Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Martin Suchanek, Infomail 1205, 28. November 2022

Seit über einer Woche, seit der Nacht vom 19. zum 20. November, greift die türkische Armee die kurdische Region Rojava an – aus der Luft mit Flugzeugen und Drohnen oder durch massiven Beschuss mit Haubitzen, Panzern und Mörsern. Zudem überfallen Söldnertruppen im Dienste der Türkei kurdische Siedlungen.

Allein die erste Angriffswelle auf die kurdische selbstverwaltete Region Rojava forderte Duzende Menschenleben – und die Zahl der toten Kämpfer:innen und Zivilist:innen steigt täglich. Dabei könnten die massiven Bombardements nur das Vorspiel zu einer Offensive mit Bodentruppen und faktischen Besetzung weiterer Teile der kurdischen Gebiete durch die Türkei abgeben.

Den Angriff hat das Erdogan-Regime schon lange angekündigt und geplant. Es stieß dabei jedoch nicht nur auf Auflehnung des reaktionären despotischen syrischen Regimes und des russischen Imperialismus, sondern auch der USA, die den Luftraum über Rojava faktisch kontrollieren.

Vorwand

Der Anschlag in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal, bei dem am 13. November 6 Personen getötet und 81 weitere verletzt worden waren, bot dem türkischen Regime eine willkommene Gelegenheit. Ohne jeden Beweis wurde die Verantwortung für die Morde der PKK und der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava in die Schuhe geschoben. Dabei haben die kurdischen Kräfte diesen reaktionären Anschlag rasch und deutlich verurteilt.

Es fragt sich darüber hinaus aber auch, warum sie ausgerechnet eine Aktion durchgeführt haben sollen, die politisch vom Erdogan-Regime ausgeschlachtet wird, die dem kurdischen Befreiungskampf nur schadet und nicht nützt. Wer sich die Frage nach dem Cui bono (lateinisch: Wem zum Vorteil?) ernsthaft stellt, wird wohl dort eher nach Antworten suchen müssen, wo die politischen Profiteur:innen des Anschlags sitzen.

In jedem Fall hat die türkische Regierung nicht lange gezögert. Seit dem 19./20. November sind tausende Raketen, Drohnen, Bomben, Artillerie- und Panzergeschosse auf Rojava niedergegangen bzw. überflogen dieses Territorium. Die USA und ihre Verbündeten – darunter auch die Bundesregierung – übernehmen weitgehend die Propagandalügen Erdogans. Im Namen des sog. „Kampfs gegen den Terrorismus“, und um den NATO-Verbündeten Türkei im Kampf um die Ukraine bei der Stange zu halten, überlassen die USA ihm faktisch den Luftraum. Russland und das Assad-Regime kritisieren das zwar, waschen aber ansonsten ihre Hände in Unschuld. Schließlich wollen auch sie die Vernichtung kurdischer Selbstverwaltung. Umso besser also, wenn Erdogan die Drecksarbeit erledigt. Schließlich sind Assad mit der Stabilisierung seiner Diktatur und Putin mit mörderischen Bombardements auf ukrainische Städte beschäftigt.

Darüber hinaus berichten einige arabische Medien über Verhandlungen zwischen der Türkei und Syrien. Diesen zufolge wäre Erdogan zur Einstellung der Angriffe bereit, wenn das Assad-Regime die Kontrolle über Rojava übernimmt. Ein solcher Deal würde für die Kurd:innen den Anfang vom Ende ihrer Autonomie bedeuten. Ebenso wenig wie kurdische Selbstbestimmung unter der Herrschaft des türkischen Nationalismus und der NATO-Mächte realisiert werden kann, kann es sie unter der Diktatur des Schlächters Assad geben.

In dieser Lage gibt der Westen der Türkei nicht nur freie Hand. Die NATO-Staaten Westeuropas und die Anwärter Schweden und Finnland schweigen nicht nur zu den verbrecherischen Angriffen der Armee auf Rojava, sie gehen auch gegen die kurdischen Organisationen in ihren Ländern vor. In Deutschland und der EU sind die PKK und andere kurdische Organisationen weiter als „terroristische Organisationen“ verboten. Schweden und Finnland bescheinigt Erdogan großzügig „Fortschritte“ bei der Bekämpfung kurdischer politischer Flüchtlinge, nachdem der neue Premierminister Ulf Kristersson (Moderate Sammlungspartei) Anfang November die Umsetzung der von Erdogan geforderten Voraussetzungen für die NATO-Mitgliedschaft zugesagt hat.

Angriff an mehreren Fronten

Die Angriffe auf das kurdische Volk wurden zudem nicht nur in Rojava forciert. Seit Mitte November geht das türkische Regime unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ praktisch täglich gegen die kurdische Bevölkerung, wirkliche oder vermeintliche Aktivist:innen im eigenen Land vor. So finden in zahlreichen Städten Hausdurchsuchungen und Razzien statt. Hunderte Menschen wurden festgenommen, weil sie angeblich Mitglieder der PKK seien. Mit brutaler Härte geht die Polizei außerdem gegen Demonstrationen vor, die sich mit den Kurd:innen in Rojava solidarisieren, das Ende der Angriffe und willkürlichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen fordern.

Die türkische Regierung und der Staatsapparat verschärfen ihren Krieg gegen das kurdische Volk, gegen dessen demokratische Rechte, betreiben faktisch Staatsterrorismus unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung.

Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk zum Ausdruck bringen. In der Türkei gehen regelmäßig Tausende trotz massiver Repression auf die Straße. In Deutschland fanden in mehreren Städten wie z. B. Berlin, Frankfurt/Main und Hannover Solidaritätsdemonstrationen statt. Weitere sind für die nächsten Tage geplant. Doch diese Solidarität darf sich nicht auf die Teilnahme der kurdisch-migrantischen Bevölkerung, ihre Organisationen und linke Aktivist:innen und Gruppierungen beschränken. Die Gewerkschaften, die Linkspartei müssen ebenfalls ihre Mitglieder und Anhänger:innen mobilisieren. Dasselbe gilt für alle Sozialdemokrat:innen und Grünen, die den Schießkurs „ihrer“ Regierung nicht teilen.

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!

  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen!

  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



10 Jahre Rojava: Errungenschaften und Irrwege

Robert Teller, Neue Internationale 267, September 2022

Im Juli 2012 übernahmen bewaffnete kurdische Kräfte die politische Kontrolle in den Regionen Kobanê, Afrin (Efrin) und al-Hasaka Nordsyriens – Zeit für eine kurze Bilanz der Errungenschaften in Rojava.

Syrische und kurdische Revolution

Der Übergang der Macht vom syrischen Regime in die Hände kurdischer Organisationen fand statt im Zuge der Syrischen Revolution von 2011. Im Juli 2012 hatte das Regime die Kontrolle über die drittgrößte Stadt Homs bereits verloren. Am 18. Juli 2012 gelang Aufständischen in Damaskus der bis dahin folgenreichste direkte Schlag gegen das syrische Regime, der den amtierenden und stellvertretenden Verteidigungsminister das Leben kostete. In Aleppo brach der Aufstand am 19. Juli offen aus. Das Regime der Baath-Partei schien zu dieser Zeit so geschwächt wie noch nie. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli übernahmen kurdische Kämpfer:innen, unterstützt von unbewaffneten Zivilist:innen, unblutig die Kontrolle in Kobanê.

Die Sicherheitskräfte des Regimes wurden entwaffnet und nach Hause geschickt. Ähnliches ereignete sich in den darauffolgenden Tagen an zahlreichen anderen Orten. Vereinzelt leisteten Assads Polizei und Militär Widerstand. Sie mussten jedoch bald einsehen, dass Verstärkung aus anderen Landesteilen nicht zu erwarten war. Der Gewaltapparat der Regierung war in anderen Teilen des Landes massiv unter Druck und nicht in der Lage einzugreifen. Für das syrische Regime wurde die Machtfrage vor allem in Damaskus, Homs und Aleppo entschieden – für die PYD (der syrische Zweig der PKK-Bewegung) aber allein in Rojava.

Dass letztere die politische Führungsrolle der Umwälzung in Rojava einnehmen konnte, lag nicht zuletzt an der Stärke der von ihr aufgestellten bewaffneten Verbände, die im Angesicht einer jederzeit drohenden gewaltsamen Zerschlagung durchaus wichtiger war als jede der utopischen Ideen, die erdacht wurden.

Die seitdem in Rojava errichtete autonome Administration ist heute die letzte demokratische Errungenschaft der Syrischen Revolution von 2011. Weltweit bekannt wurde Rojava während der Belagerung von Kobanê Ende 2014 durch den Islamischen Staat. Die Stadt war zeitweise durch IS-Kräfte und die geschlossene türkische Grenze von jeder Versorgung abgeschnitten, der IS kontrollierte bereits den Ostteil der Stadt. Dass er in dieser aussichtslos erscheinenden Lage letztendlich doch zurückgeschlagen werden konnte, verschaffte der syrischen PKK-Bewegung hohe Anerkennung unter den Massen. Die Verteidigung von Kobanê ist auch einer Welle von Solidarität zu verdanken. Vor allem Kurd:innen aus der Türkei leisteten Unterstützung. Doch auch aus Europa wurde durch Spendensammlungen erhebliche materielle Unterstützung geleistet. Aus Sicht der US-Regierung war die Schlacht um Kobanê die Feuertaufe ihres künftigen Verbündeten, der auserkoren wurde, das Fiasko der gescheiterten Irak-Besetzung einzugrenzen und den Zerfall der staatlichen Ordnung durch den Vormarsch des IS aufzuhalten.

Verteidigt Rojava!

Die seit 10 Jahren permanente Bedrohung einer gewaltsamen Zerschlagung Rojavas zeigt, wie prekär die Selbstverwaltung im Rahmen der gegenwärtigen Grenzen, unter Anerkennung der von imperialistischen Mächten auferlegten staatlichen Ordnung nur sein kann. Der Sieg über den IS hat die Bedrohung Rojavas nicht beseitigt, sondern einen neuen Krieg eröffnet, in dem der US-Imperialismus allerdings weitaus geringeres Interesse für die kurdische Seite zeigte. Der entscheidende Beitrag der kurdischen Kräfte in der US-geführten Militärkampagne schützte sie nicht vor den darauffolgenden türkischen Angriffen. Trotz der von der PYD immer wieder versicherten Anerkennung der syrischen Grenzen stellt die Autonomie in Rojava diese zur Disposition, wie die wiederholten türkischen Überfälle zeigen, die 2018 zur Zerschlagung Afrins und 2019 zur Einrichtung einer „Pufferzone“ entlang der türkischen Grenze geführt haben. Die Türkei hat wiederholt ihre Absicht erklärt, ihre Kontrolle entlang des Grenzverlaufs auszudehnen.

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Hierzu ist kein romantisierender Blick auf die kurdischen Freiheitskämpfer:innen notwendig. Die Anerkennung der arabischen, kurdischen und aramäischen Sprache als gleichberechtigt, die Gewährleistung politischer Repräsentanz für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Bewaffnung von Frauen und ihre Gleichstellung in rechtlichen Fragen, die Abschaffung der religiösen Gesetzgebung markieren einen Bruch mit der Herrschaft der Baath-Partei, die jahrzehntelang über die kurdischen Regionen mit systematischer wirtschaftlicher Vernachlässigung, Umsiedlungen, Enteignungen und Repressalien regiert hat wie eine Kolonialmacht.

Dass die Türkei die Drohungen der vergangenen Monate noch nicht wahrgemacht hat, liegt daran, dass der US- und russische Imperialismus aus jeweils eigenen Motiven bislang keine Rückendeckung für eine weitere Militäraktion ausgesprochen haben. Die USA befürchten durch die Schwächung Rojavas eine Rückkehr des IS und einen neuen Strudel der Destabilisierung in der Region. Russland argumentiert für das irakische Modell, die Reintegration in den syrischen Staat. In beiden Positionen drückt sich letztlich das Ziel einer geordneten Abwicklung jeder ernsthaften kurdischen Selbstbestimmung, einer konterrevolutionären Stabilisierung aus. Die Türkei arbeitet darauf hin, dass ihre Vermittlungsrolle im aktuellen imperialistischen Hauptkonflikt Ukraine mit einem Geschenk auf dem Nebenschauplatz Syrien honoriert wird.

Der dritte Weg?

Die neutralistische Position der PYD gegenüber der syrischen Revolution bestärkte 2012 die Entscheidung des Regimes, sich aus Rojava zurückzuziehen. Sie enthält aber einen grundsätzlichen politischen Widerspruch: objektiv Teil einer allgemeineren revolutionären Umwälzung zu sein, dieser aber politisch gleichgültig gegenüberzustehen. In den städtischen Zentren, wo die Machtfrage entschieden wurde, stand sie zwischen den Fronten und versuchte, die kurdischen Viertel vom Verlauf der Syrischen Revolution abzuschirmen.

