Klimakatastrophenbewältigung auf kapitalistisch: ein Jahr nach der Flut im Ahrtal

Joshua Kornblum, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Etwa ein Jahr ist es nun her, dass sich die Flut in der Region um Ahrweiler ereignet hat. Eine Katastrophe, die 134 Menschen das Leben gekostet hat – Menschenleben, die umsonst verlorengegangen sind. Denn die Katastrophe war, auch laut Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags, vorhersehbar und hätte verhindert werden können. Entgegen allen vorhandenen Informationen des DWD (Deutscher Wetterdienst) oder des EFAS (Europäisches Hochwasserwarnsystem) wurde erst gar nicht und dann viel zu spät gehandelt. Um die Ignoranz auf die Spitze zu treiben, sprach noch am selben Nachmittag das Landesumweltministerium eine Entwarnung aus: Es gebe „kein Extremhochwasser“. Versagt haben ebenfalls diverse Warninstrumente, welche unzureichend oder gar nicht genutzt worden sind, auch wegen fehlender Instandhaltung.

Schuld daran will keine:r sein. Es handle sich um „eine Verkettung mehrerer vor allem lokaler und regionaler Besonderheiten“ oder die Katastrophe sei schlicht „nicht vorstellbar“ gewesen, sagt die Politik. Es wird auf bürokratische Vorgänge verwiesen. Man habe mit den vorhandenen Informationen eben nichts anfangen können oder man dachte, dass die erforderlichen Maßnahmen schon von anderer Ebene eingeleitet worden seien. Der Untersuchungsausschuss vermutet, dass sich die verantwortlichen Zeug:innen zwecks unwahrheitsgemäßer Aussagen absprechen.

Umgang mit den Folgen

Im August letzten Jahres, fast einen Monat nach der Katastrophe, beschloss die Bundesregierung einige Maßnahmen mit dem Ziel, die entstandenen Schäden und Kosten zu erstatten sowie ein besseres Warnsystem zu etablieren. Versprochen wurden außerdem ausreichend finanzielle Soforthilfen für die betroffenen Einwohner:innen.

Was ist daraus nun geworden? Der Katastrophen- und Alarmplan? Fehlt, „steht noch am Anfang“, „kein Fertigstellungsdatum“. Ein gewünschter Hochwasserschutzplan für die gesamte Länge der Ahr wird nicht einmal angegangen. Die elektronischen Warnsirenen seien zwar zum Großteil schon aufgebaut, ein Datum zur Inbetriebnahme gibt es aber auch nicht. Es herrscht berechtigterweise weiterhin Angst vor einem ähnlichen Ereignis in der Zukunft – vor allem, wenn man einbezieht, dass Hausbesitzer:innen kaum Unterstützung bekommen, sollten sie ihr Heim an einer sichereren Lage wiederaufbauen wollen.

Der betreffende, standortgebundene Wiederaufbau geht schleppend und umständlich voran. Jetzt, wo das Thema keine bundesweite Präsenz mehr besitzt, zeigt sich der Charakter der kostenscheuenden deutschen Bürokratie. Wenn man sich heute ins Ahrtal wagt, bekommt man den Eindruck, die Flut sei keine zwei Monate her.

