Dilma Rousseff an der FU Berlin: Reformistische Traumwelten

Martin Suchanek, Infomail 971, 15. November 2017

Der Hörsaal war überfüllt, 400 ZuhörerInnen wollten die weggeputschte Präsidentin Brasiliens sehen und hören. Mit Standing Ovations wurde Dilma Rousseff im Hörsaal A des Henry-Ford-Baus empfangen. Die Mehrzahl des Publikums bildeten studierende, lehrende und andere AnhängerInnen der Präsidentin, darunter ein guter Teil von in Berlin lebenden BrasilianerInnen. Darüber hinaus waren viele SPD-Mitglieder anwesend, hatte doch die Friedrich-Ebert-Stiftung die Reise organisiert und trat die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin als Co-Referentin auf.

Eingeladen hatten neben der SPD-Stiftung die FU Berlin und das Forschungszentrum Brasilien. Der akademische Background sorgte wohl auch für den sperrigen Titel „Von der Verrechtlichung der Politik zur Politisierung der Justiz?“, was jedoch das Publikum nicht abschreckte. Schließlich waren die Menschen nicht wegen „akademischer“ Untersuchungen dieses „Spannungsfelds“ gekommen, sondern um sich mit den Ursachen und Folgen des reaktionären Putsches und den politischen Perspektiven auseinanderzusetzen.

VorrednerInnen

Die einladende Professorin Barbara Fritz gab zwar noch vor, dass sich die Referate und Diskussion weniger auf Politik, sondern mehr auf das Spannungsfeld zwischen Justiz und Politik beziehen sollten – zum Glück hielt sich Dilma Rousseff nicht daran.

Einzig Däubler-Gmelin – ihres Zeichens auch Gastprofessorin an der FU – langweilte das Publikum mit einer Co-Rede zum Thema, wie man Korruption bekämpfen könne. Dabei bemühte sie alle möglichen Allerweltsweisheiten und führt lange aus, dass es – welch Wunder! – überall Bestechlichkeit gebe. In einigen Ländern eben mehr, in anderen weniger, um schließlich Deutschland ein vergleichsweise gutes, Brasilien ein sehr viel schlechteres Zeugnis auszustellen. Immerhin bezeichnete sie die Korruptionsvorwürfe gegen Dilma und Lula als manipulierte Vorwände für einen anderen politischen Zweck.

Die Korruptionsvorwürfe hat sie jedoch nicht als das entlarvt, was sie sind: ein Mittel im Klassenkampf, um eine Regierung, die ihre Schuldigkeit getan hat, loszuwerden, um das Land geo-strategisch neu auszurichten und die bestehenden Rechte der Lohnabhängigen und Armen zu schleifen. Und ganz fern lag ihr die Schlussfolgerung, dass „Missbrauch“ und „Anmaßung“ der Justiz nicht durch die Suche nach ständigen neuen rechtsstaatlichen Reformen, sondern nur durch den Kampf auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden können.

Diese Schlussfolgerung fürchtete die Sozialdemokratin offenkundig wie der Teufel das Weihwasser. In ihrem Vortrag suchte sie vielmehr nach der fünften Dimension der Rechtsstaatlichkeit, nach einer über den Klassen stehenden Justiz, die nicht nur die Korruption und Verbrechen bekämpft, sondern auch „die“ Demokratie gegen alle Krisen, Kämpfe, Unsicherheit sichert.

Auch wenn Däubler-Gmelin eine wenig politische Rede hielt, so gab sie insofern den Ton für den Abend vor, als sie deutlich machte, worin die RednerInnen und VeranstalterInnen die Lösung für die Probleme Brasilien sehen – in einer „echten“ Reform der bestehenden Institutionen, im „Rechtsstaat“.

Noch vor der Ex-Ministerin hielt Michael Sommer, ehemaliger DGB-Vorsitzender und nun stellvertretender Leiter der Ebert-Stiftung, ein Grußwort. In diesem brachte er die Sache immerhin so weit auf den Punkt, als er von einem „politischen Putsch“ gegen Dilma sprach. Die Reaktion habe zurückgeschlagen, weil die PT in den Augen von Michael Sommer fast schon ein sozialdemokratisches Musterland errichtet hatte. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Erfolg gehören eben für den Sozialpartner Sommer zusammen – dumm nur, dass das die brasilianische Bourgeoisie nicht so sieht.