Eine Folge dessen war, dass die syrische Arbeiter:innenklasse – auch deren große kurdische Minderheit mit Verbindungen nach Rojava – nicht zur Verteidigung Rojavas mobilisiert wurde. Unter den arabischen Oppositionskräften setzte sich die chauvinistische Ablehnung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts durch, die auch die Herrschaft der Baath-Partei geprägt hat. Die Klassenbasis für ein autonomes Rojava wurde damit auf das ländliche Kleinbürger:innentum und die Kleinbäuerinnen/-bauern dieser Regionen reduziert. Unter diesen Bedingungen und durch das weitgehende Handelsembargo der Nachbarländer rückten die Selbstversorgung Rojavas mit Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern, der Aufbau von Kooperativen und eine begrenzte Landreform der staatlichen Anbauflächen in den Mittelpunkt. Ob dies nun als Verwirklichung einer sozialen Utopie bezeichnet wird oder als pure Notwendigkeit in einer jahrzehntelang besonders schwer unterdrückten Region – an der Realität ändert es nichts.

In Teilen der Linken scheinen sich die Sympathien für die Revolution in Rojava gerade am Zauber ihrer Widersprüche zu entzünden: ein Staat, der keiner ist (obwohl er über Armee, Polizei, Regierung und Justiz verfügt); den Kapitalismus überwinden, ohne das Kapital zu enteignen; die Hymne der Nation singen, die als bereits überwunden gilt; Macht besitzen und zugleich verachten; Überwindung von Grenzen durch Rückzug ins Dorf; Bekämpfung des Patriarchats durch Rückbesinnung auf Tradition.

Diejenigen Teile der westlichen Linken, die Rojava nur als Quelle von Inspiration schätzen, blicken dort in einen Spiegel ihrer eigenen libertären Flausen: von der Wichtigkeit „reiner Demokratie“, vom Weg als Ziel, von der Falschheit jeder objektiven Wahrheit und der Wahrheit des Subjektiven. Die eigene Isolation im befreiten linken Zentrum erscheint dann doch als der goldrichtige Weg. Mit den richtigen utopischen Ideen könnte ja noch ein zweites Rojava draus werden.

Die in den 1990er Jahren politisch „gewendete“ PKK-Bewegung hat ganz ähnlich wie ein Teil der Globalisierungsgegner:innen Ende des Jahrtausends einen Rechtsruck vollzogen, indem die Macht der Unterdrückten als revolutionäres Potenzial gegen den Staat als „utopisch“ verworfen und durch die wirklich utopische Vorstellung ersetzt wurde, den Staat einfach überflüssig zu machen, indem man beginnt, das schöne Leben aufzubauen.

Im Fall der PKK beinhaltete dies auch eine Anpassung ihres Programms an das Scheitern ihres bisherigen bewaffneten Kampfes für einen unabhängigen Staat im türkischen Teil Kurdistans. Es erschien als realistischer, im Rahmen der bestehenden Ordnung graduelle Verbesserungen zu erkämpfen, die nicht mit der bestehenden staatlichen Ordnung in Konflikt geraten. Dass die PKK-Bewegung einmal unverhofft in eine Lage stolpern würde, wo sie die Machtfrage würde stellen müssen, ist eine Ironie der Geschichte. Dass sie dabei über ihr eigenes Programm des Machtverzichts hinausging, kann keine Grundlage für Kritik sein.

Natürlich muss im Angesicht einer drohenden gewaltsamen Zerschlagung der Selbstverwaltung die Verwirklichung von Basisdemokratie der militärischen Notwendigkeit untergeordnet sein. Erstere reduziert sich auf die Organisation einer lokalen Bedarfsökonomie. Die Schwächen des in libertäre Wolken gehüllten, eigentlich urreformistischen Programms der neuen PKK wurden so aber tendenziell verschleiert.

Diese Schwächen ändern zwar nichts am progressiven Charakter der demokratischen Errungenschaften in Rojava, die jede Unterstützung der Arbeiter:innen- und demokratischen Bewegungen anderer Länder erhalten sollten. Diese drohen aber, im Tausch gegen einen offiziellen Autonomiestatus im syrischen Staat unter den Tisch zu fallen. Eine Einigung zwischen dem syrischen und türkischen Regime dürfte dabei als erste Vorbedingung die Entwaffnung Rojavas zu erfüllen haben. Einem solchen reaktionären Deal hätte das heute isolierte Rojava nach den Siegen beider wenig entgegenzusetzen.Die Verteidigung Rojavas vor einer drohenden Zerschlagung oder Vereinnahmung kann aber auch Ausgangspunkt sein, diese zu durchbrechen und den Kampf mit der demokratischen und sozialen Frage in der Türkei, in Syrien und dem Irak zu verbinden. Die kurdische Selbstbestimmung kann nur im allgemeineren Kontext der permanenten Revolution im Nahen Osten weiter ausgebaut und verteidigt werden. Deren Haupthindernis ist wie auch in Rojava vor allem eine Führungskrise, das Fehlen einer revolutionären Partei, die die Massen für diese Verallgemeinerung des Befreiungskampfes gewinnt. Zwei programmatische Standpunkte sollten zentrale Lehren der vergangenen 10 Jahre sein: die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller unterdrückten Nationen, um diese als Verbündete für die Revolution zu gewinnen, und die Schaffung einer sozialistischen Föderation von Staaten im Nahen Osten, die Verknüpfung der demokratischen Revolution mit der Umwälzung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die in Widerspruch zu jeder demokratischen Errungenschaft geraten müssen.




Erdogan-Putin Deal gegen Rojava

Robert Teller, Neue Internationale 242, November 2019

Das am 22.
Oktober in Sotschi ausgehandelte türkisch-russische Abkommen über die
Einrichtung einer Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze verändert
die Kräfteverhältnisse in Syrien grundlegend.

Erstens festigt
es Russland als unbestrittene, einzige verbliebene Hegemonialmacht. Syrien wird
de facto zu einer Art russischen Mandatsgebiets. Die letzten Wochen und Monate
verdeutlichen, dass im Land ohne Zustimmung Putins nichts geht, dass selbst
reaktionäre Potentaten wie Erdogan und Assad letztlich ihre Ziele nur in
Abstimmung und durch Zustimmung oder Akzeptanz der Kremls umsetzen können.
Umgekehrt offenbart der Deal die Schwäche des „Westens“, also der USA und erst
recht der europäischen imperialistischen Mächte.

Zweitens ist die
Türkei ihrem Ziel, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zu beseitigen,
deutlich näher gekommen. Sie steht nun offen zur Disposition.

Drittens sollen
der türkische Einmarsch und die Vereinbarung von Sotschi zwischen Russland und
der Türkei zur Wiederherstellung der Kontrolle des syrischen Regimes über die
kurdischen Gebiete führen und damit dessen konterrevolutionären Siegeszug
vollenden.

Eine ganze Reihe
konterrevolutionärer Verschiebungen droht damit zu einem unrühmlichen Abschluss
zu kommen. Der „Frieden“, den das Abkommen bringen soll, bedeutet den Frieden
von Niederlage und Aufteilung Syriens unter den Kräften der Reaktion. Es stellt
insbesondere eine Niederlage des kurdischen Volkes und die drohende Zerstörung
der in Rojava errungen Formen von Autonomie und Selbstbestimmung dar.

Abzugspläne der
USA und erste Pufferzone

Trumps
beabsichtigtem Truppenabzug im Blick, drohte die Türkei seit Monaten offen mit
einer Militäroffensive gegen Rojava, falls keine „Einigung“ mit den USA
zustande kommen sollte. Eine solche erfolgte Mitte August. Im Gegenzug für
einem Teilrückzug der kurdischen Kräfte von der türkischen Grenze versprach die
Türkei, keine Invasion durchzuführen. Die Kurdischen Selbstverteidigungskräfte
(YPG/JPG) und die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) erfüllten aufgrund von
US-Garantien diese Forderung.

Das Versprechen der
Türkei hielt dann gerade 6 Wochen. Am 9. Oktober begann sie dem Einmarsch
entlang der Grenze zwischen den Städten Tell Abyad und Ras al-Ayn, nachdem sich
Erdogan Trumps Zustimmung hierfür eingeholt hatte und dieser den sofortigen
Abzug der US-Truppen aus der Region anordnen würde. Nach der am 22. Oktober
zwischen der Türkei, Syrien und Russland getroffenen Vereinbarung muss sich die
YPG/JPG aus einem 30 Kilometer breiten Streifen vollständig zurückziehen, hier
übernimmt Russland gemeinsam mit dem syrischen Regime die Kontrolle. Die Türkei
behält die alleinige Kontrolle über die während der Offensive eroberten
Gebiete.

Kriegsziele der
Türkei

Erklärtes Ziel
der türkischen Invasion ist es, die gesamte Grenzregion von kurdischen Kräften
zu „säubern“ und letztlich der Selbstverwaltung Rojavas ein Ende zu setzen, die
de facto seit 2012 die staatliche Unabhängigkeit einer mehrheitlich kurdischen
Region unter Führung der PKK-nahen PYD darstellt. Die türkische Regierung
strebt an, zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der „Pufferzone“ anzusiedeln,
was der ethnischen Säuberung dieser Gebiete gleichkommt. Obgleich ein Verstoß
gegen internationales Recht, wird in der Vereinbarung von Sotschi anerkannt
wird. Das Erdogan-Regime bedient sich des Rassismus gegenüber den Flüchtlingen,
um derartige reaktionäre Maßnahmen zur Durchsetzung seiner regionalen
Interessen zu legitimieren. Zugleich wird damit die Grundlage für einen neuen
nationalen Konflikt in den kurdischen Gebieten gelegt. Die von der Türkei
geplanten Umsiedlungen stehen in einer Reihe mit der Arabisierungspolitik des
syrischen Baath-Regimes in den 1970er Jahren, die mit genau der gleichen
Zielsetzung betrieben wurde: dem Anspruch der kurdischen Bevölkerung auf
Selbstbestimmung einen Riegel vorzuschieben.

Darüber hinaus
bekräftigt die Vereinbarung auch die Adana-Erklärung von 1998, in der sich
Syrien auf türkischen Druck verpflichtete, jegliche Tätigkeit der PKK in Syrien
zu unterbringen, also als Hilfstrupp des türkischen Staates bei der
Unterdrückung der KurdInnen zu fungieren.

Veränderte
Kräfteverhältnisse

Wenige Tage nach
Beginn der türkischen Invasion stimmten die „Syrischen Demokratischen Kräfte“
der Entsendung von Assads Truppen in die kurdischen Gebiete zu. Das syrische
Regime hat seinen territorialen Anspruch auf Rojava viele Male betont, aber
während der vergangenen 7 Jahre war es nicht in der Lage, diesen Anspruch
tatsächlich durchzusetzen. Der wichtigste Nebeneffekt der türkischen Invasion
ist, dass sie Rojava dem syrischen Regime als einzig verbliebenem möglichen
Verbündeten ausliefert. Während die USA die kurdischen Kräfte als temporär
nützliche Alliierte und Bodenstruppen für den Kampf gegen Daesh benutzten, gibt
es für Assad nichts „Nützliches“ an Rojava selbst.

Für das syrische
Regime ist es schlicht und einfach eine illegitime Verletzung seiner
Souveränität. Der einzige Grund für Assad, Rojava in den vergangenen Jahren zu
verschonen, war, dass es für das Regime weit wichtigere Kriegsziele gab. Mit
dem Siegeszug im syrischen Bürgerkrieg wird nun unverhofft eine „Lösung“ für
Rojava greifbar, die auch den Konflikt mit der Türkei zu befrieden imstande
ist, und die sich in der Sotschi-Vereinbarung abzeichnet. Auch wenn die Regime
von Assad und Erdogan im syrischen Bürgerkrieg GegnerInnen waren, haben sie
sich gleichermaßen bei der Unterdrückung der KurdInnen verdient gemacht. Wie
aus den 1990er-Jahren bekannt ist, taugt dies durchaus als Grundlage einer
Zusammenarbeit beider Regierungen. Kurz gesagt: Wenn das selbstverwaltete
Rojava als letztes Überbleibsel der Revolte von 2011 beseitigt ist, erleichtert
das eine einvernehmliche Lösung zwischen Türkei, Syrien, Iran und Russland. Eine
gute Nachricht ist das bestimmt nicht.

Niedergang der
US-Hegemonie

So umstritten
der plötzliche Truppenabzug in den USA auch ist, kennzeichnet er doch das
Anerkennen der Tatsache, dass Russland als imperialistische Hegemonialmacht in
Syrien das Heft in der Hand hat. Er bedeutet auch ein Scheitern des Versuches,
dem iranischen Streben nach Einfluss in Syrien Einhalt zu gebieten. Es ist auch
davon aufzugehen, dass der Iran gegen die verbliebenen Elemente kurdischer
Selbstbestimmung vorgehen wird.

Die PYD und
damit die Führung von Rojava betrachtete ihre Beteiligung an der
Anti-Daesh-Koalition als Garantie gegen eine türkische Invasion. Wie zu
erwarten, ließ der US-Imperialismus seinen einstigen Verbündeten fallen – und
bringt damit Rojava an den Rand seiner Existenz.

Doch die
Kurdische PYD war kein unschuldiges Opfer dieser Politik, sie selbst hing der
Illusion an, bei diesem Zweckbündnis auch profitieren zu können und machte sich
die Hoffnung zu eigen, im Windschatten der US-Präsenz eine „anderes“
Gesellschaftsmodell aufbauen zu können. Diese Politik scheiterte – und war von
Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Das größte Problem
dieser Bündnispolitik bestand und besteht darin, dass sie verhindert hat, die
Verteidigung von Rojava mit dem Klassenkampf in der Region und insbesondere der
Türkei zu verbinden. Dass Rojava zum Gegenstand imperialer und regionaler
Konflikte werden musste, liegt naturgemäß daran, dass seine bloße Existenz die
territorialen und machtpolitischen Interessen mehrerer Staaten berührt. Dass
die KurdInnen dabei zum politischen Spielball der russisch-amerikanischen
Rivalität wurde, lag natürlich immer im zynischen Kalkül dieser Mächte.

