ihrer Unerfahrenheit verhängnisvoll war.

So demonstrierten in den Tagen des Rätekongresses Anfang Juli 1917 bewaffnete Einheiten aus Heer und Marine zusammen mit ArbeiterInnen, um Druck auf die Räte zur Machtübernahme auszuüben und den Aufstand ins Visier zu nehmen. Ihre starke Stellung in der Hauptstadt Petrograd ließ jedoch die Lage in den übrigen Teilen des riesigen Landes verkennen. Dort beherrschten die Menschewiki das Terrain der ArbeiterInnenstädte, während sich die bäuerlichen Gebiete in der Hand der SozialrevolutionärInnen befanden.

Die Führung der bolschewistischen Partei warnte deshalb auch vor vorschnellen Aufstandsaktionen der eigenen GenossInnen, weil sie das Kräfteverhältnis überblickte und realistisch einschätzte. Dennoch gab es in den eigenen Reihen linksradikale Tendenzen, v. a. in der Militärabteilung und in der Wyborger Ortsgruppe, die die bewaffneten Auseinandersetzungen befeuerten. Aber bald mussten auch sie einsehen, dass sie den regulären Truppen, die von der Regierung gerufen wurden, militärisch nicht gewachsen waren und auch die Konzeption, die unwilligen Räte durch Einzelfanale zur Machtübernahme zu bewegen, ein Fehlgriff war.

Den Bolschewiki wurden nach der Niederlage insgesamt die Unruhen angelastet, sie wurden zu Hunderten verhaftet oder mussten untertauchen. Die Partei verlor wieder schnell an Anhang und Rückhalt. Sie war gezwungen, sich zu reorganisieren und konnte sich erst im September wieder erholen.

Die Konterrevolution fühlte sich durch den militärischen Erfolg im Juli gestärkt und hatte gleichzeitig die Massen eingeschüchtert. Dies hatte auch zur Folge, dass nicht nur die Bolschewiki, sondern auch die Organe und die Selbsttätigkeit der Klasse attackiert wurden. Entwaffnungen von ArbeiterInnenmilizen, Einschränkung von Soldatenrechten bis hin zur Wiedereinführung der Todesstrafe wurden erlassen. Die Reaktionäre, v. a. aus der Armee, waren entschlossen, die Gunst des Siegs zu nutzen, um die Doppelmacht zugunsten der herrschenden Bourgeoisie zu beseitigen. Die Ernennung Kornilows zu ihrem Oberbefehlshaber und dessen Ausstattung mit diktatorischen Vollmachten war ein Fingerzeig nicht nur für die Verschärfung der Unterdrückung der Massen, sondern auch auf bonapartistische Tendenzen, die sich letztlich sogar gegen die bürgerlich-parlamentarische Ordnung richten konnten.

Treibmittel

Ein entscheidender Umstand, der diese Pläne durchkreuzte, lag nicht in Russland selbst, sondern in der weltpolitischen Verwicklung des Landes in den 1. Weltkrieg. Sowohl die offen bürgerlichen Organisationen wie auch die Parteien der Menschewiki und SozialrevolutionärInnen hatten nicht die Lehren aus den Erfahrungen der Februarrevolution gezogen. Zwar war der Zar gestürzt worden, aber der von seinen Generälen begonnene Krieg wurde als Vaterlandsverteidigung für die eigenen imperialistischen Zielsetzungen gegen die Kriegsmüdigkeit der Massen fortgeführt. Zu diesem Zweck eröffnete der neue Kriegsminister und spätere Regierungschef Kerenski eine militärische Offensive an der Westfront gegen die Mittelmächte. Souffliert wurde dies von rege tätigen Emissären aus dem Lager der imperialistischen Alliierten Frankreich und Britannien. Sie erinnerten an die russischen Bündnisverpflichtungen, behaupteten, der Gegner, die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, sei derzeit erheblich geschwächt und versprachen Entsendung von Truppen und Material zur Unterstützung der Offensive.

Die Offensive geriet zum Desaster und das nicht nur militärisch. Mangelnde Ausrüstung, Kompetenzstreitigkeit unter den Offizieren und die ausbleibenden versprochenen Einsätze und Nachschublieferungen der Verbündeten sorgten dafür, dass die Offensive in kaum koordinierte Teiloperationen zerfiel. Dies förderte die Kampfesunlust in den eigenen Reihen und steigerte erneut die Friedenssehnsucht bei den russischen Massen.