Rousseff über Putsch und Politik

In ihrer Rede begann Rousseff damit, dass sie auf die Neuartigkeit des Putschs von 2016 verwies. Dieser war kein Militärputsch, der unmittelbar mit Massenverhaftungen, Folter, Ausnahmezustand und der Errichtung einer offenen Diktatur einherging. Es handelte sich vielmehr um einen „parlamentarisch-justiziellen“ Putsch. Es ging darum, eine vom Volk gewählte und legitimierte Regierung mittels formaljuristisch legitimierter Verfahren und an den Haaren herbeigezogener Vorwürfe zu stürzen.

Der Putsch richtete sich nicht nur gegen die Präsidentin, die Regierung und die „ Partido dos Trabalhadores“ (PT = Partei der ArbeiterInnen). Ihr Sturz war gewissermaßen nur der Auftakt.

Unter tosendem Applaus erklärte sie, dass das eigentliche Ziel des Staatsstreichs neuer Art die Gesellschaft, genauer die ArbeiterInnenklasse, die Armut, die Landbevölkerung, die rassistisch Unterdrückten, die Frauen gewesen sind und weiterhin bleiben.

Innerhalb weniger Monate hat die Putschistenregierung um Temer, den ehemaligen Koalitionspartner der PT, das Arbeitsrecht dereguliert, die Privatisierungen vorangetrieben, die Ausgaben für den Öffentlichen Dienst massiv gekürzt und Personal abgebaut. Ebenso wurden zahlreiche Beschränkungen für die Abholzung des Amazonas-Regenwalds und Investitionen internationalen Kapitals aufgehoben. Zugleich habe sich die wirtschaftliche Krise des Landes verschärft. Die Putschisten würden nicht nur die Armen entrechten und ausbluten, sie würden auch das Land ruinieren, so Dilma, indem sie die Bildungsinstitutionen und die Grundversorgung der Massen angreifen, indem sie Millionen in die Armut stürzen.

Die PT-geführten Regierungen unter Lula (2003-2011) und Dilma (2011-2016) hätten einen anderen Kurs verfolgt. Sie hätten ein alternatives Modell zum Neo-Liberalismus umzusetzen versucht, die Privatisierungen wichtiger Banken und Unternehmen verhindert und mit dem Bolsa Familia ein Programm zur Verbesserung der Lage von Millionen Verarmter auf den Weg gebracht. Damit und mit dem Mindestlohn hätten sie zugunsten der ArbeiterInnenklasse umverteilt.

Außerdem hätte Brasilien ein anderes Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten und den USA etabliert. Den USA hätte man sich nicht mehr bedingungslos unterworfen, den Ländern Lateinamerikas freundschaftlich zugewandt.

Immer wieder verglich Dilma die Regierungen vor Lula und unter den Putschisten mit 13-Jahren PT-geführter Politik – und diese schneidet regelmäßig gut ab und wird geschönt, als hätte die Regierung immer nur zum Wohl aller gehandelt.

Fortgesetzte Repression, die Zustände auf dem Land, die Räumung von städtischen Wohnvierteln der Armen z. B. im Zuge der Großprojekte WM und Olympia verschwieg sie. Dass Export und wichtige Kapitalgruppen gestärkt wurden, war ihr keine Erwähnung wert. Dabei agieren Konzerne wie Petrobras (Petróleo Brasileiro S. A.) oder Odebrecht gegenüber anderen Ländern genauso aggressiv wie US-amerikanisches, deutsches oder chinesisches Kapital. Von der Stationierung brasilianischer Truppen in Haiti war „selbstverständlich“ auch keine Rede.

Wenn sie über die Außenpolitik sprach, verklärte Dilma die Expansionsinteressen des brasilianischen Kapitals und die geo-strategischen hegemonialen Interessen des Landes in Lateinamerika zur Sorge um einen „netten Umgang“ mit allen. Ganz so „nett“ empfanden jedoch die bolivianische Regierung und Bevölkerung die Ausbeutung der dortigen Ölvorkommen durch den halb-staatlichen brasilianischen Konzern Petrobras nicht, so dass dessen Handlungsfreiheit 2009 per Gesetz etwas eingeschränkt wurde.

Dass am Land nach wie vor die Großgrundbesitzer herrschen, gestand Dilma zwar zu. Die PT hätte eben noch nicht „alles“ erledigen können.