In diesem
Kontext war es natürlich auch legitim, ja untermeidlich, die imperialistische
Gemengelage etwa im Kampf gegen Daesh zum eigenen Vorteil auszunutzen. Die
Politik der  PYD ging jedoch weit
darüber hinaus, so dass sie sich zum Verbündeten einer reaktionären
Mächtegruppe, des US-Imperialismus wurde.

Das hätte jedoch
nur verhindert werden können, wenn die PYD einen internationalistischen Kurs
der aktiven Verbindung mit den demokratischen Kräften der Syrischen Revolution
und des „Arabischen Frühlings“, mit dem Widerstand in der Türkei, im Irak oder
auch in Palästina verfolgt hätte. So hätte z. B. die Blockade gegen Rojava durch
die irakisch-kurdische Regierung zum Gegenstand des Klassenkampfes gemacht
werden können durch die Mobilisierung der irakisch-kurdischen Massen. Die PYD
befolgte jedoch tatsächlich die Politik der „Nichteinmischung“. Sie hoffte ein
quasi-staatliches Reformprojekt – eine „Kommune“ auf Basis von Marktwirtschaft
und Warenproduktion – aufbauen zu können, indem sich Rojava möglichst aus dem
syrischen BürgerInnenkrieg und allen anderen großen Umbrüchen raushält. Dieses
Konzept musste scheitern, spätestens mit der Niederlage und Degeneration der
syrischen Revolution und dem Sieg Assads und des russischen Imperialismus.

Solidarität mit Rojava! Nein zur türkischen Invasion! Nein zum Deal von Sotschi!

Unabhängig von
den politischen Differenzen mit der PYD treten wir für die Solidarität mit
Rojava, die Verteidigung seiner demokratischen und sozialen Errungenschaften –
der rechtlichen Gleichstellung der Frauen und des kurdischen
Selbstbestimmungsrechtes.

Die
ArbeiterInnenklasse, RevolutionärInnen, ja alle demokratischen Kräfte müssen
für den sofortigen Abzug der türkischen Besatzungstruppen und ihrer
reaktionären Verbündeten eintreten! Dasselbe trifft für russische und syrische
Truppen zu! Wir lehnen auch jede weiteren Verbleib von US-Truppen oder
Stationierung von UN-Friedenstruppe, wie von Kamp-Karrenbauer vorgeschlagen,
kategorisch ab.

Die KurdInnen
und die Bevölkerung von Rojava brauchen keine Besatzungstruppen, um sich gegen
die Banden des Daesh und andere reaktionäre Kräfte zu verteidigen, sondern
wirkliche Kontrolle über Rojava! Um sich zu verteidigen, brauchen sie Waffen
und Material. Zugleich aber brauchen ein Ende des Wirtschaftsembargos durch
Türkei oder Irakisch-Kurdistan. Die imperialistischen Mächte und
Regionalmächte, die auf allen Seiten für die Verwüstungen des Bürgerkrieges,
für die Toten und Zerstörungen im Kampf gegen Deash mitverantwortlich sind,
müssen gezwungen werden, wirkliche Aufbauhilfe zu leisten, indem sie für die
Schäden durch die Zerstörung durch Angriffe und Bombardements aufkommen.

Die Forderung
nach Rückzug der Türkei stellt heute eine zentrale Forderung jeder
Solidaritätsbewegung mir Rojava dar. Diese muss mit der nach einem sofortigen
Stopp aller Waffenlieferungen und militärischen Kooperation verbunden werden.

Gegen Erdogans
Drohung, die Geflüchteten in der Türkei in den Sicherheitskorridor zu zwingen,
fordern wir die Öffnung der EU-Außengrenzen für die Geflüchteten. Nur wenn wir
die rassistische Abschottung hier bekämpfen, können wir auch verhindern, dass
die Flüchtlinge für Kriegsziele des türkischen Nationalismus missbraucht
werden.

Wir rufen daher
zur Unterstützung aller Solidaritätsaktionen und Demonstrationen mit der
kurdischen Bewegung auf! Wir fordern die Aufhebung des Verbots der PKK und
aller anderen kurdischen und türkischen linken und demokratischen
Organisationen in der BRD und in der EU!




Nein zur türkischen Invasion! Solidarität mit Rojava!

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1072, 9. Oktober 2019

Am 9. Oktober begann der türkische Angriff auf das kurdische Rojava mit Luftschlägen, Bombardements und heftigem Artilleriefeuer. Der türkische Präsident Erdogan und die Armee des Landes ließen schon seit Tagen keinen Zweifel daran, dass ein blutiger Angriff von langer Hand vorbereitet war.

Das türkische Regime betrachtet eine Besetzung Rojavas oder
zumindest von Teilen des kurdischen Kantons als sein „Recht“, das ihm als
Regionalmacht bei der Neuordnung Syriens zustehe. Die kurdische Bewegung wird
ebenso wie die PKK und alle anderen kurdischen Kräfte in der Türkei als
„terroristisch“ verleumdet – ein durchsichtiges Manöver, um den Angriff auf Rojava
mit fadenscheinigen Gründen zu legitimieren.

Den öffentlich verkündeten Abzug bzw. Rückzug von US-Truppen
verstand nicht nur die Türkei als Signal, dass die USA ihre einstigen
Verbündeten, die kurdische PYD (Partei der Demokratischen Union) und von ihr
dominierten „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF), endgültig fallengelassen
haben. Schon 2018, als die türkische Armee und von ihr unterstützte
islamistische Milizen das kurdische Efrîn okkupierten und ein eigenes
Terrorregime errichteten, versagten die USA ihren Verbündeten jegliche Hilfe.

Dies offenbart einmal mehr: Wer sich auf einen
imperialistischen Verbündeten verlässt, ist am Ende selbst verlassen. Die
kurdischen Selbstverteidigungskräfte PYD, YPG/JPG und die SDF trugen
bekanntermaßen die Hauptlast im Krieg gegen den klerikal-faschistischen sog.
„Islamischen Staat“ (IS). Auch wenn wichtige Teil des US-Militärs, der
Republikanischen und Demokratischen Partei ähnlich wie die meisten europäischen
ImperialistInnen mit Trumps Syrien-Politik nicht übereinstimmen, eine härtere
Gangart gegenüber Erdogan fordern und die SDF längerfristig als Verbündete und
Fußtruppen für die eigenen Interessen halten wollen, betrachten letztlich auch
sie die kurdische Bewegung nur als Mittel zum eigenen, imperialen Zweck. Das
Bündnis der PYD mit den USA hat den türkischen Angriff letztlich nicht
aufgehalten, sondern nur aufgeschoben auf den Moment, wo es den USA nicht mehr
nützlich erschien.

Ziele der Türkei

Nun wird die Türkei unter Erdogan versuchen, die Lage zu
ihren Gunsten zu nutzen, um einen bis 20–30 Kilometer tiefen „Korridor“ an der
türkischen Grenze zu errichten und zumindest Teile der kurdischen Gebiete zu
annektieren. Mit dem russischen Imperialismus, den der Despot vom Bosporus
sicherlich fürchtet, dürfte Erdogan ein Abkommen erzielt haben. Darauf deuten
jedenfalls seine eigenen Aussagen hin. Die zeitweilige Überlassung von Teilen
des syrischen Grenzgebietes scheint auch eine Art Entschädigung für die
Übergabe der Kontrolle der Region um Idlib an Assad und seine SchergInnen
darzustellen. Auch wenn Erdogan die Invasion als Zeichen der Stärke darstellt,
so sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türkei ihre Kriegsziele in
Syrien in den letzten Jahren herunterschrauben musste. Mit dem Sieg des
Assad-Regimes musste sich Ankara längst abfinden. Nur die Vernichtung jeder
Form kurdischer Selbstbestimmung und Autonomie, die Vernichtung eines
„KurdInnenstaates“ bleibt als Kriegsziel, das jedoch mit brutaler und
mörderischer Konsequenz verfolgt wird.

Daher wird die PYD als „terroristisch“ diffamiert. Die
türkische Öffentlichkeit soll durch die gleichgeschalteten Medien – unter
tatkräftiger Mithilfe der nationalistischen Opposition – auf Krieg eingeschworen
werden. Mittels enormer waffentechnischer Überlegenheit soll die von ihren
NATO-Verbündeten (und neuerdings auch von Russland) hochgerüstete Armee die
kurdische Bevölkerung demoralisieren und die KämpferInnen der SDF, von YPG und
YPI durch massive Bombardements vernichten oder vertreiben. Islamistische
Milizen und demoralisierte Einheiten der ehemaligen FSA, die praktisch zu
Erdogan-SöldnerInnen mutierten, sollen zumindest die an die Türkei grenzenden
Gebiete Rojavas besetzen, die kurdische Bevölkerung und alle weiteren
vertreiben, die sich ihrer Herrschaft von Erdogans Gnaden nicht beugen wollen.

Erdogans Invasion, würde sie Erfolg haben, liefe praktisch
auf die ethnische Säuberung dieser Gebiete hinaus, die von der türkischen Armee
und ihren reaktionären Verbündeten besetzt wären. Die Vertreibung
Hunderttausender in einem immer kleineren und immer unhaltbareren „Restkanton“
Rojava ist Teil des Plans, alle Formen und Institutionen kurdischer
Selbstverwaltung zu vernichten.

Dies stellt das eigentliche Kriegsziel der Türkei dar, mit
dem die USA und die EU, aber auch Russland, Iran und Assad durchaus leben
können. Letzterer bietet zur Zeit zwar den KurdInnen seinen „Beistand“, doch
dieser ist freilich nur zu haben, wenn sich die PYD vollständig seinem Regime,
seiner Armee, seinen Interessen unterordnet. Gerade die Erfahrung des
Bündnisses mit dem US-Imperialismus sollte den KurdInnen klarmachen, dass
solche opportunistischen Abenteuer letztlich nicht ihnen, sondern nur ihren
„Verbündeten“ nutzen, die sie jederzeit fallenlassen werden, wenn es ihnen
opportun erscheint. Eine solche opportunistische Politik hilft nicht nur den
ImperialistInnen oder reaktionären Regimen, sie unterminiert auch die
Möglichkeit, dort Verbündete zu finden, wo es allein verlässliche für die
kurdischen Massen geben könnte – unter den ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen
in den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie auf dem ganzen Globus.

Das Erdogan-Regime war immer eine aktive Partei im Kampf um
die reaktionäre Erstickung der ursprünglich demokratischen syrischen
Revolution. Es war immer an der Vernichtung der kurdischen Bewegung in Syrien
und erst recht in der Türkei interessiert. Jetzt versucht die Regionalmacht,
sich ihren Anteil an der „Beute“ und damit ein „Mitspracherecht“ bei der
zukünftigen Ordnung Syriens zu sichern.

Zynisch versucht Erdogan auch das sog. „Flüchtlingsproblem“
zu lösen. Hunderttausende syrische Geflüchtete sollen aus der Türkei oder der
Provinz Idlib in den zu erobernden Gebieten Rojavas „angesiedelt“ werden.
Gefragt werden sie dabei nicht. Auch sie sollen gegen die kurdische Bevölkerung
und Bewegung in Stellung gebracht werden, um eine spätere „Ordnung“ auf
nationalistischen Gegensätzen und Unterdrückung der KurdInnen aufzubauen.

Internationale Gemengelage

Gegen die offen reaktionäre Politik erheben die
VertreterInnen der EU, darunter auch die Bundesregierung, „Bedenken“. Der
scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker fordert die Einstellung der
türkischen Angriffe, zumindest aber ein „verhältnismäßiges“ Vorgehen. Der deutsche
Außenminister will ebenfalls eine Einstellung des Angriffs und fordert die
Türkei auf, „ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen“ –
eine diplomatisch verlogene Formulierung, die bei aller Kritik am
Erdogan-Regime implizit anerkennt, dass es in Rojava legitime
Sicherheitsinteressen verfolgt. Solche „FreundInnen“ werden für die KurdInnen
keinen Finger rühren. Erstens sind sie (und wohl auch große Teile des
US-Establishments) an einer Türkei interessiert, die ökonomisch nicht
zusammenbricht und auch nicht ins Lager von Putin abwandert. Zweitens
kritisieren sie zwar Erdogans Flüchtlingspolitik als zynisch – aufnehmen wollen
sie aber selbst keinen einzigen Menschen aus Syrien. Zur Not lassen eben auch
sie einmal mehr die KurdInnen fallen.

Erdogan und die türkische Regierung sind sich dieser
politischen Gemengelage bewusst. Sie wissen, dass sie, abgesehen von Rhetorik,
bei einer Invasion, die sich auf Teile Rojavas beschränkt, relativ wenig
unmittelbare Probleme zu erwarten haben, solange Russland diese toleriert.