Das, obwohl zum Wiederaufbau eine Unterstützung von 30 Milliarden Euro angekündigt worden ist. Bei flüchtiger Beurteilung könnte man also meinen, dass die Problematik nicht finanzieller Natur ist. Jedoch wurde von den versprochenen 30 Milliarden bisher nur ein Bruchteil ausgezahlt. So erhalten Hausbesitzer:innen nur 20 Prozent der – wohlgemerkt selbst vorgenommenen – Kostenschätzung zur Wiedergutmachung der Gebäudeschäden. Bei den damaligen unmittelbaren Soforthilfen wurde nur die Deckung der unmittelbaren Grundbedürfnisse berücksichtigt, in Höhe von läppischen 3.500 Euro pro Haushalt. Vielen fehlen also die Mittel, um überhaupt mit dem Wiederaufbau beginnen zu können. Anträge zur Geldbewilligung sind überaus kompliziert, werden bei minimalen Formfehlern abgelehnt, und für die Antragsverfahren dringend nötige Gutachter:innen sind völlig überlastet. Anschließend gebrauchte Handwerker:innen sowie Material fehlen ebenfalls. Über ein halbes Jahr nach der Flut wurden nur 700 Anträge bewilligt und davon lediglich 5 Antragssteller:innen voll ausgezahlt. In Folge geben viele Einwohner:innen ihren Anspruch auf finanzielle Unterstützung oder gar ihren Heimatort auf und ziehen fort. Diejenigen, die bleiben, müssen zum Teil noch immer bei Freunden oder Verwandten unterkommen.

Zu Glück beginnt sich auch Widerstand zu formieren. Am 2. Juli demonstrierten rund 350 Betroffene der Flutkatastrophe in Mainz, um endlich Gelder aus dem Wiederaufbaufonds zu erhalten, die sie bis heute aufgrund der komplizierten Verfahren nicht bewilligt gekriegt haben.

Wer hilft wirklich?

Der bürgerliche Staat zieht sich in Fällen verheerender Katastrophen stark aus der Verantwortung. Gesundheit oder Klimaschutz sind dem Kapitalismus lästige Kostenfaktoren, und in außerordentlichem Maß betrifft das auch den Katastrophenschutz.

Hier wird fast vollkommen auf die gegenseitige (und unvergütete) Solidarität der Menschen selbst gesetzt. Offiziell heißt es zwar, Katastrophenschutz sei Ländersache. Gemeint ist damit aber nicht ein von der Landesregierung unterhaltener öffentlicher Dienst, sondern sind die in dem jeweiligen Bundesland ansässigen freiwillige Hilfskräfte. So kommen in erster Linie Organisationen wie das DRK (Deutsches Rotes Kreuz), die AWO (Arbeiterwohlfahrt), kirchlich begründete (und finanzierte) Organisationen wie die Malteser oder die Johanniter neben vielen anderen Freiwilligen zum Einsatz. Die Feuerwehr stellt in Deutschland mit einer Freiwilligenquote von 93,5 Prozent keine Ausnahme dar.

In Extremfällen bietet „der Bund“ auch Unterstützung, sprich in Form des THW (Technisches Hilfswerk), mit einer Freiwilligenquote von ganzen 98 Prozent, neben größtenteils ungeeigneten Kräften wie der Bundespolizei oder Bundeswehr, deren Einsatz eher an Imagepflege erinnert.

Fazit: Es war und ist vor allem die überwältigende Solidarität der einfachen Bevölkerung untereinander, die Hilfskonvois organisierte, wochenlang beim Aufräumen half und riesige Geldsummen spendete – lange bevor sich die Regierung dazu durchringen konnte –, die die Katastrophe zu bewältigen versucht.

Was erwartet uns?

Angesichts der für Arbeiter:innen sich stets verschlechternden Lebensverhältnisse und der immer größeren Gefahr klimatisch bedingter Desaster muss die Frage gestellt werden, ob wir uns auf den Schutz des Staates verlassen können oder unser Leben auch hier den Profitinteressen des Kapitals ausgeliefert ist. Schauen wir uns dazu die Funktion und die dahinterstehenden Interessen des heutigen Systems des Katastrophenschutzes an:

Dysfunktionale Struktur, bedürftige Kommunikation sowie ein insgesamt fehlender politischer Wille bilden den Hintergrund, vor dem sich das Unglück in Ahrweiler abspielte. Laut Katastrophenforscher:innen ist dieser Zustand auch auf den Rest Deutschlands übertragbar. Formale Vereinbarungen existieren zwar für den schlimmsten Fall, nötige Übungen in Zusammenarbeit und transparente Katastrophenschutzpläne vermisse man jedoch. Meist haben die Verantwortlichen andere Aufgaben, die priorisiert werden. Und es besteht keine Tendenz, dies zu ändern. „Ohne Hochwasser keine Deiche“, bisher beschlossene Maßnahmen seien „nur kosmetische Verbesserungen“ und der Film „Don’t look up“ sei „gar nicht so originell“, so die Einschätzung der Katastrophenforscher Martin Voss und Christian Kuhlicke in der taz, April 2022.