Auch die Bolsa Familia, ein Grundprogramm für die Armen, ist keineswegs nur ein Rechtsanspruch. Lassen wir einmal beiseite, dass sie zu gering ausfällt, so verwies Dilma auch darauf, dass Teile der Familienförderung auch an Leistungen der Armen (Schulbesuch der Kinder von 86 %) gebunden sind, also eine brasilianische Variante des Schröder’schen „Förderns und Forderns“ darstellen.

Reform und Kapital

Zweifellos haben diese Reformen – so ungenügend sie vom Standpunkt der Lohnabhängigen und sozialistischer Politik aus auch sind – zu einer Verbesserung der Lage von Millionen beigetragen. Sie konnten aus zwei Gründen umgesetzt werden. Erstens weil sich die PT noch immer auf eine Massenbasis in den Gewerkschaften und bei Bewegungen stützen konnte. Zweitens weil diese begrenzte Umverteilung mit den Expansionsbedürfnissen und Profitinteressen des brasilianischen Kapitals und ausländischer Investoren vereinbar war. Unter Lula erlebte das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung. Trotz des von den imperialistischen Zentren abhängigen Charakters des brasilianischen Kapitalismus vermochte es sich, ähnlich wie andere Regionalmächte, stärker eigenständig zu positionieren.

Bis zu einem gewissen Grad erforderte die Expansion des Kapitals sogar eine Politik zur Stärkung der Kaufkraft, die Sicherung von Mindestlöhnen und die Erhöhung des Bildungsniveaus der ArbeiterInnenklasse. Diese mussten – auch das ist in der Geschichte des Kapitalismus nichts Neues – einzelnen UnternehmerInnen durch den Staat und gesellschaftlichen Druck aufgezwungen werden, selbst wenn sie im Interesse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals lagen oder jedenfalls damit vereinbar waren.

Dass die Politik der PT – auch in ihrer Selbsteinschätzung – durchaus kapitalverträglich war, stellte auch Dilma nicht in Abrede. Sie warf den Putschisten vielmehr vor, das Land – und darunter versteht sie auch die brasilianische Industrie – zu ruinieren, wenn sie die Kaufkraft und das Bildungssystem auf die Elite und traditionellen Mittelschichten (lt. Dilma rund 35 Millionen Menschen) beschränken wollen. Damit würde der Binnenmarkt schrumpfen, die für Industrie, Dienstleistungen und die Herausforderungen der Digitalisierung nötigen, qualifizierten Arbeitskräfte könnten nicht herangebildet werden, rechnete die gestürzte Präsidentin den Putschisten vor. Fazit: Unter der PT war eigentlich auch das brasilianische Kapital besser dran.

Dumm nur, dass auch beim „brasilianischen Modell“ die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Führung der PT oder ihre politischen Zwillinge vom Schlage eines Michael Sommer mögen gerade darin ein besonderes Verdienst sehen, Sozialpolitik mit dem Kapitalinteresse in Einklang zu bringen. Das ändert aber nichts daran, dass diese „Partnerschaft“ immer nur für bestimmte Schichten und begrenzte Zeit möglich ist und nur, wenn sie die grundlegenden Interessen des Kapitals nicht berührt.

Indes sind Bourgeoisie und Großgrundbesitz nicht nur in Brasilien undankbare Klassen. Der Lakai hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen.

Traditionelle Eliten und Apparat

An eine längerfristige Umstellung des „Modells“ der Herrschaftsausübung, an die Aufgabe ihres Machtmonopols haben die alten Eliten im Land, ihre US-imperialistischen Verbündeten und die mit ihnen verbundenen, traditionellen, weißen und reaktionären Mittelschichten nie gedacht. Hinzu kommt, dass in einer Periode der tieferen Krise, niedergehender Profitraten die Gewinne des Kapitals zu ihrer Sicherung einer Umverteilung von unten nach oben bedürfen. Bestehende Schranken der Ausbeutung müssen beseitigt, nicht mehr oder minder sozial verträglich gestaltet werden.

Und hier zeigt sich eine grundlegende Grenze der „Reformpolitik“ der PT-geführten Regierungen. Das Eigentumsmonopol und den Machtapparat der herrschenden Klasse hat sie nie angriffen, ja nicht einmal angerührt.