Damit will die türkische Armee zugleich das Risiko großen,
dauerhaften Widerstandes verringern. Sie könnte militärische Erfolge als Mittel
nutzen, von den inneren Problemen im Land, allen voran der ökonomischen Krise,
abzulenken. Schließlich erweist sich „das Volk“ für den nationalistischen Wahn
dann am empfänglichsten, wenn das „eigene“ Land Siege vorzuweisen hat. Ein Sieg
Erdogans würde daher nicht nur für hunderttausende EinwohnerInnen Rojavas und
für das kurdische Volk eine barbarische Niederlage bedeuten, er soll auch dazu
dienen, die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in der Türkei an „ihren“
Präsidenten zu binden, also Erdogan und seine Herrschaft im eigenen Land zu
stärken.

Sieg für Rojava!

Daher müssen die gesamte internationale
ArbeiterInnenbewegung, die Linke, alle demokratischen und fortschrittlichen
Kräfte gegen die drohende Invasion der Türkei mobilisieren und, für den Fall
des Angriffs, für deren Niederlage eintreten. Wir treten für den Sieg der SDF
und der kurdischen Selbstverteidigungskräfte ein – und damit auch dafür, dass
sie die Mittel für diesen Sieg erhalten.

Der Kriegstreiber Erdogan wird nur gestoppt werden können,
wenn Millionen in Solidarität mit Rojava demonstrieren, wenn das türkische
Regime und die Armee selbst unter Druck geraten. Jede militärische
Unterstützung, jede Waffenlieferung an die Türkei muss sofort beendet werden.
Die ArbeiterInnenbewegung, allen voran die Gewerkschaften, müssen die
militärische und wirtschaftliche Unterstützung Erdogans durch Streiks und
ArbeiterInnenboykotts unterlaufen.

Die Grenzen der EU müssen für die syrischen Flüchtlinge
geöffnet werden, auch um zu verhindern, dass sie für Erdogans Krieg missbraucht
werden. Während die EU und andere imperialistische Staaten Erdogan verhalten
kritisieren und die KurdInnen für ihren Kampf gegen den IS loben, so verweigern
sie diesen nicht nur Hilfe – sie verfolgen vielmehr weiter kurdische
Organisationen wie die PKK in Europa. Damit muss Schluss sein – Aufhebung aller
Verbote kurdischer und türkischer revolutionärer, linker und demokratischer
Organisationen in der EU und in Deutschland!

Auch wenn die Türkei die Invasion in Rojava beschränken will
und daher zu vermeiden sucht, dass es zu einer offenen Konfrontation mit
syrischen, russischen, iranischen oder auch verbliebenen US-amerikanischen
Streitkräften kommt, so kann der Angriff sehr wohl zu einem Flächenbrand
werden. Der Nahe Osten ist längst zu einem zentralen Aufmarschgebiet im Kampf
um die Neuaufteilung der Welt geworden – daher kann jeder Konflikt auch
entgegen den unmittelbaren Kriegszielen und Absichten der einzelnen AkteurInnen
internationalen, globalen Charakter annehmen. Auch daher muss die
internationale ArbeiterInnenbewegung gegen den türkischen Angriff mobilisieren.
Ein erzwungener Rückzug der türkischen Armee oder ein erfolgreicher Widerstand
der KurdInnen könnten jedoch in Verbindung mit dem Aufbau einer internationalen
Solidaritätsbewegung, von Protesten, Streiks und Demonstrationen auch zu einer
fortschriftlichen Internationalisierung der Auseinandersetzung führen – nämlich
zur engeren Verbindung der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in der Türkei,
Syrien, im Iran oder auch dem Irak.

  • Beteiligt Euch an den Solidaritätsdemonstrationen und Aktionen!



Die Rolle der Frauenbewegung in Kurdistan – Frauenbefreiung ohne Sozialismus?

Svenja Spunck, Frauenzeitung Nr. 5, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION (Deutschland), ArbeiterInnenstandpunkt/REVOLUTION (Österreich) März 2017

Der Kampf der kurdischen Frauen in Rojava erlangte vor allem durch die Verteidigung der Stadt Kobanê (Ain al-Arab) gegen den IS große Popularität. Selbst bürgerliche Medien präsentierten kämpferische Fotos von den Frauen der YPJ, die sich mit der Waffe in der Hand gegen Dschihadisten verteidigen. In diesen Berichten ging es eigentlich immer um die Feinde des Islamismus an sich und weniger um die Frauen. Man stelle sich einmal vor, es hätte bewaffnete Aufstände gegen das Abtreibungsgesetz in Polen oder die Herdprämie der Bundesregierung gegeben. Von starken Frauen hätte da wohl keiner mehr gesprochen. Auch die politische Schwesterorganisation der PYD, nämlich die PKK in der Türkei, steht auf der europäischen Terrorliste – ihre Frauenpolitik ist die gleiche. Wir wollen uns in diesem Artikel mit der Perspektive der Frauen in Rojava und unter der politischen Kontrolle der Parteien PYD/PKK beschäftigen, um zu verstehen, was hinter der „Revolution der Frau“ tatsächlich steckt.

Der Gesellschaftsvertrag, eine Art Verfassung, wurde von der PYD in Rojava 2014 veröffentlicht. Darin werden in unterschiedlichen Punkten das Verhältnis der Geschlechter und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft definiert. So heißt es in Artikel 27: „Frauen verfügen über alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und das Recht auf Leben. Diese Rechte sind zu schützen.“ und in Artikel 28: „Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechterdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen.“ Außerdem ist festgelegt, dass alle politischen Gremien von mindestens 40 % Frauen besetzt sein müssen und dass eine der wichtigsten Aufgabe der Asayis-Kräfte (wie Polizei, verantwortlich für innere Sicherheit) der Schutz von Frauen vor sexuellen Übergriffen ist.

Es klingt schön, die strukturelle Unterdrückung des weiblichen Geschlechts einfach per Gesetz aufzuheben, sie zu „verbieten“. Liest man jedoch die gesamte Verfassung, kommt man spätestens bei Artikel 41 in einen Widerspruch, da dieser nämlich besagt: „Das Recht auf Eigentum und Privateigentum wird geschützt. Niemand darf der Gebrauch des eigenen Eigentums verweigert werden. Niemand darf enteignet werden.“ Begreift man also die Unterdrückung der Frau im marxistischen Sinne – nicht als böswillige oder rückschrittliche Ansicht, dass Frauen weniger zu sagen haben sollten, sondern als einen notwendigen Mechanismus innerhalb der kapitalistischen, auf dem Recht auf Privateigentum basierenden Produktionsweise –, so lässt sich wohl kein Richtiges im Falschen aufbauen. Der Einbezug der Frauen vor allem in die bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten ist eine Notwendigkeit in Rojava, um die ohnehin geringe Bevölkerung schützen zu können. Durch diese praktische Erfahrung werden Geschlechterverhältnisse zwar deutlich gemacht, in Frage gestellt und funktional-temporär umgestaltet, jedoch die Grundlage ihrer Entstehung noch nicht beseitigt.

Widmen wir uns zunächst dem Verständnis der kurdischen Bewegung (Fokus auf PKK/PYD-Strömung) der Frauenunterdrückung. Dazu beziehen wir uns auf die Schrift „Die Revolution der Frau“ von Abdullah Öcalan, Parteivorsitzender und ideologischer Vordenker der PKK. Die Geschichte der Zivilisation sei die Geschichte der Versklavung, die in drei Stufen abläuft. Interessant ist, dass die erste Stufe dabei die ideologische und erst die dritte dann die ökonomische sei. Er beschreibt es also als einen bewussten Prozess, der ohne ökonomische Grundlage zunächst die Menschheit unterdrückt, um dann im Nachhinein wie als ein willkommenes Nebenprodukt ökonomisches Mehrprodukt daraus zu schöpfen. Indem „der dominante Mann“ sich nun dieser geschaffenen Unterdrückungswerkzeuge wie Religion, Wissenschaft und Wirtschaft bedient, wird die Gesellschaft ihrer Freiheit und damit auch der von Frauen beraubt. „Der Niedergang und der Verlust der Frau ist somit der Niedergang und Verlust der gesamten Gesellschaft, und ihr Ergebnis ist die sexistische Gesellschaft.“ Er schreibt weiter: „Die geschlechtliche Versklavung unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der Versklavung von Klassen und Völkern. Ihre Legitimation erlangt sie durch raffinierte und intensive Repression, kombiniert mit Lügen, die auf Emotionen abzielen.“

Demnach ist die Unterdrückung der Frau ein bewusster, von bösartigen und freiheitsfeindlichen Männern eingeleiteter Prozess, der sogar unabhängig von Klassenzugehörigkeit stattfindet. Obwohl Öcalan selbst beschreibt, dass er zu dieser Erkenntnis, der „Hausfrauisierung als Form der Sklaverei“, nur durch langes Studium kam, wäre es vielleicht von Vorteil gewesen, einmal den Grad der Unterdrückung der weiblichen Hillary Clinton oder Angela Merkel mit dem eines männlichen, kurdischen Gastarbeiters bei Ford am Fließband zu vergleichen. Dieser kann noch so bösartig und freiheitsfeindlich sein, die Freiheit des herrschenden weiblichen Teils der Bourgeoisie wird er damit nicht einmal ankratzen können. In einer langen Ausführung über die neolithische Gesellschaft, die er als Ursozialismus beschreibt, wird die Rolle der Frau/Mutter (tatsächlich in dieser Form synonym verwendet) und der matrizentrischen Familie – mit ihr im Mittelpunkt – gelobt. Diese Lebensform hätte sich lange ohne eine staatliche Herrschaftsform gehalten und wird von ihm deshalb stark idealisiert. Später bezieht er dies konkret auf die kurdischen Frauen, deren Freiheitssinn besonders stark ausgeprägt sei, da ihre ganze Geschichte vom Kampf gegen „Naturgewalten und fremde Übergriffe“ geprägt sei. Sie sei auch einer besonders starken Unterdrückung durch den Mann ausgesetzt, da er seinen Frust, politisch unterdrückt zu sein, durch Machtausübung gegenüber der Frau kompensieren würde. Der Höhepunkt des institutionalisierten, dominanten Mannes seien der Kapitalismus und der Nationalstaat, in seinen eigenen Worten: „Kapitalismus und Nationalstaat sind der Monopolismus des tyrannischen und ausbeutenden Mannes.“

Was folgt nun für eine politische Konsequenz aus dieser Analyse, oder welche Schlussfolgerung kann gar nicht erkannt werden?

Das Fundament der Frauenunterdrückung ist nicht wie im marxistischen Sinne die Klassengesellschaft und das Privateigentum an Produktionsmitteln, sondern eine biologistische Definition vom dominanten Mann und der freiheitlichen Frau. Daraus folgernd muss also gezwungenermaßen jeglicher Einfluss des Mannes zurückgedrängt und die Macht über die Gesellschaftsordnung in die Hände der Frauen gelegt werden.

„Die Männlichkeit hat das herrschende Geschlecht, die herrschende Klasse und den herrschenden Staat erzeugt. Wenn der Mann in diesem Zusammenhang analysiert wird, ist es klar, dass die Männlichkeit getötet werden muss. In der Tat ist es das Grundprinzip des Sozialismus, den dominanten Mann zu töten.“ Der revolutionäre Ausspruch Rosa Luxemburgs, „Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus und kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung“, wird damit für nichtig erklärt. Die Gleichsetzung des männlichen Geschlechtes mit dem unterdrückenden System lässt keine Klassenanalyse mehr zu, noch schlimmer, sie verschleiert die tatsächlichen Unterdrückungsverhältnisse. Statt die Unterdrückung der Frau als ein Ergebnis der materiellen Verhältnisse zu sehen, wird sie in Konkurrenz gestellt – zum Klassenkampf. Dies wird sehr deutlich ausgedrückt: „Die Tatsache, dass im Laufe der Geschichte die Frau – die ewige Gefangene in den Händen des Mannes – ihrer Identität und ihres Charakters beraubt wurde, hat erheblich mehr Schaden verursacht als die Klassenspaltung.“

Diese vehemente Ablehnung eines Klassenbegriffes ist Teil der gesamten kurdischen Bewegung. Das Unterdrückungsverhältnis besteht danach nicht zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden, also Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, sondern zwischen Mann und Frau, zwischen TürkInnen/ AraberInnen etc. und KurdInnen oder einem autoritären Staat und freiheitlichem Kommunewesen. Diese politische Überzeugung wird in Rojava tatsächlich auch umgesetzt. Wir unterstützen und verteidigen Rojava gegen alle Angriffe von außen, sei es der IS, der türkische Staat oder imperialistische Interventionen. Wir verteidigen das Recht auf Selbstbestimmung aller unterdrückten Nationen. Doch wir kritisieren auch die Politik der PYD, nicht aus westlicher Borniertheit, sondern aus dem Gedanken des Internationalismus heraus. Der Kampf der KurdInnen im Nahen Osten ist verknüpft mit allen anderen Kämpfen von Unterdrückten und hat nicht nur symbolische Bedeutung. In der aktuellen Lage steht das Projekt Rojava vor schwierigen Entscheidungen. Mit dem Fall von Aleppo ist die Konsolidierung des Assad-Regimes in greifbare Nähe gerückt und auch Rojava, das bisher eine neutrale Position einnahm im syrischen Bürgerkrieg, muss sich bald entscheiden, wie es sich dazu verhält. Neutralität hilft immer dem Unterdrücker, nicht den Unterdrückten, doch nach dessen Sieg wird sich der Unterdrücker nicht mehr an diese kleine Geste erinnern. Weder Assad noch seine Partner Iran, Russland und auch die Türkei haben ein Interesse an einer weiteren und linkeren kurdischen Autonomie. Vor allem das unter Druck geratene Erdogan-Regime kann sich diesen Risikofaktor nicht leisten.