Einen weiteren wichtigen Aspekt finden wir bei wiederholter Betrachtung der Freiwilligenorganisationen, ohne die es praktisch gar keinen funktionierenden Katastrophenschutz gäbe. Diese werden zu großen Teilen von Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanziert. Weiter sinkende Reallöhne und andere Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse haben einschneidende Folgen: Erstens sinkt die Anzahl spendenwilliger Privatpersonen, die ohnehin schon von 34,6 Millionen (2005) auf 20 Millionen (2021) gesunken ist. Zweitens lässt auch die Bereitschaft zum Engagement als freiwillige Hilfskraft nach. Denn Einkommen und Arbeitsbedingungen beeinflussen die Zeit, die für gesellschaftliches Engagement zur Verfügung steht. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Unternehmen schon heute für einen Großteil der Spenden aufkommen. Die Folge ist eine immer größere Einflussnahme durch das Kapital, sodass zwangsläufig der Schutz von Menschenleben immer deutlicher dem Profitzwang untergeordnet oder reale Hilfe durch Imagewerbung ersetzt wird.

Aus all dem können wir schließen, dass wirksamer Katastrophenschutz wie jede Form von Vorsorge selbst eine Frage des Klassenkampfes ist. Wollen wir unsere Lebensgrundlagen erhalten und Katastrophen wie im Ahrtal in Zukunft verhindern, müssen wir als Arbeiter:innenklasse ein eigenes Programm durchsetzen.

Das inkludiert natürlich die Bereitstellung und Freigabe von Hilfsgeldern. Wie ein Jahr bitterer Erfahrung zeigt, kann diese Aufgabe nicht einfach Staatsbeamt:innen sowie Banken und Versicherungen überlassen werden. Vielmehr müssen Vertreter:innen der Gewerkschaften, der Hilfsorganisationen und der Bevölkerung die unbürokratische Auszahlung und Bereitstellung kontrollieren und durchsetzen.

Dasselbe betrifft aber auch Schutzpläne gegen Katastrophen und Aufwand zu deren zukünftiger Verhinderung. Damit diese angesichts des Klimawandels rasch umgesetzt werden, braucht es massive Investitionen, die durch die Besteuerung von Großvermögen und Unternehmensgewinnen finanziert werden. Alle jene, die aus Sicherheitsgründen ihr bisheriges Haus oder ihre Wohnung verlassen müssen, müssen dafür voll entschädigt werden.

Dies sind nur einige, aber wichtige Elemente eines ausgebauten Katastrophenschutzes unter Arbeiter:innenkontrolle, welcher Leben schützt, nicht Profite!




Die Landtagswahlen und der Absturz der CDU

Robert Teller, Neue Internationale 254, April 2021

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg galten im Vorfeld der bürgerlichen Öffentlichkeit als Indikatoren für die kommende Bundestagswahl. Noch vor wenigen Wochen schien es sicher, dass CDU/CSU den nächsten Kanzler stellen würden. Offen schien nur die Frage nach dem Spitzenkandidaten und der Koalition, auf die er sich stützen würde.

Das Ergebnis zeigt in beiden Ländern eine schwere Niederlage für die CDU, eine Kräfteverschiebung im bürgerlichen Lager, die reale Möglichkeit eine Ampel-Koalition und trotz des SPD-Wahlsiegs in Rheinland-Pfalz schlechte Aussichten für diese.