Die Reformprogramme der PT-Regierungen wie Bolsa Familia und Fome Zero (Kein Hunger) wurden zu einem großen Teil aus Steuereinnahmen der ArbeiterInnenklasse und Mittelschichten finanziert. Das Kapital und die Reichen mussten unter 13 Jahren PT-Regierung keinen Cent Vermögens- und Erbschaftssteuer zahlen.

Die Regierung mag zwar langsamer privatisiert haben. Das Großkapital, die zunehmende Unternehmenskonzentration, den Filz von Staat und Kapital, also die viel beklage Korruption, hat sie nie angegriffen. Die großen Monopole wurden nicht beschränkt, sondern als Speerspitze des „Landes“ in der Weltmarktkonkurrenz gefördert. Das Medienmonopol, das fest in den Händen der Reaktion liegt, wurde nicht gebrochen, sondern hat sich auf noch weniger Unternehmen konzentriert.

All das zeigt, dass die PT-Führung nie eine wirkliche Konfrontation mit dem Kapital und Großgrundbesitz wollte. Das hat sie auch dadurch deutlich gemacht, dass sie immer im Bündnis mit offen bürgerlichen Parteien regiert hat. Die wichtigste „Partnerin“, die „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“ (PMDB, Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung), organisierte maßgeblich den Putsch und stellt nun mit Temer den Staatspräsidenten.

Doch nicht nur auf Regierungsebene hat die PT ihre Bündnistreue mit dem Kapital deutlich gemacht. In ihrem Schlusswort verwies die ehemalige Präsidentin darauf, dass eine Reform über das Parlament in Brasilien nie gelingen könne, weil die Machtbasis der Reaktion, vor allem des Großgrundbesitzes in den Regionalparlamenten und -regierungen noch viel größer sei. Notwendig, so Rousseff, sei daher eine verfassunggebende Versammlung. Da ist sicher etwas daran. Was aber hat die PT in 13 Jahren an der Regierung getan, um diese Machtbasis zu brechen? Die Frage stellen, heißt (leider) auch schon, sie zu beantworten.

Nach dem Putsch gibt sich der Reformismus reuig und radikal. Während man 13 Jahre die Institutionen schöngeredet hat, wird nun eine „verfassunggebende Versammlung“ aus dem Hut gezaubert.

Besonders deutlich wird das Versagen der Reformpolitik der PT, wenn es um den Staatsapparat des Landes geht. Selbstredend wurde das Militär nie angetastet. Dilma rechnete ihrer Regierung außerdem hoch an, dass sie Polizei und Staatsanwaltschaft finanziell und personell ausgebaut hat. Dummerweise und zu ihrer größten Überraschung waren es StaatsanwältInnen und RichterInnen, die unter der PT-Regierung ernannt wurden, die das Amtsenthebungsverfahren gegen sie selbst und die Ermittlungen gegen Lula durchgeführt haben. Wie war das möglich, wurde Dilma nach ihrem Vortrag vom Moderator gefragt: „Das konnten wir uns nicht vorstellen,“ antwortete sie.

Logik des Reformismus

Solche Naivität erstaunt wohl jede/n, erscheint unglaubwürdig. Sie hat jedoch auch eine innere Logik, die aus sozialdemokratischer Reformpolitik folgt. Der bestehende bürgerliche Staatsapparat muss als Mittel zur Reform im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten unterstellt werden – mag er auch eine noch so blutige Geschichte der Repression und Herrschaftsausübung haben.

Diese Illusion wird zusätzlich dadurch genährt, dass der bürgerliche Staat und seine Institutionen nicht unmittelbar von der herrschenden Klasse personell gestellt werden, sondern von gewählten oder ernannten FunktionärInnen. Dieser Apparat ist jedoch durch tausende Kanäle institutionell wie auch historisch eng mit der herrschenden Klasse verbunden. Im Gegensatz zu den Hoffungen des Reformismus trifft das auch in seiner „perfekten“ rechtsstaatlichen Form zu – in gewisser Weise sogar mehr, weil der Staat des Kapitals solcherart seiner scheinbar über den Klassen stehenden Funktion besser nachkommen kann. Diese geht einher mit einer historischen Tendenz zur immer engeren Verbindung von Staat und Großkapital in der imperialistischen Epoche. Gewaltenteilung und Rechtsstaat stellen dazu keine Gegentendenz dar, sondern nur eine Form ihrer Durchsetzung, die für westliche imperialistische Länder nach dem Zweiten Weltkrieg zur Norm wurden, für die halbkolonialen Länder aufgrund ihre ökonomischen Rückständigkeit hingegen immer nur eingeschränkt möglich waren und sind.