Wie kann die PYD nun also darauf reagieren? Ihr politisches Programm, nämlich zum einen die kapitalistischen Grundlagen wie das Privateigentum und auch die Staatsgrenzen im Nahen Osten anzuerkennen, sind schon einmal die erste Einschränkung für eine Ausweitung der Revolution. Natürlich darf man nicht die vielen internationalen KämpferInnen vergessen, die sich bereits der YPG/YPJ angeschlossen haben, jedoch werden auch sie sich nicht gegen die NATO-Macht Türkei oder gegen Assad und seinen russischen Verbündeten wehren können. Was bisher geschah, waren radikale politische Reformen, keine soziale, geschweige denn sozialistische Revolution. Die Frau darf an der Waffe kämpfen und das wird auch ausdrücklich staatlich gefördert (zum Beispiel durch den Militärdienst, zu dem auch Jugendliche eingezogen werden), aber dennoch gibt es keine Strukturen, welche die Hausarbeit und die Kinderversorgung übernehmen. Es entsteht also in erster Linie eine Mehrarbeit für die Frauen. Die Erfahrungen, die sie jetzt in den Selbstverteidigungsstrukturen und in den politischen Basiskomitees machen, sind wichtig und bestärkend. Sie ersetzen jedoch nicht die längerfristige, internationalistische Perspektive und die Antwort auf die Frage, welche Klasse herrscht und welche Produktionsverhältnisse den Alltag bestimmen.




Türkische Offensive gegen Afrin: Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte

Svenja Spunck, Infomail 983, 22. Januar 2018

Die kurdische Autonomieregion Rojava in Nordsyrien ist der türkischen AKP-Regierung ebenso ein Dorn im Auge wie die pro-kurdische Partei HDP, die Erdogans Truppen bei den letzten Wahlen fast um eine Mehrheit für seine autoritäre Verfassung gebracht hatte. Durch eine massive Verschärfung der staatlichen Repression, die nun mehr sechste Verlängerung des Ausnahmezustandes und die Inhaftierung tausender Oppositioneller hält er sich weiter an der Spitze des Regimes.

Türkei und KurdInnen

Zwar ist der Maulkorb, den er der kurdischen Bewegung in der Türkei aufgesetzt hat, bisher recht erfolgreich, über die Landesgrenzen hinaus gelang es Erdogan jedoch bisher nicht, Einfluss auf die Entwicklungen in Syrien zu nehmen – wie er es sich seit 2011 vorgestellt hatte. Obwohl die Türkei Waffen und Soldaten nach Syrien schickte und reaktionäre Verbände der FSA um sich schart, standen die Stadt Qamischli (kurdisch: Qamislo) und der Kanton Afrin (kursich: Efrîn), die von der kurdischen PYD regiert werden, kurz vor der Vereinigung. Mit dem Erstarken der PYD in Syrien, so die Furcht Erdogans, stände die Einheit mit den KurdInnen in der Türkei bevor und damit de facto die Grenzziehung des Nahen Ostens auf dem Spiel.

Da auch das Assad-Regime solch eine geographische Neudefinition um jeden Preis verhindern will, ließ sie dem türkischen Militär im Norden freie Hand und protestierte nicht gegen den Einmarsch türkischer Truppen. Diese liefern sich seit Monaten immer wieder Gefechte mit den Kräften der SDF, die maßgeblich von den USA finanziert werden. Seit dem 19. Januar bombardiert die türkische Armee aus der Luft die Stellungen der YPG/YPJ. Am 20. Januar startete der Einsatz von Bodentruppen. Obwohl Russland den Luftraum kontrolliert und das Assad-Regime verkündete, sämtliche türkische Flugzeuge vom Himmel zu schießen, konnte die türkische Armee bisher ungestört agieren.

Türkei, Bundesrepublik Deutschland und USA gegen Russland und Syrien?

Die Panzer, die über die syrische Grenze rollen, sind vom Typ Leopard II, made in Germany. Weitere Lieferungen an die Türkei wurden vor wenigen Tagen bekannt gegeben. Nachdem sich die Außenminister Gabriel und Çavusoglu bei Gabriel zu Hause in Goslar in einem privaten, gemütlichen Ambiente getroffen hatten, verkündeten sie beide ausdrücklich, wie eng sie auch durch eine persönliche Freundschaft verbunden seien. Im Interview mit derARD-Tagesschau rechtfertigte Gabriel die Lieferung an die Türkei (seit 10 Jahren übrigens), mit dem angeblichen Bündnis der NATO-Partner im Kampf gegen den sog. „Islamischen Staat“ (IS). Dabei ist seit langem bekannt, dass die Türkei nicht gegen den IS kämpft, sondern dessen Anhänger im Süden des Landes medizinisch versorgt und IS-Gruppen sich ungestört selbst in großen Städten der Türkei organisieren können, während die Grenze für zivile Geflüchtete aus Syrien durch eine Mauer abgeriegelt wird.

Während Erdogan schon angekündigt hat, demnächst auch die östlichen Kantone um die Stadt Manbidsch (kurdisch: Minbic) anzugreifen, um keinen „Terrorkorridor“ zuzulassen, ruft das Auswärtige Amt „alle Beteiligten auf, jetzt besonnen zu handeln und keine neue Gewalt aufkommen zu lassen.“

Hierbei wird unterschlagen, dass es sich um einen Angriffskrieg der Türkei auf die KurdInnen handelt. Zugleich wird eine Hintertür für einen gemeinsamen Kampf gegen „Terroristen“ offen gelassen. Denn auch in Deutschland nahmen die Angriffe auf sämtliche demokratische Rechte der kurdischen Bewegung in den letzten Wochen massiv zu, was sich durch Verhaftungen auf Demonstrationen, Hausdurchsuchungen und Einleitungen von Gerichtsverfahren ausdrückte. Die französische Regierung findet klarere Worte gegenüber der türkischen Regierung und fordert sie auf, die Offensive gegen die KurdInnen zu stoppen, man solle sich stattdessen eher auf den Kampf gegen die Terroristen des IS konzentrieren.

Besonders brisant in diesem Konflikt ist das Kräftemessen der zwei NATO-Partner Türkei und USA, die offensichtlich gegensätzliche Interessen verfolgen. Solange die Türkei jedoch noch keine großen Militärschläge vollzogen hatte, wurde der Konflikt auf den Nebenschauplätzen von Reisewarnungen und Visabeschränkungen geführt. Nachdem die USA angekündigt hatten, eine 30.000 Mann starke Truppe nach Nord-Syrien zu schicken, die dort gemeinsam mit der YPG/YPJ eine „Sicherheitszone“ errichten sollte, bereitete sich die türkische Armee auf den Einmarsch vor. Das Weiße Haus riet der türkischen Regierung mehrmals, von einem Angriff auf syrisch-kurdische Gebiete abzusehen.

Außenminister Tillerson leugnete jedoch auch, jemals den Aufbau der 30.000 Mann-Truppe in Nord-Syrien angekündigt zu haben. Allenfalls wäre die Presseerklärung falsch formuliert worden. Über dieses „Missverständnis“ wird sicherlich bei dem Treffen in den nächsten Tagen geredet werden, wenn die stellvertretende NATO-Generalsekretärin Rose Gottemoeller in die Türkei fährt. Für die AKP-Regierung ist es nicht hinzunehmen, dass die USA eventuell noch mehr Waffen an die KurdInnen in Syrien liefern würden, um sich ihr eigenes Einflussgebiet in Syrien auszubauen. Für Erdogan ist der Angriff auf Afrin ein heikles Unterfangen, obwohl dieser westliche Kanton abgeschnitten ist vom Rest der kurdischen Gebiete. Er geht das Risiko dennoch ein, denn er braucht auf Grund der innenpolitischen Lage außenpolitische Erfolge.

Während die Auswirkungen dieses Angriffs auf die türkisch-amerikanischen Beziehungen noch nicht sicher sind, ist bereits klar geworden, dass die USA die KurdInnen im Stich lassen. Schon während ihrer Allianz hatten sie die Hilfe für Rojava auf militärische Mittel beschränkt, die den USA dienten, und die Lieferung von Maschinen für den wirtschaftlichen Aufbau verweigert. Zweifellos stellt die Schwächung der KurdInnen auch einen Rückschlag für die USA dar, weil sie praktisch über keinen anderen einigermaßen verlässlichen Verbündeten in Syrien verfügen und somit nur wenig bei der Neuordnung des Landes „mitbestimmen“ können. Aber sie sind erst recht nicht bereit, eine weitere Verschlechterung der Beziehungen mit Ankara für die KurdInnen zu riskieren.

Sicherlich hat auch Russland den Angriff mit gemischten Gefühlen betrachtet. Aber es wurde klar, dass es diesen hinnehmen würde. Kurz vor dem Angriff auf Afrin wurden die dort stationierten Einheiten der russischen Armee zurückgezogen und auch das Flugverbot wird gegen türkische Kriegsflugzeuge nicht umgesetzt. Bereits vor einigen Tagen fand ein Treffen zwischen dem türkischen Geheimdienstchef, dem Generalstabschef und der russischen Regierung in Moskau statt, bei der wahrscheinlich das Vorgehen abgesprochen wurde. Hier ziehen zwei Kräfte am gleichen Strang, die sich somit der KurdInnen entledigen wollen und dadurch den einzigen zuverlässigen Partner der USA aus Syrien zunichtemachen würden.

Innenpolitische Gründe Erdogans

Aber hinter dem Angriff stecken auch wichtige innenpolitische Gründe. In der Türkei stehen 2019 stehen die wichtigsten Wahlen seit der Erdogan-Ära an. Spätestens im November werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahl gleichzeitig stattfinden. Dann treten die Verfassungsänderungen des Referendums von 2017 in Kraft. Wer diese Wahl gewinnt, wird demnach den Posten des neuen Staatsoberhaupts und auch des/r RegierungschefIn mit großer Macht bekleiden, da das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Die bisherigen Kandidaten sind Recep Tayyip Erdogan, der sich die Zustimmung der MHP bereits gesichert hat. Seine größte Rivalin ist Meral Aksener mit ihrer neu gegründeten Iyi Parti (GutePartei), einer Abspaltung von der MHP. Die Iyi erreicht in Umfragen bereits 20 Prozent und wäre damit nach der CHP die drittstärkste Partei im Parlament. Die MHP verliert momentan massiv an Stimmen und Mitgliedern und taugt höchstens noch als Steigbügelhalterin und Lückenfüllerin für die AKP.

Auch die HDP muss um ihren Einzug bangen, auch wenn sie in den Umfragen noch weit vor der MHP liegt. Der HDP droht jedoch das Verbot und ihre politischen FührerInnen befinden sich im Gefängnis. Da sich die AKP der misslichen Lage ihres einzigen Verbündeten, der MHP, im Klaren ist, wird momentan über eine Senkung der Hürde auf 5 % diskutiert. Ebenfalls als Vorbereitung auf die Wahl ist die Rücktrittswelle von AKP-BürgermeisterInnen zu sehen.

Prominentestes Beispiel ist der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, der nach 23 Jahren im Amt „freiwillig“ zurücktrat, nachdem beim Verfassungsreferendum 2017 das AKP Evet-Lager in Ankara knapp verloren hatte. So wie im Falle Gökçeks sollen die Posten nun durch erfolgversprechendere PolitikerInnen ausgetauscht werden.

Auch die CHP rüstet auf und wählte vergangene Woche Canan Kaftancıoğlu zur Vorsitzenden der Istanbuler und damit größten Ortsgruppe der Partei. Dass keine 24 Stunden nach ihrem Amtsantritt ein Verfahren gegen sie wegen Terrorpropaganda für die PKK und DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), der Erniedrigung des türkischen Staates und Beleidigung des Präsidenten eröffnet wurde, macht sie auf den ersten Blick sympathisch. In der Tat gehört sie zum linken Flügel der Partei, unterstützt offen die Kämpfe um Frauenrechte, bezeichnet den Genozid an den ArmenierInnen als solchen und war solidarisch mit den Gezi-Protesten sowie den KurdInnen in Kobanê. Außerdem verurteilte sie scharf diejenigen, die in der Nacht des Putsches vom 15. Juli 2016 das AKP-Regime brutal verteidigten und propagiert eine Aktionseinheit zwischen CHP und HDP. Die Hoffnung, dass mit ihrer Wahl ein neuer Wind in die CHP einzieht, der einigen dort zumindest die Augen öffnet, die sich noch Illusionen in eine Kooperation mit der AKP machen, entpuppt sich jedoch gerade als eine Illusion. Der CHP-Vorsitzende Kiliçdaroglu stimmte in den Kriegsrausch der AKP mit ein und erklärte am 19. Januar: „Kein Land kann die Einnistung von Terrororganisationen an seinen Grenzen dulden. Unserer heldenhaften Armee gilt unser Vertrauen und der Operation Olivenzweig unsere Unterstützung.“

Die Illusion vieler Linker, man könnte gemeinsam mit der CHP eine demokratische Front gegen die AKP aufbauen, wurde damit wieder einmal als vollkommen falsch entlarvt. Wer sich wirklich als demokratisch und solidarisch mit dem Kampf der Kurdinnen versteht, muss diese chauvinistische, rassistische Partei verlassen.