Wahlergebnisse in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg sind die Grünen (wie bereits 2016) stärkste Kraft geworden, haben ihren Vorsprung vor der CDU aber auf 8,5 % ausbauen können. Vor allem Stimmen von CDU und SPD sind zu den Grünen gewandert.

Die CDU steht nicht nur im Vergleich zu den Grünen schlechter da. In absoluten Zahlen hat sie gegenüber 2016 knapp 20 % verloren, allerdings bei einer (um 6,6 %) ebenfalls gefallenen Wahlbeteiligung, sodass ihr Stimmenanteil von 27,0 % auf 24,1 % fällt. Vor einigen Monaten war nach den Umfragen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen möglich. Das Wahlergebnis stellt eine schwere Niederlage für die CDU dar, die im Bundesland vor 2011 nie unter 35 % lag und sich lange Zeit gar am Erreichen absoluter Mehrheiten messen ließ. Die CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann konnte sich im Wahlkampf nicht gegenüber Kretschmann durchsetzen. Als Kultusministerin hat sie sich gegen Fernunterricht gestemmt und die erneute Schulöffnung bereits im Februar durchgesetzt, wofür sie viel Kritik einstecken musste. Die Grünen gewannen nicht nur in Eisenmanns Wahlkreis haushoch, sondern die CDU-Spitzenkandidatin verfehlte auch ein Zweitstimmenmandat und gehört dem Landtag nicht mehr an.

Die SPD, die bis 2011 stabil auf dem zweiten Platz nach der CDU gelegen hatte, hat ihren Negativrekord von 2016 (12,7 %) nun nochmals unterboten und liegt bei 11 % (gefolgt von FDP mit 10,5 % und AfD mit 9,7 %). SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch sieht aber selbst bei diesem katastrophalen Ergebnis noch Luft nach unten und freut sich: das Ergebnis sei „immerhin deutlich besser, als man es uns prophezeit hatte“. Olaf Scholz verkündet, dass eine Regierung ohne CDU in Deutschland wieder möglich geworden ist – nur, ein Verdienst der SPD ist das nicht!

Die FDP ist bei einem für sie guten Ergebnis gelandet (+2,2 % gegenüber 2016) und sieht sich deutlich gestärkt. Gewonnen hat sie Stimmen v. a. von früheren CDU- und AfD-WählerInnen. Sie hat einerseits mit „vernünftigen“ (d. h. nicht offen wissenschaftsleugnenden) lockdown-kritischen Positionen KleinbürgerInnen eingefangen, die sich von der Krise bedroht fühlen, was der AfD nicht gelungen ist. Andererseits liegt ihre Bedeutungszunahme nicht nur in ihrem Stimmenzuwachs begründet, sondern mehr noch in der Schwäche der CDU. Nach der Bundestagswahl bräuchten Grüne und SPD die Liberalen zur Bildung einer Ampelkoalition. Ihr Spitzenkandidat bringt sich daher schon in Stellung für Koalitionsverhandlungen – und treibt den Preis für eine liberale Regierungsbeteiligung nach oben.

Die AfD verliert 5,4 %, außerdem die beiden Direktmandate, die sie 2016 in Pforzheim und Mannheim geholt hatte. In diesem Ergebnis drückt sich ihre innere Zerrissenheit aus, einerseits die neue „CDU der 1950er Jahre“ zu sein und gleichzeitig rechtspopulistische „Bewegungspartei“ mit faschistischer Flanke. Die Flügel in der AfD haben sich im vergangenen Jahr verfestigt, ohne dass eine Lösung absehbar ist. In der Lockdown-Politik hat sie eine Position eingenommen, dass sie in der ersten Phase die Regierungslinie, natürlich mit dem üblichen extrem rassistischen Genörgel, vertreten hat, dann, als die QuerdenkerInnen in Erscheinung traten, schwenkte sie fix um und leugnet nun die Gefahr der Pandemie weitgehend, was von breiten klassisch bürgerlichen WählerInnenschichten abgelehnt wird. In den Querdenken-Protesten hat die AfD aber trotz ihrer inhaltlichen Bezugnahme keine tonangebende Rolle erobern können. Ein Teil ihrer Verluste mag zu den rechtspopulistischen Neugründungen „Die Basis“ und „W2020“ abgewandert sein, die beide auf die „Querdenken“-Bewegung zurückgehen und bei ihren jeweiligen AnhängerInnen nun als die „echte“ Alternative gelten, wohingegen die AfD in deren Augen bei den „Systemparteien“ angekommen ist. Es muss aber festgehalten werden, dass die AfD trotz ihrer Verluste über eine verlässliche WählerInnenbasis im rechten Spektrum neben CDU und FDP verfügt und bis zu den Bundestagswahlen eine größere Sogwirkung als rassistische, rechte Massenpartei entfalten kann.

Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz

Die Ergebnisse in Rheinland Pfalz weisen in dieselbe Richtung wie in Baden-Württemberg, wenn auch mit länderspezifischen Unterschieden. In diesem Bundesland konnte die SPD mit 35,7 % ihr letztes Ergebnis mit geringen Verlusten halten. Die CDU verliert ähnlich wie in BW und kommt auf 27,7 % (-4,1 %), wovon die Grünen profitieren, die auf 9,3 % (+4,0 %) kommen. Die AfD verliert in ähnlicher Größenordnung wie in Baden-Württemberg und erreicht 8,3 % (-4,3 %). Die FDP verliert leicht, dafür gewinnen die „Freien Wähler“ und ziehen in den Landtag ein.

Im Wesentlichen findet also auch in Rheinland-Pfalz eine Verschiebung innerhalb des offen bürgerlichen Lagers statt. SPD und Linkspartei verzeichnen zwar Wählerwanderungen, ihr Ergebnis verändert sich aber wenig. Von der Krise der CDU profitieren in beiden Ländern vor allem die Grünen. Das Gewicht der FDP erhöht sich, obwohl sie in Rheinland-Pfalz eigentlich zu den Verliererinnen der Wahl gehört. Für die AfD gilt im Grunde dasselbe wie in Baden-Württemberg.

Linkspartei

DIE LINKE hat in beiden Bundesländern ein gegenüber 2016 fast unverändertes Ergebnis erreicht: In Baden-Württemberg steigt sie von 2,9 % auf 3,6 %, in Rheinland-Pfalz verlor sie gar 0,3 % und liegt nun bei 2,5 %. In beiden Bundesländern scheitert sie an der 5 %-Hürde, die zweifellos ein großes Hindernis für den Wahlkampf kleinerer Parteien darstellt. Zum anderen zeigt dies für beide Länder, dass die Linkspartei trotz der katastrophalen Regierungspolitik, trotz der kapitalistischen Krise und trotz der Erosion der Sozialdemokratie keine bedeutende Anziehungskraft auf die ArbeiterInnenklasse ausübt. Sicherlich hatte die Linkspartei in beiden Bundesländern ähnlich wie in Bayern immer schon schwierigere Ausgangsbedingungen. Das erklärt aber nicht die Stagnation über Jahre.

Diese liegt vielmehr darin begründet, dass sie sich in keiner Phase der Krise und der Pandemie als glaubwürdige und radikale Alternative zur Regierung und als Opposition zum Kapital präsentieren konnte.

Bis zum Herbst 2020 wurde der Kurs der Regierung Merkel im Wesentlichen mitgetragen. Dann wurden zwar Forderungen nach Besteuerung der Reichen erhoben, aber das blieb ein v. a. parlamentarischer Vorschlag der Partei.

Hinzu kommt, dass sich ihre Politik in den Landesregierungen (Berlin, Thüringen, Bremen) faktisch nicht von anderen unterschied. Auch sie ordneten den Gesundheitsschutz den Kapitalinteressen v. a. im industriellen und Finanzsektor unter. Ein Teil der Partei sympathisiert zwar mit #ZeroCovid und einer entschiedenen Bekämpfung der Pandemie im Interesse der ArbeiterInnenklasse. Ein dritter Teil wiederum hält eine linke, entschlossene Bekämpfung der Pandemie für unmöglich und hofft, dass wir uns nach überstandener Gesundheitsgefahr wieder den „eigentlichen“ sozialen Fragen widmen könnten.