Die einzige Kraft, die von Anfang an sich gegen den Krieg stellte und dessen verheerende Auswirkung auch auf die Verschlechterung der Lebenslage gebrandmarkt hatte, waren die Bolschewiki. Alle übrigen, einschließlich der Menschewiki, waren dem Gift des Chauvinismus erlegen. Die Bolschewiki sprachen auch klar aus, dass die russischen Soldaten für die Ziele der ImperialistInnen Englands, Frankreichs, Italiens, Japans und Amerikas ins Feuer gejagt worden waren. Solange die Geheimverträge nicht revidiert worden waren, die Russland mit den ImperialistInnen anderer Länder verbanden, war und blieb die Offensive der russischen Truppen ein Dienst, der den ImperialistInnen erwiesen wurde.

Wiedererholung

Mit dieser Propaganda und Agitation erreichten sie die Soldaten im Einsatz und die Massen zuhause und konnten ihren Einfluss wieder stärken.

Der Stimmungsumschwung in den Massen zugunsten einer offensiveren Haltung, die sich zunehmend gegen die konterrevolutionäre Armeeführung, aber auch gegen Teile der Regierung wandte, v. a. auch bei den bäuerlichen Massen, war zudem der ungelösten Agrarfrage geschuldet. Die mitregierenden SozialrevolutionärInnen stellten sich gegen illegale Landbesetzungen und untergruben damit ihren großen Einfluss in der Bauernschaft. Wieder waren es allein die Bolschewiki, die diese Landnahmen rückhaltlos unterstützten. Ende Juli kam es auch zu einem Parteitag, auf dem Trotzki und die Meschrajonka-Tendenz der bolschewistischen Partei beitraten. Auch ihr Einfluss in den Räten wuchs wieder, weil viele Mitglieder mit der Politik der Regierungsbeteiligung nicht einverstanden waren. So konnten die Bolschewiki dank ihrer klaren Positionierungen die Rückschläge überwinden und sich relativ rasch politisch wieder stärken.

Einschätzungen

Der Juli 1917 wird von bürgerlichen und reformistischen HistorikerInnen typischerweise meist nur unter Teilgesichtspunkten bewertet. Sie bringen den militärischen Misserfolg in Zusammenhang mit der Stimmung in den Massen, trennen aber die politische Entwicklung davon ab. Den Bolschewiki werfen sie einen missglückten Putschversuch vor, der im Oktober wiederholt worden sei und dort dann günstigere Bedingungen vorgefunden habe. Sie beklagen, dass den bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräften nicht genug Zeit geblieben wäre, um eine parlamentarisch gefestigte Ordnung zu entwickeln. Das Grundproblem, dass die wechselnden Regierungen in keiner Phase ihrer Amtszeit die drängenden Bedürfnisse der Bevölkerung nach Besserung der Versorgungslage, nach Eindämmung der Ausbeutung, nach Verteilung des bebaubaren Landes angegangen hatten, wird von ihnen verkannt. Überlagert wurde der Gang der Ereignisse von dem unbedingten Festhalten an der Fortführung des Krieges seitens aller bürgerlichen und reformistischen Parteien. Damit hing die repressive Politik der Regierung schließlich zusammen. Der „demokratische“ Kriegsminister Kerenski musste die Massenfeindlichkeit der Regierungspolitik und die klare Gegenposition sowie die Erfolge der Bolschewiki eingestehen, indem er sagte, es gäbe: „die geringe Bewusstheit der Soldaten, die Leichtigkeit, mit der sich Feigheit und niedere Instinkte hinter den perversen Losungen des Bolschewismus verbergen lassen, die Straflosigkeit bei Anstiftung zur Nichterfüllung von Kampfbefehlen unter dem Deckmantel ideologischer Agitation“.

Die Soldaten reagierten mit einer Desertationswelle auf ihre Weise auf die billigen enttäuschten Siegversprechen von Regierung und Armeeführung. Die Bevölkerung begriff rasch und sah es zunehmend weniger ein, dass sie wieder sinnlose Opfer für einen Krieg bringen sollte, der nicht in ihrem Interesse geführt wurde. Es fehlte aber noch in der ArbeiterInnen- und bäuerlichen Klasse die Entschlossenheit, sich offensiv zum Kampf gegen UnterdrückerInnen und AusbeuterInnen zu rüsten.

Insofern lässt sich sagen, dass der Juli 1917 eine widersprüchliche Stellung im Prozess der Russischen Revolution einnimmt. Die Niederlage der Julitage war für die revolutionäre Bewegung zwar ein Rückschlag, brach sie aber nicht. Sie trug vielmehr zur politischen Reifung der Avantgarde und der Partei bei – und bereitete damit den Oktober vor.

Allerdings musste die Führung ihre Kräfte erst wieder sammeln und reorganisieren. Die Unfähigkeit der bürgerlich geführten Regierungskoalition, den Forderungen der Massen entgegenzukommen, insbesondere durch ihre Kriegspolitik, veränderte die anfänglich eingeschüchterte Stimmung und verlieh ihr gegen Regierung und offen diktatorische Bestrebungen durch die Armeeführung wieder gegenläufigen Aufschwung.