Doch Erdogan steht auch unter Erfolgsdruck. Die schwierige innenpolitische Lage zeichnet sich nicht nur an der Parteienkonstellation ab, auch ökonomisch wird es für die AKP zunehmend härter, sich zu behaupten. Die Verkündung des Mindestlohnes von 1600 Lira zu Beginn des Jahres löste einen Sturm der Empörung zumindest in den sozialen Medien aus. Der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK meint, man müsse mindestens 2300 Lira monatlich verdienen, doch den Mindestlohn würden allein die Regierung und die Arbeit„geber“Innen festlegen. Die Jugendarbeitslosigkeit habe zwar in den letzten Monaten abgenommen, liegt jedoch immer noch bei 20 %. Betrachtet man genauer, wo diese Jugendlichen arbeiten, stößt man meist auf hochgefährliche Arbeitsplätze wie in der Baubranche, wo jährlich dutzende Menschen durch Unfälle ums Leben kommen. Nach dem Militärdienst, der viele junge Männer traumatisiert, fehlen vor allem der ländlichen Bevölkerung Arbeits- und Ausbildungsperspektiven. Diese und andere Probleme setzen sich momentan nicht in großen Protesten auf der Straße um, sondern drücken sich eher in einer riesigen Fluchtbewegung nach Europa aus – in erster Linie der Mittelschicht, die sich das leisten kann.

Obwohl Erdogan auch rhetorisch in alle Richtungen schießt und sich scheinbar unbeeindruckt und stark zeigt, ist deutlich zu erkennen, dass er außenpolitische Erfolge und den türkischen Nationalismus braucht, um seine Herrschaft zu halten. Der Unterstützung der USA im Kampf gegen die KurdInnen nicht mehr sicher, das Gefühl, in Syrien rinne ihm der mühevoll aufgebaute Einfluss durch die Hände, und innenpolitisch mit schwindender Macht, holt er nun außenpolitisch zum Gegenschlag aus.

Der Angriff rollt

Am Morgen des 19. Januar kursierten Bilder von großen weißen Bussen im Internet, die im Süden der Türkei über die syrische Grenze fuhren. Hierbei handelte es sich nicht um eine Klassenfahrt, sondern bei näherem Betrachten überquerten dort die Klischee-Salafisten vom Dienst bzw. von der Dschabhat Fatah asch-Scham die Demarkationslinie, um gemeinsam mit dem türkischen Militär die YPG/YPJ in Afrin anzugreifen. Kurz darauf folgten die ersten Berichte über starken Beschuss der kurdischen Stellungen und die PYD verkündete, dass sie die Angriffe nicht nur in Nordsyrien zurückschlagen, sondern ihren Kampf gegen Erdogan auch in die Türkei tragen werde.

Doch der Kampf zwischen dem türkischen Militär und der PYD ist kein Kampf von gleich oder nur ähnlich starken GegnerInnen. Die Türkei, einer der wichtigsten Staaten im Bunde der NATO, füllt trotz aller Differenzen eine Schlüsselrolle für die USA zwecks Kontrolle über die Region aus. Die PYD wiederum ist eine Kraft, die zwar momentan als Teil der SDF und politisch stärkste Kraft in Nord-Syrien als Vehikel dient, um die Präsenz der USA zu begründen, stellt jedoch eine nicht-staatliche Militäreinheit dar, welche die Grenzziehung in Frage stellt.

Die Geschichte der KurdInnen ist dafür bekannt, kurzzeitig im Machtkampf für einen der Imperialismen eingespannt zu werden und davon profitieren scheinen zu können, indem ihnen Autonomierechte oder gar eigene Staaten versprochen werden. Am Ende werden sie jedoch wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Nun droht ihnen ein ähnliches Schicksal, da die USA durch eine permanente Kooperation mit der PYD die Hinwendung der Türkei Richtung Russland riskieren würden.

Mit der Zerschlagung der KurdInnen im Norden Syriens wäre einer der größten Störfaktoren bei der Neuordnung Syriens aus dem Weg geschafft. Daran hat nicht nur die Türkei, sondern auch Assad ein großes Interesse.

Welche Position müssen RevolutionärInnen in dieser Situation einnehmen?

Der Angriff auf die KurdInnen in Syrien ist ein reaktionäres, verbrecherisches Vorhaben der Türkei, das von allen imperialistischen Mächten geduldet wird. RevolutionärInnen müssen deshalb für die Niederlage der türkischen Armee und das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen im gesamten Nahen Osten eintreten.

Deshalb muss ebenfalls der sofortige Stopp sämtlicher Waffenlieferungen an die Türkei gefordert werden sowie der Abzug der deutschen Bundeswehr aus der Region. Um den berechtigten Aufstand gegen Assad und die demokratische Revolution in Syrien im Keim zu ersticken, wurden reaktionäre Kräfte wie die al-Nusra-Front (heute: Dschabhat Fatah asch-Scham) und andere Salafisten finanziert, die nun Seite an Seite mit der türkischen Armee kämpfen.

Die Grenzen zwischen der Türkei und Syrien müssen nicht für diese Kräfte, sondern für die syrischen Geflüchteten geöffnet werden – nieder mit der Grenzmauer! Der Eingriff der ImperialistInnen in Syrien transformierte den berechtigten Kampf der Opposition in einen der tödlichsten Konflikte des 21. Jahrhunderts. Kampf der türkischen Invasion! Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf! Sofortiger Abzug aller imperialistischen Kräfte!




Frauenkampf in Westkurdistan: Gegen Repression, Patriarchat und Krieg

Nina Berger, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Nach Jahren der Gleichgültigkeit oder auch der Paralyse insbesondere linker Bewegungen und Parteien gegenüber dem revolutionären Aufbruch in Syrien gibt es seit Sommer 2014 eine erstaunliche Wendung. Sie gilt der Aufmerksamkeit für den Kampf des kurdischen Volkes in Rojava, Westkurdistan.

Die internationale kurdische Gemeinschaft initiiert eine breite Solidaritätsbewegung und der Widerstand der Kämpferinnen und Kämpfer in der westkurdischen Stadt Kobanê ist auf einmal weltweit das Symbol für Selbstbestimmung und Frauenrechte. Wie kam es dazu, was wurde erreicht und welche Perspektive bietet sich? Für die Beantwortung der Fragen werden wir eine Analyse der aktuellen Situation versuchen und dazu einige Spezifika des Lebens der kurdischen Frauen in einer historischen Dimension, in Verbindung mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der dahinterstehenden Ideologie darlegen.

Errungenschaften

Fest steht, dass der Befreiungskampf in Rojava schon jetzt zu enormen Errungenschaften für die Frauen geführt hat, die im Nahen und Mittleren Osten ihresgleichen suchen: So hat die Regierung des autonomen Kantons Cizîrê am 5. November 2014 mit dem Dekret Nr. 22 die Gleichheit von Frauen und Männern in Bezug auf Löhne, die berufliche Stellung, auf Erbrecht und auch auf Zeugenaussagen vor Gericht verkündet. Das Dekret verbietet gleichfalls die Verheiratung junger Frauen ohne deren Zustimmung und die Polygamie. Dieses Dekret und die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte können dazu beitragen, die gesellschaftliche Transformation in Rojava zu festigen und auf den Mittleren Osten ausstrahlen zu lassen.

Ohne die aktive Beteiligung tausender Frauen in den Selbstverteidigungskräften, in der YPJ, ohne die Bildung von Frauenräten und die Vertretung von Frauen auf allen Ebenen der politischen Gremien und des öffentlichen Lebens wäre diese Entwicklung unmöglich.

Hergang

Inmitten des syrischen Bürgerkrieges etablierten die KurdInnen in Rojava, Westkurdistan, im Sommer 2012 von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt ihr eigenes System. Sie übernahmen die Kontrolle über die Städte und Dörfer im kurdischen Norden Syriens entlang der Grenze zu den kurdischen Gebieten der Türkei in drei voneinander abgetrennten Kantonen (Verwaltungsbezirken), nämlich Efrin, Kobanê und Cizîrê.

Der syrische Bürgerkrieg, dem bis dahin schon Hunderttausende zum Opfer gefallen waren und der in den anderen Landesteilen tobte, blieb dem kurdischen Teil Syriens bis zum Sommer 2013 weitgehend fern. Dass es eine Art Übereinkunft mit dem Assad-Regime gab, wird von kurdischer Seite aus bestritten. Die offene Unterstützung der syrischen Revolution und der gegen Assad kämpfenden Freien Syrischen Armee (FSA) unterblieb. In Rojava sollte ein so genannter „Dritter Weg“ etabliert werden. Dieser beinhaltete auch, dass sich die kurdischen Verbände der Unterstützung des Kampfes demokratischer und fortschrittlicher Kräfte gegen das Assad-Regime enthielten. Dies war nicht nur gegenüber der syrischen Revolution höchst problematisch, sondern bleibt es auch für die Zukunft Rojavas. Sobald eine reaktionäre Kraft im syrischen Bürgerkrieg die Oberhand gewinnen wird – sei es das Assad-Regime oder der Islamische Staat – wird der Sieger seine Ansprüche auf das Gebiet geltend machen, ohne dass es inner-syrische Verbündete für die kurdische Sache gibt.

Die KurdInnen bauten in Rojava ab Juli 2012 eine Selbstverwaltung auf. Sie begannen kurdisch-sprachige Schulen, in der Türkei immer noch von den türkischen Behörden mit massivem Polizeieinsatz verhindert, eine Universität, eine eigene Gerichtsbarkeit und vor allem Rätestrukturen aufzubauen, die als lokale und regionale Selbstverwaltungsorgane fungieren. Und das ist erst einmal absolut erstaunlich in Anbetracht eines kompletten Jahrhunderts der Unterdrückung und Verleugnung der kurdischen Identität durch alle Besatzungsmächte auf kurdischen Gebieten, sowohl in der Türkei, dem Iran, Irak als auch in Syrien und der Tatsache, dass dieser Landstrich von 2,5 Millionen KurdInnen, AraberInnen, TurkmenInnen, ArmenierInnen und TschetschenInnen bevölkert wird, die hier zusammen leben und nebenbei auch noch komplett unterschiedliche Glaubensrichtungen haben: Aramäer- und AssyrerInnen, ChaldäerInnen, EzidInnen und Muslime.

Die KurdInnen organisierten sich, schlossen sich in 16 kurdischen Parteien zusammen und gründeten den „Hohen Kurdischen Rat“ als Dachorganisation. Sie schafften es, 1,2 Millionen Menschen aus den umkämpften syrischen Städten wie Aleppo oder Damaskus und EzidInnen aus dem Irak, die in die sicheren kurdischen Kantone flohen, aufzunehmen und diese Flüchtlinge trotz der Embargopolitik seitens des türkischen Staates und der „Autonomen Republik Kurdistan“ (Irakisch-Kurdistan) an der Ostseite, in die Gesellschaft in Rojava auch politisch zu integrieren. Eine Leistung, die ihresgleichen sucht.

Selbstorganisation als Schlüssel

Die Frauen übernahmen dabei ähnlich den Frauen im arabischen Frühling eine Vorreiterinnenrolle der Revolution. In den kurdischen Gebieten und auch bei anderen nationalen Minderheiten wurden Räte organisiert, die jedoch nur bedingt die arabische Bevölkerung umfassten, die generell ökonomisch besser gestellt ist. Von den Kommunen als Stadtviertelräte bis hin zum Volksrat von Westkurdistan existieren diese Strukturen. Viele Berufsgruppen, Frauen- und Jugendverbände sowie ethnische und religiöse Minderheiten entsenden eigene Vertreter.

Es entstanden parallel dazu eigene Frauenräte. Die kurdischen Frauen zeigen, dass Selbstorganisierung nicht nur gegen die zunehmenden äußeren Angriffe schützt, sondern zugleich auch ein Mittel ist, sich gegen die patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft zu wehren. In ihren Versammlungen werden alle Arten von Frauenunterdrückung thematisiert und in die Gesellschaft zurückgetragen. Das Private wird politisch und der größte Teil der kurdischen Bevölkerung unterstützt dieses System.

Die politische Organisierung hatte zur Grundlage, dass die Thematik Frauenbefreiung für die politisch bewussten Frauen nie eine Angelegenheit war, die sich auf die Zeit nach der Revolution verschieben ließ. Die Frauenunterdrückung wird als Hauptwiderspruch und Haupthindernis für Demokratie in den politischen Programmen der PKK und ihrer Schwesterpartei, der PYD, verankert. Die Errungenschaften der Frauen in Rojava sind also nicht zu trennen vom politischen Kampf der kurdischen Frauen. „Die Revolution in Rojava ist zuallererst die Revolution der Frau“ steht in den programmatischen Ausführungen Öcalans.