Um die Einheit der Partei zu wahren, werden einerseits Formelkompromisse in die Welt gesetzt, andererseits machen die RegierungssozialistInnen in den Kabinetten weiter wie bisher. Dass die Linkspartei mit einer solchen Konzeption keine Zugkraft entwickelt, sollte niemanden wundern.

Reaktionen und Bedeutung bundesweit

Der Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg mit 8,5 % Vorsprung vor der CDU ist für letztere eine Demütigung. Dabei ist es einerlei, ob Kretschmann nun die grün-schwarze Koalition mit einer eindeutig klaren Führungsrolle fortsetzen oder gar eine Ampelkoalition ohne CDU bilden wird. In beiden Fällen wird die Erkenntnis der Wahl sein, dass auf Bundesebene für die CDU an den Grünen kaum ein Weg vorbeiführt – und das auch in dem Sinne, dass sich Kretschmanns Grüne gewissermaßen als die bessere CDU von heute zu präsentieren vermögen: eine „wirtschaftsfreundliche“ Staatspartei für das Kapital, aber ohne unproduktive, schädliche Debattenschauplätze wie auf dem rechten Flügel der CDU. Für die Grünen stellt sich nun die Frage, ob sie durch Fortsetzung von Grün-Schwarz auch den Weg für Schwarz-Grün auf Bundesebene freimachen oder mit der Ampelkoalition die FDP aufwerten wollen.

Die Wahlergebnisse mögen auch mit der Popularität von Kretschmann und Dreyer erklärt werden bzw. mit der Schwäche ihrer HerausforderInnen. Das mag die Niederlage für die CDU etwas relativieren, nicht aber deren Bedeutung für die Bundestagswahl, wo der CDU/CSU noch ein Flügelkampf um die Kanzlerkandidatur bevorsteht. Der „Amtsbonus“ mag vor allem Kretschmann zugutekommen, der nicht nur an die CDU-Tradition eines von politischen Sprüchen befreiten Personenwahlkampfs anknüpft, sondern sich auch quasi als Merkels verlässlichster Verbündeter beim Krisenmanagement erwiesen hat.

Der CDU hingegen hat bei beiden Wahlen nicht geholfen, dass sie auf Bundesebene an den Schalthebeln sitzt, und auch die bundesweiten Umfrageergebnisse zeigen für sie einen steten Abwärtstrend. Merkel scheint mit ihrem Abtritt ein Machtvakuum zu hinterlassen, das kein bekannter Bewerber um die Nachfolge füllen kann. Die Annahme fetter „Provisionen“ durch CDU-Abgeordnete für die Vermittlung von Masken wurde bereits vor der Wahl bekannt, aber in ihrem aktuellen Ergebnis ist die Maskenaffäre noch nicht einmal vollständig eingepreist, da mehr als zwei Drittel der WählerInnen in Baden-Württemberg und auch ein großer Teil in Rheinland-Pfalz ihre Stimme bereits vorab per Briefwahl abgegeben hatten.

Die Landtagswahlen sollten für die CDU der Meilenstein vor den Bundestagswahlen sein, nach dem über die Kanzlerkandidatur entschieden wird. Die wesentliche Erkenntnis der Landtagswahlen ist nun, dass ein CDU-Kanzler nicht gesichert und eine Ampelkoalition als Möglichkeit auf Bundesebene eine reale Option geworden ist. Dies könnte den Grünen weiterhin Auftrieb verleihen. Zugleich könnte die Wahlniederlage der CDU in der Diskussion über die Kanzlerkandidatur Söder ermutigen, sich stärker gegen Laschet in Stellung zu bringen.