Wie eng diese Verbindung zwischen dem formal unabhängigen Apparat und der herrschenden Klasse wirklich ist, verdeutlicht die Tatsache, dass Dilma und Lula von „ihren“ StaatsanwältInnen und RichterInnen der Prozess gemacht wurde. Selbst wenn die ReformistInnen das Personal bestimmen können, so ist es eben nicht „ihr“ Personal, sondern in letzter Instanz immer noch das der herrschenden Klasse.

In Brasilien dominiert ein historisch gewachsener Block aus Großkapital, Grundbesitz und einer weißen, aus der Sklavenhaltergesellschaft hervorgegangenen Mittelschicht diesen Apparat konkret. Sie ist historisch mit dem US-Imperialismus verbunden und will das Land nicht nur ökonomisch, sondern auch geo-strategisch neu ausrichten.

Aber – und darin besteht das Dilemma der herrschenden Klasse – sie befindet sich trotz Putsch in einer eigenen tiefen Krise. So liegt trotz Medienmonopol, Hetze, Repression Lula in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 vorn. Auch wenn die Mobilisierungen der Bewegung gegen den Putsch deutlich schwächer wurden, so konzentrieren sich die Hoffnungen der Massen auf die Wahl Lulas. Seine Versammlungen werden von Zehntausenden besucht. In den Umfragen liegt er bei rund 35 Prozent, in den Bundesländern des Nordostens mit einem weit größeren Anteil an Armen sogar bei 70 Prozent.

Die traditionellen bürgerlichen Parteien haben keine/n veritablen GegenkandidatIn. Sie zerfleischen sich entweder selbst oder sind, wie Präsident Temer, so unbeliebt, dass sie keine Chance haben, überhaupt nur auf 10 Prozent zu kommen.

Zugleich radikalisiert sich zur Zeit die Reaktion, die extrem Rechte um Jair Bolsonaro. Der Vorsitzende der „Christlich-Sozialen Partei” liegt in Umfragen bei rund 17 Prozent und damit vor allen „respektablen“ bürgerlichen KandidatInnen. Er verteidigt nicht nur offen die Militärdiktatur, er fordert auch offen die Errichtung einer neuen. Zugleich steht er auch an Spitze der rechts-radikalen, sexistischen, homophoben, rassistischen Bewegung „Freies Brasilien“, deren AnhängerInnen sich aus Großgrundbesitzern, FaschistInnen und Evangelikalen zusammensetzen. Diese Kräfte agitieren nicht nur für extrem reaktionäre Ziele, ihre Mitglieder greifen auch Transsexuelle, Homosexuelle, Afro-BrasilianerInnen und Angehörige religiöser Minderheiten an, bis hin zum Mord.

All das deutet auf eine weitere Zuspitzung der Lage, in deren Zeichen die Präsidentschaftswahl 2018 steht. Die PT setzt dabei auf die Karte „Lula“ und auf eine rein elektorale Strategie. Sie bastelt auch wieder an einer möglichen Koalition mit bürgerlichen Verbündeten, auch wenn diese schwer zu finden sind. Zweifellos hoffen auch Millionen ArbeiterInnen auf Lula und die PT und darauf, dass er die Konterreformen Temers rückgängig machen kann.

Doch der Pferdefuss liegt in der Strategie der PT. Selbst wenn Lula antreten kann und gewinnen sollte: Was würde die PT tun, um eine neuerliche Offensive von Seiten der Elite oder gar einen Militärputsch zu verhindern? Wie will sie den bürokratischen Staatsapparat unter Kontrolle bringen? Wie soll dessen Macht gebrochen werden? Warum soll es nach der Erfahrung von 13 Jahren PT-geführter Koalitionsregierung bei einem Wahlsieg 2018 klappen?

Wenn Dilma und die PT keine Antwort auf diese Fragen haben, so sollte sich die brasilianische ArbeiterInnenklasse nicht auf das Prinzip Hoffnung verlassen. Sie bedarf trotz aller Solidarität mit Dilma und Lula gegen die Angriffe der Putschisten eines politischen Bruchs mit der Strategie der PT und einer neuen ArbeiterInnenpartei, die den Kapitalismus nicht besser verwalten, sondern stürzen will.