Diese Errungenschaften sind bei allen kritischen Momenten, auf die wir später zurückkommen, schwer zu überschätzen. In einer permanenten Kriegssituation ist es für jede Partei, für jedes Volk unumgänglich, einen großen Teil der eigenen Ressourcen zur Verteidigung zu verwenden – geschätzt bis zu 70 Prozent in Rojava. Dies bedeutet aber auch, dass die reale quasi-staatliche Gewalt in den Kantonen bei den führenden politischen Kräften, v.a. der PYD und den Selbstverteidigungskräften, und eben nicht einfach bei „Räten“ und der „Basis“ liegt. Das ist ein Stück weit auch unvermeidbar. Wir stellen den Notwendigkeiten der militärischen Verteidigung Rojavas kein abstraktes „Demokratiemodell“ gegenüber. Aber es ist auch klar, dass der Programmatik der PYD/PKK als führender politischer Kraft eine zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, den Fortgang, aber auch für mögliche Grenzen der Frauenbefreiung und des Verständnisses der Revolution zukommt. Bevor wir uns damit beschäftigten, werden wir aber auch auf die Lage der Frauen, nicht nur die politischen Strukturen, sondern auch die tradierte gesellschaftliche Arbeitsteilung in Kurdistan, eingehen.

Frauenunterdrückung

Ebenso wie die Situation der Kurdinnen in den durch die Türkei kontrollierten Gebieten sind die syrischen Kurdinnen einer vielfachen Unterdrückung ausgesetzt. Umso stärker ist ihr Engagement und ihre aktive Rolle in der Organisierung der Strukturen zu bewerten. Sie kämpfen an der Front, in Kommandopositionen und nehmen an der Produktion teil. Es gibt de facto keinen Ort in Rojava, an dem keine Frauen zu sehen sind.

Frauen haben die gesellschaftlichen Aufbrüche des Mittleren Ostens von Anfang an mitgetragen. Doch während die Frauen in den übrigen Ländern nach der Machtübernahme durch radikalislamische oder reaktionäre bürgerliche Kräfte in eine noch viel prekärere Situation gerieten, konnten sich die Frauen in Rojava, abgesehen von den im Spätsommer 2014 erfolgten IS-Angriffen auf Kobanê, die den Großteil der Stadtbevölkerung zur Flucht in die Lager oder Elendsgebiete auf türkischer Seite zwangen, bisher davor schützen. Auch Frauen in Rojava, also Westkurdistan, den übrigen Siedlungsgebieten und den syrischen Städten waren bisher analog zu den Kurdinnen in der Türkei und den anderen besetzten kurdischen Siedlungsgebieten massiver Unterdrückung ausgesetzt. Diese erfolgte über den repressiven rassistischen Staat, der ihnen als KurdInnen die elementarsten Grundrechte, die eigene Muttersprache zu sprechen oder auch die Staatsbürgerschaft, verweigerte. KurdInnen waren und sind zudem gegenüber der arabischen Bevölkerung ökonomisch stark benachteiligt. Unabhängigkeitsbestrebungen wurden, nachdem sich das Assad-Regime nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem Westen zuwandte, mit aller Härte bekämpft. Dazu kommt aber auch noch die patriarchale Unterdrückung, von der sich die Kurdinnen unter den vorherrschenden Bedingungen nicht befreien konnten.

Zu den Spezifika der Situation der kurdischen Frauen gehören die noch aus vorkapitalistischen Zeiten, die in den PKK-Schriften als feudale Gesellschaften bezeichnet werden, die aber eher – wie das osmanische Reich auch –  eine Form der „asiatischen Produktionsweise“ darstellen, stammenden Familienstrukturen in einer politisch und ökonomisch unterentwickelten Region. Das Elend und die Machtlosigkeit in den kurdischen Gebieten waren der Aufrechterhaltung der vorherrschenden Strukturen enorm zuträglich. Dennoch waren und sind die Lebenssituationen der kurdischen Frauen sehr unterschiedlich und wie immer entscheidend von der Herkunft und der sozialen Schicht innerhalb der kurdischen Gesellschaften abhängig. Ob Stadt, ob Land, Kleinbäuerin oder Großgrundbesitzerin, generell die Klassenzugehörigkeit oder die Zugehörigkeit zur Gruppe der Binnenflüchtigen macht hinsichtlich der Arbeitsbelastung, der materiellen und finanziellen Bedingungen den entscheidenden Unterschied.

Zugleich sind nationale, rassistische, sexistische und politische Unterdrückung seitens der Besatzerstaaten für alle Kurdinnen ein Tatbestand. Dies verdichtet sich mit patriarchalen Verhältnissen zu einer teilweise grauenvollen Szenerie. Allgemein gilt sowohl in der kurdischen als auch in der arabischen Gesellschaft die strikte Trennung der Frauen- und Männerwelten. Dabei ist die Frau für die Haus-, Versorgungs- und Pflegearbeit zuständig, wohingegen der Mann sich um die Lohnarbeit, öffentliche Angelegenheiten und Kontakte nach außen kümmert. Dass dabei nicht von einer gerechten Trennung im Hinblick auf die Arbeitsbelastung ausgegangen werden kann, braucht nicht gesondert erläutert zu werden. Insbesondere in den landwirtschaftlichen Gebieten, in Abhängigkeit von Subsistenzwirtschaft, in Mangel und Armut haben vor allem Frauen die Hauptlasten zu tragen, sind oftmals völlig rechtlos und ohne eigene soziale Absicherung. Dabei wird überdeutlich, dass die vorherrschenden Strukturen eben nicht der körperlichen Konstitution der Frauen,  sondern ganz klar patriarchalen Mustern geschuldet sind.

Traditierte Wertvorstellung

Es hält sich hartnäckig das Muster, das Ansehen der Frau an der Anzahl ihrer Kinder festzumachen, was in Verbindung mit schlechter Gesundheitsvorsorge ein enormes Risiko birgt. Doch Frauen haben billig zu arbeiten und Kinder zu bekommen und auf jegliches Selbstbestimmungsrecht zu verzichten. Wie in allen Teilen Kurdistans und des Mittleren und Nahen Ostens werden Frauen traditionell sehr jung verheiratet, auch als Zweit- oder Drittfrau an einen viel älteren Mann. Die „Ehre“ des Mannes und der Familie manifestiert sich traditionell über die „Jungfräulichkeit und Reinheit“ der Frau. Darin drücken sich vorkapitalistische Strukturen der Frauenunterdrückung aus, worin diese nicht als freie Warenbesitzerin, sondern als Unfreie auftritt – was sich auch darin zeigt, dass sie einen Preis hat: den Brautpreis.

Mädchen wurden gehindert, die Schule zu besuchen oder einen Beruf zu erlernen; einzig die Heirat war die Perspektive. Zwangs- und arrangierte Ehen sind an der Tagesordnung, ebenso Gewalt. Und diese insbesondere in der Familie durch Väter und Männer. Die ökonomische und politische Unterdrückung der KurdInnen wurde nicht selten durch die Männer an die eigene Familie, an die Frauen und Kinder weitergegeben, statt sich gegen die Unterdrücker zur Wehr zu setzen. Die übrige Gesellschaft unterstützt in großen Teilen immer noch obendrein die Annahme, dass die Familienehre  hauptsächlich von der Kontrolle über Frau und Kinder abhinge.

Dieses Phänomen ist nicht nur in der islamischen Welt weit verbreitet, sondern hat seinen Hintergrund in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft, den Strukturen und den daraus erwachsenden Abhängigkeiten. Es auf die Religion zurückzuführen, blendet in der Regel die dahinterliegenden Faktoren aus und führt nicht selten zu antimuslimischen Ressentiments. Den Frauen einer traditionellen kurdischen Familie ist es verboten, Beziehungen mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann einzugehen. Verstößt eine Frau gegen diese Regel, verletzt sie damit die Ehre ihrer Familie und diese gilt als befleckt. Dabei hat es keinerlei Bedeutung, ob die Frau mit dem z.B. sexuellen Kontakt einverstanden ist oder ob eine Vergewaltigung erfolgte – was bekanntermaßen gerade in der Türkei nach sexueller Gewalt durch den türkischen Staat an kurdischen Frauen zu katastrophalen Situationen geführt hat, welche die kurdischen Frauen erst nach langen Kämpfen sichtbar machen und sich dagegen wehren konnten. Es kann indes immer noch dazu führen, dass männliche Familienmitglieder, um die Ehre wieder herzustellen und den eigenen sozialen Tod zu verhindern, die Frau töten, wogegen auch verschärfte Gesetze wenig ausrichten konnten.

In Anbetracht dieser Bedingungen ist es erstaunlich, dass Frauen aus diesem schweren Schatten heraustraten und den mutigen Schritt hin zur Selbstorganisation bis hin zur Etablierung von Frauenräten vollziehen konnten. In Gesellschaften, in denen der Ehrbegriff wesentlich stärker über die Existenz wegen des Rückhaltes in den traditionellen Strukturen entscheidet, kann diese Entscheidung nur aufgrund der Entwicklung einer politischen, gesellschaftlichen Kraft gesehen werden, die die Frauen als Kämpferinnen organisiert und ihr politisches Selbstbewusstsein stärkt. Die PKK und die PYD boten den Frauen nicht nur eine gegen das Patriarchat gerichtete Ideologie an, sondern auch eine Alternative zur Existenz als Unterdrückte im Haushalt.

Die Entscheidung, dass die Frauen im öffentlichen Raum agieren, setzt zumindest voraus, dass die ursprüngliche Zwangsbestimmung der Frau für Heim und Küche an irgendeinem Punkt aufgebrochen wurde. In den kurdischen Gebieten in der Türkei manifestierte sich dies in den Ergebnissen des Kampfes gegen das türkische Militär, das viele Frauen aufgrund von Verhaftung oder Tod des Ehemanns zur Alleinversorgerin machte und eine außerhäusliche Arbeit und öffentliches Leben erzwang. Ebenfalls brachte der politische Kampf in der kurdischen Befreiungsbewegung die Frage der Frauenbefreiung zentral auf die Tagesordnung.

Es ist zu folgern, dass ähnliche Bedingungen auch für die Kurdinnen in den syrischen Gebieten vorherrschen mussten. Die Unterdrückung durch das Assad-Regime hatte zwar einen anderen Hintergrund als die Angriffe der türkischen Regierung auf Nordkurdistan, dennoch fürchtete auch Assad die Unabhängigkeitsbestrebungen der KurdInnen und überzog sie mit massiver Repression. Allein die Tausende von Frauen, die sich auch aus Westkurdistan der PKK-Guerilla angeschlossen haben, zeugen von Familienstrukturen, vor denen massenhaft in die Guerilla geflüchtet wurde, aber insbesondere nach politischen Kämpfen wie dem Serhildan oder dem Südkrieg von mehr und mehr politischem Kampfeswillen der Frauen.

Ideologie

In der PKK wurde zwar von Beginn an die Frage der nationalen Befreiung mit der Frauenbefreiung verknüpft. In den ersten Jahren wurde sie jedoch wie jede andere politische oder soziale Frage vollständig dem „Hauptwiderspruch“, der Lösung der nationalen Frage, untergeordnet.

Später löste die Frauenfrage die nationale Unterdrückung als Hauptwiderspruch ab. Dafür wurde eine Ideologie entworfen und weiterentwickelt, die nicht allein aus der Feder Öcalans, sondern auch von den Guerillakommandantinnen stammt und die eine absolut frauenspezifische Legitimation in Rahmen des Befreiungskampfes des kurdischen Volkes darstellt, dessen Ziel nicht nur die Integration der Frauen in den Kampf war, sondern klar definiert, dass ohne die Frau der Kampf gar nicht möglich ist.

Dazu wurde eine die Existenz eines Matriarchats im antiken Mesopotamien, also auf kurdischem Gebiet, konstatiert (1), das durch die Herausbildung eines gesellschaftlichen Mehrproduktes und dessen privatisierter Aneignung durch die Männer, also die Entstehung des Patriarchats, entmachtet wurde. Die Versklavung der Frau und alle negativen Eigenschaften wie Egoismus, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit werden auf die Entstehung des Patriarchats zurückgeführt und sind wie auch die Entstehung von Staaten und der Charakter des Kapitalismus durchweg männlich negativ konnotiert.

Weibliche Werte?

Der Frau werden in dieser Sichtweise die klassischen weiblichen Werte attestiert und soziale Kompetenzen daraus abgeleitet. Frauen seien demzufolge aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit für konstruktive Harmonie, Frieden, Freiheit und Demokratie. Sie wären aufgrund ihrer herausragenden Rolle in der matriarchalen Vergangenheit die natürlichen Trägerinnen des „Sozialismus“. Die Machtübernahme durch das Patriarchat führte zur Unterdrückung der Frauen, ja letztlich des gesamten kurdischen Volkes.

Die vorherige Periode der Frauengesellschaft wird als das goldene Zeitalter dargestellt, das die Schlüsselrolle bei einer Wiedererweckung der kurdischen Nation spielen soll. Die „neolithische Dorfrevolution“ sei die Ursache der heutigen Sehnsucht der Menschheit nach einem natürlichen und freien Leben. Dieser Mythos, der sich organisch mit dem Wesen der Frauen verbinde, die aufgrund ihrer Gebärfähigkeit und der damit einhergehenden Verbundenheit mit der Natur über die Geheimnisse des Lebens verfügen, wird zur zentralen Figur in zahlreichen Texten Öcalans und der kurdischen Frauenbewegung.