Obwohl die FDP gestärkt ist, reagiert sie auf Bundesebene zurückhaltend zur Frage der Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg. Aber wenn Lindner nicht über Ampeln, sondern über Inhalte sprechen will, ist das alles andere als ein Dementi. Die FDP wird sich im Zweifelsfall einer Ampelkoalition kaum verweigern können, nachdem ihr Platzenlassen der Jamaika-Koalition 2017 zu schweren internen Auseinandersetzungen geführt hatte. Auf Bundesebene ist eine Ampelkoalition aus heutiger Sicht die realistische Regierungsoption für die FDP. Das ist wiederum ein Problem für die CDU und könnte ihre Flügelkämpfe verschärfen – zwischen dem rechten Flügel, der einen Lagerwahlkampf gegen einen befürchteten „Linksruck“ in der BRD führen, und dem um Merkel/Laschet, der sich alle Optionen offenhalten möchte. Dennoch möchte die FDP sich nicht auf die Perspektive der Ampelkoalition festlegen, um nicht vermeidbar als Erfüllungsgehilfin einer rot/grünen Regierungsbeteiligung zu gelten.

Wie auch immer die taktischen Wendungen der WahlstrategInnen aller Parteien und ihre Raffinessen aussehen: Die starken Verluste der beiden Volksparteien vor allem den aktuellen Umständen, wie dem Masken-„Provisionen“-Skandal in der CDU/CSU, dem schlechten Corona-Krisen-Management der GroKo oder dem inkompetenten Personal der Führungsriegen der Parteien anzulasten, greift zu kurz.

Schon seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass die soziale Bindungskraft der sog. Volksparteien nachlässt, um nicht zu sagen zerbröselt, weil Kompromisse, die für alle was übrig lassen, immer schwerer zu finden sind. Nach dem Krieg nahmen SPD und Union für sich in Anspruch, die Interessen aller Schichten und Klassen der Gesellschaft zu vertreten: vom Wirtschafts- über den Mittelstands- bis zum Arbeit„nehmer“Innenflügel. Natürlich war das immer eine Ideologie. Beide Volksparteien stützen sich geschichtlich, sozial und organisch auf unterschiedliche Klassen der Gesellschaft. Die SPD monopolisierte als bürgerliche ArbeiterInnenpartei über Jahrzehnte faktisch die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse. CDU/CSU bildeten die Vertretung des deutschen Kapitals, auch wenn sie als christliche Massenparteien das KleinbürgerInnentum und auch v. a. katholische ArbeiterInnenschichten an sich banden. Die SPD wiederum präsentierte sich als reformistische, d. h. ihrem Wesen nach bürgerliche Partei immer auch als bessere Sachwalterin der Gesamtinteressen des Kapitals.

Entscheidend ist, dass dieses System für einige Jahrzehnte funktionierte, seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend erodiert. Seit dem Ende von Rot/Grün und mit der Agenda-Politik unter Schröder hat sich dieser Prozess bescheunigt und vertieft, was zuerst vor allem die SPD traf. Die zunehmende Unfähigkeit der Volksparteien, ihre Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit zu erfüllen, hat seine Ursachen in der zunehmenden Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus, die schon seit Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zu beobachten ist.

Sinkende Kapitalrenditen führten zu einem verschärften Konkurrenzkampf. Die Folge ist eine zunehmende Konzentration des Kapitals: Die großen Kapitale fressen die kleinen. Die kleinen sind der ach so umsorgte Mittelstand, die Bauern/Bäuerinnen und im verstärken Maße die bessergestellten Schichten abhängig Beschäftigter. Der verstärkte Zwang, Kosten zu sparen, um konkurrenzfähig zu bleiben, befeuert Rationalisierungen wie die sog. Digitalisierung, Deregulierung und Intensivierung der Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft und damit gleichzeitig die Verarmung immer größerer Schichten der Lohnabhängigen.