Die Diskussionüber Matriarchat und Frauen wird stark biologisiert geführt. Quasi naturgegebene Eigenschaften werden sowohl Männern als auch Frauen attestiert. Darin liegt auch die besondere Verantwortung der Frauen für die Kinder, die die Männer erst noch erlernen müssen. Frauen wird Pazifismus unterstellt, während der Mann als kriegerisch kategorisiert wird. Ebenso verfügen Frauen über bessere Konfliktlösungsstrategien und das nicht, weil sie diese gegebenenfalls unter Druck der vorherrschenden Verhältnisse besser trainiert haben, sondern via biologischer Eigenschaft.

Da die kurdische Gesellschaft, so Öcalan, insgesamt zu den Wurzeln des alten Mesopotamien, also zum Matriarchat zurückkehren möchte, ist die Rolle der Frauen im Kampf auch so zentral. Die Unterdrückung des kurdischen Volkes und der kurdischen Frau kann also nur durch eine Befreiungsperspektive überwunden werden, in der beide Faktoren gegenseitig voneinander abhängig sind. Ohne das Erwachen der Frau keine Befreiung Kurdistans. Damit wird die bisher völlig erniedrigte Rolle der kurdischen Frau über alle Maßen erhöht und ihre Vorreiterinnenrolle maßgeblich begründet.

Der radikale Bruch mit dem bisher rassistisch, durch die Besatzungsstaaten in Verbindung mit Clanstrukturen und einer die Unterdrückungsverhältnisse rechtfertigenden und stabilisierenden Religion konstruierten Bild der kurdischen Frau und ihre nun erfolgte extreme Erhöhung führt aber zu einem tief sitzenden inneren Widerspruch, der weitreichende Folgen für die Frauenbewegung hat. Einerseits ist er eng mit einer enormen Bereitschaft zur Organisierung verbunden – andererseits bindet er die Frauen ungewollt an ihre traditionelle Rolle.

Aus kritischer Perspektive ist der mythische Bezug natürlich nicht zu teilen. Weiter ist herauszustellen, dass, so wichtig die maßgebliche Rolle der Frauen für den Kampf um die Befreiung ist, diese Zuschreibungen ihnen enorme Lasten aufbürden. Nicht nur eine weitere Fixierung und Festlegung auf ein Frauenbild ist kritikwürdig. Z.B. könnte ein etwaiges Versagen im Befreiungskampf bzw. die Zuspitzung äußerer Faktoren durch übermächtige Gegner einer mangelnden patriotischen Bereitschaft der Frauen zugeschrieben werden. Andere objektive Faktoren, die bei der Demokratisierung der Gesellschaft – von Sozialismus ist im Frauenbefreiungskampf der PKK/PYD keine Rede mehr – eine Rolle spielen könnten, werden nicht erwähnt.

Fehlende Klassenanalyse

Es findet sich weder eine Analyse der kurdischen Gesellschaften noch die Einordnung ihres Kampfes in den bestehenden Staaten in die weltpolitische Lage. Gerade aber die syrische Revolution war die Wegbereiterin und Katalysatorin für das Projekt Rojava. Und jede Veränderung in der politischen Gemengelage wird sich auf die Situation Rojavas auswirken. Und es fragt sich obendrein, warum der Sozialismus, wenn er schon der Frau innewohnend konstatiert wird (2), nicht auf der politischen Agenda im Sinne der Frauenbefreiung ganz oben steht. Hier zeigt sich eine enorme und, falls sie nicht überwunden wird, fatale Schwäche des Programm der PKK/PYD. Ihr Verständnis von Sozialismus ist letztlich der „Vision“ eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus entnommen, wobei im „Sozialismus“ der PKK die Genossenschaften und nicht wie im traditionellen sozialdemokratischen Reformismus die Staatsintervention und Verstaatlichung die Schlüsselrolle spielen. Eine Gesellschaft jenseits der Marktwirtschaft oder gar eine demokratische Planwirtschaft taucht in der Programmatik nicht auf, ja, wird oberflächlich mit der Kritik am Stalinismus (Staatssozialismus) gleich mit entsorgt.

Die Zuschreibung sozialer Eigenschaften legt Frauen weiterhin auf ihre Rolle als Mutter fest. Sie ist die Erzieherin und Persönlichkeitsbildnerin der Kinder, die Übermittlerin von Kultur durch die Weitergabe von Sprache, Musik, Essgewohnheiten, von Moral und Werten. Trotz der Unterdrückung des kurdischen Lebens ist die zugeschriebene Bindung der Frau an die Tradition zweischneidig. Wenn die Weitergabe der Kultur gefordert wird, ist es aktuell die patriarchale Kultur, in der die Frau die Sklavinnenrolle und die damit verbundene Mentalität weitergibt. Kann sie sich dieser einzig durch die Übernahme einer neuen Ideologie entledigen?

Kultur und Nation

Neben der wissenschaftlich nicht begründeten Zuschreibung von biologischen Charaktereigenschaften ist die Aufgabenzuteilung an die Frauen eine weitere Festlegung, die zwar ihre Begründung in dem Erhalt der kurdischen Kultur gegenüber den Unterdrückerstaaten hat, doch gerade die Zuweisung der Verantwortung an die Frauen, die zuerst die Unterordnung unter den Mann abtrainieren müssen, ohne bisher dafür vielfach eine ausreichende ökonomische Grundlage zu besitzen, ist das eine Festlegung auf tradierte Rollen. Eine ausschließlich ideologische Transformation wird nicht stattfinden bzw. wird, wenn sie nicht ökonomisch auf der Unabhängigkeit der Frauen fußt, von jeder Reaktion wieder einkassiert. Aber die Ideologie der PKK/PYD hat sich neben dem Stalinismus auch vielfach der marxistischen Analyse entledigt und erscheint bei unserer bisherigen Untersuchung als ein über weite Strecken doch recht idealistisches Konstrukt mit Versatzstücken unterschiedlicher Weltanschauungen plus einer gehörigen Portion Mystizismus, das Stringenz oftmals vermissen lässt.

Ähnliches Verständnis gilt für die Familie, die sowohl als „hauptsächliche und standhafteste Festung des Mannes“ (3), als „kleinste Zelle in der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur“ und als das „Grab der Frau“, „Schacht ohne Boden“ (4) erfrischend scharf kritisiert, aber eben gleichermaßen auch als Hort kurdischer, bewahrenswerter Kultur definiert wird. Die Rolle der heutigen Familienstrukturen wird nicht grundlegend in ihrer Funktion zur Aufrechterhaltung patriarchaler und kapitalistischer Verhältnisse und als Ort der privaten, unentgeltlichen, meist weiblichen Hausarbeit analysiert. Die Rolle der Familie für ein neues Kurdistan wird vielmehr neu interpretiert und soll Reformen erfahren, wird im Kern aber nicht infrage gestellt, geschweige denn eine darüber hinausweisende Perspektive entwickelt.

Familie und Lohnarbeit

Also keine Fragestellung danach, was Frauen und auch Männer real benötigen, um die verkrusteten unterdrückenden Familienstrukturen hinter sich lassen zu können. Auch nicht danach, welche ökonomischen Grundlagen und welche Übernahmen „hausfraulicher“ Tätigkeiten gesellschaftlich neu organisiert werden müssen. Es finden sich weder konkrete Vorstellungen von neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens noch ein Hinweis auf die ökonomische Basis, die das freie Zusammenleben aller mit allen ermöglicht. Die Befreiung und Überwindung der bisherigen Geschlechterrollen kann nicht diktatorisch erfolgen, wenn dies nicht mit Perspektiven, Forderungen und Übergangsszenarien verbunden wird. Bleibt man bei den mit dem Kapitalismus verbundenen Lebensverhältnissen stehen, zieht auf jeden Fall bekanntermaßen die Frau wieder den Kürzeren. Frauenunterdrückung würde nicht aufgehoben, sondern den Erfordernissen angepasst.

Öcalan, die PKK und die PYD haben offensichtlich auch kein Konzept für die Befreiung der Lohnarbeiterinnen, dem Herzstück der marxistischen Theorie der Befreiung der Frau. Obwohl die „Hausfrauisierung“ durch den Kapitalismus als die brutalste Methode des Ausschlusses der Frauen aus der Wirtschaft angeprangert wird, fehlt ein Szenario, ein Programm oder auch nur Forderungen, wie sich die kurdische Arbeiterin aus ihrem Dilemma befreien kann. Denn Beteiligung am öffentlichen Leben, allen voran die Teilnahme am Produktionsprozess ist neben der Aufhebung der Familie die „zweite Säule“ weiblichen selbstbestimmten Lebens.

Trotz der fehlenden Analyse und Programmatik entwickeln sich in Rojava viele Frauenkooperativen, die sich das Ziel, die Frauen effektiv in die Wirtschaft einzubinden, so dass sie sich auch finanziell emanzipieren können, gesteckt haben. Kooperativen in Wirtschaftsbereichen wie Mehl-, Milch-, Käse- oder Textilproduktion und landwirtschaftlichen Erzeugnissen vergrößern sich. Private Großbetriebe gibt es fast keine, private Unternehmen haben nicht mehr als 15 – 20 Lohnabhängige. Die wenigen Großunternehmen wanderten ab oder sind mit dem syrischen Bürgerkrieg geflohen. Dazu ist zu erwähnen, dass die Großgrundbesitzer in Rojava ca. 20 % des Landes kontrollieren, es viele Kleinbauern und Dörfer gibt und die kurdische Oligarchie kein ausschlaggebender Faktor in der politischen Landschaft zu sein scheint. Mehrere tausende Hektar zuvor staatlichen Landes wurden an Besitzlose kostenlos vergeben. Die notwendigen Geräte und Maschinen wurden gratis bereit gestellt. Viele dieser neuen LandbesitzerInnen bearbeiten ihr Land als Kooperativen.

Die Tatsache, dass die Entwicklung in Rojava nur im Rahmen der syrischen Revolution und in den anderen, angrenzenden Ländern eine Perspektive hat, verdeutlicht aber auch, dass die relative Schwäche von Großgrundbesitzern und Kapitalisten nur eine Momentaufnahme ist, die sich bei einem Fortschreiten der Konterrevolution oder einer „demokratischen“ Befriedung von oben rasch ändern kann.

Strategische Ausrichtung

Grundsätzlich kann die Kooperative oder GenossInnenschaft zwar ein Mittel sein, Frauen stärker und dauerhaft in die Produktion zu integrieren wie auch die Bevölkerung im Land für eine sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft zu gewinnen. Aber das ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die Kooperative, der selbstverwaltete Betrieb ist noch immer eine Form des Privateigentum an Produktionsmitteln, die für einen Markt produziert. Zu einer Form des Übergangs zu einer anderen Gesellschaft kann sie nur werden, wenn sie in eine Strategie der Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung eingebettet ist, wenn die demokratische Revolution, als die die arabische Revolution wie die Entwicklung in Rojava begonnen hat, permanent gemacht, konsequent durchgeführt und mit den Aufgaben einer sozialistischen Umwälzung verbunden wird. Nur im Rahmen einer solchen Strategie und Programmatik ist letztlich auch die Befreiung der Frauen möglich.

Insgesamt haben das Projekt Rojava und vor allem die Verbesserungen für die Frauen einen revolutionären, vorbildlichen Charakter, auch wenn sie bisher zuerst auf die Ebene demokratischer Reformen und Institutionen bezogen sind, die ökonomische Emanzipation hinterherzieht und die Eigentumsfrage womöglich auch aufgrund der Embargo- und Kriegslage hintenan gestellt wird. Die ideologischen Begründungen, die hinter dem Projekt Rojava und damit der Frauenfrage stehen, sind aber trotzdem für uns sehr  widersprüchlich und müssen auch einer marxistischen Kritik unterzogen werden. Das trifft nicht nur auf die Herleitung der Frauenunterdrückung zu, sondern auch auf die widersprüchliche Kritik der Familie. Vor allem betrifft es, dass jedes Programm einer sozialen Befreiung der Arbeiterin, jedes Programm einer Vergesellschaftung der Hausarbeit und damit einer wirklichen Unterminierung der Familie als „Grab der Frau“ fehlt.

Trotzdem hat die Entwicklung in Rojava eine enorme Stärkung der Frau gebracht. Die Geschlechterfrage ist aufgrund der sehr guten Organisationsstrukturen der Frauen allgegenwärtig, was sich auch in den Selbstverteidigungsorganisationen und Frauenkooperativen ausdrückt. Damit ist eine Grundlage geschaffen, die patriarchalen Strukturen kompromisslos zu bekämpfen.

Das weitere Schicksal der Frauenbefreiung in Rojava wird insbesondere davon abhängen, ob die errungene Selbstverwaltung gegen den Islamischen Staat und das Assad-Regime behauptet werden kann, also letztlich vom Schicksal der syrischen Revolution. Sie wird zweitens davon abhängen, ob die demokratischen Fortschritte mit einer grundlegenden sozialen Umwälzung in Rojava, in den anderen kurdischen Gebieten und im ganzen Nahen Osten verbunden werden, um so auch die gesellschaftlichen Wurzeln der Frauenunterdrückung zu beseitigen. Dafür braucht es die weitere unbedingte solidarische Unterstützung des Frauenkampfes, des Projektes Rojava und der syrischen Revolution.

Endnoten

(1) Vgl. PJA (Partiya Jina Azad), Partei der Freien Frau, Programm, S. 66 f.

(2) Ebd., S. 14

(3) Ebd., S. 30

(4) Ebd., S. 71