Dem nach 1945 etablierten politischen System und dessen Hauptparteien wird somit die Geschäftsgrundlage entzogen. „Weimarer Verhältnisse“, denen die Volksparteien laut ihrer Ideologie vorbeugen sollten, werden zwangsweise wieder zu erwarten sein. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr politischer Herrschaftsmechanismus werden zur Zeit nicht durch ihre FeindInnen unterminiert, sondern durch die heiligen Marktgesetze des Kapitalismus. Daran kann keine Regierung der Welt und kein Parlament etwas ändern.

Welche Perspektive?

Wohl aber erhebt sich die Frage, welche Klasse, welche gesellschaftliche Kraft eine Antwort auf diese Krise zu geben vermag. Auch wenn die AfD bei den Landtagswahlen Niederlagen einfahren musste, so bilden die Bewegung der Corona-LeugnerInnen, die Krise und damit die Entwurzelung des KleinbürgerInnentums einen Nährboden für wachsenden Irrationalismus und Rechtspopulismus. Diese Bewegung steht bereit, wenn die „normale“ bürgerliche Politik keine Lösung für die Krise des Kapitalismus zu bieten vermag.

Zweifellos bildet die aktuelle, katastrophale und inkompetente Regierungspolitik eine unmittelbare Ursache der Wahlniederlagen der CDU. Aber das Problem der Unionsparteien besteht auch darin, dass unter der Oberfläche der Regierung Merkel verschiedene Kräfte um die politische Ausrichtung kämpfen. Wie auch der knappe Sieg von Laschet gegen Merz im Kampf um den Parteivorsitz zeigte, ist der Richtungsstreit in der Union keineswegs gelöst. Er droht vielmehr, an kritischen Punkten immer wieder aufzubrechen. Die Grünen vertreten im Gegensatz dazu eine bestimmte Kapitalstrategie, den Green New Deal. Die Regierung Kretschmann hat in Baden-Württemberg, einem der wichtigsten Standorte des deutschen Exportkapitals, über mehrere Legislaturperioden bewiesen, dass sich die herrschende Klasse davor nicht zu fürchten braucht, sondern dass die Grünen ihre Interessen recht konsequent, aber ohne wertkonservativen Plunder vertreten.

Die Ergebnisse von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben jedenfalls dazu geführt, dass mit den Bundestagswahlen zwei Regierungskoalitionen möglich erscheinen: Schwarz-Grün oder die Ampel. Nachdem die SPD jahrelang ihre eigene Partei in der Großen Koalition verschlissen hat, bewirbt sich Olaf Scholz nun als Vizekanzler unter Grün-Rot-Gelb. Die ArbeiterInnenklasse hat von einer solchen „Linkswende“ allerdings nichts zu erwarten.

Während vor den Landtagswahlen noch in der Linkspartei und linken SPD-Kreisen von einer möglichen grün-rot-roten Koalition die Rede war, so ist es um diese neoreformistische Phantasie still geworden. Die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie wollten von dieser Träumerei ohnedies nie etwas wissen. Die „linke“ SPD-Führung setzt natürlich auch auf eine grün-rot-gelbe Regierung ohne Unionsparteien. Hatte die SPD im Verbund mit den Gewerkschaftsspitzen die ArbeiterInnenklasse über Jahre durch die Große Koalition ans deutsche Kapital gebunden, so soll die  Klassenzusammenarbeit neu gefärbt werden. Bleibt nur noch die Linkspartei und die Frage, ob sie sich von den Illusionen in eine Regierungsbeteiligung verabschiedet oder weiter darauf hofft.

Um das gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern und um die ArbeiterInnenklasse aus der doppelten Umklammerung an SozialpartnerInnenschaft und Großer Koalition zu lösen, führt kein Weg an einer unabhängigen Klassenpolitik vorbei – am Kampf für eine Aktionskonferenz und ein Aktionsbündnis gegen die kapitalistische Krise und Pandemie einerseits und am Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus andererseits.